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Kapitel 1

Fionna zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals hoch. Aber sie fror noch immer wie ein Schneider. Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr. Zweiundzwanzig Uhr neunzehn. In einer Minute fuhr der letzte Bus. Fionna nahm die Beine in die Hand, aber als sie an der Bushaltestelle ankam, sah sie nur noch die Rücklichter des Busses. Verflixt! Der nächste kam erst in aller Herrgottsfrühe. Es half alles nichts, sie musste zu Fuß gehen, sonst fror sie hier noch fest. Um dem Ganzen noch eines draufzusetzen, fing es jetzt auch noch an zu regnen. Sofort fingen ihre dunkelblonden Haare an, sich zu kräuseln. Fluchend warf Fionna sich die Kapuze über den Kopf, zog die Jacke enger um ihren schlanken Körper und beschleunigte ihre Schritte. Doch schon ein paar Minuten später spürte sie schon, dass die Feuchtigkeit durch ihre Jacke kroch. Missmutig blickten ihre hellgrünen Augen nach oben, aber der Himmel ließ sich nicht erweichen und es regnete weiter. Das Wetter passte genau zu Fionnas Stimmung. Die war schon mehr als unterkühlt. Schuld daran war ihr Ex Fabian, den sie heute in der Bar, in der sie einen Studentenjob hatte, mit seiner neuen Flamme gesehen hatte. Sie war hübsch, dunkelhaarig und edel angezogen. Die andere Frau musste so um die 25 Jahre alt sein, so wie Fionna. Verdammt, es war doch schon zwei Jahre her, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte! Warum tat es dann noch immer so verdammt weh, ihn mit einer anderen Frau zu sehen? Die Antwort konnte sie sich leicht selbst geben. Sie hatte ihn eben mehr geliebt als er sie. Vielleicht hatte sie sich auch zu sehr an Fabian geklammert, ihn als ihren einzigen Halt gesehen, weil sie nach dem schrecklichen Unfalltod ihrer Eltern, den sie selbst auch nur knapp überlebt hatte, als Heimkind aufgewachsen war? War es für ihn vielleicht auch unerträglich gewesen, dass sie immer wieder weinend und panisch erwachte, wenn sie vom Unfall träumte? Aber das war eigentlich auch alles. Die Erzieherinnen im Kinderheim waren zwar Nonnen gewesen, streng, aber dennoch liebevoll. Sie hatten ihr viel von dem schrecklichen Schmerz genommen und dafür gesorgt, dass sie jetzt ein recht normales Leben ohne seelische Kurzschlüsse führen konnte. Eigentlich hätte sie damals bei ihrer Tante aufwachsen sollen, aber diese war ohnehin schon immer labil gewesen und der Tod ihrer Zwillingsschwester hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Dennoch hatte Fionna jedes zweite Wochenende bei ihr verbracht und durch sie hatte sie ihre große Liebe zur Literatur entdeckt. Nun studierte Fionna Germanistik und Literatur, machte nebenher Lektorate und Korrekturen und sie arbeitete in der Bar ihrer besten Freundin Lisa. Diese war wesentlich älter als Fionna und nahm bei ihr schon fast die Stelle einer Mutter ein. Die junge Frau fühlte sich wohl und geborgen bei Lisa, die ihrer eigenen Mutter charakterlich sehr ähnelte. Manchmal nannte Lisa Fionna scherzhaft ›ihre zweite Tochter‹. Letztes Jahr hatte Fionna auch ein paar Urlaubstage mit der allein erziehenden Lisa und deren Tochter verbracht und hatte diese Zeit sehr genossen. Auch hatte Fionna es Lisa zu verdanken, dass sie nach dem Ende mit Fabian schnell an eine erschwingliche Wohnung herankam, die sie zusammen mit ihrer mütterlichen Freundin billig, aber gemütlich eingerichtet hatte. Wieder stieg eine Welle des Schmerzes und der Enttäuschung in Fionna hoch. Warum hatte sie nicht schon am Anfang ihrer Beziehung mit Fabian erkannt, dass er ihr nicht den Halt geben konnte, den sie brauchte? Dass er sich einfach aus der Affäre gezogen hatte, als er erfuhr, woher Fionnas Alpträume kamen, verstand sie bis heute nicht. Hätte er sie wirklich geliebt, hätte er all dies mit ihr durchgestanden. Obwohl es schon so lange her war, stiegen wieder Tränen in ihre Augen. Wie gelähmt stand sie hinter dem Tresen, als Fabian mit seiner neuen Freundin ausgerechnet diese Bar aufgesucht hatte. Und er hatte nicht einmal »Hallo« sagen können; er hatte einfach so getan, als würde er sie gar nicht kennen. Lisa hatte sofort ihre Anspannung bemerkt und dafür gesorgt, dass Fionna dieses Paar nicht bedienen musste. Mit einer Handbewegung hatte sie sie der jungen Frau bedeutet, nach hinten in die kleine Küche zu gehen, um dort zu helfen. Dafür war Fionna ihrer Chefin sehr dankbar. Sie ging Ralf, dem Koch, immer wieder gerne zur Hand, es war locker und lustig mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war von einer beeindruckenden Körpergröße und in seinen grauen Augen stand fast nie ein missmutiger Ausdruck, im Gegenteil, meist blitzten sie schelmisch. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm jungenhaft in die Stirn und machte ihn äußerst sympathisch. Und er konnte flirten wie ein Weltmeister, wenn er mal ausnahmsweise hinter dem Tresen stand. Er schien nie schlechte Laune zu haben, und seit er erfahren hatte, dass Fionna wieder Single war, bemühte er sich sehr um sie. Fionna mochte Ralf gerne, aber er war für sie eher wie der große Bruder, den sie nie gehabt hatte. Um zehn Uhr hatte sie dann gehen dürfen. Aber trotzdem fühlte sie sich noch immer mies und eine große Unruhe erfasste sie. Sie fing an, immer schneller zu laufen und innerhalb kurzer Zeit hatte sie die alte Stahlbrücke erreicht, die ein Flussufer mit dem anderen verband. Es war jetzt spät und sicher würde niemand sie aufhalten, dort hinauf zu klettern. Sie machte sich an den Aufstieg, der durch die Nässe ziemlich schwierig war. Ein paar Mal rutschte sie fast ab. Als sie endlich auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karin Kaiser
Bildmaterialien: Can Stock Inc. / grandfailure
Cover: Karin Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1465-1

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