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Strigoi

Gehetzt blickte ich mich um. Lange, viel zu lange war ich blindlings durch diesen dunklen Wald gerannt, vor was ich davonlief, wusste ich nicht so genau. Wo war er oder es? Warum zeigte es sich nicht? Ich spürte mit jeder Faser meines Körpers die Anwesenheit eines Wesens, das ich nicht ausmachen konnte; es war so nah, dass es mir beinahe die Luft zum Atmen nahm. Ich wandte mich nach vorn und rannte weiter. Vor lauter Angst sah ich nicht, dass auf einmal ein riesiger Abgrund vor mir gähnte. Zum Anhalten war es zu spät. Mit einem großen Schwung stürzte ich in den Abgrund und sah mit rasender Geschwindigkeit den steinigen Boden auf mich zukommen. Jetzt war es aus, in den nächsten Sekunden würde ich hart aufschlagen. Ich schloss die Augen und wartete auf den Aufprall. Aber der kam nicht. Stattdessen landete ich weich und sicher. Ich öffnete die Augen und fand mich in den Armen eines großen, schlanken Mannes wieder. Sein Gesicht sah ich nur schemenhaft, aber diese leuchtenden saphirblauen Augen brannten sich in meine Vorstellung ein.

 

Schweißgebadet fuhr ich hoch. Ich saß in meinem harmlosen französischen Bett mit meiner bunten Bettdecke auf den Knien. Um mich herum erkannte ich meinen Bauernschrank und mein Wecker tickte unschuldig vor sich hin. Mein Herz klopfte noch immer bis zum Hals. Mit zitternden Knien stand ich auf und ging in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Wasser heraus und hielt zuerst das kalte Gefäß an meine heißen Wangen. Wie gut die Kälte tat! So ein blöder Traum. Ich holte mir ein Glas aus dem Hängeschrank und goss es voll. Sprudelnd rann das Mineralwasser meine Kehle hinunter. Jetzt fühlte ich mich dem Rest der Nacht gewachsen. Ich schlurfte wieder ins Schlafzimmer zurück und kroch ins Bett.

Dieser verdammte Traum verfolgte mich, seit ich in diese alte Villa eingezogen war. Im Erdgeschoss war eine kleine Wohnung frei geworden, die für mich als alleinlebende Frau sogar erschwinglich war. Ich hatte mich vor ein paar Monaten von meinem Freund getrennt, nach dem er mich in einem Jahr gleich dreimal betrog. Fürs Erste hatte ich die Nase gestrichen voll von tiefergehenden Beziehungen.

Der morbide Charme dieser Villa hatte mich sofort für sich eingenommen. Der Besitzer hatte außen nicht viel verändert, sodass das Gebäude einen gewissen Endzeit-Charme ausstrahlte. Die Wohnungen in deren Inneren jedoch waren modern und gemütlich. Unten im tiefsten Kellergewölbe gab es angeblich sogar noch eine alte Gruft. Manche meiner Freunde fanden das unheimlich, aber ich konnte nur die Schultern zucken. Dort gab es nur tote alte Knochen; normalerweise waren Tote ziemlich harmlos. Dass mir das nichts ausmachte, lag wohl an meinem Hang zum Morbiden. Ich liebte alles, was düster und mystisch war, auch die entsprechende Musik und Literatur, obwohl ich mich nicht täglich in Schwarz kleidete. Gerade die melancholische, düstere Gothic-Musik hatte mich oft über den Tod meiner Eltern hinweggetröstet. Als ich dreizehn war, verschwanden meine Eltern urplötzlich von der Bildfläche. Sie wurden gesucht wie verrückt, doch man fand sie weder lebend noch tot. Oft genug hatte ich mir Gedanken gemacht, warum sie einfach verschwunden waren, ohne mich mitzunehmen. Wahrscheinlich hatten sie einfach einen Unfall gehabt und waren irgendwo in einem tiefen See versunken. Ich kam ins Kinderheim und hatte leider nicht das Glück, in meinem Alter noch adoptiert zu werden. Doch die Leiter des Heimes, ein Ehepaar, hatten sich weit über ihre Pflichten hinaus um mich gekümmert. Oft hatten sie mich zu sich nach Hause eingeladen. Scherzhaft hatten sie immer gesagt, ich sei ihre fünfte Tochter. So konnte ich wenigstens bisschen Nestwärme tanken. Und sie hatten sich eingesetzt, dass ich ein Stipendium bekam, um an der Musikhochschule zu studieren. Natürlich konnte ich allein von meiner Singerei nicht leben und so gab ich an der ortsansässigen Musikschule Gesangsunterricht, dazu kam zweimal die Woche noch ein Barjob in einem Gothic-Rockclub. So kam ich gut über die Runden. Meine Gedanken kehrten zu dem seltsamen Traum zurück. Warum träumte ich ihn erst, seit ich hier wohnte? Und warum sah ich diesen Mann so deutlich vor mir? Warum warum hatte ich das Gefühl, dass ich dringend einmal diese komische Gruft da unten besuchen musste? Ich verbot mir strengstens jeden Gedanken an diesen Traum. Träume waren Schäume und ich brauchte dringend eine Mütze Schlaf.

 

Kritisch betrachtete ich mich am Abend im Spiegel. Ich hatte nach langer Zeit meine Haare flammendrot gefärbt. Sie fielen heute so, wie sie sollten, und gaben meinem Gesicht einen zarten Porzellanton. Schminke hatte ich heute sparsam aufgetragen, lediglich einen rostroten Lidschatten und einen Lippenstift in derselben Farbe. Heute würde es hoch hergehen in meinem Lieblingsclub, denn heute fand seit Monaten wieder ein Live-Konzert einer recht bekannten Szene-Band statt, mit dem diese ihre Club-Tour eröffnen wollte. Es würde zwar viel zu tun geben, aber ich würde dennoch in den Genuss der Musik kommen.

 

»Ganz schön was los hier!«, rief Gabi, meine Kollegin an der Bar mir zu. Das Konzert begann gleich und die Gäste versorgten sich scharenweise mit Getränken. Als die ersten paar Lieder vorbei waren, war der größte Rummel weg und wir konnten auch ein wenig das Konzert genießen. Ich ließ meine Blicke über das Publikum schweifen; die Bar war etwas erhöht und so hatte man einen guten Überblick. Irgendwann driftete mein Blick träumerisch ab in Richtung Zuschauer. Auf einmal zuckte ich zusammen. Mitten im Publikum stand ein Mann, der mir sämtliche Haare zu Berge stehen ließ. Er war in Schwarz gekleidet, hatte nachtschwarze Haare und einem leuchtenden, stählernen Blick. Jetzt sah er auch noch zu mir hinüber. Schon von Weitem konnte ich ein rotes Leuchten in seinen stahlblauen Augen erkennen. Was zum Teufel war das für ein Mann? Rasch wandte ich den Blick ab und als ich wieder hinsah, sah er einfach aus wie ein normaler Gothic. Seine perfekten Lippen formten sich zu einem Lächeln, als unsere Blicke sich nochmals trafen. Dieser Mann war verdammt attraktiv, aber irgendein diffuses Gefühl in meinem Inneren sagte mir, dass ich mich besser nicht mit ihm einlassen sollte. Und eigentlich war er auch gar nicht mein Typ. Verdammt, begann ich jetzt, verrückt zu werden? Hier in diesem Club gab es genug Möchtegern-Vampire, die ihrem Aussehen mit farbigen Kontaktlinsen nachhalfen. Vielleicht war das ja auch so ein Durchgeknallter. Ich erwiderte sein Lächeln mit einem unterkühlten Blick und kümmerte mich um meine Bar. Es gab viel zu tun und bald vergaß ich den seltsamen Mann.

 

Die Nacht verging wie im Flug, die Musik war gut, und die Gäste waren sehr großzügig mit Trinkgeldern. »Heute hat es sich gelohnt«, meinte Gabi zufrieden und legte den Lappen zur Seite, mit dem sie die Theke auf Hochglanz gebracht hatte.

»Allerdings. Aber ich bin hundemüde«, antwortete ich. Gähnend rieb ich mir gähnend mein schmerzendes Kreuz.

»Soll ich dich mitnehmen, Aileen?«

Ich winkte ab.

»Nein, lass nur, ich wohne ja nur um die Ecke. Und ich habe keine Angst im Dunkeln.«

»Wie du willst. Schau zu, dass dir kein Werwolf oder Vampir in die Arme läuft«, meinte Gabi und blinzelte mir gut gelaunt zu. Sie war ein Spaßvogel wie er im Buche stand. Wunderte mich nur, dass diese Frau gerne Gothic Rock hörte. Ich zog meine Jacke an und verabschiedete mich von Gabi sowie den anderen Angestellten.

 

Als ich hinaus trat, empfing mich ein Schwall eisig kalter Luft. Der volle Mond stand klar und hoch am Himmel, umgeben von einigen Wolken und warf sein silbernes Licht auf die Landschaft. Herbstlicher Nebel kroch durch die Straßen und schmückte die Kronen der hohen Bäume der Allee, an dessen Ende das Lokal war. Ich machte mich in Richtung

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karin Kaiser, Dirk Harms, Harald Grenz
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Dirk Harms
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5805-3

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