Innerhalb kurzer Zeit wurde die Nacht kalt und stürmisch. Dunkle Wolkenfetzen verdeckten den eben noch silbrig und friedlich scheinenden Vollmond und ließen die Bäume im Wald dunkel und geisterhaft aussehen. Die hohe Luftfeuchtigkeit ließ schnell dichten Nebel aufsteigen, der gespenstisch um die rauen Rinden der Nadelbäume waberte. Der Kutscher trieb die Pferde voller Angst zu äußerster Schnelligkeit an. Die Insassen der Kutsche mussten sich festhalten, um nicht durch das gesamte Gefährt geschleudert zu werden. Sicher, es war spät, und sie wollten schnell nach Hause, aber der Kutscher übertrieb es maßlos.
»Verdammt, fahr endlich langsamer!« schrie David den Kutscher an.
Doch dieser gehorchte ihm nicht.
»In diesem Wald gibt es Vampire. Wenn die uns erwischen, dann gnade uns Gott.«
Was für ein abergläubischer Dummkopf! In diesem Wald gab es wohl lichtscheues Gesindel, das nur Böses im Sinn hatte, aber Vampire? Er glaubte nicht an diese Ammenmärchen. Kopfschüttelnd ließ er sich wieder auf die Bank sinken.
»Der Mann scheint Angst zu haben«, sagte seine Frau Danielle in die Stille hinein. Eine Strähne ihres schwarzen Haares hatte sich gelöst und legte sich um ihren Hals. Die kleine Elisabeth schmiegte sich ängstlich an ihre Mutter.
Noch bevor David Gelegenheit hatte, sich weitere Gedanken zu machen, blieb die Kutsche unvermittelt stehen. Die Türen wurden aufgerissen, Danielle und Elisabeth wurden auf der einen Seite herausgezogen und er selbst auf der anderen Seite. Ein unglaublich starker Gegner drückte ihn an einen dicken Baum, ohne dass er sich gegen ihn wehren konnte. Warum zum Teufel war der schlanke blasse Mann so unendlich stärker als er?
»Hör auf dich zu wehren, Menschlein. Du kannst nichts gegen mich ausrichten.«
Die Stimme des Mannes war schneidend und kalt wie Eis, in seinen schwarzen Augen, ebenso dunkel wie sein schwarzes Haar, das sein blasses, grausames Gesicht umrahmte, flammte der Hass blutrot auf. David konnte diesen dämonischen Blick nicht ertragen und wandte den Kopf ab. Aus dem Augenwinkel sah er, wie zwei Vampire Danielle und Elisabeth packten und in den Wald zerrten.
»Lasst sie in Ruhe!«, schrie David verzweifelt und wollte sich losreißen, diesen Bestien die Augen auskratzen, sie in Stücke reißen, doch er wurde brutal gegen den Baum hinter sich gedrückt und musste hilflos ihre schrecklichen Schreie anhören.
»Ja, höre dir nur ihr Schreien an. Bald sind sie tot. Wie du, elende Brut Adams und Evas. Bald werden Erzebet und ich Herrscher über alle dunklen Wesen sein, die Halbblüter werden meine Diener sein und die elenden Menschen unsere Blutsklaven.«, sagte der Mann kalt, und in seinen Augen zeigte sich eisiger Triumph.
»Gott wird dich für deine Vermessenheit strafen«, zischte David ihn wütend an. Ein trockenes, hasserfülltes Lachen traf ihn bis ins Mark.
»Wenn wir die Welt unterworfen haben, wird niemand mehr Gott kennen. Es wird nur Strigoi geben und wer sich uns nicht unterwirft, wird nur noch Leid und Dunkelheit kennen, bis er endlich sterben darf.«
Der Vampir drückte David noch enger an den Baum. Die Augen seines Gegenübers leuchteten wieder blutrot auf und sein geöffneter Mund entblößte zwei entsetzlich große Reißzähne. »Hör auf Damien, er gehört mir«, erklang eine weibliche Stimme hinter den beiden. Es trat eine Frau hervor. Man hätte sie wunderschön nennen können mit ihrem schwarzen, lockigen Haar, doch die roten Augen mit dem kalten, grausamen Blick darin verdrängten sofort diesen Eindruck. Dennoch wirkte sie weniger dämonisch als ihr männlicher Gegenpart. Wider Erwarten gehorchte der Mann und ließ von ihm ab.
Fauliger, schwefliger Atem traf Davids Hals. Seine Sinne begannen zu schwinden, als die entsetzlichen Zähne sich in seinen Hals gruben, das einzige, was er noch spürte, war das warme Blut, das in einem großen Strom über seinen Hals lief.
Als David die Augen wieder öffnete, lag er in einer großen Blutlache. Panik schlich sich in sein Herz.
»Wo ist Danielle? Und Elisabeth?«
Mühsam richtete er sich auf. Zwischen zwei Bäumen sah er schemenhaft eine Gestalt liegen. Davids Herz krampfte sich zusammen. Er stand schwankend auf. Zwischen zwei Bäumen sah er sie. Dort lag Danielle, ihr schwarzes Haar lag lose um ihre Schultern und ihre bernsteinfarbenen Augen waren vor Panik und Überraschung weit offen. Auf ihrem blassen Hals hinterließ das aus ihrer Wunde heraustropfende Blut eine grausam rote Spur. In ihrem Arm hielt sie Elisabeth, die ähnlich schrecklich zugerichtet war und in deren aufgerissenen Augen unvorstellbare Angst lag.
»Was haben sie nur mit euch getan?«, flüsterte David, bevor seine Stimme brach. Salzige Tränen liefen über seine Wangen, seinen Hals und mischten sich mit dem roten Blut, das aus seiner Wunde floss …
Mit einem Stöhnen fuhr David aus dem Schlaf und fand sich in seinem modernen Bett in seiner modernen Wohnung wieder. Die letzte Zeit verfolgte ihn wieder der Alptraum seiner Verwandlung zum Vampir. Seine Gedanken wanderten wieder in die Vergangenheit zurück.
Die Strigoi-Fürstin Erzebet und ihr Geliebter Damien waren beide einst Portalwächter im Dienste Liliths und Dragans gewesen. Eines Nachts waren die beiden in der Menschenwelt unterwegs gewesen, um sich um ein paar ungeklärte Verbrechen seitens Vampiren zu kümmern, als eine Gruppe Menschen sie überwältig hatte und die beiden zusammen in einem Verlies eingemauert hatten. Der Blutdurst hatte beide beinahe wahnsinnig gemacht; irgendwann hatten sie sich nicht mehr beherrschen können und sich gegenseitig Blut abgenommen. Dies hatte sich als sehr fatal ausgewirkt, denn wenn Vampire sich gegenseitig Blut abknöpften, veränderten sie sich erneut, die menschliche Seite dieser Vampire trat zurück und entfesselte den Dämon in ihnen. Sie hatten bereits böse im Schattenland gewütet, als sie David verwandelten. Sein »Glück« war es gewesen, dass Erzebet ihn verwandelt hatte und nicht ihr Freund Damien, wie er von Lilith im Elysion erfahren hatte. Da Damien von Dämonen abstammte und auch noch Strigoi war, hätte David mit einem stärkeren Dämon in sich kämpfen müssen. Wenn auch sein Dämon noch immer schlimmer in ihm wütete als bei den meisten anderen Vampiren. Sein Kollege Corvin hatte ihm wertvolle Hilfe beim Kampf gegen seinen inneren Dämon geleistet. Ihn hatte es noch schlimmer erwischt: er war ein paar Jahre vor David von Damien verwandelt worden. Oft hatte sein Dämon ihn so sehr gequält, dass er sich freiwillig einsperren ließ, um niemanden zu gefährden. David hatte seine Willensstärke immer sehr bewundert. Es hatte lange gedauert, bis man Erzebet und Damien dingfest machen konnte. Sie wurden gepfählt und das Land sah eine längere ruhige Phase. Auch konnten sowohl David als auch Corvin fast wie Moroi-Vampire leben; ohne ihre Erschaffer war auch der Dämon in ihnen auf Zwergen-Größe geschrumpft.
David ließ sich zum Portalwächter ausbilden und fand gute Freunde in seinen Kollegen Dantorius, Francis, Rafael und Corvin. Sie halfen ihm über düstere Phasen hinweg und unterstützten ihn dabei, in seine Rolle als Vampir und Portalwächter hineinzuwachsen.
Bis Erzebet durch einen dummen Zufall aus ihrem Schlaf gerissen wurde. Mit ihrem Erwachen begann eine Schreckensherrschaft, die sich jedoch nur auf das Gebiet rund um Erzebets Fürstentum innerhalb des Schattenlandes beschränkte. Sie hatte zwar die Finger nach weiterem Land ausgestreckt, aber das Elysion griff sie niemals an. Dennoch zog sie eine Schneise an Tod, Verderben und Unglück durch das Land, das sie beherrschte. Es hatte viele Kämpfe gegeben und viel Tod und Elend, aber letztendlich hatte ein achtzehnjähriges Mädchen, das nur auf der Suche nach seinem Vater war, dieser Schreckensherrschaft ein Ende bereitet. Dana. Die junge Frau, die nicht nur eine große Last von dieser Welt genommen hatte, sondern auch aus einem Vampir wieder einen Menschen gemacht hatte. Wie sehr David Francis dies auch gönnte, so sehr beneidete er ihn für diese Liebe. Ob er nach Danielle jemals wieder so große Liebe erfahren würde? Eine Liebe, die einen halben Strigoi wieder zu einem Menschen machte? Darüber hatte er sich nicht viele Gedanken machen können, denn Ruhe gab es auch fünf Jahre nach Erzebets Tod nicht, denn bei den Strigoi, die zusätzlich noch Dämonen-Blut in sich hatten, dauerte die Rückverwandlung sehr lange. Seine Aufgabe war es, diese Strigoi aufzuspüren und zu pfählen. Sein Freund und Kollege Aodhán, ein Dunkelelf, war sein Partner bei dieser Sondermission. Beide hatten sie die Fähigkeit, das dämonische Erbe von Strigoi aufzuspüren. Es war ein verdammt gefährlicher Job und beide hatten sich mehr als einmal gegenseitig aus dem Schlamassel gezogen. Apropos Job: wenn er jetzt nicht aufstand, würde er zu spät zu seiner Schicht kommen. Sie waren bereits an einer Spur dran, die zu Leros führte, dem Ersten Offizier Erzebets, der noch durchaus viel kriminelle Energie hatte. Der rattengesichtige Vampir hatte zu den grausamsten und skrupellosesten Gefährten Erzebets gehört und David hatte ein ungutes Gefühl, dass er nur auf eine Gelegenheit wartete, Erzebets Schreckensherrschaft fortzusetzen. Seine Spur führte zu den Dunkelwäldern, wo es eine alte verlassene Festung gab. Einige Waldbewohner hatten dort mehrere Strigoi herumstreichen gesehen; einer von ihnen war eindeutig Leros.
Energisch sprang David aus dem Bett und marschierte ins Bad.
Endlich verließ der verdammte Strigoi-Wächter seinen Posten an der Hintertür der alten Drachenburg in den Dunkelwäldern; David hatte bereits gefürchtet, er müsse die ganze Nacht hier ausharren. Als Vampir fror er zwar nicht, aber die Feuchte des Nachtnebels kroch durch seine Kleider und schmerzte in seinen alten Vampirknochen. Aodhán hatte sich in den Büschen im Gesichtsfeld des Strigoi verschanzt und einen kleinen Feuerball geschleudert, der den dämonischen Vampir aufhorchen und sich umdrehen ließ. David schlich sich leise von hinten an den Unhold heran und rammte ihm einen Pflock durch das Herz. Dieser zerfiel schneller zu Staub, als David bis drei zählen konnte. Eilig nahm er die Waffe und die Uniform-Jacke des Zerbröselten an sich. Er zog seine Portalwächter-Lederjacke aus und warf die Uniform-Jacke über, die elend nach Verderben und Fäulnis roch. Das würde ihn perfekt tarnen, wenn er die Strigoi ausspionierte. Den Pflock des Getöteten steckte er ebenfalls ein. Als er gerade fertig war, sah er Aodhán sich aus den Büschen arbeiten.
»Dein Ablenkungsmanöver hat wunderbar geklappt«, sagte David zufrieden und erntete ein Grinsen.
»War mein leichtester Job.«
»Ich werde mich mal in die Höhle des Löwen begeben und Leros ein wenig ausspionieren. Meine alten Vampirknochen spüren Unheilvolles.«
»Ich werde die Stellung draußen halten und dich warnen, wenn noch mehr Strigoi auftauchen.«
David nickte seinem Kollegen zustimmend zu, öffnete die Tür und verschwand in der Burg.
Eine gefühlte Ewigkeit wanderte er durch die Finsternis. Einzig seine gute Vampirnase führte ihn erst durch mehrere Gänge und dann einige Treppen bis tief unter die Erde, bis er Stimmen hörte. Am Ende des Ganges, den er gerade entlang schlich, sah er das zittrige Licht von Fackeln. Er ging näher heran und versteckte sich hinter mehreren Fässern. Hoffentlich kam jetzt keiner von hinten. Aber sie waren ja nur zu dritt gewesen. Und Aodhán hielt draußen Wache und würde ihn sofort informieren, wenn dort irgendetwas stank.
Durch den Spalt zwischen den zwei Fässern sah er einen rothaarigen, rattengesichtigen Vampir. Sein bleiches Gesicht sah so triumphierend aus, dass David am liebsten eine Rechte auf seiner Nase platziert hätte. Leros Begleiter grinste ebenso ekelhaft. Vor ihnen stand ein gläserner Sarg, dessen Deckel Leros nun abnahm. David stockte der Atem. Dort lag Damien mit einem großen Pflock im Herzen. Auch im Schlaf sah er noch grausam und teuflisch aus. Wie zum Teufel hatte Leros ihn gefunden?
»Damien wird unser Mittel zum Zweck sein, um die Strigoi zu stärken. Er ist der einzige Strigoi, der noch übrig ist und die Wirkung seines Blutes wird noch dadurch verstärkt, dass er ein direkter Nachfahre eines Dämons ist. Dies hat mir Erzebet erzählt. Ursprünglich hat sie ihn wieder erwecken wollen, denn die Wirkung ihres Blutes wurde immer schwächer. Die Arbeit, sie zu beseitigen hat uns die elende Brut von Daniel ja abgenommen. Mit Damien werde ich sehr schnell zum Herrscher über das Schattenland aufsteigen.«
David konnte nur den Kopf schütteln. Dafür, dass auch in Leros Adern ein wenig Dämonenblut vorhanden war, war er verdammt naiv. Der Halbdämon Damien hatte sich zum Vampir machen lassen und wurde danach auch noch zum Strigoi. Das bedeutete, dass er fast so viel kriminelle Energie hatte wie ein ausgewachsener Dämon und dazu noch ein hervorragender Schwarzmagier war. Der würde Leros mit Leichtigkeit übertölpeln. Aber selbst wenn Leros es schaffte, Damien den Pflock aus dem Herzen zu ziehen, lag noch immer ein Fluch auf dem Unhold. Der kam von Dragan und Lilith. Und der Vampir, der einen solchen Fluch brechen konnte, musste erst einmal geboren werden. Dennoch musste man mit Leros vorsichtig sein; der war mit allen Wassern gewaschen.
Nun beugte er sich gerade über den Sarg, griff den Pflock und zog ihn mit einer Leichtigkeit aus Damiens Brust, die David mehr als entsetzte. Es bewegte sich etwas und kurze Zeit später sah David direkt in Damiens Gesicht, was ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Doch einen Augenblick später sackte dieser zurück in den Sarg, jedoch blieben seine Augen offen und es sah aus, als würde er alles um sich herum mitbekommen.
»Sieht nicht so aus, als wäre er uns von Nutzen.«
»Immerhin können wir so an sein Blut heran und neue Strigoi heranziehen.«
»Das wird aber nicht ewig gut gehen. Irgendwann ist er ziemlich blutleer.«
»Auch daran hat Erzebet gedacht. Das Blut von Feuerhexen, Nachtelfen und Vampiren kann ihn soweit stärken, dass er weiter Strigoi-Blut produzieren kann. Wir werden also die Feuerhexen, Feuermagier und Vampire etwas dezimieren. Ich weiß auch schon, wer unsere ersten Opfer werden. Eine dieser elenden Portalwächterinnen lebt nahe am Dunkelwald mit ihrer Familie. Sie ist eine Feuerhexe.«
David blieb das Herz beinahe stehen. Er musste dringend Aodhán warnen. Seine Familie war in höchster Gefahr! Oder aber er versuchte, Leros und seinen Kumpanen von Damien wegzulocken. Er nahm einen Stein, der neben ihm lag und warf ihn mit Karacho in den Gang hinter sich. Dann verkroch er sich in eine dunkle Ecke. Sein Trick schien zu wirken. Die Strigoi blickten alarmiert auf und rannten in die Richtung, wo der Stein aufgeschlagen war. Eilig lief er zum Sarg und zückte seinen Pflock, um ihn in die noch blutverkrustete Wunde in Damiens Brust zu stoßen. Doch er kam nicht mehr dazu. Jemand hieb ihm etwas Hartes über den Kopf und beförderte ihn ins Reich der Träume.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Sarg dessen gläserner Deckel geschlossen war. Etwas schmerzte heftig in seiner Brust. Mit größter Mühe öffnete er die Augen und sah schemenhaft etwas aus seinem Oberkörper ragen. Verdammt! Sie hatten ihn wohl gerade eben gepfählt. Er versuchte, unbemerkt nach oben zu schielen. Es schien niemand mehr hier zu sein. Die hatten es ziemlich eilig gehabt, Damien fortzuschaffen. Plötzlich fiel ihm ein, was Leros und sein Kumpan noch vorhatten. Er musste Aodhán dringend warnen. Viel Zeit hatte er nicht, denn er spürte schon die Kälte und Erschöpfung in seinen Körper kriechen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich fest auf seinen Kollegen.
Francis war bereits seit mehreren Stunden unterwegs, seit er seine letzte Schicht als Portalwächter abgeschlossen hatte. Nun war er wieder Privatmann und konnte seine musikalische Karriere vorantreiben und ein ganz normales Leben als Ehemann und baldiger Vater leben. Ein Leben, nach dem er sich schon eine gefühlte Ewigkeit gesehnt hatte.
Die Kollegen hatten ihm noch eine Überraschungsparty geboten, die ihm tatsächlich vor Rührung die Tränen in die Augen getrieben hatten. Nun, die Freunde waren nicht aus der Welt und auch in der Menschenwelt lebten genug magische Wesen, die er kannte und mit denen er gut befreundet war. Und dort lebte Dana, die Frau, die ihn wieder zu einem Menschen gemacht hatte. Naja – fast. Einige vampirische Eigenschaften waren ihm geblieben. Er sah bei Nacht immer noch verdammt gut und sein Spürsinn funktionierte noch bestens. Und eben dieser Spürsinn meldete sich immer vehementer, je tiefer er in Richtung Dunkelwälder fuhr. Dort hatte er einen Abnehmer für das alte Taxi gefunden und bei dieser Gelegenheit wollte er seinem Portalwächter-Partner Aodhán und seiner Familie einen kurzen Besuch abstatten. Komisch, dass er nicht auf der Party gewesen war. Auch seine Freunde hatten sich gewundert, hatte er doch begeistert zugesagt, Francis zu verabschieden. Es war noch eine Stunde Fahrt bis zu Aodhán und Francis beschloss, einen kurzen strategischen Halt zu machen für ein dringendes Bedürfnis und um eine zu rauchen. Er fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Als er einen tiefen Atemzug nahm, stieg ihm ein sehr unangenehmer Geruch nach Fäulnis in die Nase. Nun, es gab allerhand interessante und unangenehme Gerüche in diesen undurchdringlichen Wäldern. Nachdem er kurz einen Baum bewässert hatte, steckte er sich eine Zigarette an und hing seinen Gedanken nach. Bis Wind aufkam und ihm einen üblen Geruch nach Tod und Verwesung in die Nase trieb. Oha, hier waren wohl noch einige Strigoi unterwegs, die die Portalwächter übersehen hatten. Plötzlich schlug Francis Herz bis zum Hals. Hier stimmte so ganz und gar nichts. Eilig löschte er die Zigarette und sprang ins Auto. Nach einer dreiviertel Stunde halsbrecherischer Fahrt stand das Taxi endlich vor Aodháns Hütte. Seltsam, die Haustür stand auf und das Haus war dunkel. Als Francis ausstieg, hätte der faulige Strigoi-Geruch ihn fast erschlagen. Verdammt! Hoffentlich waren die nicht noch drinnen. Auf Zehenspitzen schlich er um das Holzhaus herum, aber draußen war niemand. Zögernd betrat er das Haus. Es herrschte eine unheimliche Stille im Haus. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er, dass diese Typen großes Chaos angerichtet hatten. Und irgendwie fühlt er sich verfolgt.
***
Zitternd saß Adeen in der Küche zwischen Eckbank und Küchenschrank. Wer schlich hier herum? Strigoi? Wenn ja, musste sie gerüstet sein. Sie schlich sich in die kleine Waffenkammer ihres Vaters und holte dort ihren Bogen und ein paar Pfeile heraus. Dort im Wohnzimmer stand ein Mann. Sie blähte die Nasenflügel. Gut, der roch schon mal nicht nach Strigoi. Aber sicher war sicher. Sie schlich sich heran und wollte bereits zielen, als der mittelgroße, schlanke Mann sich behände umdrehte. Seine Augen waren leuchtendblau und wurden von pechschwarzem Haar umrahmt, das er in einer Zopffrisur trug.
»Du kannst die Waffe herunternehmen, Adeen. Ich gehöre zu den Guten«, sagte er ruhig. Das Mädchen atmete auf, als es ihn erkannte.
»Francis! Gott sei Dank! Wir wurden überfallen.«
»Verdammt! Bist du die einzige Überlebende?«
Adeen schüttelte vehement den Kopf.
»Mama ist … tot … aber Papa lebt noch. Bitte helfen Sie ihm!«
Die Tür stand offen und sie schlichen sich vorsichtig hinein. Adeen lief in die Küche, wo ihr Vater eben noch gelegen hatte. Er saß nun aufgerichtet an einem Unterschrank.
»Im Namen Dragans und Liliths, was haben sie dir angetan!«, rief Francis betroffen aus.
»Sie waren zu dritt, Francis. Leros und zwei Strigoi, die ich nicht kenne. Leros hat Damien wieder erweckt. David … David kam ihnen auf die Schliche und hat mich gewarnt, aber … zu spät. Sie haben … ihn gepfählt und uns als Blutopfer für Damien missbraucht. Du musst die Portalwächter warnen, Francis!«
»Alles zu seiner Zeit. Erst einmal helfen wir dir.«
»Genau, Papa, wir nehmen dich mit zu einem Heiler«, mischte Adeen sich ein, die mit Tränen in den Augen auf ihren Vater blickte.
Dieser lächelte schwach und bedeutete ihr, sich zu ihm zu knien. Francis trat dezent in den Hintergrund.
Mit zittrigen Fingern strich Aodhán über Adeens Wange. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und aus einer Wunde aus seinem Hals rann stetig rotes Blut in seinen Kragen.
»Es gibt keine Hilfe mehr für mich, mein kleines Feuer,« sagte er heiser. »Hör zu. In der Menschenwelt lebt mein Cousin Niall mit seiner Familie. Nimm Kontakt zu ihm auf, er wird sicher gerne bereit sein, dich aufzunehmen. Er ist ein guter Mann.« Er schloss sie in die Arme und murmelte noch etwas, das sie nicht verstand. Dann ließ er sie unvermittelt los.
»Nun geht, ihr beiden.«
»Ich werde Adeen zu Niall bringen«, versprach Francis. Aodhán sandte ihm ein dankbares Lächeln.
»Danke Francis.«
Ein letzter liebevoller Blick traf Adeen, dann sank sein Kopf müde zur Seite.
»Papa!«, rief Adeen verzweifelt und nahm sein Gesicht in ihre Hände, doch seine Augen waren tot und blicklos. Mit einem verzweifelten Schrei fing sie an, haltlos zu weinen. Sie wusste nicht, wie lange sie dort an seinem Leichnam gesessen und geweint hatte, als zwei Hände sie sanft, aber bestimmt hochzogen. Sie drehte sich langsam um und sah zu Francis auf. Sie konnte ihn vor Tränen kaum erkennen. Ihr Kopf sank an seine Schulter und dann gab es nur noch Tränen. Eine ganze Zeit. Und er stand einfach geduldig da, ohne etwas zu sagen.
Nach einer gewissen Zeit räusperte er sich.
»Wir müssen gehen, Adeen. Pack deine wichtigsten Dinge zusammen. Ich werde dich in Raffaellos Kinderheim unterbringen, bis deine Eltern beerdigt sind. Danach bringe ich dich zu Niall.«
Der Lärm ließ das etwa vierzehnjährige Mädchen aus dem Schlaf fahren. Unten im Haus war großer Tumult zu hören und es waren entsetzliche Schreie zu hören; die Schreie ihrer Mutter und ihres Vaters. Dann hörte sie hastige Schritte, in den anderen Räumen wurden Türen aufgerissen und wieder zugeschlagen. Instinktiv sprang das Mädchen aus dem Bett und faltete schnell die Decke zusammen. Dann kroch sie in den Kasten der großen Uhr in ihrem Zimmer. Keinen Augenblick zu früh. Gott sei Dank passte sie noch da hinein. Wieder wurde die Tür aufgerissen.
»Hier ist niemand mehr, Leros«, hörte sie eine tiefe, unheimliche Stimme sagen. Zaghaft erhob sie sich und blickte durch das Glas des Uhrkastens. Erschrocken fuhr sie zusammen. Zwei Männer standen dort, beide totenblass, einer mit rötlichem Haar, hell leuchtenden Augen mit einem ekelhaft roten Ring um die Iriden und einem Gesicht, das stark an eine Ratte erinnerte; der andere war dunkelhaarig und hatte eben solche unheimlichen Augen, mit dem Unterschied, dass diese hellgrau leuchteten.
Das Mädchen im Uhrkasten musste sich zwingen, nicht vor Angst zu schreien oder zu weinen. Schnell duckte sie sich wieder hinunter und kam erst heraus, nachdem sie die Haustür hörte, die sich laut knallend schloss. Schnell rannte das Mädchen ans Fenster und atmete erleichtert auf, als sie die Männer in einem dunklen Auto davonbrausen sah. Mit klopfendem Herzen schlich sie die Treppe hinunter.
»Mama, wo bist du?«, rief sie ängstlich und irgendwann fand sie die Mutter leblos im Wohnzimmer liegend. Überall war Blut.
»Mama?« Die Kleine sank auf die Knie und schüttelte ihre Mutter, aber diese wachte nicht auf. Tränen schossen dem Mädchen in die Augen. Auf einmal hörte sie wieder ein Geräusch. Waren die Männer wieder da? Sie sprang auf und fand ihren Vater, einen großen rothaarigen Mann in der Küche liegen. Stöhnend richtete er sich auf.
»Adeen«, murmelte er leise, »du musst flüchten …
Erschrocken fuhr Adeen zusammen und öffnete verwirrt die Augen. Sie lag im Bett, der Mond schien friedlich durch die Spalten des Rollos im Mansardenzimmer. Was war passiert? Auf einmal kam die Erinnerung zurück: Es war ein so schreckliches Erlebnis gewesen, dass ihre Mutter kaltblütig ermordet wurde und sie nichts, aber auch gar nichts dagegen hatte tun können. An viel konnte Adeen nicht erinnern; was damals passiert war, das ihre Eltern das Leben gekostet hatte war nur ein schwarzer Schatten in der hintersten Ecke ihres Gehirns. Ein dämonischer Mann mit kalten grausamen und rotglühenden Augen trat immer wieder in ihre Erinnerungen. War er der Mörder? Adeen hatte keine Ahnung. Sie war vierzehn Jahre alt gewesen, als es passiert war, also alt genug, um sich an etwas zu erinnern, aber sie hatte die ganzen letzten Jahre diese schlimme Erinnerung in den Tiefen ihrer Seele aufbewahrt. Woran Adeen sich noch erinnern konnte, war, dass einer seiner Kollegen, Francis, sich um sie gekümmert hatte. Er hatte sie zu Niall, dem Cousin ihres Vaters gebracht, bei dem sie fortan aufgewachsen war. Ihre neue Familie hatte dafür gesorgt, dass sie langsam über den Schmerz hinwegkam, aber den Überfall auf ihre Eltern konnte sie nicht vergessen. Nun war sie bereits 18 Jahre alt und wusste noch immer nicht, ob dies ein Traum oder wirklich eine schreckliche Erinnerung war. Leider konnte Niall als Cousin ihres Vaters ihr nicht viel zu den Beweggründen dieses Überfalls erzählen, denn er lebte schon in der Menschenwelt, seit er ein ganz junger Mann war und hatte nur wenig Kontakt zur restlichen Familie gehabt. Dennoch war er in den letzten vier Jahren zu ihrem Ersatzvater geworden, seine Frau Viviane hatte sich liebevoll um sie gekümmert und sie freundete sich eng mit ihren Kindern Marya und Marcus an. Aber dennoch fehlten ihr ihre leiblichen Eltern so sehr. Und seit ihrem achtzehnten Geburtstag vor kurzem träumte sie fast jeden Tag einen anderen Traum, der so stark war wie eine Vision. Er handelte von einem großen, schlanken Mann mit blondem Haar, das im Nacken zusammengefasst war und mit schräg stehenden grünen Augen, in denen Silberlichter tanzten. Und Adeen fühlte eine irgendwie überirdische Ausstrahlung, die von ihm ausging, und roch ein eigenartiges Aroma nach Wald und Wiese. Ihr Vater war das nicht. Aber dennoch spürte sie eine enge verwandtschaftliche Verbindung zu diesem Mann. Was zum Teufel wollte dieser Traum ihr sagen? Seit einiger Zeit erschien er immer wieder in ihren Träumen. Und immer wieder stand ihn seinen Augen ein beschwörender Blick. Irgendein seltsames Gefühl sagte ihr, dass sie ihn irgendwann wieder sehen würde. Warum aber war sie so sicher? Das Klopfen an der Tür schreckte Adeen auf. Diese öffnete sich und Niall steckte den Kopf hinein- Warm leuchteten seine grünen Augen sie an.
»Guten Morgen, Adeen«, begrüßte er sie mit seiner markanten dunklen Stimme.
»Morgen«, murmelte sie und richtete sich gähnend auf. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett und setzte sich.
»Oh, habe ich dich geweckt?«
»Nein, alles gut. Ich war schon wach. Was liegt an?«
»Wir wollten einen Ausflug in die Berge machen und anschließend zum Italiener gehen. Willst du mitkommen?«
»Tut mir leid, aber ich habe heute keine große Lust auf Bergluft. Bin heute irgendwie kein Gewinn für andere Leute. Immer wenn sich der Überfall jährt, bin ich so am Boden zerstört. Nichts macht wirklich Spaß«, gab Adeen zu und schämte sich, dass schon wieder die Tränen kamen. Niall trat an ihr Bett, setzte sich an die Bettkante und legte einen Arm um ihre Schulter. Adeen legte den Kopf an seine Schulter und ließ sich umarmen.
»Das kann ich gut verstehen, Adeen. Auch ich habe meine Eltern früh verloren. Die Zeit geht vorbei, aber am Todestag ist der Schmerz noch immer genau so schlimm.«
In seinen Augen stand viel Mitgefühl, was Adeen heftig schlucken ließ. »Sorry, dass ich so schlecht drauf bin.«
»Ist doch kein Problem. Mach einfach, was dich ein wenig aufbaut. Aber zum Italiener kommst du heute Abend mit?«
»Ja.«
»Gut. Bis heute Abend.«
Nachdem Adeen ausgiebig gefrühstückt und geduscht hatte, beschloss sie, hinaus zu gehen, sich einen ruhigen Ort zu suchen und ein paar Gedichte zu schreiben. Sie schnappte sich ihr Notizbuch, einen Apfel und eine kleine Wasserflasche und stopfte alles in einen Rucksack. Leichter Nebel und frische Herbstluft umfingen Adeen, als sie die Haustür öffnete. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie die Feuchte und Frische in sich auf. In der Ferne brach die Sonne schon durch den Nebel und kündigte einen schönen Herbsttag an. Adeens Füße trugen sie wie von selbst in das nahe gelegene Villenviertel. Durch den Nebel sahen die Häuser beinahe märchenhaft-mystisch aus und irgendwann stellte sie überrascht fest, dass sie schon fast den Wald erreicht hatte. Nun, ein kleiner Waldspaziergang konnte nicht schaden. Adeens Schritte wurden schneller und sehr bald umfing sie der würzige Geruch nach Nadelbäumen, verrottenden Blättern, feuchtem Waldboden und Erde. Auf einmal fühlte sie die Trauer nicht mehr so sehr und nahm einen tiefen Atemzug. Im Wald hatte sie sich schon immer wohl gefühlt, sie spürte dort eine große Sicherheit und Geborgenheit. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Und warum brachte sie das Thema Wald immer gedanklich zu ihrer Familie?
Adeen erinnerte sich noch, wie ihr Vater mit ihr ausgeritten war, sie durfte vorne im Sattel Platz nehmen und er ritt mit ihr in den Wald, er erklärte ihr dessen Wunder und zeigte ihr sämtliche Tiere, die dort lebten. Aber Adeen träumte auch von anderen Wesen. Satyrn, Zentauren, Hexen, die leuchtende Feuerbälle in den Nachthimmel schossen. Auch tauchten in ihren Träumen immer wieder Menschen wie dieser seltsame rattengesichtige Mann auf. Sie wirkten geschmeidig und raubtierhaft, aber dennoch viel menschlicher als er. An einen dieser Menschen erinnerte Adeen sich noch deutlich. Er hatte Augen, die tiefblau leuchteten wie das Meer, ein feines Gesicht mit langem, kupferbraunem Haar. Auf seinen Lippen schien immer ein Lächeln zu stehen. Oft war er bei ihren Eltern zu Gast gewesen. Diese Erinnerungen waren so diffus, dass sie Adeen wie Träume vorkamen. Und wenn sie tiefer in diese Erinnerungen eintauchen wollte, verpufften diese einfach. Das war sehr frustrierend. Was zum Teufel hatte ihr Vater mit ihr getan? Ihre Erinnerung beeinflusst? Hätte er doch lieber die Erinnerung an diesen schrecklichen Überfall gelöscht, anstatt den Rest, der doch gut war. Doch wie konnte sie ihm böse sein? Er war tot und sie musste nach vorne sehen. Ein normales Teenagerleben war das, was sie damals dringend gebraucht hatte und dies hatte sie auch von Niall und seiner Familie bekommen.
Auf einmal stieß Adeen unsanft gegen einen Pfeiler. Nanu, was tat der hier im Wald? Jetzt erkannte sie unter wildem Gestrüpp ein Tor und einen alten Weg. Neugierig blickte sie durch das Geäst. Etwas weiter entfernt sah sie ein uraltes Herrenhaus. Sehr inspirierend. Komm und entdecke mich, schien diese alte Villa Adeen zuzuraunen. Dazu war sie nur allzu gerne bereit. Ungeduldig schob sie das Geäst zur Seite und quälte sich ab, das völlig verrostete Tor zu öffnen, damit sie durchschlüpfen konnte. Nach ein paar Schritten durch den verwilderten Garten stand Adeen unvermittelt vor der Rückseite der großen Villa. Sie arbeitete sich durch jede Menge Brennnesseln und weitere pflanzliche Fußangeln, bis sie die Vorderseite des Hauses erreichte. Von vorne sah es nicht einmal so übel aus. Es hätte zwar einen neuen Anstrich gebraucht, aber es wirkte imposant und würdevoll – und als ob dort noch jemand wohnen würde. Aber warum hatte der Besitzer seinen Garten so verwildern lassen? Beeindruckt ging Adeen die große Freitreppe hinauf. Mit einem Quietschen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karin Kaiser
Bildmaterialien: Bildmaterial erstellt mithilfe von NightCafé
Cover: Karin Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2023
ISBN: 978-3-7554-5487-8
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