Klaus hatte sich einen Autoanhänger geliehen. War nicht teuer gewesen. War sogar richtig billig gewesen. "3 Tage - Schnäppchenangebot" hatte in der kleinen Anzeige im örtlichen Werbeblatt gestanden. Beate hatte zwar die Nase grümpft, wie öfter in der letzten Zeit, du mit deinen Billigangeboten, aber sie konnte halt nicht verstehen, wie es ist, kein Geld zu haben. Sie konnte manches nicht verstehen. Nicht mehr verstehen. Besonders seit sie Teamleiterin geworden war. Und er seinen Job verloren hatte.
Er hatte den Hänger abgeholt, in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet weit draußen am Rande der Stadt, und der Hänger hatte seine Dienste getan. Das Ausräumen von Tante Ernas Keller hatte einigermaßen geklappt.
Dumm war nur, dass heute das Auto wieder mal Probleme machte. Der verdammte Anlasser. Klaus musste Jürgen von nebenan bitte, ihn mitsamt Hänger zum Hängerverleih zurückzufahren. Beates Blicke! Spöttisch, vielleicht ein bisschen verächtlich. Unangenehm.
Und jetzt stand er vor dem Hängerverleih und schaute auf das Schild "Komme gleich wieder". Er schaute schon seit einer halben Stunde auf das Schild "Komme gleich wieder", aber hier tat sich nichts. Auch ans Telefon ging niemand. Jürgen hatte ein paarmal angerufen, anrufen müssen, weil Klaus sein Handy zu Hause vergessen hatte.
"Die haben doch meistens so einen Briefkasten, wo man die Papiere und die Schlüssel reinwerfen kann.", sagte Jürgen im Hintergrund. "Nichts für ungut, Klaus, aber ich hab nicht ewig Zeit, sorry." Ja, klar, Klaus wusste das, aber da war kein Briefkasten. Und die hundert Euro Kaution, die wollte er auch zurückhaben.
Heute musste der Hänger zurück, heute! Klaus wollte nicht noch einen Tag Leihgebühr bezahlen und er wusste nicht, ob er überhaupt noch soviel Geld hatte.
"Alles klar, Jürgen, kein Problem. Fahr doch zurück. Ich warte hier noch ein bisschen, irgendwann muss ja jemand kommen."
"Und wie willst Du nach Hause kommen?"
"Ich hab da unten eine Bushaltestelle gesehen."
"Hier? Am Ende der Welt?"
"Ja. Wirklich, Jürgen: kein Problem. Danke, dass Du mich hergefahren hast."
Jürgen zögerte, schaute Klaus zweifelnd an, aber schließlich ging er zu seinem Auto und fuhr davon, nicht ohne ein aufmunterndes Hupen, das widerhallte an den Betonfassaden der Umgebung und hier merkwürdig deplaziert wirkte. Die Stille danach war noch deutlicher.
Klaus setze sich auf die Bordwand des Hängers und schaute sich um. Das ist tatsächlich eine seltsame Gegend hier, dachte er. Ende der Welt, na ja, nicht ganz. Aber alles grau. Farblos. Menschenleer. Kein Verkehr. Die hatten hier wohl auch mal bessere Zeiten, dachte er sich. Aber die Ruhe hier, die ist nicht schlecht. Die Ruhe gefällt mir. Wunderbare Ruhe hier.
Es knackte laut hinter ihm und eine verzerrte, blecherne Stimme sagte:
"Hallo. Hallo, Sie da. Hören Sie mich?".
Die Torsprechanlage, na endlich. Klaus sprang auf, ging schnell die paar Schritte zum Tor.
"Ja? Hallo? Hallo, hören Sie mich?"
"Ich habe Sie erwartet."
"Ich bin schon länger hier."
"Ich weiß."
"Ich will den Hänger abgeben."
"Ja, ich weiß."
"Sie wissen das? Hier hängt ein Schild 'Komme gleich wieder'. Wieso machen Sie nicht auf?"
"Rückgabe ist auf der anderen Seite. Hinten. Hinten rum um's Gelände."
"Ich habe kein Auto!" Klaus schrie es fast.
"Ich weiß."
"Hallo, warten Sie ... können Sie den Hänger nicht hier annehmen?"
"Nein". Teilnahmslose Blechstimme.
"Ich sagte Ihnen doch, ich habe kein Auto. Wie soll ich mit dem Hänger um ihr Gelände kommen?!"
"Nicht mein Problem."
"Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen? Bitte!"
"Nein."
"Ich bitte Sie sehr darum, wirklich."
"Nein, keine Ausnahme. Nie."
"Aber ...".
"Abgabe spätestens um Mitternacht. Wie vereinbart."
"Aber ich weiß nicht, wie ich mit dem Hänger ...", aber da knackte es und die Sprechanlage war tot.
'Verdammtes Arschloch', dachte Klaus. So ein verdammter Mist. So ein gottverdammter Scheißmist. Was nun?
Es wurde dämmrig. Irgendwo sang eine abendliche Amsel. Die Ruhe dieser Gegend schien sich dadurch zu verstärken. Eine Amsel, dachte Klaus. Lange nicht gehört. Friedlich Irgendwie. Eigenartig.
Klaus konnte nicht abschätzen, wie weit sich das Areal des Hängervermieters hinzog.
Hinter dem Zaun waren offenbar mehrere Unternehmen, ganz klein war das Gelände nicht. 'Aber so riesengroß wird es wohl auch nicht sein.', dachte er sich. Und er tröstete sich mit diesem Gedanken.
Eines war klar: Er konnte nicht nach Hause, ohne den Hänger abgegeben zu haben. Wollte er auch nicht. Er hatte schon andere Sachen geschafft. Klar, der Jüngste war er nicht mehr. Das Herz, nun ja, das Herz machte ihm in letzter Zeit zu schaffen. Ein bisschen. Aber der Hänger, der war nicht so riesig. Den würde er bewegen können. Den würde er um's Gelände ziehen. Das hatte er noch drauf.
Auf einmal kam ihm ein Grinsen hoch. Die Stimme aus der Sprechanlage, das war ja wie eine Stimme aus Unterwelt gewesen. Völlig teilnahmslose, blöde Roboterstimme. Abgabe um Mitternacht. Haha. Bis Mitternacht ist noch viel Zeit.
Die ersten Meter auf der Aspaltstraße gingen leicht.
Klaus zog seine Last hinter sich her und es rollte gut.
Als er an der Ecke des umzäunten Geländes angekommen war, sah er, dass der Zaun sich doch recht weit nach hinten erstreckte.
Er ruhte sich kurz aus und dann ging es in gebückter Haltung weiter.
Die Straße begann ein wenig anzusteigen und es wurde schwerer. Aber Klaus fühlte sich erstaunlicherweise ziemlich frisch.
Es war inzwischen dunkel geworden. Hier, am Ende der Welt, waren Sterne zu sehen. Sterne, die er in der Stadt schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Kein Lichtschein der Stadt verdarb hier den Himmel. Auch kein Geräusch aus der hektischen Stadt war zu hören. Wirklich: kein einziges Geräusch.
Ein Fuchs - war es einer? - lief lautlos über die Straße, verharrte kurz und schaute in Klaus' Richtung, bevor er ruhig weitertrabte. Klaus fühlte sich plötzlich irgendwie fast froh. Wie oft war er In der Kindheit durch den Wald gestreift und hatte Tiere beobachtet! Schöne Erinnerung.
Irgendwann stieg die Straße, die kein Ende zu nehmen schien, immer mehr an.
Irgendwann hörte der glatte Asphalt auf und ging in einen Kiesweg über, dann in einen Feldweg.
Klaus zerrte, immer in gebückter Haltung, seine Last hinter sich her und es war klar, das hier würde er zu Ende bringen. So oder so.
Die Nacht war klar und lau und von den Fliederbäumen auf der Wiese, die in voller Blüte standen, wehte ein betörender Duft herüber.
Ein Bauer fand am nächsten Tag mitten in den Feldern, weit vom alten Gewerbegebiet und von jeder Straße entfernt, einen einsamen, stehengelassenen Autoanhänger, aber keine Spuren eines PKWs. Er konnte sich nicht erklären, wie der Hänger dort hingekommen war.
Einige Kilometer weiter, am Rande des Waldes, entdeckten Rettungssanitäter einen Mann. Er lag im Gras, ganz gerade ausgestreckt. Er trug keine Schuhe, sein Hemd war aufgeknöpft und er hatte Fliederzweige in den kalten Händen. Er lächelte.
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2016
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