„Ja, hallo - Jensen hier, Redakteur Wissenschaft und Technik.“
Thomas Jensen schaute weiter auf den Text in seinem Computer, während er beiläufig den Anruf entgegennahm. Anrufe in der Redaktion abends um diese Zeit, darauf hatte er gerade noch gewartet. Der Messebericht musste fertig werden, das war der einzige Grund, weshalb er überhaupt noch im Büro war.
„Nein, tut mir Leid, ich habe keine Zeit. Nein, morgen nicht und, wie es aussieht, die ganze Woche nicht. Ich bin schwer beschäftigt, Termine, Termine. Tut mir wirklich Leid.“
Von einer Sensation sprach der Anrufer. Ja klar, Sensation. Alles war eine Sensation. Sensationelle Neuigkeiten. Davon waren in den Wochen vor der IT-Messe mehr als genug angekündigt worden. Das übliche Werbegeschwafel der Marketing-Leute. Aber außer ein paar neuen, nicht besonders innovativen Smartphones hatte es natürlich nichts Besonderes gegeben. Schon gar keine Sensationen.
Der Anrufer aber ließ nicht locker und Jensen wurde allmählich ungeduldig.“Wenn Sie mir ein neues Gerät zeigen wollen, hätten Sie vor der Messe anrufen sollen. Jetzt ist es zu spät! Was? Sowas hat die Welt noch nicht gesehen? Ach, wissen Sie, wie oft ich das in den letzten Tagen gehört habe? Sorry, aber das kommt jetzt wirklich unpassend, ich habe dringende Sachen zu erledigen.“
Jensen wusste später nicht zu sagen, warum er sich dann doch noch überreden ließ, den Anrufer zu empfangen. Vielleicht weil er, entgegen aller Vernunft, hoffte, doch noch irgendetwas Verwertbares für seinen Artikel zu bekommen. Vielleicht aber auch aus seinem Reporter-Instinkt heraus. Irgendetwas klang echt an der Stimme des Anrufers, irgendetwas war da, das Jensen spüren ließ, dass der Anrufer sein Anliegen aufrichtig meinte.
Kaum eine halbe Stunde später saß ihm der Mann am Besprechungstisch gegenüber. Zehn Minuten hatte er ihm gegeben. Zehn Minuten, um sein Interesse zu wecken - oder die Sache zu vergessen.
Da hatte Jensen noch nicht geahnt, dass dieser Abend sein Leben verändern würde.
Der Mann hatte sich als Herbert Reiter vorgestellt. Er war ein ganz normaler Mittvierziger. Gepflegte Erscheinung, Sakko, Hemd, Jeans, keine Krawatte. Er wirkte ruhig, fast bedächtig. Kein Nerd, kein Spinner. Das sah Jensen sofort; er hatte einen Blick für Menschen.
„So, Herr Reiter“, sagte Jensen, „nun erzählen Sie mal. Aber, wie gesagt: ich habe eigentlich keine Zeit! Sie sehen ja, wie es hier aussieht!“
Reiter sagte nichts. Stattdessen griff er in die Innentasche seines Sakkos und brachte ein Etui zum Vorschein. Es sah aus wie ein Brillenetui. Reiter öffnete, immer noch schweigend, das Etui und entnahm ihm ein kleines Kästchen, ungefähr so groß wie ein Feuerzeug. Er legte das Kästchen mitten auf den Tisch.
Dann schaute er Jensen an und sagte: „Herr Jensen, wir haben ja nur ein paar Minuten Zeit, deshalb in aller Kürze: Zwischen uns wird jetzt gleich eine blaue Scheibe erscheinen. So eine Art Computermonitor, aber ohne festen Rahmen. Also ... bitte nicht erschrecken!“
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Luft über dem Tisch zu flimmern begann und gleich darauf erschien tatsächlich eine mattblau leuchtende, rechteckige „Scheibe“ von vielleicht 70 mal 70 Zentimetern Größe. Sie war transparent, Jensen konnte hinter der „Scheibe“ nach wie vor Reiters Gesicht sehen.
Jensen war erstaunt, aber nicht sonderlich beeindruckt. ‚Netter Trick’, dachte er, ‚irgendwo habe ich sowas schon mal gesehen! In irgendeinem Science-Fiction-Film.’
Da zog sich die blaue Fläche blitzschnell zusammen und erschien gleich darauf wieder, aber diesmal an der Wandseite des Tisches, und Reiter, der keinen Finger gerührt hatte, sagte in aller Ruhe: „So ist es besser, glaube ich. Jetzt können wir beide draufschauen.“
Auf der mattblau leuchtenden Fläche erschienen Konturen und Jensen hatte keine Mühe, die Erde zu erkennen. Umriss, Kontinente, Ozeane, ja, das war die Erde. Interessant, aber nicht umwerfend. Die Erde in der Draufsicht, das kannte man von Google Earth, das hatte heutzutage jeder Teenager auf seinem Computer.
„Nun, Herr Reiter“, sagte Jensen, „das ist ja recht schön. Wenn das aus dem kleinen Kästchen da kommt: Respekt! Diese Projektion direkt in die Luft - nicht schlecht. Da würde ich bei Gelegenheit durchaus mehr drüber wissen wollen. Aber Sie haben mir am Telefon etwas anderes versprochen! Das da“ - er zeigte auf die Projektion der Erde - „ist gut gemacht, aber eine Sensation ist das wohl nicht. Nicht mehr heutzutage.“
Jensen hatte damit gerechnet, dass Reiter widersprechen würde, dass er irgendwelche Argumente bringen würde, aber das geschah nicht. Nein, Reiter, blieb völlig gelassen. Er lächelte, als ob er mit genau diesen Worten Jensens gerechnet hätte.
Und dann sagte Reiter: „Herr Jensen, das da, das ist wirklich nur eine Show. Da haben Sie Recht. Eine Show, mit der ich ihre Aufmerksamkeit bekommen wollte. Das wirklich Wichtige ist nicht die Technik, die Sie da sehen. Wichtig sind die Informationen, die Ihnen dieses Gerät geben kann. Denn dieses Gerät, Herr Jensen, dieses Gerät ...“ - Reiter machte eine Pause, lehnte sich zurück und holte tief Luft - „dieses Gerät ist ein Kommunikationskanal mit extraterrestrischen Besuchern, die sich der Erde nähern. Ja, Sie haben richtig gehört: ein Kontakt mit Außerirdischen.“
Sie waren schon lange unterwegs und sie kamen von weit her. Viele Lichtjahre hatten sie bereits zurückgelegt. Ihre Reise hatte keine Zielkoordinaten; sie waren Abgesandte ins nirgendwo, ausgeschickt, um die Galaxie zu erkunden. Um - vielleicht - Welten zu finden, auf denen ihre Spezies überleben könnte, wenn ihr Stern einst verglühen würde.
Sie waren schon viele Generationen entfernt von den Ahnen, die vor langer Zeit mit diesem Raumschiff gestartet waren. Sie waren im All geboren und sie waren für das All geboren. Keiner von ihnen kannte den Heimatplaneten noch aus eigenem Erleben.
Das Schiff war ihre Heimat.
Groß, ja riesig war das Raumschiff. Es hatte schier unerschöpfliche Energiereserven und es erneuerte sich permanent selbst.
Es war Ergebnis einer höchstentwickelten Technik, einer Technik, wie sie nur eine Zivilisation hervorbringen kann, deren Geschichte nach zehntausenden von Jahren zu bemessen ist.
Noch Jahre später waren Thomas Jensen, wenn er an diesen Moment zurückdachte, die widerstreitenden Gefühle präsent, die die Worte von Herbert Reiter in ihm auslösten.
Natürlich war klar, dass der Mann Unsinn redete.
Doch gleichzeitig war da etwas, irgendetwas nicht Fassbares, das Jensen davon abhielt, das Gespräch mit Reiter sofort zu beenden.
Reiter hatte ihn aufmerksam angesehen.
Jetzt sagte er: „Schauen Sie auf die Projektionsfläche, Herr Jensen.“
Jensen wandte den Kopf.
Die blaue Fläche veränderte sich. Dort, wo soeben noch die Umrisse der irdischen Kontinente zu sehen gewesen waren, verschwamm das Bild, löste sich auf. Die blaue Farbe wurde zu einem hellen Orange, das langsam den ganzen „Bildschirm“ ausfüllte. Neue Konturen begannen sich vor diesem Hintergrund zu formen; weite, geschwungene Linien schälten sich aus dem orangefarbenen Nebel, senkrechte und waagerechte Flächen bildeten sich heraus.
Das Bild schien nur allmählich klarer zu werden, so, als wollte es den Betrachter nicht überfordern.
Auf langen vertikalen, gebogenen Stängeln saßen farbige runde oder elliptische Formen. Zwischen diesen Stängeln führten gekrümmte Linien hindurch. In der rechten oberen Ecke war eine größere einheitliche gelbe Fläche zu sehen, auf der sich in unregelmäßigen Abständen kleine längliche Striche befanden.
Den oberen Rand des Bildes rahmte ein durchgehender Schatten ein, und Jensen fühlte sich an ein Gebirge erinnert.
Da bemerkte er, dass sich die vertikalen Stängel bewegten. Sanft nur, als würden sie in einem leisen Wind schwingen.
Sollte das ein Film sein? Lebende Bilder? Aber wovon? Er schaute mit hochgezogen Augenbrauen fragend zu Reiter hinüber, aber der bedeutete ihm nur mit einer Kopfbewegung, weiter dem Geschehen auf der Projektionsfläche zu folgen.
Diese veränderte sich erneut.
Es war nur ein Schatten, nur ein Schemen, der auf der Fläche entstand, nur die Andeutung von etwas. Es war nichts, das man wirklich sehen, geschweige denn erkennen konnte. Und nichts, das mit menschlichen Maßstäben zu erfassen war.
Und doch hatte Jensen das Gefühl, dass ihn etwas - oder jemand? - intensiv ansah.
Ihm stockte der Atem ob der Intensität dieses Empfindens. Und obwohl er sich sogleich einen Narren schalt und dachte: ‚Das kann wohl nicht sein!‘, konnte er den Blick nicht von diesem seltsamen, fremden Anblick abwenden.
Herbert Reiter sagte leise: „Auch ein Bild von Ihnen, Herr Jensen, wird jetzt übertragen.“
Diese seltsame Situation hatte nur ein paar Minuten gedauert, dann war das Bild des unbekannten Wesens - wenn es das war - langsam erloschen und die Projektionsfläche hatte sich wieder mit einem matten Blau gefüllt. Kurz darauf verschwand sie ganz und Herbert Reiter steckte das Kästchen, das diese Projektion offenbar steuerte, in sein Etui zurück. Er verstaute das Etui sorgfältig in seiner Jackentasche, dann sah er Thomas Jensen an und sagte:
„So, die zehn Minuten sind wahrscheinlich um. Soll ich jetzt gehen?“
Thomas Jensen lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf.
„Nein, warten Sie mal.“
Er dachte kurz nach, dann sagte er: „Was war das jetzt, Herr Reiter? Was soll ich davon halten? Sie wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ich eben Außerirdische gesehen habe? Sie machen hier irgendeine Scharlatanerie, mit einigermaßen Aufwand, durchaus verblüffend, okay. Aber ich frage mich, warum Sie das tun. Was bezwecken Sie damit? Ich meine ... was soll das? Wo ist der Sinn hinter dieser Inszenierung? Wollen Sie in die Zeitung? Berühmt werden? Bekannt? Als Magier vielleicht? Ich versteh’s nicht!“
Herbert Reiter blieb völlig gelassen. „Nun, Herr Jensen, ich könnte Ihnen jetzt eine lange Geschichte erzählen. Wie ich nachts seltsame Träume bekam. Träume, die sich wiederholten. Die sich immer öfter wiederholen. Wie ich eines Nachts halb aufgewacht bin und das Gefühl hatte, nicht alleine zu sein. Wie das immer öfter passiert ist. Wie ich seltsame Erscheinungen zu sehen glaubte, nachts, in einer Art Halbwachheit, immer nachts in meinem Schlafzimmer. Orangefarbene Erscheinungen. Dass ich irgendwann - logisch - an meinem Geisteszustand zu zweifeln begann und darüber nachdachte, mich in psychologische Behandlung zu begeben. Und dass dann eines Tages dieses Kästchen da war und ich genau wusste, wie es zu bedienen war. Mit Gedanken ist es zu bedienen ... und das hatte ich in meinen seltsamen Träumen erfahren. Das alles könnte ich Ihnen lang und breit erzählen, aber - würden Sie mir das glauben?“
„Nein“, sagte Thomas Jensen mit Bestimmtheit, „das würde ich Ihnen nicht glauben! Natürlich nicht. Das sind doch Märchen! Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Reiter, aber vielleicht wäre das mit dem Psychologen doch keine schlechte Idee.“
„Sehen Sie, das habe ich mir gedacht. Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag - und keine Angst, danach gehe ich. Also ... Sie kennen doch sicherlich Ihre Fachkollegen in den großen Nachrichtenmagazinen. Ich meine: weltweit, USA, Großbritannien, China, Japan, Indien und so weiter. Sie haben da doch sicherlich Kontakte, oder? Rufen Sie doch morgen mal den einen oder anderen an. Erzählen Sie mal, was ich Ihnen gezeigt habe.“
Thomas Jensen schaute Herbert Reiter an, als ob er nun wirklich ernsthaft an dessem Geisteszustand zweifelte.“Ich mache mich doch nicht zum Clown, Herr Reiter!“
„Versuchen Sie’s,“ sagte dieser. „Sie können es ja als Spaß erwähnen, als lustige Begebenheit. ‚Ich hatte da so Besuch vom einem Irren’. Es macht mir nichts aus, wenn Sie es so formulieren.“
„Und was soll das? Was versprechen Sie sich davon?“
Herbert Reiter stand auf und knöpfte sein Jacket zu.
„Sie werden schon sehen, Herr Jensen.“ sagte er dabei. „Nein, ich bin kein Magier. Will auch keiner werden. Denken Sie mal daran, dass Ihnen vielleicht eine große Story entgehen könnte. Eine riesengroße Story. Die größte Story, die es überhaupt jemals gegeben hat. Aber es geht nicht um die Story. Es geht um was viel Größeres. ... So, ich verschwinde jetzt. Ich lasse Ihnen meine Visitenkarte da. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen danach ist.“
Und dann hatte sich Herbert Reiter knapp verabschiedet und war gegangen.
Nein, Thomas Jensen hatte in dieser Sache keine telefonischen Recherchen aufgenommen. Zu dubios kam ihm die ganze Geschichte vor.
Aber drei Tage nach der Begegnung mit Herbert Reiter bekam er einen Anruf von Gordon Baker, einem Wissenschaftsredakteur des britischen „Nature“, den er flüchtig von einigen Pressekonferenzen kannte.
Baker fragte nach dem Verlauf der Messe, wollte wissen, ob man in der Berichterstattung darüber ein wenig zusammenarbeiten könnte und begann dann vom Redaktionsalltag zu plaudern. Schließlich sagte er, er hätte da noch eine lustige Geschichte zu erzählen, nun, nichts wirklich Wichtiges, aber immerhin einen Beweis dafür, dass der Job niemals langweilig wird.
Und dann erzählte er Jensen ziemlich genau das, was Jensen selbst erlebt hatte.
Ein Mann war in die Redaktion gekommen, hatte einen neuartigen Computermonitor präsentiert und irgendetwas von „Aliens“ und nächtlichen Träumen erzählt.
Baker berichtete das alles mit einem Lachen, aber Jensen glaubte auch einen gewissen fragenden Unterton aus seiner Stimme herauszuhören.
Ohne lange zu überlegen entschloss sich Jensen, Baker von seinem Erlebnis mit Herbert Reiter zu berichten.
Das Staunen war auf beiden Seiten groß, zumal sich herausstellte, dass Jensen und Baker nicht von derselben Person besucht worden waren.
„Sollte an der Sache doch was dran sein?“, fragte Baker. „Natürlich nicht das mit den Außerirdischen, das ist bullshit, aber vielleicht steckt doch irgendwie eine interessante Story dahinter. Vielleicht sollten wir uns mal ein bisschen umhören?“
„Ja,“ sagte Jensen, „das könnte man ja machen. Aber ich denke, die Sache sollte erst einmal unter uns bleiben, okay?“
„Okay!“
Und so beschlossen Jensen und Gordon, beiläufig ein paar Erkundigungen einzuziehen, nicht mit Hochdruck, mehr so nebenbei, und sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten.
Schnell stellte sich heraus, dass die Geschichte größer war, als Thomas Jensen für möglich gehalten hatte. In Frankreich, China, Indien, USA, Brasilien, Russland, Südafrika - wo immer Jensen in Telefongesprächen mit Kollegen das Thema vorsichtig auf „such a crazy alien fan“ brachte, wurde ihm bedeutet, dass man vor kurzem auch einen ähnlichen Besucher gehabt hätte.
Wie konnte das sein? War das irgendeine virale Werbekampagne eines international operierenden Konzerns? Oder steckte ein Geheimdienst dahinter? Die Aktion eines einzelnen Spinners war es jedenfalls nicht, soviel stand fest. Diesen Aufwand konnte kein Hobby-Astrologe betreiben. Aber wofür das Ganze?
Und noch etwas war seltsam: niemand wollte darüber berichten, keines der Magazine wollte eine Story über die seltsamen Besucher bringen.
Es war auch auffällig, dass ausschließlich Wissenschaftsverlage, die als seriös galten, Kontakt mit den mysteriösen Besuchern gehabt hatten. Keine Boulevardzeitungen.
Thomas Jensen hatte es bis jetzt vermieden, Herbert Reiter anzurufen, aber nun, dachte er sich, wäre es doch eine gute Idee, den Mann mit den nächtlichen Visionen noch einmal zu kontaktieren.
Schon am nächsten Tag saß Herbert Reiter in Jensens Büro und erzählte.
Die Außerirdischen waren angeblich schon längere Zeit in der Nähe der Erde und hätten sich auf der gesamten Erde Kontaktpersonen gesucht. Reiter war eine dieser Personen. Er wusste, dass er nicht der einzige Auserwählte war, sondern dass es ungefähr zweihundert Leute gab, die gleich ihm zu Botschaftern der extraterristrischen Spezies geworden waren.
Warum er zu den Ausgewählten gehörte, konnte er sich nicht erklären.
Er hatte bisher ein völlig unauffälliges, durchschnittliches Leben geführt.
Beruflich hatte er nie etwas mit Astronomie oder Raumfahrt oder irgendwelchen artverwandten Themen zu tun gehabt.
Herbert Reiter hielt sich selbst für einen eher sachlichen, nüchternen Menschen ohne viel Sinn für Fantasie.
„Mir ist das unerklärlich,“ sagte er, „und ich habe mich lange dagegen gewehrt, das, was in den Nächten mit mir passierte, als Realität anzunehmen. Aber nun ist es wie es ist. Ich bin ein Botschafter der anderen. Ich fühle mich ein wenig ferngesteuert, und das - das können Sie mir glauben - das ist kein Zustand, den ich mir jemals gewünscht hätte.“
Thomas Jensen glaubte das alles nicht. Seine gesamte naturwissenschaftliche Vorbildung ließ die Vorstellung, dass Außerirdische unbemerkt in der Nähe der Erde kreuzten, nicht zu. Er wusste, dass die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten von Raumfahrzeugen und die Entfernungen zu den nächsten Sternensystemen begrenzende Faktoren waren, die eigentlich keinen wie auch immer gearteten Besuch von den Sternen zuließen.
Und dennoch! Was Herbert Reiter berichtete und vor allem, wie er es berichtete - ruhig, unaufgeregt, völlig sachlich - beeindruckte Jensen. Diese zweihundert Leute weltweit, diese Botschafter, die gab es. Und das war eine Story wert. Vielleicht keine naturwissenschaftliche Story, aber irgendetwas Verschwörerisches. Das könnte man ja auch mal bringen. Das würde er bei seinem Chef durchkriegen. Und die Leser … die Leser würden es mögen!
Aus diesem Grund sagte Jensen zu Herbert Reiter:
„Nehmen wir einmal an, dass ich ihnen ihre Geschichte glauben würde. Trotzdem bleibt es doch nur eine Geschichte. Eine Fantasterei. Zweihundert Leute haben sich verabredet, irgendeinen Gag zu machen. Einen riesigen, internationalen Gag. Haben sich zu einem obskuren Club zusammengefunden. Das ist heute, in Zeiten des Internets, keine große Kunst. Das Vorhandensein von Außerirdischen beweist das nicht!“
„Das stimmt“, entgegnete Reiter, „aber ich habe Beweise!“
„Ihren Monitor?“
„Nicht nur den Monitor. Vor allem, was er zeigt.“
„Dieses Google Earth?“
Reiter lächelte.
„Nehmen Sie sich mal etwas Zeit, Herr Jensen. Dann zeige ich ihnen mal, was das, das Sie Google Earth nennen, in Wirklichkeit kann.“
„Nun, Herr Reiter, ich habe Zeit. Jetzt. Wir können die Show jetzt sofort machen.“
„Also gut!“
Blitzschnell flimmerte die durchsichtige blaue Scheibe an der Wand.
„Das Kästchen habe ich in der Tasche.“, erklärte Herbert Reiter, ohne eine Miene zu verziehen. „Was wollen Sie sehen?“
„Was kann ich denn sehen?“
„Alles“, sagte Herbert Reiter, „alles, was Sie sehen wollen.“
Da Jensen etwas ratlos dreinschaute, fuhr Herbert Reiter fort:
„Haben Sie Geschwister?“
„Ja, einen Bruder.“
„Wollen Sie ihn sehen?“
„Warum nicht? Aber ich weiß nicht, wo er im Moment steckt.“
„Das macht nichts - ich weiß es!“
Herbert Reiter schloss die Augen. Weniger als eine Sekunde war vergangen, da erschien Jörg Jensen in der blauen Scheibe an der Wand. Ohne Zweifel, das war sein Bruder Jörg, das war Thomas Jensen sofort klar. Jörg beim Joggen, wie immer in seinem alten, verwaschenen T-Shirt, das er schon seit Jahren zum Joggen trug.
„Okay,“ sagte Thomas Jensen geistesgegenwärtig, „gut vorbereitet. Sie wussten, dass Sie zu mir kommen, Sie haben meinen Bruder vorgeschlagen - irgendwo dort in dem Kaff, in dem Jörg wohnt, sitzt jetzt ein Typ mit einem dicken Teleobjektiv im Gebüsch.“
„Schlagen Sie selbst etwas vor!“, erwiderte Herbert Reiter.
„Meine Frau will ich sehen - nein, stopp, Frau, Kinder, Eltern, wer weiß, das kann alles vorbereitet sein … zeigen Sie mir … zeigen Sie mir die Mathelehrerin meiner Tochter!“
Die hübsche Frau Rinke mit ihren Sommersprossen erschien auf dem Monitor, während sie im Supermarkt vor dem Gemüseregal stand und eine Gurke in der Hand hielt.
„Karsten Meiersdorf, den HSV-Trainer!“
Meiersdorf erschien auf der Bildfläche. Er lag auf einer Couch.
„Den Bundeskanzler!“
Auch der Bundeskanzler wurde sichtbar.
„Kann ein Film aus einem Archiv sein. Zeigen Sie mir Gordon Baker!“
„Welchen Gordon Baker? Es gibt hunderte.“
„Den Gordon Baker in London, der bei ‚Nature‘ arbeitet!“
Gordon tauchte auf dem Bildschirm auf, er saß an seinem Schreibtisch und schien zu arbeiten.
Thomas Jensen wurde von einer gewissen Unruhe ergriffen.
‚Das muss ich irgendwie auflösen‘, dachte er, ‚ich muss rausfinden, wie das funktioniert! Innerhalb von Gebäuden! Unmöglich!‘
Er konnte ein fieses Lächeln nicht unterdrücken, als er erklärte: „So, den Gordon Baker rufe ich jetzt an. Dann werden wir sehen, ob ihre Filmchen live sind!“
Und zwei Minuten später sah er auf dem blauen Monitor, wie Gordon Baker den Telefonhörer abnahm und er sah, wie Baker seine Lippen zu dem Text bewegte, den Jensen im Telefonhörer hörte.
Danach war er ein wenig fassungslos.
Und Herbert Reiter sprach: „Herr Jensen, wollen wir mal mit den Spielereien aufhören? Ich würde ihnen gerne mal etwas anderes zeigen, etwas wirklich Interessantes!“
„Und was?“
„Die Atom-U-Boote im Atlantik. Die getauchten Atom-U-Boote!“
„Die amerikanischen?“, fragte Jensen töricht und Herbert Reiter erwiderte: „Die amerikanischen, die russischen und die chinesischen.“
Und sogleich flammte innerhalb des blauen Rahmens an der Wand eine Vielzahl grüner, roter und gelber Punkte auf und durch Thomas Jensens Kopf schoss der Gedanke ‚Fake! Das ist ein Fake! Der weiß, dass ich nicht kontrollieren kann, dass die verdammten Boote tatsächlich dort sind, wo die Punkte erscheinen!‘
Doch Jensen ahnte im gleichen Moment, dass dieser ganze Zauber echt war und er war, was wirklich nicht oft vorkam, sprachlos und wie gelähmt vor der ungeheuren Dimension der Dinge, die sich hier möglicherweise andeutete.
... demnächst
Texte: franco
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2015
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