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Enttäuschungen

Der Himmel draußen war grau und verhangen, zwischen den Wolken blitzte es und kurz darauf folgte lauter Donner. Weltuntergangsstimmung. So wie der Himmel aussah, fühlte sich Melissa. Einsam, traurig, wütend. Vor zwei Monaten hatte sie ihrem Freund Simon freudestrahlend verkündet, dass sie ein Kind erwartete. Wer nicht strahlte, war Simon gewesen. Er mochte keine Kinder und Vater zu werden, war in seiner Zukunftsplanung nicht vorhanden. Wenn das Kind einmal da war, würde er sich ändern. Hatte sie geglaubt. Doch das Schicksal hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach zwei Monaten und fast täglichen Meinungsverschiedenheiten mit Simon hatte sie unerträgliche Unterleibsschmerzen und Blutungen bekommen. Der Arzt, den sie eilig aufgesucht hatte, hatte ihr bestätigt, dass sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Und ihre Welt war mit einem lauten Krachen zusammengebrochen. Simon hatte nach der Fehlgeburt geradezu erleichtert gewirkt, er hatte wirklich geglaubt, sie würden in ihrer Beziehung genauso weitermachen können wie vor dem Vorfall. Warum hatte sie erst so spät gemerkt, was für ein egoistischer Drecksack ihr Freund war? Sie hatten sich in den zwei Monaten nach der Fehlgeburt derartig auseinander gelebt, dass die Trennung schon vorprogrammiert war. Zum Glück hatte sie von einer Studienkollegin erfahren, dass deren kleine Wohnung kurzfristig frei wurde. Diese hatte eine Auslandsstelle angenommen und ein paar Möbel konnte Melissa auch übernehmen. So war sie schnellstens ausgezogen und hatte es bisher nicht bereut. Obwohl sie immer wieder eine enorme Traurigkeit wegen des Verlustes ihres Kindes überfiel und sie sich oft einsam fühlte, ging es doch besser. Doch oft – so wie heute – fühlte sie sich einsam und mutlos, obwohl ihre Eltern und ihre Freunde ihr Bestes taten, um ihr aus diesem Tief herauszuhelfen.

 Melissa verließ ihren Platz am Küchenfenster und stellte die leere Kaffeetasse neben die Kaffeemaschine auf der Arbeitsplatte. Danach schlurfte sie ins Bad, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu waschen.

Ein müdes Gesicht mit trüben Augen und wirren kupferbraunen Haaren sah sie an. Die junge Frau schaufelte sich eine Ladung Wasser ins Gesicht. Das machte es auch nicht besser. Die Niedergeschlagenheit in ihren grünen Augen blieb noch immer. Was sollte Melissa nur tun? Wie konnte sie nur aus diesem Loch der Depression herauskommen? Sie ging ins Wohnzimmer und knipste das Licht an. Das Zimmer war mit einer kleinen Schrankwand aus Kirschbaum-Holz eingerichtet, die ihre Eltern aus deren Gästezimmer geholt hatten, einer schwarzen Ledercouch, auf der eine Decke in rot-orange-gelb mit stilisierten afrikanischen Mustern lag und einer hübschen kleinen Stereoanlage, die sie günstig über Ebay erstanden hatte. In der Ecke am Fenster neben der Schrankwand hatte sie sich eine gemütliche Leseecke eingerichtet mit einem großen roten Ohrensessel und einer kleinen dunkelbraunen Kommode, die sie kurz nach Bezug der Wohnung auf einem Flohmarkt erstanden hatte.

Ihr Blick fiel auf ihr Bild von einem sich wütend aufbäumenden Meer im Sturm, in dem ein Schiff in die Wellen geworfen wurde. So hatte sie sich die letzten Jahre oft gefühlt: machtlos und getrieben von einer übermächtigen See.

Mit einem Seufzen nahm Melissa ihr Notizbuch und einen Kugelschreiber vom Wohnzimmertisch und kuschelte sich in ihren Lesesessel.

Vielleicht lenkte es sie etwas ab, ihre neueste Buchidee aus ihrem Kopf aufs Papier zu transportieren.

 

***

 

Jons Hände zitterten, als er das Bild von Beth an sich nahm. Wie hübsch sie auf diesem Foto ausgesehen hatte, ihre blonden Haare waren windzerzaust und ihre blauen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. Sanft hielt sie ihren Babybauch und blickte so stolz in die Kamera. Jon spürte, wie seine Augen feucht wurden und eine Träne langsam seine bärtige Wange herunterlief. Beth gab es nicht mehr. Und auch ihr ungeborenes Kind nicht. Vor drei Jahren, als sie auf dem Weg zum Bahnhof war, um ihre Schwester in Manchester zu besuchen, hatte sie ein Lkw erfasst und aus dem Leben gerissen. Brutal und rücksichtslos. Wenigstens hatte er noch ihre Hand halten können und ihr versichern können, dass er sie immer lieben würde und sie nie vergessen würde. Er sah noch ihr schwaches Lächeln vor sich, die Liebe in ihren Augen, bevor das Lebenslicht verlöschte. Nie wieder würde er ihr nahe sein und niemals das ungeborene Kind sehen. Es war, als hätte ein Unhold ihm das Herz aus dem Leib gerissen und nur noch einen Schatten davon in seinem Brustkorb zurückgelassen. Jon stellte das Bild zurück an seinen Platz im Regal und wandte sich um.

Einige Zeit hatte er seinen Schmerz im Alkohol betäubt und hatte sich so viele Besäufnisse geleistet, dass die Universität, für die er als Historik-Dozent arbeitete, ihn abmahnte. Wenn er noch einmal wochenlang nicht zur Arbeit erschien, würde er seinen Job loswerden. Gut, er hatte sich zusammengerissen und seine Arbeit so-la-la gemeistert. Alkohol hatte es nur noch am Wochenende gegeben und davon sehr reichlich. Bis vor drei Monaten. Er hatte auf der Anrichte neben dem Couchtisch eine halbvolle Whiskyflasche stehen gehabt, deren bernsteinfarbener Inhalt darin warm und verlockend leuchtete und ihn verführen zu wollen schien, sie zu trinken, das wohltuende Brennen im Hals zu spüren und zu vergessen. Wie ferngesteuert war er hin gegangen und hatte die Flasche geöffnet. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich ein Glas zu holen, sondern setzte die Flasche direkt an die Lippen. Doch schon der erste Schluck hatte wie Gift geschmeckt. Und er hatte das diffuse Gefühl gehabt, eine innere Stimme frage ihn, was zum Teufel er hier tat. Ja, der Alkohol betäubte kurze Zeit, aber nach dem Rausch war die Misere immer noch da, Beth und das Baby immer noch tot und er hatte zusätzlich noch einen Kater. Nach diesem Erlebnis hatte er alle Alkoholika in der Küche in die Spüle geschüttet. Seitdem war er trocken. Nun gut, bis auf ein Glas Bier oder Wein, das er sich ab und zu gönnte. Es half vielleicht auch, dass das zweite Glas jeweils wieder wie Gift schmeckte. Sicher schwappte die Trauer immer wieder über seinem Kopf zusammen, aber nun wollte er am Leben bleiben und etwas daraus machen. Was auch gut half, war die Tatsache, dass sein kürzlich verstorbener Großvater ihm nicht nur eine nette Summe an Geld vererbt hatte, sondern auch ein paar sehr interessante historische Unterlagen. Sein Urururgroßvater war einst ein Pirat gewesen, der die Meere der Karibik unsicher gemacht hatte. Nach dem seine Geliebte ihm einen Korb gegeben und einen reichen Mann geheiratet hatte, hatte er blind vor Zorn und Eifersucht diesen Mann angegriffen, was ihm eine Überfahrt nach Australien eingebracht hatte. Nur war er dort nie angekommen. Das Schiff wurde von Piraten angegriffen und so wurde John Darrowmore Pirat. Und nach dieser gescheiterten Beziehung hatte er wohl noch einmal eine Freundin, mit der er ein paar Jahre in wilder Ehe gelebt hatte und mit ihr einen Sohn gezeugt hatte. So wie sein Tagebuch erzählte, hatte er wirklich versucht, ein guter Familienvater zu sein, doch nach ein paar Jahren war der Ruf des Meeres so stark gewesen, dass er seine Familie verlassen hatte. Doch vergessen hatte er sie nie. Von jedem Ort an dem er ankerte, schrieb er einen Brief an seinen Sohn und seine Geliebte und jedes Jahr zu Weihnachten bekam der Junge ein kleines Geschenk. Bis zu seinem sechzehnten Geburtstag. Danach blieben Briefe und Geschenke plötzlich aus. Es war, als hätte der Erdboden John Darrowmore einfach verschluckt. Wahrscheinlich war er bei Kämpfen ums Leben gekommen. Diese Geschichte war so phantastisch, dass man daraus locker einen Roman machen konnte. Es hatte einige Versuche gegeben, die allesamt im Papierkorb gelandet waren. Irgendwie hatte alles eher nach einer historischen Abhandlung als nach einem Roman geklungen. So hatte er in einigen Historik- und Autorenforen nach einem Autor gesucht, der mit ihm zusammen nach den Vorlagen einen Roman schreiben würde. Lange hatte er keine passende Antwort bekommen. Bis sich vor ein paar Wochen eine junge Autorin aus Deutschland sich auf das Historik-Forum verirrt hatte. Melissa war eine hübsche junge Frau mit kupferroten Locken und grünen Augen, die zwar recht selbstbewusst blickten, doch es war eine Trauer in ihnen, die John verriet, dass wohl auch sie mit Schicksalsschlägen zu kämpfen hatte. Nun gut, ihr Privatleben ging ihn nichts an, er wollte ja nur mit ihr einen Roman schreiben und sie nicht heiraten. Schnell hatte sich ein sehr netter Kontakt angebahnt und sie hatten sich oft geschrieben. Plötzlich hatte er große Lust, sich mit ihr zu treffen und sie persönlich kennenzulernen. Rasch nahm er das Handy und tippte los.

 

 

 

Der WhatsApp-Klingelton riss Melissa aus ihren Gedanken und sie zuckte zusammen. Sie nahm ihr Handy an sich. Es war John, ein junger Historiker, den sie bei der Recherche zu historischer Seefahrt und Piraterie auf einem Historik-Forum im Internet kennengelernt hatte. Er hatte im Nachlass seines Großvaters einen historischen Goldschatz gehoben: einer seiner Urahnen war tatsächlich der Kapitän eines Piratenschiffes gewesen und hatte ein Logbuch, ein Tagebuch und diverse Schreiben hinterlassen. Bis jetzt hatte es nur ein paar Mal Brainstorming per WhatsApp gegeben, doch jetzt schlug er ein Treffen hier in Deutschland vor. Melissas Herz klopfte bis zum Hals vor Aufregung. Jetzt wurden tatsächlich Nägel mit Köpfen gemacht. In vier Wochen wollten sie sich treffen, erst einmal zum Abendessen, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Nach einer Ewigkeit ging sie zum ersten Mal wieder mit einem Mann essen und war

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karin Kaiser
Bildmaterialien: Bildmaterial erstellt mit Dreamlike.art
Cover: Karin Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2023
ISBN: 978-3-7554-4631-6

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