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Prolog

Die Luft war eiskalt und feucht, der Schnee der letzten Tage war inzwischen ganz verschwunden. Nebelschwaden zogen durch den Wald, legten sich wie ein schützender Schal um die Bäume und die Statue eines Einhorns, die mitten im Wald stand. Niemand wusste, wie sie hierhergekommen war, ob sie das Werk eines verrückten Künstlers war oder warum sie ausgerechnet hier im Wald aufgestellt war. Aber das Einhorn war meisterhaft gearbeitet, der melancholische Ausdruck in seinen Augen, das gedrehte Horn auf seiner Stirn, sogar jedes einzelne Haar seiner vollen, langen Mähne war fein herausgearbeitet, sein Körper war edel und kraftvoll und dies alles ließ es sehr lebensecht wirken. Viele Wanderer, die sich an diese Stelle des Waldes verirrten, blieben stehen und bewunderten das herrliche Tier, Menschen mit kleinen Kindern setzten diese sogar auf seinen Rücken und machten Fotos. Doch als die Menschen wieder den Wald verließen, kam ein tiefes Seufzen aus der Kehle des Einhorns und nur die kleinen Tiere des Waldes hörten das Seufzen, manchmal hörten sie auch ein verzweifeltes Weinen, doch auch sie verweilten nur kurz, staunend über das seltsame Geräusch, das aus der Steinfigur erklang. Denn dieses Einhorn war nur äußerlich eine Statue. Unter der Steinschicht schlug ein Herz, das noch viel schwerer war als diese elende staubige Last aus Stein auf seinem Körper. Einst hatte dieses Tier auch einen Namen gehabt, Obsidian. So hatte man ihn genannt, als er weder ein Einhorn noch eine Steinstatue gewesen war. Einst war er ein Junge gewesen, mit bernsteinfarbenen Augen und Haaren, die so schwarz waren wie Obsidian, dem liebsten Edelstein seiner Mutter. Wieder schlich sich ein tiefes Seufzen aus der mächtigen Brust des Einhorns. Wie groß seine Sehnsucht war, sich endlich bewegen zu können, endlich wieder ein Mensch zu sein! So viele Menschen hatte er versucht zu rufen, damit sie ihm halfen, aber niemand hörte sein Flehen, bis jetzt war noch kein Mensch vorbeigekommen, der empfindsam genug war, um ein steinernes Einhorn zu hören. Dabei war er auf ein Menschenkind angewiesen, denn nur die Tränen eines Menschen mit einem reinen Herzen konnten diese Steinschicht wegsprengen. Seine Gedanken schweiften zurück zum Einhornwald, in dem so viele magische Wesen unter dem Schutz von Charis lebten. Charis war ein schlohweißes Einhorn, mit einem kunstvoll gedrehten, diamantenen Horn auf der Stirn, das in der Sonne bläulich schimmerte, ihre Augen waren von einem wunderbaren, tiefen Blau und voller Liebe und Güte, ihr Körper war fein und zierlich, aber dennoch wohnte so viel Kraft in ihr. Doch ihr Land war in Gefahr, denn Amalfina, eine Hexe mit einem mächtigen Zauberschwert, machte Charis die Macht streitig. Heiß schoss der Zorn in Obsidians Herz. Er kannte Amalfina, denn sie war seine Schwester gewesen. Und seine Gedanken drangen vor in frühere Erinnerungen. Ja, Amalfina war seine Schwester gewesen, ein hübsches Mädchen mit blondem Haar, wunderschönen hellen Augen und einem freundlichen Wesen. Einst hatten sie sich nach dem Tod ihrer Eltern auf den Weg in die nächste Stadt gemacht, um dort zu entfernten Verwandten zu gehen und diese zu bitten, sie aufzunehmen. Was für eine elend lange Wanderung das gewesen war! Und dann hatten sie sich in diesem Wald verirrt, wo Charis sie dann gefunden hatte. Sie hatte die weinenden Kinder getröstet und hatte sie in ihr Reich geführt. Dort kannte sie ein kinderloses Elfenpaar, das sich Obsidians und Amalfinas annahm und den beiden Kindern eine Heimat und Geborgenheit gab. Während Obsidian sich schnell an das Leben in dieser Welt gewöhnte, in der es immerzu Frühling war, blieb Amalfina sehr empfindsam und in sich gekehrt, es fiel ihr sehr schwer, sich umzugewöhnen. Viel zu sehr vermisste sie die geliebten Eltern. Ja, und dann hatten sie diesen verhängnisvollen Ausflug gemacht. Sie waren weit in den Wald vorgedrungen, bis zu einer großen Höhle. Die Pflegeeltern hatten sie gewarnt, nicht dorthin zu gehen und auf keinen Fall die Höhle zu betreten, denn diese sei das Tor zum Totenreich. Obsidian hatte vergeblich versucht, Amalfina abzuhalten, diese Höhle zu betreten. Viel zu besessen war sie von der Idee gewesen, dort die Eltern wieder zu sehen. Als seine Schwester hatte sie die Höhle betreten und als eine kaltherzige Hexe war sie wieder heraus gekommen, ein riesiges Schwert aus Stein in ihrer Hand haltend. Und mit diesem Schwert hatte ein böser Zauber von ihr Besitz ergriffen. Als er Amalfina das Schwert hatte entreißen wollen, hatte sie ihn in ein schwarzes Einhorn verzaubert. Und dann hatte eine Schreckensherrschaft begonnen. Amalfina hatte sich mit dem Schwert im Düsterwald verschanzt und dort ihre Macht ausgebaut. Und jeden, der ihr nicht folgen wollte, hatte sie in Stein verwandelt. Obsidian war so verzweifelt gewesen, dass er sogar in der Menschenwelt jemanden gesucht hatte, der Amalfina von diesem Schwert befreien konnte. Der einzige Vertraute, den Obsidian in der Menschenwelt hatte, war David, ein junger Maler, den er an der Grenze zum Menschenreich kennengelernt hatte. Er war der erste Mensch gewesen, der ihn als Einhorn erkannt hatte. Ihm hatte er so weit vertraut, dass er ihn sogar mit in Charis Reich genommen hatte und auch mit Charis hatte David sich angefreundet. Und seit seinem ersten Besuch war David ein gern gesehener Gast in der Anderswelt. Doch David wurde älter, er fand eine Frau, die er liebte und sie bekamen ein kleines Mädchen. Von da an wurden Davids Besuche seltener. Aber dennoch hatte er versucht, Obsidian zu helfen. Doch sie hatten Amalfina nicht austricksen können. Sie sprach einen Fluch über sie aus und Obsidian versteinerte. Was mit David geschah, wusste er nicht. Hatte sie ihn getötet? Und was war aus dem Einhornwald geworden? Gab es ihn noch? So oft beschäftigten ihn diese Fragen nun, aber es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, er war hier festgewachsen und konnte sich nicht rühren. Wann endlich kam jemand, der ihn aus dieser Bewegungslosigkeit erlöste?

Kapitel 1

 

Jennys Schmerz

 

"Er ist nicht tot!", rief Jenny wütend aus.

Wie ein Racheengel stand sie vor ihrer Mutter, die ihr eben verkündet hatte, dass sie morgen einen Termin beim Psychotherapeuten hatte, um den Tod ihres Vaters aufzuarbeiten. Nervös fuhr Jennys Mutter sich durch ihre blonden Locken, ihre blauen Augen flackerten kurz, aber sehr schnell kehrte ein strenger Blick in sie zurück.

"Jennifer, es ist schon vier Jahre her, dass dein Vater verschwunden ist. Es gibt keine Hoffnung mehr, dass er noch lebt."

Sie versuchte vernünftig und ruhig mit Jenny zu sprechen, aber das Zittern in ihrer Stimme zeigte ihr, wie weh es ihrer Mutter tat, darüber zu sprechen. Aber Jenny konnte es einfach nicht akzeptieren, dass ihr Vater tot sein sollte, jede Faser ihres Herzens rebellierte dagegen. Es durfte nicht sein.

"Ich glaube erst an seinen Tod, wenn ich seine Leiche sehe", antwortete Jenny störrisch. Ihre Mutter seufzte schwer.

"Du quälst dich ohne Ende, Jenny. Deshalb habe ich den Termin bei Herrn Mertens ausgemacht. Du musst das endlich aufarbeiten, bevor es dich zerstört."

Entnervt rollte Jenny die Augen gen Zimmerdecke.

"Hier gibt es nichts aufzuarbeiten", polterte sie los.

"Daran wird dein blöder Therapeut auch nichts ändern."

Jenny drehte sich auf dem Absatz um und flüchtete aus der Küche. Vor der Treppe, die zum ersten Stock führte, blieb sie unschlüssig stehen. In ihrem Zimmer herumsitzen und Trübsal blasen, darauf hatte sie weiß Gott keine Lust. Sie lief in den Flur und griff sich ihre Jacke.   

"Wohin willst du?", fragte Jennys Mutter sie und in ihrem Blick stand deutlich der Ärger über Jennys Verhalten.

Aber das war Jenny in diesem Moment egal.

 "Weg", antwortete sie kurz angebunden und wollte sich an ihrer Mutter vorbei schieben, aber diese hielt sie am Handgelenk fest.

 "Bitte mach keinen Quatsch." Entnervt rollte Jenny die Augen.

"Ich muss hier raus. Du brauchst keine Angst zu haben, ich haue schon nicht ab."

Sie schüttelte die Hand ihrer Mutter ab, ging ins Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Über den Gartenweg lief sie durch den Garten, der einst wie ein Park angelegt war. Aber seit dem Verschwinden ihres Vaters glich er sich langsam, aber sicher einem Urwald an. Am Ende des Grundstücks, das an den nahen Wald grenzte, standen ein paar uralte Bäume. Jenny steuerte die große Eiche an, majestätisch die Äste von sich streckte. Dieser Baum war ihr bisher nie aufgefallen, erst vor kurzem hatte sie ihn bemerkt und er war ihr sofort ans Herz gewachsen. Jenny kletterte über die riesigen, tief hängenden Äste hinauf, bis sie beinahe in der Baumkrone war. Dort ließ sie sich in einer großen Astgabel nieder und drückte ihr heißes Gesicht gegen die raue Rinde des Stammes.

"Er ist nicht tot!", rief sie verzweifelt und hämmerte mit den Fäusten gegen die unschuldige Rinde. Weinen konnte sie schon lange nicht mehr. Auf einmal spürte Jenny eine leise, sanfte Berührung auf ihrem Haar.

"Nein, ich bin am Leben, aber nicht so wie du mich kennst“, raunte eine leise Stimme in ihr Ohr.

Diese Stimme gehörte ihrem Vater. Sie zuckte gehörig zusammen und sah sich um. Aber es war nur ein kleiner Ast und die paar trockenen, wellenförmigen Eichenblätter, die über ihr Haar strichen und sie hörte nur den Wind, der oben sanft durch die Baumkrone fuhr. Seltsam, sie hatte seine Stimme ganz deutlich gehört. Langsam drehte sie wohl doch durch. Es war vielleicht doch nicht verkehrt, zum Therapeuten ihrer Mutter zu gehen. Jenny mochte diesen Mann nicht, denn seit er ihre Mutter therapierte, schien diese immer mehr an den Tod von Jennys Vater zu glauben. Ihr Blick fiel auf die weiße Jugendstil-Villa, in dem ihre Familie schon lebte, seit sie ein ganz kleines Mädchen war. Jennys Vater hatte das halb verfallene Haus zu einem Spottpreis gekauft und liebevoll wieder hergerichtet. Es hatte neue braune Dachziegeln bekommen, aber den alten pfirsichfarbenen Anstrich hatte er unverändert gelassen, und so wirkte das Haus liebenswert altmodisch, aber dennoch gepflegt. Jenny liebte dieses verwinkelte Haus mit den kleinen Erkern, um das sich langsam ein Schal aus weißem Nebel legte. Drinnen im Gebäude war alles dunkel. Auf einmal überfiel sie ein sehr schlechtes Gewissen. Sie hätte ihre Mutter nicht so anfahren dürfen, wusste sie doch, wie sehr sie unter dem Verschwinden ihres Mannes litt. Nach außen hin spielte die Mutter die Tapfere, aber Jenny hörte sie fast jede Nacht weinen. Ganz hatte Herr Doktor sie wohl doch nicht überzeugen können. Zum Glück. Jenny kletterte vom Baum herunter und lief zum Haus, das schon zur Hälfte im Nebel stand. Auf einmal fühlte sie sich beobachtet. Sie drehte mich um, aber da war niemand. Die Eiche hob sich dunkel gegen den Himmel ab, fast meinte sie, im knorrigen, rauen Stamm ein Gesicht zu sehen. Aber das war wohl nur der Schatten, der ihren Augen einen Streich spielte. Als Jenny die Haustür öffnete, lag der Flur schon ganz im Dunkeln.

„Mama?“

Sie warf einen Blick in die Küche, aber dort war niemand. Dann ging sie nach nebenan in das großes Wohnzimmer. Dort auf der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Karin Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4612-1

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