Kritisch blickte Lilian in den Spiegel. Ihre rotblonden Haare hatten sich mal wieder gesträubt, auch nur annähernd so zu liegen, wie sie es wollte und in ihren großen dunkelblauen Augen lag ein zweifelnder Blick. Sie würde nie eine Schönheit werden, dachte sie seufzend. Ihr Blick glitt zu dem Zeitungsartikel, den sie sich an den Spiegel des WG-Bades gehängt hatte. Es war ein Artikel über Fabio Giordano. Er war ein erfolgreicher Maler und Illustrator, der heute in der Kunstakademie, an der er studiert hatte, Gastdozent sein wollte. Lilian liebte seine Bilder, sie schwelgten in Farben, viele von ihnen waren zudem noch sehr erotisch. Aber er war nicht nur talentiert, sondern auch verdammt attraktiv. Er hatte dunkles Haar, dass auf seinen Schultern aufstieß, mandelförmige braun-grüne Augen, die Lilian stark an Leopardenaugen erinnerten; seine Haut war hell und gab einen interessanten Kontrast zu seinem dunklen Haar ab. Um seine vollen, feingeschwungenen Lippen spielte auf dem Zeitungsfoto ein selbstbewusstes Lächeln, das gleichzeitig sehr anziehend wirkte. Heute würde sie ihn live sehen. Ob sie überhaupt ein Wort herausbringen würde? Lilian seufzte, nahm die Bürste in die Hand und versuchte, ihre Locken zu zähmen, gab schnell auf und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sollte sie noch ein wenig Schminke auflegen? Unsinn, sagte sie sich, sie ging zu einem normalen Kurs und nicht auf eine Modenschau. Wenn auch Fabio bestimmt nicht auf sie aufmerksam würde, so unscheinbar wie sie war. Seufzend drehte sie sich um. An der Tür des Bades stieß sie beinahe mit Eva, ihrer Mitbewohnerin zusammen. Diese schob sich ihre blonden Locken hinter die Ohren und gähnte erst einmal herzhaft. Sie stand noch im Schlafanzug da. Eva war Lilians beste Freundin, seit sie am Anfang des Studiums vor drei Jahren in diese WG gezogen waren. Sie hatte zusammen mit Lilian an der Kunstakademie angefangen, hatte jedoch schnell festgestellt, dass Kunst nicht ihr Ding war und sie war in der Bar ihres Freundes Jan mit eingestiegen.
„Was ist los? Du machst heute so ein kritisches Gesicht“, sagte Eva und blinzelte Lilian herausfordernd zu.
„Heute kommt Fabio Giordano in den Praxiskurs für Aktmalerei. Ich bin so aufgeregt!“, antwortete Lilian heiser.
„Aha, dein großes Vorbild, das schon wochenlang am Spiegel hängt. Der Bengel sieht ziemlich knackig aus. Mach dich an ihn ran, bevor es eine andere tut.“
Lilian wurde rot.
„Och Eva, jetzt zieh mich nicht noch auf. Als ob er einen Blick an mich verschwenden würde.“
Eva packte Lilian an den Schultern.
„Hör zu, Süße. Du sollst endlich aufhören, dein Licht unter den Scheffel zu stellen. Du bist hübsch, intelligent und talentiert. Wenn der Mann noch Single ist, wenn er dir so gefällt, dann lass deinen Charme spielen. Ich bin sicher, er wird dir nicht widerstehen können.“
„Mir fällt das nicht so leicht wie dir, Eva.“
„Hab ein bisschen Selbstvertrauen. Nicht alle Männer haben böse Absichten. Jetzt geh, rock die Bude und zeichne ihm ein paar nackte Männer vor.“
***
Lilians Herz schlug bis zum Hals, als sie den Raum betrat, in dem der Kurs für Aktmalerei stattfand. Es waren bereits ein paar Kommilitonen da, auch das Aktmodell, ein verdammt gut aussehender junger Mann mit blondem Haar und strahlend blauen Augen saß schon im Bademantel da und schäkerte fröhlich mit den weiblichen Studenten. Der Raum füllte sich schnell und ehe Lilian weiter zum Nachdenken kam, trat Professor Schuster in Begleitung eines jungen Mannes herein. Und Lilian vergaß sofort das knackige Aktmodell. Fabio sah live noch viel fantastischer aus als auf dem Zeitungsbild, ihr Herzschlag verdreifachte sich und ihre Knie wurden entsetzlich weich. Jetzt blickte er auch noch in ihre Richtung! Oder bildete Lilian sich das ein? Ein Lächeln glitt über seine wohlgeformten Lippen, sein Blick hing noch immer an ihr. War das nur allgemeines Interesse? Lilian blickte sich verstohlen um. Da gab es einige weibliche Kommilitonen, die Fabio Giordano mit leuchtenden Augen betrachteten. Er konnte nicht nur Lilian gemeint haben. Egal, ein freundliches Lächeln schadete niemandem. Eva hatte Recht. Wenn sie auf ein Wunder wartete, würde sie ewig warten. So schickte Lilian ein kleines Lächeln in Richtung Fabio Giordano. Es schien ihr, als würde sich daraufhin das Glitzern in seinen Augen vertiefen. Sein Blick strich aufmerksam über ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Lilian wollte verlegen den Kopf senken, aber sie konnte nicht. Sie musste weiter in diese fantastischen Augen sehen, sie durfte nicht eine Regung seines Gesichtes verpassen.
„Ich freue mich, nach langer Zeit wieder in den Räumen zu sein, in denen alles angefangen hat. Eigentlich wollte ich Professor Schuster einmal besuchen, dem ich zu verdanken habe, was ich bin. Und jetzt darf ich sogar Gastdozent sein. Das ehrt mich sehr“, begrüßte Fabio Giordano die Runde.
Lilian stellte amüsiert fest, dass Professor Schuster sich verlegen die grauen Locken zurückstrich, dass ein gewisser Stolz in seinen dunklen Augen stand. Einen Augenblick später entkleidete sich das Aktmodell und warf sich in Position. Er hatte wirklich einen fantastischen Körper, nicht zu muskulös, nicht zu durchtrainiert, aber auch nicht zu schlaksig. Und konnte er sich gut positionieren. Lisa, Lilians Tischnachbarin, konnte es nicht lassen, vom knackigen Hintern des Modells zu schwärmen. Den würde sie sich sicher nach der Stunde für weitere Studien krallen, dachte Lilian und musste in sich hineinkichern. Sie beugte den Kopf über das Zeichenpapier; kurze Zeit später glitt der Bleistift wie von allein über das Papier. Dort entstand ein männliches Gesicht, das entschlossen und gleichzeitig sensibel aussah, mit mandelförmigen Augen, die wie Raubtieraugen aussahen, volle Lippen, auf denen ein kleines, vielversprechendes Lächeln lag. Um das Gesicht lag dunkles, gewelltes Haar, dass sanft auf den Schultern des Mannes auf stieß. Nun entstand sein Körper auf dem Papier, eine schlanke, wohlproportionierte Figur, die so mancher Frau das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen würde.
Plötzlich fühlte Lilian sich beobachtet. Sie sah auf und zuckte erschrocken zusammen. Fabio Giordano stand so nahe an ihrem Tisch, dass sein Rasierwasser, gemischt mit dem Duft seiner Haut, verführerisch in ihre Nase stieg. Auf seinen Lippen lag ein so amüsiertes Lächeln, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. Denn es war nicht das knackige männliche Modell gewesen, das sie auf das Papier gebracht hatte, sondern Fabio Giordano. Ohne dass sie etwas tun konnte, nahm er den Papierbogen und betrachtete ihn aufmerksam.
„Sie sind sehr talentiert, es ist alles wunderbar proportioniert. Ich habe das Gefühl, ich sehe in einen Spiegel“, sagte er mit einem herausfordernden Ton in seiner dunklen, samtigen Stimme und der Rotton auf Lilians Gesicht vertiefte sich noch mehr.
„Danke“, antwortete sie heiser.
„Aber jetzt wenden Sie sich dem Modell zu, damit der Ärmste nicht umsonst hier friert oder sich gar benachteiligt fühlt“, erwiderte Fabio Giordano mit einem durchtriebenen Blinzeln. Noch ein süffisantes Lächeln, dann hatte Lilian ihre Zeichnung wieder.
„Fabio? Bist du eigentlich nur körperlich hier anwesend?“, schrak eine ironische weibliche Stimme Fabio aus seinen Gedanken und er fand sich auf der Terrasse seines Münchner Elternhauses wieder. Nach einem reichhaltigen Essen war er hinaus gegangen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und sofort waren seine Gedanken wieder zu Lilian, dieser süßen kleinen Studentin spaziert, die vor ein paar Wochen bei seiner Gastdozenten-Stunde statt des gutaussehenden Aktmodells ihn selbst gezeichnet hatte. Und das mit so großer Perfektion, dass er wirklich geglaubt hatte, er würde in einen Spiegel sehen. Zudem war die Kleine noch verdammt hübsch. Ständig sah er ihre großen, saphirblauen Augen vor sich und ihr Lächeln, das so offen und natürlich war. Obwohl sie ziemlich schüchtern gewirkt hatte und nichts getan hatte, außer ihm zur Begrüßung zuzulächeln, hatte sie ihn völlig bezaubert. Sonst war er es eher gewöhnt, dass Frauen ihm zu Füßen lagen. Es hatte schon viele gegeben, die das Bett mit ihm geteilt hatten, für eine längere Beziehung hatte es jedoch nie gereicht. Nun, viel Zeit hatte er auch nicht gehabt, er hatte ein Bild nach dem anderen gemalt und nur wenige Frauen hatten Verständnis dafür gehabt, dass er die Malerei so sehr liebte. Und er hatte das Glück gehabt, dass seine Eltern, ein gut situiertes Unternehmerehepaar, sehr interessiert an Kunst waren und ihn immer gefördert hatten. Natürlich hatte er auch das Glück gehabt, dass die Art Bilder, die er malte, gerade sehr beliebt waren und er war schon nach Abschluss des Studiums an der Kunstakademie recht erfolgreich. Und jetzt, mit 31, konnte er schon teilweise von seinen verkauften Bildern leben. Auch hatte er sich als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2959-9
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