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Prolog

Ella

Weinend kuschelt sich Melina, meine kleine Schwester, an mich. Sie krallt ihre Hände in mein T-Shirt, zittert und kann sich kaum beruhigen. Es ist ein schrecklicher Tag für sie gewesen, ebenso wie für mich, doch ich lasse es sie nicht spüren. Lina, wie ich sie liebevoll nenne, ist erst zehn Jahre alt und begreift nicht, dass unsere Mutter verstorben ist. Jeden Tag fragt sie nach ihr und glaubt noch immer, dass sie bald zurückkommen wird. Doch ich weiß es besser. Ich weiß, dass sie niemals wieder zurückkehren wird. Sie ist weg. Für immer.

„Glaubst du, Mami sieht uns von da oben zu? Glaubst du, sie weiß, dass wir hier liegen und in den Himmel schauen?“

Ich nicke und ziehe meine fünf Jahre jüngere Schwester fester an mich, gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Jedes Mal, wenn du in die Sterne siehst, lächelt sie uns an. Wir können es nur nicht sehen, weil sie so weit weg ist.“

Lina nickt und dreht sich auf den Rücken, um besser durch das kleine Dachfenster sehen zu können.

Seit unsere Mutter bei einem Autounfall gestorben ist, gehen wir jeden Abend hinauf auf den Dachboden. Hier haben wir uns eine Matratze zurechtgelegt und mit vielen Decken und Kissen versehen. Wir wollen ihr nah sein und ihr zeigen, dass wir immer an sie denken.

„Und sieht sie unser Lächeln auch?“

„Ja, sie sieht unser Lächeln auch.“

Ich betrachte Lina von der Seite und freue mich darüber, dass sich auf ihren Lippen ein kleines Lächeln bildet. In den letzten Wochen kam es leider nicht oft vor, dass sie glücklich war, aber ich hoffe fest, dass sich ihr Zustand bald bessern wird.

„Papa war heute wieder böse. Er hat ganz viel geschrien und rumgemeckert. Ich glaube, er hatte wieder getrunken.“

Ich schlucke.

Ich mag es nicht, wenn unser Vater sich so verhält und ich möchte nicht, dass er seinen Kummer in Alkohol ertränkt. Er ist dann nicht er selbst und Lina bekommt deshalb des Öfteren Angst. Doch seit dem Tod unserer Mutter ist er zu oft in diesem desolaten Zustand.

„Ich bin mir sicher, dass sich das bald wieder ändert. Papa ist traurig, weil Mama nicht mehr da ist. Genauso wie wir.“

„Das weiß ich, aber ich vermisse ihn. Wenn ich traurig bin, tröstet er mich nicht mehr. Nicht so wie du. Und das macht mich traurig.“

„Ach Lina …“ Ich lehne den Kopf an ihren und schließe die Augen. Was gäbe ich jetzt dafür, um ihr zu versprechen, dass Vater bald wieder derselbe sein wird wie früher. Aber das kann ich nicht. „Mach dir nicht so viele Sorgen, ja? Ich bin hier und werde dich immer trösten, wenn du traurig bist.“

„Passt du denn auch auf mich auf? So wie Papa früher? Er hat immer gesagt, wenn mich jemand ärgert, bekommt er es mit ihm zu tun. Aber das kann er ja im Moment nicht.“

Ich verziehe die Lippen wehmütig zu einem Strich. Lina braucht unseren Vater gerade jetzt in dieser aussichtslosen Situation, doch er ist mehr mit sich selbst beschäftigt als mit seinen leidenden Kindern.

„Natürlich passe ich auf dich auf. Ich bin für dich da. So lange, bis es Papa wieder besser geht. Okay?“

Lina nickt und kuschelt sich erneut an mich. „Wenn es sein muss, für immer?“

„Und wenn es sein muss, für immer.

1

Fünf Jahre später

 

Ella

Ich wippe von einem Fuß auf den anderen und schiebe die Hände tiefer in die Manteltaschen. Es ist bitterkalt an diesem ersten Märztag. Mein warmer Atem zeichnet sich in der Luft ab und die grauen Wolken am Winterhimmel kündigen erneuten Schneefall an. Ich hasse es, draußen zu stehen und in der eisigen Kälte zu warten, doch ich habe Lina versprochen, sie von der Schule abzuholen.

Warum braucht sie eigentlich immer so lange?

Die Schulglocke hat längst geläutet und die meisten Schüler haben das Gebäude verlassen. Nur Lina nicht. Sie ist mitunter mal wieder eine der Letzten.

Wann sich wohl endlich die ersten Vorboten des Frühlings bemerkbar machen?, frage ich mich.

„Hey, da steht deine Schwester doch!“

Ich hebe den Kopf, als ich die Stimme von Linas Freundin Emilia vernehme, senke ihn aber direkt wieder, um mein Gesicht hinter einem schwarzen Schal zu verstecken. Langsam wird es Zeit, dass ich zurück ins Auto komme, um die Heizung anzustellen und mich zu wärmen.

„Hi, Ella.“ Das blonde Mädchen mit den großen blauen Augen lächelt mich an und tritt gemeinsam mit Lina näher. „Wie geht es dir? Es ist schön, dich mal wiederzusehen.“

„Gut, danke“, antworte ich beiläufig, ohne sie zu beachten, und wende mich an meine Schwester. „Hast du alles? Können wir gehen?“

Lina nickt, doch ihr Blick verrät mir, dass sie etwas auf dem Herzen hat. Und ich kann mir gut vorstellen, was es ist. „Ich habe alles, ja. Allerdings wollte ich …“

Lina stockt, weshalb ich den Kopf schräg lege. „Du wolltest was?“

„Na ja …“

Während Lina versucht, sich zu erklären, mischt Emilia sich erneut ein.

„Zoe hat doch morgen Geburtstag und sie feiert heute rein. Wir wollten fragen, ob Lina jetzt auch kommen darf. Wir haben natürlich nichts dagegen, wenn du sie begleitest und ein bisschen auf uns aufpasst.“

Ich seufze und suche den Blickkontakt zu meiner Schwester, da ich mir sicher bin, dass sie auf solche Partys keine Lust hat. Lina hasst es, wenn sich die Menschen um sie herum betrinken und nicht mehr sie selbst sind. Ich bin mir aber ebenso darüber bewusst, dass dies die Momente sind, in denen Lina das Gefühl hat, dazu zu gehören. Dann ist sie cool, auch wenn sie keinen Alkohol zu sich nimmt. Dass sie ihre große Schwester mitbringt, erweist sich in solchen Augenblicken ebenfalls als Vorteil, da Emilias Bruder seit letztem Jahr für mich schwärmt.

„So leid mir das tut, aber das geht nicht. Ich muss heute arbeiten, also bleibt sie Zuhause. Ein anderes Mal vielleicht.“

Ich lege die Hand an Linas Rücken und schiebe sie nach vorn, damit wir nicht länger in der Kälte bleiben müssen. Lina nimmt meine Aussage wortlos hin. Das tut sie immer. Nur Emilia ist mit meiner Entscheidung nicht einverstanden.

„Dann kann sie doch allein mitkommen, oder nicht?“

Seufzend bleibe ich stehen und drehe mich zu ihr zurück. „Nein, kann sie nicht. Ich bin für sie verantwortlich und wenn ich keine Zeit habe, bleibt sie Zuhause. Punkt.“

Emilia verdreht die Augen. „Du bist so eine Spießerin, Ella. Dabei siehst du gar nicht so aus! Lass ihr doch auch mal ihren Spaß!“

Spaß ... Wenn sie den wenigstens hätte.

Nachdem wir uns ohne ein weiteres Wort von Emilia abgewandt haben, sitzen wir jetzt im Auto. Ich habe den Wagen gestartet und reibe die Hände fröstelnd zwischen meinen Beinen, um sie zu wärmen. Die Lippen zu einem Strich verzogen, sehe ich Lina von der Seite an. Sie starrt aus dem Fenster, als hätte sie etwas entdeckt, sieht jedoch nur auf den grauen Gehweg.

„Bist du jetzt sauer?“, frage ich sie, da ich mir nicht sicher bin.

Normalerweise macht es ihr nichts aus, wenn ich ihr die Partys verbiete, aber man kann ja nie wissen, was Mädchen in ihrem Alter für Gedanken haben.

„Nein, bin ich nicht.“ Sie schüttelt leicht den Kopf, ohne mich anzusehen. „Aber manchmal fühle ich mich schrecklich, wenn ich die Einzige bin, die nicht mit auf Partys geht. Dabei habe ich eigentlich keine Lust dazu. Verstehst du das?“

„Ja, irgendwie schon.“

Ich verstehe, dabei ist es bei mir oft umgekehrt gewesen. Als ich in ihrem Alter war, habe ich oft den Wunsch verspürt, auf Partys zu gehen. Feiern mit den Freundinnen, laut Musik hören und tanzen. Aber im Vergleich zu ihr bin ich nicht zu einer einzigen gegangen. Ich habe Zuhause gesessen und auf meine Schwester aufgepasst, da unser Vater nach dem Tod unserer Mutter nie wieder dazu in der Lage war. Und heute, wo Lina im Grunde alt genug ist, um für sich allein zu sorgen, gibt es andere Gründe, weshalb ich solchen Events fernbleibe.

„Musst du heute Abend wirklich arbeiten?“ Ich nicke, nachdem Lina sich zu mir umgedreht hat, und sehe sie an. „Und wie lange bist du weg? Du gehst doch erst, wenn Papa schläft, oder?“

Ich nicke erneut und lege die Hand auf ihre, drücke sie leicht. „Ja, ich habe meine Schicht extra auf zweiundzwanzig Uhr gelegt, bis dahin sollte er das Alkoholkoma erreicht haben.“ So nennen wir es, wenn er nach unzähligen Bier endlich eingeschlafen ist.

„Okay.“ Sie lächelt. „Und wann bist du zurück?“

Unwissend zucke ich mit den Schultern. So genau kann ich das leider nie sagen. „Spätestens im Morgengrauen.“

 

~~~

 

Der Fernseher dröhnt laut, als wir eine halbe Stunde später unsere kleine Dreizimmerwohnung betreten und mit einem unguten Gefühl im Bauch die Tür hinter uns schließen. Es ist Freitag und dementsprechend ist Vater schon früher Zuhause. Zu unserem Leidwesen, denn uns ist lieber, er verbringt den ganzen Tag auf der Baustelle, statt Zuhause auf der Couch mit einer Flasche Bier in der Hand.

„Geh ruhig schon mal in die Küche und räum die Einkäufe aus. Ich werde ihm sagen, dass wir da sind.“

Lina nickt, doch ich weiß genau, dass ihr lieber wäre, ich würde unseren Vater erst gar nicht darauf aufmerksam machen, dass wir da sind. Aber es nutzt nichts. Früher oder später wird er uns sowieso bemerken.

Nachdem ich aus dem Flur hinaus ins Wohnzimmer getreten bin, ziehe ich mir die Wintermütze vom Kopf, den Schal vom Hals und werfe beides auf den Sessel, der direkt neben der Tür steht. Seufzend schiebe ich die Hände in die Gesäßtaschen meiner Jeans und lehne mich in den Türrahmen. Da sitzt er, bekleidet in seiner ältesten Jogginghose und einem zu kleinen, verwaschenen T-Shirt. Wie zu erwarten hält er eine Flasche Bier in der Hand und starrt auf den zu lauten Fernseher. Doch ich bin mir sicher, dass es nicht die erste Flasche ist, die er heute getrunken hat.

„Da bist du ja endlich. Wurde auch Zeit!“, knurrt er und gleitet mit der Hand durch sein fettiges Haar. Mich durchfährt ein unangenehmer Schauer. „Wo ist Lina? Das faule Balg hat das Essen immer noch nicht fertig!“

Ich schüttle den Kopf. Jedes Wort, das er sagt, verlässt lallend seinen Mund.

„Das konnte sie auch nicht, sie war nämlich bis gerade in der Schule. Ich habe sie abgeholt.“

„Schule.“ Vater winkt ab, dabei lässt er beinahe die Flasche auf den Boden fallen. Lachend hält er sie fest und trinkt einen Schluck. „Als ob es der kleine Nichtsnutz zu irgendetwas bringen könnte. Sie ist nicht mal in der Lage, die Wohnung sauber zu halten. Genau wie du. Wofür habe ich euch beide eigentlich?“

Meine Geduld nähert sich dem Ende. Ich hasse es, wenn er so über uns spricht. Doch das tut er leider zu oft.

„Ich denke, es reicht, Vater“, sage ich, stoße mich vom Rahmen ab und gehe auf ihn zu. „Mit dem dummen Gerede und auch mit dem Alkohol. Du hattest genug heute.“

Obwohl ich genau weiß, dass es ein Fehler ist, ihm das Bier wegzunehmen, mache ich es dennoch. Er kann mit mir reden, wie er will. Er kann mit mir machen, was er will. Aber Lina hat er in Ruhe zu lassen.

„Du wagst es …“ Vater erhebt sich, kommt jedoch direkt ins Wanken. Der Geruch von Alkohol steigt mir in die Nase, mir wird übel. „Gib mir sofort die Flasche zurück!“

„Dann hör auf, so über Lina zu sprechen. Sie ist erst fünfzehn und nicht für dich verantwortlich!“

Mir ist klar, dass es unnötig ist, diese Diskussion zu führen, aber ich kann wie so oft nicht anders. Seit dem Tod unserer Mutter vor fünf Jahren gehen wir durch die Hölle. Und kein Ende ist in Sicht.

„Sie ist, genau wie du, für den Haushalt verantwortlich, also auch für mich. Und wenn ich Hunger habe, hat das Essen auf dem Tisch zu stehen, verdammt noch mal!“ Seine Stimme hebt sich. Ich schließe einen Moment lang die Augen und halte die Luft an, um die Übelkeit zu verdrängen, die nicht aufhören möchte. Ich hasse den Geruch von Alkohol. Aus diesem Grund habe ich seit Jahren keinen mehr angerührt. „Du kannst dich bei deiner Mutter bedanken. Hätte sie sich nicht einfach verpisst, hätten wir das Problem jetzt nicht.“

„Mama ist tot“, sage ich leise. Meine Stimme bricht. Manchmal frage ich mich, ob Vater diese Tatsache bewusst verdrängt, damit er sich keine Vorwürfe machen muss. Sie starb bei einem Autounfall, bei dem er am Steuer saß. Und obwohl er keine Schuld daran trug, bin ich mir sicher, dass er tief in seinem Inneren glaubt, dass er sie auf dem Gewissen hat. „Sie ist gestorben, als ihr beide …“

„Schweig!“ Vater kommt näher. Zu nah. „Du hältst jetzt besser den Mund, bevor ich mich vergesse. Hast du nichts zu tun? Putzen zum Beispiel?“

Ich hole Luft und möchte etwas sagen, als hinter mir Linas leise Stimme erklingt.

„Ella?“ Ich drehe mich zu ihr um, behalte Vater jedoch im Blick. „Kannst du bitte kommen? Ich bekomme die Dose Möhren nicht auf.“

Seufzend schließe ich die Augen und versuche, mich zu beruhigen. Ich weiß, dass Linas Anliegen nur eine Ausrede ist, um mich von Vater wegzuholen.

„Da siehst du es. Sie ist noch zu dumm, eine einfache Dose zu öffnen. Aber was will man erwarten? Sie hängt den ganzen Tag mit dir Versagerin rum.“

Wütend drehe ich mich zu ihm zurück und balle die Hände zu Fäusten. Wer hier der Versager ist, brauche ich vermutlich nicht erwähnen.

„Ella, nicht.“ Lina steht neben mir und umfasst fest meinen Arm, um mich zurückzuhalten. Natürlich weiß ich, dass das, was in mir vorgeht, keine Lösung ist, aber manchmal würde ich es nur zu gern tun. In der Hoffnung, der Schmerz wird ihm zeigen, dass das, was er tut, nicht richtig ist. „Lass uns … lass uns zusammen kochen, ja?“

„Ja, natürlich. Du hast recht. Ich komme.“

Doch bevor ich mich von Vater abwende, warte ich, bis er sich wortlos zurück in seinen Sessel fallen gelassen hat und einen großen Schluck Bier trinkt. Er stößt auf und schüttet den nächsten direkt hinterher, weshalb ich den Kopf schüttle und Lina in die Arme schließe.

Das alles muss aufhören. Nur wie?

2

Alexander

Ich hebe die Arme und strecke mich, atme erleichtert aus. Es ist Freitagnachmittag und ich habe so wenig zu tun, dass ich den Laptop eine Stunde eher ausschalten kann als gewöhnlich. Das kommt nicht allzu oft vor, aber wenn, dann nutze ich es aus.

„Was ist? Hast du nichts mehr zu tun? Ich bin mir sicher, in meinen E-Mails schlummert der ein oder andere Auftrag, den du übernehmen kannst.“

Ich lasse die Arme sinken, lege sie auf den Armlehnen meines Schreibtischstuhls ab und drehe mich zu meinem besten Freund Leon herum. Dieser sitzt mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch.

„Also erstens würde dir eine kleine Pause auch nicht schaden und zweitens kommt es mir gelegen, dass nichts mehr reingekommen ist. Ich bin gleich mit Chris verabredet. Vielleicht kann er sogar etwas eher. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir uns heute Morgen schon um sechs Uhr getroffen.“

„Stimmt.“ Leon dreht sich zu mir um. „Er wollte ja mit dir reden. Weißt du immer noch nicht, worum es geht?“

Ich schüttle verneinend den Kopf. „Nein, leider nicht. Er wollte am Telefon partout nichts sagen.“

„Hm, merkwürdig.“ Leon verschränkt die Arme vor der Brust. „Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.“

„Nein, das glaube ich nicht. Er klang zwar etwas verzweifelt, aber …“ Ich schüttle den Kopf, lege die Hände auf die Armlehnen und drücke mich nach oben. „Spekulationen helfen jetzt sowieso nicht. Ich muss abwarten und sehen, was er mir nachher zu sagen hat. Apropos, was hast du heute noch vor?“

Leon zuckt mit den Schultern, während ich mein Handy aus dem Bücherregal nehme und meinem Bruder eine Nachricht schreibe. Ich möchte wissen, ob wir uns nicht schon eher treffen können.

„Was soll ich schon machen? Es ist Freitag und ich hatte schon länger keinen Sex mehr. Ich fahre ins Ocean. Du kannst mich gerne begleiten, wenn du möchtest.“

Ich lache, lese aber zunächst Chris‘ Nachricht, bevor ich ihm antwortete. „Wenn man dich so hört, könnte man meinen, der letzte Sex liegt drei Monate zurück. Ich treffe mich übrigens schon in einer halben Stunde mit Chris in der Stadt.“

„Liegt er doch auch.“ Leon zwinkert mir zu. „Gefühlt zumindest. Also was ist? Kommst du mit? Dir könnte ein wenig Entspannung auch nicht schaden.“

„Nein, ich denke nicht.“ Ich schüttle den Kopf. „Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich heute Abend die Beine hochlegen kann. Die Woche war verdammt anstrengend.“

„Die Beine kannst du auch hochlegen, nachdem du es einer hübschen Blondine anständig besorgt hast.“ Leon grinst, dann steht er auf. „Aber sei es drum. Allerdings musst du mir nachher unbedingt erzählen, was Chris wollte. Ich bin ja absolut nicht neugierig.“

„Nein, natürlich nicht.“ Ich lache. „Aber ja, werde ich. Vorausgesetzt, du bist noch da, wenn ich wiederkomme.“

Leon tritt an mir vorbei, bleibt jedoch in der Tür stehen. „Ich denke nicht, dass ich vor Mitternacht gehen werde. Wir können also noch gemütlich ein Bier trinken, wenn du möchtest.“

„Bier klingt gut. Dann machen wir das so.“

„Super, bis später.“

 

~~~

 

Als ich eine halbe Stunde später das Lieblingscafé meines Bruders betrete, bin ich durchgefroren. Dummerweise habe ich gedacht, ich könnte den Weg laufen und ein wenig frische Luft tanken. Dass es draußen aber noch immer bitterkalt ist, habe ich dabei nicht bedacht.

Ich bleibe stehen und sehe mich im Café nach Christian um. Ich bin mir sicher, dass er schon auf mich wartet, so nervös wie er am Telefon war. Noch immer frage ich mich, was er mir zu erzählen hat, das nicht bis morgen warten kann. Immerhin sehen wir uns wie jeden Samstag zum Essen bei unseren Eltern.

„Alex?“

Ich hebe den Kopf und entdecke Chris am anderen Ende des Raumes in einer Ecke sitzen. Lächelnd nickt er, bevor ich mich an seinen Tisch begebe. Vorher winke ich ihm zu.

„Wusste ich doch, dass du schon da bist“, sage ich und ziehe mir die Mütze vom Kopf. Ich stecke sie, nachdem ich mir die Jacke ausgezogen habe, in den Ärmel und hänge sie über einen freien Stuhl. „Wartest du schon lange?“

Chris schüttelt den Kopf. Seine blauen Augen wirken so unsicher, wie er sich am Telefon angehört hat. „Erst seit zehn Minuten. Möchtest du auch etwas trinken?“

Er hebt die Hand und winkt die Kellnerin heran, die sofort kommt. Ich bestelle mir einen Kaffee und ein Stück Käsekuchen.

„Und? Was ist los? Erzähl“, sage ich, nachdem die Kellnerin mir die Bestellung gebracht hat. Ich lege die Hände um die heiße Tasse und werfe Chris einen fragenden Blick zu. „Du hast es am Telefon so spannend gemacht. Ist etwas passiert?“

„Das kann man wohl so sagen, ja.“

Chris wendet den Blick ab. Stirnrunzelnd betrachte ich meinen kleinen Bruder. So kenne ich ihn gar nicht.

„Chris, was ist los mit dir? Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Worüber wolltest du mit mir sprechen? Ist etwas mit Emma?“

Nervös fährt er sich durch das Haar und reibt sich durch das Gesicht. Diese Ungewissheit macht mich wahnsinnig.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, weil ich es selbst noch nicht glauben kann. Das alles kam so plötzlich und ich bin heillos überfordert. Ich …“ Er atmet tief ein. „Emma ist schwanger.“

Ich starre meinen Bruder an und weiß im ersten Moment nicht, was ich ihm entgegnen soll. Ich brauche einen Augenblick, um zu registrieren, was Chris mir da gesagt hat. Emma ist erst sechzehn und Chris mitten in der Ausbildung, er ist selbst erst zwanzig Jahre alt.

Zugegeben, damit habe ich nicht gerechnet, dennoch verspüre ich neben etwas Sorge auch wahnsinnige Freude.

„Mann, sag doch endlich was!“

Chris‘ Worte holen mich aus den Gedanken und lassen mich lächeln. Ich will ihn nicht mit Absicht im Unklaren lassen. Mir ist nur nicht klar, was ich ihm sagen soll.

„Entschuldige bitte, aber das …“ Ich lächele schief. „Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Wie geht es dir denn damit? Und wie geht es Emma?“

Er zuckt mit den Schultern. „Es ist schwierig. Eigentlich freue ich mich. Ein Baby ist was Großartiges und ich bin ja auch kurz vor der Geburt mit der Ausbildung fertig, aber …“

„Aber?“

„Na ja.“ Chris seufzt. „Emma ist erst sechzehn und ich bin mir sehr sicher, dass ihre Eltern ausflippen werden. Sie hat noch nicht einmal einen Schulabschluss und sie kennen mich nicht. Und was ist mit unseren Eltern? Ich habe keine Lust, als Trophäe zwischen Paps unzähligen Medaillen vom Fußball zu hängen. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Was mache ich denn jetzt? Ich habe doch nicht mal eine eigene Wohnung und …“

„Chris …“ So bedacht wie möglich, um ihn nicht zu verschrecken, unterbreche ich ihn und lege eine Hand auf seinen Unterarm. Er tut mir leid. Erst jetzt begreife ich, wie überfordert der Junge ist. „Beruhige dich bitte. Eines nach dem anderen.“

„Du hast leicht reden.“

„Nein, habe ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, wie es dir gerade geht, aber du musst dich trotzdem beruhigen. Jetzt mal langsam: Was sagt Emma denn dazu?“

Chris hebt zunächst die Schultern, atmet aber erleichtert aus. „Sie hat die letzten Tage viel geweint, dennoch haben wir vorhin noch mal darüber gesprochen, dass wir es behalten möchten. Wir wissen aber nicht, wie wir es unseren Eltern beibringen sollen und wie es weitergeht.“

„Okay, also …“ Ich drücke seinen Arm. „Zunächst einmal solltest du dir um unsere Eltern keine Gedanken machen. Sie werden vielleicht keine Freudensprünge machen, aber ich bin mir sicher, dass sie sich nach dem ersten Schock ebenso freuen werden wie ich. Du darfst nämlich nicht vergessen, dass sie damals in einer ähnlichen Situation waren.“

„Wie meinst du das?“

„Wie alt bin ich, Chris?“

„Neunundzwanzig.“

„Und wie alt sind unsere Eltern?“

Als Chris‘ Augen sich weiten und er mir einen Blick zuwirft, der keinen Zweifel daran lässt, dass ich ihn ertappt habe, muss ich laut lachen. Da ist es egal, dass uns die Menschen um uns herum ansehen. Die Situation ist zu komisch.

„Lass Mama bloß nicht hören, dass du nicht einmal weißt, wie alt sie ist.“

„Warum? Wenn ich ihr zum Geburtstag gratuliere, sage ich jedes Mal, dass sie noch immer wie achtundzwanzig aussieht und schon ist sie glücklich.“

Auf Chris‘ Lippen legt sich ein amüsiertes Grinsen, das mir weitaus besser gefällt als das betrübte Gesicht zuvor.

„Sie ist siebenundvierzig und jetzt rechne mal zurück. Wie alt war sie, als ich zur Welt gekommen bin?“

„Achtzehn.“

„Genau. Glaubst du wirklich, dass ausgerechnet unsere Eltern dir Vorwürfe machen werden? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Hm, aber begeistert werden sie sicherlich auch nicht sein.“

Ich sehe erneut in ein betrübtes Gesicht. „Ich bin mir sicher, dass du dir keine Sorgen machen musst. Wie gesagt, sie werden vielleicht zunächst keine Freudensprünge machen, aber am Ende werden sie sich darüber freuen und euch unterstützen. So wie ich. Wenn es Probleme gibt oder ich euch irgendwie helfen kann, dann musst du nur Bescheid sagen. In Ordnung?“

Chris nickt. Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Du weißt schon, dass ich den besten Bruder der Welt habe?“

„Lass das bloß nicht Moritz hören“, erwidere ich lachend, weshalb Chris grinst. „Ich glaube, dann ist er beleidigt.“

„Das muss er ja nicht erfahren. Aber jetzt mal im Ernst, ich bin froh, dass du so bist wie du bist. Ich hätte nicht gewusst, mit wem ich sonst darüber sprechen soll.“

Erneut bildet sich ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich bin froh, dass Christian mir vertraut. Dass ich seine erste Anlaufstelle bin.

„Wichtig ist, dass wir das jetzt geklärt haben und dass du keine Angst vor dem Gespräch mit unseren Eltern hast. Alles andere wird sich entwickeln und was Emmas Eltern betrifft, würde ich sagen, müsst ihr erst mal abwarten. Sprecht mit Paps und Mama und wenn du dir sicher sein kannst, was ich nicht bezweifle, dass ihr ihre Unterstützung habt, redet mit ihren Eltern. Sollten sie tatsächlich so reagieren, wie du es befürchtest, könnt ihr es nicht ändern, aber ihr wisst zumindest, dass ihr an anderer Stelle Hilfe bekommt. In Ordnung?“

Chris nickt. „Ja, das klingt vernünftig. Angst habe ich aber immer noch.“ Dann lacht er. „Du bist doch morgen auch zum Mittagessen da, oder? Ich meine, dann kannst du uns unterstützen, falls …“

„Ja, das kann ich.“ Ich lächle ihm aufmunternd zu. „Auch wenn ich mir sicher bin, dass das nicht passieren wird.“

„Okay.“ Chris denkt offensichtlich einen Moment nach, bevor er weiterspricht. „Hast du gleich noch etwas vor? Ich wollte in die Stadt und Emma eine Kleinigkeit für das Baby kaufen, damit sie ihre Unsicherheit verliert. Ich möchte ihr zeigen, dass ich voll und ganz hinter ihr stehe.“

„Das ist eine schöne Idee. Ich habe auf dem Weg hierher gesehen, dass der Thriller erschienen ist, auf den Mama schon die ganze Zeit wartet und wollte ihn ihr für morgen kaufen. Also ja, gern, wenn ich zunächst meinen Käsekuchen aufessen darf.“

Chris lacht amüsiert. „Wenn es weiter nichts ist. Das bekommen wir hin.“

3

Ella

„Wo bleibt diese Rotzgöre mit meinem Bier? Lina! Lina, wird es bald?“

Ich seufze und stelle in den letzten Stunden abermals fest, dass Vater heute besonders schlecht drauf ist. An normalen Tagen hat er zwar ebenfalls ständig etwas zu meckern, sitzt aber die meiste Zeit über in seinem Sessel und sieht sich eine idiotische Fernsehsendung nach der anderen an, während er unzählige Flaschen Bier vernichtet. Ich kann mir nicht erklären, was heute anders ist, aber ich weiß, dass ich es so die nächsten Stunden über nicht aushalten werde.

„Lina ist im Keller, die Wäsche waschen und aufhängen“, erkläre ich ihm und stelle die angeforderte Flasche mit einem lauten Knall auf dem Beistelltisch ab, der neben ihm steht. Dass Lina in ihrem Zimmer sitzt und Aufgaben für die Schule erledigt, verschweige ich ihm. Er würde es ihr nämlich sofort untersagen. „Hier, lass es dir schmecken.“

„Ich will hoffen, dass sie Nachschub mitbringt. Nicht, dass ich das am Ende wieder selbst machen muss.“

„Das solltest du lassen. Ich bezweifle nämlich, dass du stehend unten ankommen wirst.“

Ich weiß nicht, die wievielte Flasche es ist, die ich ihm in den letzten Stunden gebracht habe, wundere mich aber wie so oft darüber, dass er nicht längst ins Koma gefallen ist. Bei mir selbst hätte schon die Hälfte ausgereicht, um mich ins Krankenhaus zu befördern. Aber Vater ist nach all den Jahren leider einiges gewöhnt.

„Sag mal, wann bist du eigentlich endlich mit der beschissenen Schule fertig? Es wird Zeit, dass du dir einen Job suchst und Geld reinbringst. Es kann nicht sein, dass ich mir auf dem Bau den Rücken kaputtarbeite und für alles allein aufkommen muss. Die Unkosten müssen schließlich auch bezahlt werden.“

Ich seufze und schüttle bitter lachend den Kopf. Wenn ich mir nebenbei nicht längst einen Job gesucht hätte, wären wir schon aus der Wohnung geflogen. Allerdings spare ich mir jegliches Wort in Bezug auf diese Diskussion und über meine Arbeit. Vater braucht nicht wissen, dass ich Geld verdiene und schon mal gar nicht, wo ich dies mache. Wichtig ist nur, dass ich soweit alles im Griff habe und dafür sorgen kann, dass es Lina gut geht. Dazu zählt leider auch, mich nicht mit Vater anzulegen und es ihm in den meisten Fällen recht zu machen. Ich möchte nicht, dass Lina am Ende unter dem Ganzen leiden muss.

„Ich werde diesen Sommer fertig, ja, und dann werde ich sicherlich etwas finden. Mach dir keine Gedanken.“

Vater lacht. Voller Sarkasmus und Ablehnung. Dass er überhaupt mit mir sprechen kann, ist mir ein Rätsel. „Ich soll mir keine Gedanken machen? Schwierig bei zwei Versagern wie euch, nicht wahr?“

Ich atme tief ein. Mein Herz klopft jetzt aber so stark gegen meine Brust, dass ich nicht an mir halten kann. Es macht mich wütend, wenn er solche Dinge von sich gibt, obwohl es mich schon lange nicht mehr verletzt.

„Bei so einem guten Vorbild kann aus uns vermutlich auch nichts anderes werden. Oder wie siehst du das?“

Vaters Augen weiten sich. Sie füllen sich mit Zorn. Wäre ich doch, nachdem ich ihm das Bier gebracht habe, wieder gegangen.

„Du kleine Missgeburt, muss ich dir etwa Beine machen?“

Er legt die Hände auf den Armlehnen ab und drückt sich hoch, möchte auf mich losgehen. Zum Glück jedoch geben seine Beine nach, sodass er direkt zu Boden stürzt. Ich trete einen Schritt zurück und starre auf meinen Vater, nicht gewillt, ihm hoch zu helfen, obwohl er Probleme hat, es allein zu schaffen.

„Du verdammtes Miststück! Hilf mir!“

Ich antworte ihm nicht und trete stattdessen weiter zurück, während Vater mich anbrüllt. Ich kann nicht anders als ihn anzustarren. Erbärmlich, wie er da liegt, aber genau das passt zu ihm. Das fettige, zu lange Haar hängt ihm ins Gesicht. Das zu kurze T-Shirt ist ein ganzes Stück nach oben gerutscht. Ich rieche mehr als zuvor den beißenden Alkoholgeruch, gemischt mit Schweiß und ungewaschener Haut. Mir wird schlecht. Und ich weiß, dass ich schnellstmöglich die Wohnung verlassen sollte.

„Ella, was …“

Erschrocken drehe ich mich zur Tür, als ich Linas Stimme höre. Ich hasse es, wenn sie solche Dinge mitbekommt. Dabei möchte ich sie doch so gut es geht beschützen.

„Lina“, sage ich und laufe auf sie zu, werfe aber immer wieder einen Blick auf unseren Vater, „Geh und zieh dich warm an, ja? Wir beide fahren jetzt in die Stadt.“

„Was? Aber warum? Ich muss doch …“

„Ihr fahrt überhaupt nirgendwo hin!“, brüllt Vater, immer noch auf dem Boden liegend. „Helft mir gefälligst hoch, ihr unnützen Bälger!“

Ich wende mich komplett meiner Schwester zu und versuche, das ständige Schreien meines Vaters zu ignorieren. Er wütet und probiert immer wieder, sich zu erheben, schafft es aber nicht. Sehr zu meiner Erleichterung.

„Ella?“

„Lina, bitte. Zieh dich warm an, nimm dir meine Autoschlüssel und geh schon mal zum Auto, ja? Du brauchst doch sicher ein Geschenk für Zoe, wenn du auf ihre Party gehst, oder?“

„Auf ihre Party? Aber ich dachte …“

Ich schlucke. Mir ist nicht wohl dabei, sie die halbe Nacht allein dorthin zu schicken, aber alles ist besser, als sie bei diesem Idioten zu lassen. Ich kann meine Schicht nicht absagen, also muss ich improvisieren.

„Wir besprechen das gleich unterwegs und jetzt hör bitte auf mich. Geh zum Auto, ich komme gleich nach. In Ordnung?“

Lina nickt und wendet sich von mir ab. Sie schlüpft in ihre Winterstiefel und nimmt sich ihre Jacke von der Garderobe, dann greift sie nach meinen Schlüsseln und verlässt die Wohnung.

Erleichtert atme ich auf, obwohl ich genau weiß, was mir jetzt bevorsteht. Denn trotz der Wut, die ich auf Vater habe, kann und will ich ihn nicht dort liegen lassen, wenn wir für ein paar Stunden nicht in der Wohnung sind. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass auf diesem Wege etwas passiert. Sein Tod wäre nicht die Lösung all unserer Probleme.

„Du verdammtes Miststück! Was fällt dir eigentlich ein?“

Ich ignoriere seine Worte und stelle mich neben ihn, um ihm unter die Arme zu greifen. Ich halte die Luft an, um nicht zu viel von seinem Gestank in mir aufzunehmen, sammle all meine Kräfte und versuche, ihn nach oben zu ziehen. Schwerfällig helfe ich ihm dabei, wieder auf die Beine zu kommen. Sein Stöhnen mischt sich mit seiner schweren Atmung. Ich habe alle Mühe, den Mann, der einige Kilos mehr wiegt als ich, oben zu halten und in seinen Sessel zurückzusetzen. Erleichtert atme ich auf, als ich es endlich geschafft habe. Doch dann packt Vater plötzlich zu.

„Und jetzt hörst du mir mal gut zu“, sagt er, krallt die Hand in mein T-Shirt und zieht mich grob an sich. Ich bin zu überrascht, als dass ich reagieren kann. „Noch einmal so eine Aktion und du lernst mich kennen, ist das klar? Ihr beide, ihr seid ganz allein hier die Versager. Nutzlos und nichts wert, genau wie eure Mutter jetzt. Weil sie sich einfach verpisst hat. Sieh, was sie aus mir gemacht hat!“

Das, was er sagt, ergibt keinen Sinn, doch ich bin nicht in der Lage, ihm irgendetwas zu entgegnen. Ich habe Angst. Angst davor, er könnte zuschlagen oder sonst etwas tun, obwohl dies bisher nie vorgekommen ist. Zwecklos versuche ich, seinen Arm am Handgelenk nach unten zu ziehen.

„Bitte, hör auf“, sage ich leise. Mein Herz rast. Doch Vater lacht nur. „Bitte, lass …“

Unerwartet und dennoch erlösend, lässt er mich los, weshalb ich zu Boden gehe. Mit weit aufgerissenen Augen versuche ich, mich zu beruhigen. Vater wendet sich ab und starrt, als wäre nichts gewesen, auf den Fernseher.

Ich brauche einen kurzen Augenblick, um zu registrieren, dass es vorbei ist.

Es ist vorbei.

Und ich verlasse so schnell wie möglich die Hölle, die sich mein Zuhause schimpft.

 

~~~

 

Meine Hände zittern, als ich das Auto in eine Parkbucht lenke und den Motor abstelle. Seit ich eingestiegen bin, habe ich kein einziges Wort zu Lina gesagt und sie sitzt ebenso schweigend neben mir. Mir ist bewusst, dass es ihr ebenfalls nicht gut geht, aber ich brauchte die Zeit für mich, um mit dem Geschehenen zurechtzukommen.

„Weißt du schon, was du ihr schenken möchtest?“, frage ich, nachdem ich mich abgeschnallt habe.

Lina zuckt mit den Schultern. „Sie liest sehr gern. Ich denke, ein Buch wäre das Richtige.“

„Das klingt doch gut. Und welche Art? Ich meine, was liest sie denn so?“

Ich weiß, dass der Versuch, ein normales Gespräch zu beginnen, nicht der klügste ist, aber ich möchte nicht, dass Lina mir unangenehme Fragen stellt.

„Sie mag Fantasy. Alles, was mit Wölfen und Vampiren zu tun hat.“

„Da werden wir sicherlich etwas finden. Also komm, lass uns zur Buchhandlung laufen.“

Ich habe die Hand schon am Türgriff liegen, als ich Lina neben mir seufzen höre.

„Warum lässt du mich jetzt doch zu der Party? Du warst doch vorhin noch dagegen.“

Ich seufze ebenfalls und setze mich wieder richtig hin, bevor ich meiner Schwester in die braunen Augen sehe. „Ja, das war ich und das bin ich eigentlich immer noch, aber ich möchte auch nicht, dass du die Nacht unter solchen Umständen allein in der Wohnung verbringst. Vater ist noch schlimmer drauf als sonst und ich möchte nicht, dass du darunter leiden musst. Ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich irgendwann ins Alkoholkoma fällt und da ich meine Schicht nicht absagen kann …“

„Möchtest du, dass ich bei Zoe bleibe.“

Ich nicke und lege die Hand auf ihre. „Ja, zumindest, bis ich Feierabend habe. Ich werde mich bei dir melden und dich dann abholen. Es kann aber sein, dass es weit in den frühen Morgen gehen wird. In Ordnung?“

Lina nickt und ich bin mir sicher, dass sie nicht weiß, ob sie sich darüber freuen soll, dass sie doch auf diese Party gehen darf. Lina ist keine Partymaus, aber auf diesem Weg hat sie wenigstens Kontakt zu ihren Freundinnen.

„Aber du holst mich ganz sicher ab, oder? Ich möchte nämlich nicht dort schlafen. Meistens kommen sie nämlich gar nicht dazu.“

Ich lächle. „Ich hole dich ab, versprochen.“

 

Nachdem wir die lange Einkaufsstraße schweigend nebeneinander hergegangen sind, beginne ich langsam zu frieren. Ich habe in der ganzen Aufregung vergessen, meinen Wintermantel anzuziehen und laufe nur in einer dünnen Sweatjacke bekleidet durch die Stadt. Ich muss aufpassen. Eine Erkältung oder gar eine Grippe kann ich mir nicht leisten.

„Da sind wir ja endlich“, schnaufe ich und reibe mir mit den Händen die Arme. Mein Blick haftet auf den großen Lettern des städtischen Buchhandels. „Und wenn wir fertig sind, gehen wir erst einmal einen warmen Kakao trinken.“

„Das ist eine gute Idee.“ Lina lächelt. „Bekomme ich auch einen Schokoladendonut?“

„Auch zwei, wenn du möchtest.“ Ich erwidere ihr Lächeln, während wir das Geschäft betreten. Die Wärme, die mich umgibt, tut mir sofort wahnsinnig gut. „Weißt du, wo wir hin müssen? Ich kenne mich hier nämlich nicht aus.“

Lina nickt und zieht die weiße Wollmütze von ihren braunen Locken. „Wir müssen in die erste Etage. Kommst du mit oder möchtest du dich lieber nach etwas anderem umsehen?“

Ich denke nach.

Früher habe ich gern gelesen, aber seit Mutter tot und Vater ein einziges Wrack ist, habe ich kaum Zeit dazu gefunden. Denn wenn andere abends gemütlich in ihrem Bett liegen, ein Buch lesen oder Musik hören, bin ich meistens unterwegs, um das Geld zu verdienen, das wir beide dringend benötigen, oder lerne für die Schule.

Dennoch …

„Wenn es dir nichts ausmacht, sehe ich mich hier unten mal ein bisschen um, okay? Vielleicht finde ich etwas, das mich interessiert. Man weiß ja nie.“

Auf Linas Lippen bildet sich ein Lächeln. „Das ist eine schöne Idee. Ich komme dann zu dir, sobald ich das Buch habe, ja?“

„In Ordnung. Dann bis gleich.“

Lina nickt und ich bleibe einen Moment lang stehen, bis sie mit der Rolltreppe in die oberste Etage gefahren ist. In diesem Augenblick ist sie ein völlig normales Mädchen auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk. Zumindest äußerlich wirkt sie sorgenfrei und gelöst. So wie sie es normalerweise immer sein sollte.

Seufzend fahre ich mir durch das Haar und wende mich von der Treppe ab, laufe den Gang entlang bis nach hinten, wo die Thriller in den Regalen angeordnet sind. Ich liebe den Geruch von neuen Büchern, mag es, mir jedes einzelne Cover anzusehen und sie mit den Fingerspitzen zu berühren. Ich habe meine Bücher schon früher nicht nach aussagekräftigen Bildern gekauft, denn ich weiß, dass das Erscheinungsbild nicht immer etwas mit dem Inhalt zu tun hat, den es in sich trägt. Es ist genau wie bei Menschen. Oft sind die, die von außen wunderschön sind, in ihrem Inneren kalt und herzlos. Dann gibt es jedoch diejenigen, die von anderen kaum wahrgenommen werden, die aber mehr Herzlichkeit zu geben haben, wie kein anderer.

Ich bleibe stehen und lasse den Blick über das große Regal wandern, dass direkt vor mir steht. Unzählige Bücher, ein Titel interessanter als der andere. Überfordert beiße ich mir auf die Unterlippe. Nach welchem soll ich greifen? Welches mir ansehen? Soll ich Geld für etwas ausgeben, das mit großer Wahrscheinlichkeit in der Schublade meines Nachttisches verschwinden wird? Lina kann ich es nicht geben. Sie liest dieses Genre nicht. Sie ist vielmehr an Liebesromanen interessiert, verirrt sich regelmäßig in der Welt der Footballer und der großen Liebe. Schon seit Jahren glaubt sie daran, irgendwann ihrem Traumprinzen zu begegnen. Das erste Mal, da war sie gerade einmal zwölf Jahre alt.

Nachdenklich gehe ich ein Stück weiter und greife nach einem Buch mit silberner, schön geschwungener Schrift. Langsam fahren meine Finger über die ausgeprägten Buchstaben. Eine Frau im weißen Kleid ziert das Bild, verschmiert mit Blut, stehend auf einer weiten, dunklen Wiese. Neugierig drehe ich das Buch auf den Rücken und beginne, den Klappentext zu lesen. Doch schon nach wenigen Worten schwindet meine Konzentration. Urplötzlich fühle ich mich beobachtet. Ich spüre einen Blick auf mir ruhen, doch selbst, nachdem ich mich einige Male zur Seite gedreht habe, kann ich niemanden erkennen. Zunächst glaube ich, dass ich mich irre, doch das Gefühl, dass mich jemand ununterbrochen ansieht, will sich nicht legen. Es ist wie ein leichter Schauer, der mir über den Rücken schleicht. Der in meinem Nacken zu kribbeln beginnt. Ein Empfinden, das ich so in der Art nicht kenne. Angenehm und doch beängstigend, weil ich es nicht zuordnen kann.

Noch einmal drehe ich den Kopf zu allen Seiten. Da ist niemand. Zumindest keiner, der mich die ganze Zeit über ansieht.

Vielleicht bilde ich es mir nur ein?

4

Alexander

Ich weiß nicht warum, aber die Anziehung der jungen Frau, die ich durch die Regale hindurch entdeckt habe, ist so stark, dass ich nicht anders kann, als sie unentwegt anzustarren. Ich sehe nicht mehr von ihr, als ihren Rücken und das schwarze, wilde Haar, das ihr bis zum Kinn reicht, ihre Sweatjacke und die blaue, zerrissene Jeans. Und doch ist da etwas, das mich dazu zwingt, stehen zu bleiben und meinen Blick auf sie zu richten. Wo kommt dieses Gefühl her? Das Gefühl, dass wir uns auf merkwürdige Weise nahestehen. Uns vielleicht sogar kennen? Ich kann es mir nicht erklären, aber es ist da. Auf unerklärliche, intensive Art.

„Alex? Ich gehe mal nach oben, ja? Vielleicht finde ich da ein Buch über Schwangerschaften. Da freut sie sich sicher sehr drüber.“

Ich drehe mich zu Chris um und nicke ihm zu. „Mach das, ich frage in der Zwischenzeit eine Verkäuferin, wo das Buch liegt. Vermutlich bin ich nur blind.“

Oder zu fasziniert von diesem Menschen und dem, was er in mir auslöst.

Chris lacht. „Alles klar, ich komme dann wieder nach unten, wenn ich fündig geworden bin.“

„In Ordnung.“

Ich warte erst gar nicht darauf, bis Chris außer Reichweite ist, sondern drehe mich sofort wieder zu der Stelle um, an welcher die geheimnisvolle Frau steht. Doch das Gefühl der Nähe und Verbundenheit ist verschwunden. Sie ist verschwunden.

„Verdammt!“, murmle ich und schüttle den Kopf.

Es ist ein Gefühl von Leere, das mich jetzt umgibt. Fast so, als fehlt mir etwas. Dabei habe ich sie nicht einmal angesprochen, geschweige denn ihr in die Augen gesehen.

Verrückt, denke ich und schüttle erneut den Kopf.

So etwas ist mir noch nie zuvor passiert.

Also beschließe ich seufzend, den Vorfall zu vergessen und mich endlich um das Buch meiner Mutter zu kümmern. Deswegen sind wir hergekommen. Nur deswegen, und nicht, weil ich mich unerklärlicherweise zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Harper Miles
Bildmaterialien: 123rf.com
Cover: Harper Miles
Korrektorat: Ulrike Limacher
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2021
ISBN: 978-3-7487-8129-5

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