Für meine ehemalige Vampire - Runde
Ich wette, der Prinz von London sehnt sich immer noch nach seinem Teddy - oder wenigstens nach einer guten alten Kopfschmerztablette!
Vampire + Anhang:
Madeleine Meyer–Schmidt, genannt Maddy - Erzählerin
Dieter Meyer–Schmidt - ihr Ghoul, spielt für die Menschen ihren Vater
Heiko Meyer–Schmidt - ihr Ghoul, Dieters Sohn, spielt für die Menschen ihren Bruder
Alexj Sergejewitsch, Graf Orlow - ihr Vampirkind und erste Liebe
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Michael Dupreé, genannt Big Mike - Bordellbesitzer, Madeleines Chef und ältester Freund
Bear und Berserk - seine Leibwächter
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Jean - Computergenie, Organisator, Technikfreak, totaler Nerd, in Madeleine verknallt
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Prinz Wilhelm Arthur Rüdiger Albert Louis von Anstetten - Oberhaupt der Vampire der Stadt
Menschen:
George - Vampirjäger der Anglikanischen Kirche Englands, Madeleines große Liebe
Michelle, genannt Micki - Klassenkameradin, Madeleines beste Freundin
Bianca + ihre Clique - Klassenkameraden der nervigen Sorte
“...Never's the word God listens for when he needs a laugh.” ― Roland Deschain, The Dark Tower / Stephen King
"So much you did; So much you did and so much more you would have done, aye, and all without a check or qualm, and so will the world end, I think, a victim of love rather than hate. For love's ever been the more destructive weapon, sure."- Roland Deschain, The Dark Tower /Stephen King
Es begann an einem ganz normalen Freitag, morgens, in einem ganz normalen Gymnasium, irgendwo in Deutschland.
Es war eine harte Woche gewesen, Klausurenzeit. Wir hatten gerade Mathematik geschrieben, ein Fach, dass ich nie gemocht hatte und nie mögen würde. Schließlich hatte das Läuten des Schulgongs mich erlöst.
Ich packte gerade meine Sachen zusammen, als eine vertraute Stimme mich aus meinen Gedanken riss.
"Du Maddy, hast heute Abend Lust auf Kino? Ein bisschen feiern?" Meine Freundin Michelle strahlte mich an.
"Weiß nicht...was läuft denn?"
"Mann, du kriegst echt nichts mit!" schimpfte sie und blies sich eine Ponyfranse aus der Stirn, "Der letzte Teil von "Twilight" ist gerade angelaufen! Den muss ich sehen...Robert Pattinson ist ja sooo süüß!"
OH MEIN GOTT!
Das durfte jetzt nicht wahr sein. Eine Vampirschnulze. Als Krönung einer ohnehin aus dem Kalender zu streichenden Woche. Ganz toll.
Ich hasste Vampirschnulzen. Das war nichts Persönliches; aber Romantik und Vampire passen für mich so gut zusammen wie Nutella und Salami.
Trotzdem versuchte ich es mit Diplomatie. Michelle und ich waren seit Jahren befreundet, ich kannte also ihre romantische Ader zur Genüge. Wenn sie auf dieser Welle unterwegs war, war Logik keine Option.
"Ähhh, Micki....Wie lange kennen wir uns schon? Lange genug, dass du eigentlich weißt, dass "Twilight" nicht so ganz mein Ding ist, oder? Die Idee "Kino" an sich ist ja gar nicht so schlecht, aber kommt denn nichts anderes?"
"Schon klar!"
Jetzt schmollte sie. Super. Ich musste dringend an meinen diplomatischen Fähigkeiten arbeiten.
"Ich will aber das Finale von "Twilight" sehen! Außerdem weißt du ja gar nicht, wie toll die Geschichte ist. Du hast ja nicht mal die Bücher gelesen!"
"Musste ich auch nicht. Du redest ja von nichts anderem mehr."
"Jetzt wirst du gemein. Nur, weil du dir nicht vorstellen kannst, wie es wäre, wenn so ein schnuckeliger Typ auf dich stehen würde und du ewig mit ihm zusammen sein könntet...." Michelle verdrehte schwärmerisch die Augen.
Ich auch. Allerdings nicht schwärmerisch.
"Herrje, bis in alle Ewigkeit...die meisten Beziehungen von Leuten im unserem Alter, die ich kenne, halten höchstens mal vier Wochen - spätestens dann geht man sich auf den Geist oder ein neuer, ach-so-süsser Typ ist am Horizont aufgetaucht...."
"Du hast halt keine Ahnung von wahrer Liebe! Frage ich eben Bianca!" Mit diesen Worten wandte sie sich ab und stakste beleidigt davon. Das hatte ich ja großartig hingekriegt.
Aber ich habe Recht. Es gibt keine schnuckeligen, lieben Vampire, die Tierblut vorziehen, wie Diamanten strahlen und unschuldige Mädchen beschützen.
Das weiß ich mit Sicherheit.
Denn ich, Madeleine Meyer - Schmidt, 18 Jahre alt, bin einer. Und ich glitzere nicht. Schon gar nicht in der Sonne.
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Ja, ihr habt richtig gelesen. Ich bin ein VAMPIR.
Natürlich heiße ich nicht Madeleine Meyer - Schmidt. Und 18 bin ich schon gar nicht.
Selbstverständlich ernähre ich mich von menschlichem Blut. Regelmäßig.
Obwohl ich zugeben muss, dass das mit zunehmenden Alter weniger geworden ist. Wenn man seine übernatürlichen Fähigkeiten nicht mehr jeden Tag einsetzen muss, um sich etwas zu beweisen - junge Vampire und pubertierende Teenager haben mehr gemeinsam als man denkt - dauert es länger, bis man richtig durstig ist.
Aber der Reihe nach, fangen wir mit dem Namen an:
"Madeleine“ heiße ich, weil es mit gefällt. "Meyer - Schmidt" ist eher aus Verlegenheit entstanden. Wenn man regelmäßig eine neue Identität braucht, hat man irgendwann keine Lust mehr, sich etwas Kreatives auszudenken. Früher konnte man sich seine Namen aus Kirchenregistern zusammenstellen, aber im bürokratischen Deutschland des 21ten Jahrhunderts ist das nicht mehr so einfach. Jeder ist erfasst und sein Aufenthaltsort bekannt, auch wenn es der Friedhof ist.
Mit meinem Alter ist das so eine Sache. Warum ich Volljährigkeit in meinen brandneuen Papieren stehen habe, ist, glaube ich, jedem klar. So viel Luxus muss sein. Ich habe schließlich nicht Jahrhunderte überdauert, um jetzt mit dem Bus zu fahren und ganz brav um 22:00 Uhr ins Bett zu gehen - zumal mein "Tag" dann erst richtig anfängt.
Sonne ist zwar nicht tödlich für mich, aber lästig. Selbst wenn es bewölkt ist, kann ich meine Fähigkeiten fast gar nicht nutzen und muss eine Sonnenbrille tragen. Wenn ich an einer neuen Schule bin, sorgt das immer für ein paar Lacher.
Bei strahlendem Sonnenschein fehle ich immer in der Schule - extreme Sonnenallergie und Migräne stehen als Grund auf dem Zettel. Ich habe sogar ein Attest, ausgefüllt von dem Arzt meines Vertrauens. Ordnung muss sein.
Unsere Sonnenempfindlichkeit kommt aufgrund der nachlassenden Pigmentierung der Haut zustande. Bei wirklich alten Vampiren sieht sie aus wie Porzellan und fühlt sich auch fast so an. Deswegen mag ich auch keine Porzellanpuppen. Besonders den "klassischen", die noch mit offenem Mund und Zähnchen gestaltet worden sind, drehe ich NIE den Rücken zu - ich meine immer, ein leises Rascheln zu hören und winzige Fänge zu spüren, die sich in meinen Hals bohren, gefolgt von einem zarten ekelig - schmatzenden Saugen...ihhhgitt!
Natürlich wohne ich noch bei meinem "Vater", "Dieter", zusammen mit meinem "Bruder", "Heiko".
Die Wahrheit ist, dass die beiden deutlich jünger sind als ich, aber älter aussehen. Dieter und Heiko sind tatsächlich Vater und Sohn. Sie sind schon seit Ewigkeiten meine Freunde, in Zeiten der Verfolgung meine Beschützer, meine Vertreter im Sonnenschein und - meine Ghoule.
Wohlgemerkt: Ghoule sind nicht die zombieähnlichen Deppen, die immer in Filmen auftauchen, sondern Menschen, die regelmäßig Blut von "ihrem" Vampir bekommen. Das beste Beispiel, das ihr kennt, ist wohl Mina Harker aus "Dracula".
Der Mensch wird tatsächlich immer vampirähnlicher, lebt sehr viel länger und bekommt im Laufe der Zeit auch einige Fähigkeiten des Vampirs, wenn auch nicht in voller Ausprägung. Ein alter, erfahrener Ghoul ist unglaublich wertvoll für seinen Herren, weswegen mich viele um Dieter beneiden.
Aber die Wahrheit ist, dass er langsam tatsächlich alt wird. Unsere Wege werden sich bald trennen müssen und Heiko wird seinen Platz einnehmen. Das ist gewissermaßen eine Familientradition. Wie es dazu kam, erzähle ich euch vielleicht später - mein ganzes Leben würde den Rahmen dieser Geschichte wirklich sprengen.
Darum beende ich den Exkurs an dieser Stelle und kehre zu jenem Freitag zurück, an dem ich mir die schwierige Aufgabe aufgehalst hatte, die beleidigte Michelle wieder zu versöhnen, ohne mir "Twilight - Teil 10000058" antun zu müssen. Weia.
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Ich sah Michelle am Ende des Flurs bei Bianca und den anderen Romantik - Gothik - Barbies stehen – ihr wisst schon, die mit den pinken Totenköpfen auf den superkurzen schwarzen Tüll - Röckchen und der böse guckenden "Hello - Kitty" auf dem knappen Top.
Überflüssig zu sagen, dass die mich nicht leiden konnten.
Eigentlich gehörte Michelle auch nicht zu der Clique...diesmal war ich wohl wirklich zu weit gegangen.
Oh Herr, hilf mir mein großes Maul zu halten - wenigstens, bis ich weiß, wovon ich rede!
Aber das Problem war ja, dass ich genau DAS weiß, viel zu gut.
Ich seufzte und nährte mich zögernd der Gruppe.
"Was ist los, Maddy?" dachte ich, "jetzt reiß dich mal zusammen! Du hast gegen andere Vampire gekämpft und überlebt, hast dein Revier in einer gnadenlosen Gesellschaft errichtet und dir deine Nische geschaffen - und hast Manschetten vor der Auseinandersetzung mit einem MENSCHEN??? Komm schon, das ist nicht dein Ernst!!"
War es aber. Ich hatte nicht so viele Freunde unter den Sterblichen, dass ich auf einen verzichten könnte.
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Okay, ich bin mit genau einem Menschen befreundet, mit Michelle - Dieter und Heiko sind schließlich strenggenommen keine mehr.
Sterbliche wissen, dass ich anders bin. Es ist ja nicht nur das Aussehen, erschwerend kommt hinzu, dass ich keinen Körpergeruch habe. Ich schwitze nicht.
Ich sende kein Pheromone.
Ich weine nicht. Okay, Letzteres könnte ich. Aber meine einzige Körperflüssigkeit ist Blut, darum ist es immer eine große Sauerei, wenn mir die Tränen kommen.
Also lasse ich meistens auch das.
Menschen sind zu klug, um zu fragen. Sie gehen einfach, schauen weg, übersehen mich - das Motto ist: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und mir ist das immer recht gewesen.
Doch Michelle war von Anfang an anders. Ihr war es egal, ob ich ein Freak, ein Vampir oder vom Mars bin. Sie hatte einfach nicht locker gelassen, war mir nachgelaufen, hatte mich 1000000x genervt, weil sie unbedingt mit mir reden wollte...irgendwann hatte ich nachgegeben. Auch Überlebensprofis wie ich sind eben manchmal einsam.
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Inzwischen hatte sich der Abstand zwischen mir und der Gruppe dramatisch verringert. Wenn ich einen Puls gehabt hätte, hätte das Blut jetzt in meinen Ohren gerauscht und das Herz wie rasend geschlagen.
Offenbar war ich im Entschuldigen noch mieser als in Diplomatie. Und ich konnte nicht mal tief Luft holen, bevor ich anfing.
Da drehte Bianca sich um. Sie grinste. Arrogant.
Schlagartig wurde ich ruhig - gefährlich ruhig. Meine Nerven vibrierten wie zu straff gespannte Gitarrensaiten. Wenn ich jemanden nicht leiden kann, dann gründlich.
Ihre Hoheit öffnete ihre zu stark geschminkten Lippen und vermerkte: "Was willst du, Freak? Kommst du angekrochen, weil du's nicht ertragen kannst, dass deine Micki dich nicht mehr mag?"
Ich schob das dürre Gestell einfach beiseite - ja, es IST schön, stärker zu sein als andere - und trat zu meiner Freundin.
"Hör mal, Micki...sorry wegen vorhin...ich hab's nicht so gemeint. Ich bin nur müde und die Klausur hab ich auch versaut....bin einfach nur sauer auf die Welt, schätze ich..."
Michelle schaute mich an.
Sie wollte etwas sagen; aber Bianca kam ihr zuvor: "Mann, merkst du nicht, dass du hier nicht gefragt bist? Zieh Leine, Freak!"
Das reichte.
Betont langsam drehte ich mich um.
"Erstens heiße ich nicht "Freak", sondern Madeleine und zweitens ist das eine Sache zwischen Micki und mir. Also bist du diejenige, die nicht mehr gefragt ist und Leine ziehen sollte. Klar? - Was wolltest du sagen, Micki?"
"Ich wollte nur sagen, dass....,"
Aber Bianca hasste es, wenn sich nicht die ganze Welt um sie drehte. Sie war genau der Typ Mensch, dessen Ego immer eine halbe Stunde vor dem Rest da ist, damit es auch genügend Platz hat.
"Mann, raffst du's nicht oder was? Du sollst verschwinden - mach den Abgang, Frank!"
Ihre Entourage kicherte pflichtgemäß über den dämlichen Witz, während sie wie ein Pferd wieherte.
Ich spürte, wie mein durch diesen Scheißtag ohnehin schon arg strapazierter Geduldsfaden langsam ausfranste. Die ersten Fasern begannen nachzugeben.
"Bianca", sagte ich, wiederum gaaaaannnnz langsam und betont, wie man mit einem trotzigen Kleinkind redet, "Ich rede mit Michelle. Also: HALT DIE KLAPPE! - Micki, was....
"Von jemanden wie dir lass ich mir gar nichts sagen. Nullkommanullnix!"
Sie packte mich am Arm.
Böser Fehler. Ganz böser Fehler.
Mein Geduldsfaden riss. Meine Instinkte gewannen die Oberhand über meine Vernunft. Wie ein angreifendes Raubtier fuhr ich einer einzigen, fließenden Bewegung herum.
"Zum letzzzten Mal: HALT DICH DA RAUSSSSSSS!" zischte ich.
Verdammt! Meine Fänge!!
Schnell zog ich die Oberlippe ein Stück nach unten, damit man die hervorbrechenden Spitzen meiner Reißzähne nicht sofort sah.
Bianca starrte meinen Mund an. Und dann machte sie einen weiteren, unverzeihlichen Fehler:
Sie schlug nach mir.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite, ein wenig zu schnell, um als "menschlich" durchzugehen. Die Sonnenbrille flog in hohem Bogen zu Boden. Ich blinzelte nicht einmal.
Meine Augen sind keine Menschenaugen, sie sehen nur ähnlich aus. Meine Augen sind eher wie die einer Katze - die Pupillen passen sich den Lichtverhältnissen blitzschnell und optimal an. Was bedeutete, dass sie im neonhellen Schulflur ungefähr die Größe von Stecknadelköpfen hatten.
Kurz: Ich sah aus wie eine drogensüchtige Irre.
Mit Reflexen wie Supergirl - Supergirl, das Biancas Arm abfing und das Handgelenk quetschte.
Wäre es Nacht gewesen, hätte ich es gebrochen.
Mist, MiST, MIST!!!!!!! Das war definitiv nicht mein Tag!
Alle, wirklich alle, starrten mich an.
Schnell produzierte ich einen roten Fleck auf meine Wange, als hätte ich die Ohrfeige abbekommen und man würde einen Handabdruck sehen.
Als wäre ich ein Mensch.
Mittlerweile hatte Bianca sich gefangen. "Ey, was hast du denn geraucht??? So kleine Pupillen haben nur Kiffer. Und lass mich los!!! Das werde ich melden! Und dann bist du fertig, du Miststück!!"
Ich ließ los – wenn auch nicht sofort.
"Sorry, Tussi - aber mich packt keiner an. Ist das angekommen? Und was meine Augen angeht - ich nehme starke Medikamente gegen diese bekloppte Allergie, klar? Oder dachtest du, ich trage die Brille zum Spaß??"
"Das hätte ich jetzt auch gesagt. Du lügst doch wie gedruckt, Miststück! Du..."
"Sie lügt nicht, Bianca", kam mir unerwartet Michelle zur Hilfe, "Mondscheinkinder müssen sehr starke Medikamente nehmen, um überhaupt tagsüber rausgehen zu können. Manche können es nie. Und sie kriegen spitze Eckzähne, weil bei ihnen wegen Vitaminmangel dann Zahnfleisch zurückgeht. Daher kommt doch der ganze Vampirglaube und so."
Das stimmt zwar so nicht ganz, aber ich sagte mal nichts. Sie rettete mir immerhin gerade meinen Hintern. Und nicht jeder ist Fachmann in Medizin - ich habe dafür schließlich auch Dieter.
Michelle bückte sich und reichte mir die Sonnenbrille. "Komm", sagte sie, "gehen wir."
&&&
Eine halbe Stunde später war ich wieder zu Hause. Michelle und ich hatten uns versöhnt - wenn auch um den Preis, dass ich jetzt "Twilight" lesen musste.
Aber das konnte ich hinauszögern und am Ende ''zufällig'' vergessen.
Ich habe viel Zeit zum Vergessen.
Dieter räumte gerade die Einkäufe in den Kühlschrank. Lebensmittel für ihn und Heiko, zwei Blutkonserven für mich - für den Notfall.
Das ist auch einer der Gründe, warum ich diesen Vampir - Kitsch nicht mag - hallo, da will einer die Welt retten und die Menschheit beschützen und was weiß ich noch alles und hat nicht mal einen Notfallplan, falls er einen Anfall von Blutdurst bekommt. Was ein Held...
Denn den habe ja selbst ich. Immer. Sogar in der Schule habe ich eine Konserve dabei, in einer Kühlbox, getarnt als Brotdose. Sicher ist sicher.
Bislang hatte ich Glück; aber das kann sich sehr schnell ändern. Und dann bin ich vorbereitet.
Dieter hatte alles verstaut und wandte sich zu mir um.
"Hi, Maddy. Wie war's in der Schule?"
"Frag besser nicht. Die Klausur jedenfalls war für die Tonne."
"So schlimm?" Er lachte.
"Hmmm. Macht aber nichts. Kann ich ja in 10 Jahren noch mal schreiben."
"Möglich."
Irgendetwas stimmte nicht. Dieter war nicht bei Sache. Normalerweise regte er sich auf, wenn ich soetwas sagte - Tarnung und so. Ich betrachte ihn misstrauisch von der Seite.
"Ist irgendwas?"
Er seufzte.
"Big Mike hat angerufen. Du sollst heute Abend in den Club kommen."
Das war ungewöhnlich. Big Mike hasste Telefone. Wenn er persönlích ANRIEF, war etwas passiert.
"Hat er gesagt, worum es geht?"
"Nein. Aber ich schätze, es geht um die Morde." Dieter sah mich ernst an. "Maddy, sie haben wieder eine gefunden. Das ist jetzt die dritte tote Prostituierte."
"VERDAMMT! Wieder die Kehle, wie bei den anderen?"
"Genauso. Der Mörder hat ihr die Kehle rausgerissen. In der Presse sagen sie, der Kerl hetzt einen großen Hund auf seine Opfer. Aber ich denke, wir wissen es besser, oder?"
"Ich weiß es nicht. Und es geht mich auch nichts an. Nicht mehr."
"Maddy, das kannst du so nicht sagen. Wenn es ein Vampir ist, geht es dich was an. Es geht euch alle an."
"Ja, wenn...und was, wenn die Polizei recht hat?"
"Und was, wenn nicht? Maddy, du kannst nicht ewig davonlaufen. Wie lange willst du dich noch verstecken? Du kannst nicht..."
"Und ob ich kann! ES GEHT MICH NICHTS AN!!!! Vergiss es! Ich bin raus aus der Nummer. Sollen sie jemand anders fragen!"
"Maddy..."
"Zum letzten Mal: NEIN!"
Meine Faust krachte auf den Tisch, der sich prompt in zwei Hälften und eine Menge Splitter auflöste.
"Ich bin oben!"
Ich stürzte an Dieter vorbei, die Treppe hoch, in mein Zimmer. Gerade wollte ich die Tür zuknallen, als mich seine Stimme erreichte: "Lass die Tür heile, Maddy! Die Dinger sind teuer!"
Auch wahr. Ich schloss die Tür - für meine Verhältnisse - behutsam und ließ mich auf mein Bett sinken.
Ein Killervampir. Na bravo.
Natürlich wusste ich, dass Dieter Recht hatte. Großer Hund am Arsch! Der hat zwar auch Fänge, aber 3 Frauen mit einem Hund zu töten, ohne dass irgendjemand etwas hört oder sieht? Eher nicht. Die Erklärung klang genau wie das, was sie wahrscheinlich war: Gedankenmanipulation. Unseren Leuten fiel auch wirklich nichts Neues mehr ein.
Problem: Keiner außer einem Vampir kann einen Vampir töten, sieht man mal von Menschen mit Wahrem Glauben und Hexern ab. Wobei die Anzahl der Letzteren in den vergangenen Jahrhunderten immer mehr abgenommen hat. Es gibt fast keine Magier mehr und was den Wahren Glauben angeht - fragt euch doch mal selbst.
Gut, Werwölfe und Feen können Vampire auch töten. Aber die sind erstens mit sich selbst beschäftigt und zweitens kann man seine Erzfeinde schlecht fragen, ob sie nicht Lust hätten, einen durchgeknallten Blutsauger zu erledigen.
Also blieb nur ein anderer Vampir.
Wenn Big Mike mich sprechen wollte, hieß das, dass dieser Vampir wahrscheinlich ich sein sollte. Aber ich wollte nicht.
Ich hatte gute Gründe, nicht zu wollen.
&&&
Am Abend fuhr ich zu Mike in den Club.
"Big Mike" ist ein gewaltiger Schwarzer unbestimmten Alters. Soweit ich gehört habe, war er Sklave auf einer Plantage, bis er floh – und seinem neuen Herrn direkt in die Arme lief.
Big Mike spricht nie über seine Vergangenheit – keiner von uns tut das - aber ich glaube, dass die Geschichte wahr ist. Ich habe die Narben auf seinem Rücken gesehen.
Mike gehört eines der nobelsten Bordelle in der nächst größeren Stadt. Er ist mein - im wahrsten Sinne des Wortes - ältester Freund und schon immer im Rotlichtmilieu tätig.
Es gab und gibt so ziemlich kein halb- oder illegales Gewerbe, in dem Vampire ihre Hände nicht im Spiel haben. Legal, illegal, uns egal.
Ich selber arbeite seit meiner Wandlung hin und wieder mal wieder für ihn. Ein Club voller angetrunkener, geiler Männer ist immer für einen frischen Schluck gut. Vor allem, wenn man so aussieht wie ich.
Wohlgemerkt, ich bin als Vampir nicht schöner oder hässlicher als vor meiner Wandlung. Streng genommen habe ich mich - abgesehen von der zunehmenden Blässe - seit jener Nacht nicht mehr verändert.
Ich bin immer noch die gut entwickelte Jugendliche mit den langen schwarzen Locken und dem noch ein wenig kindlich - unschuldigen Gesicht, die an jenem Tag als "Jungfrau" den Herren angeboten wurde und dem Falschen verkauft wurde. Einem, der meine Jugend für immer bewahren wollte.
Er hat es mit seiner Existenz bezahlt. Er wurde mein Opfer, nachdem ich verstanden hatte, WAS er mir da angetan hatte.
Möge er auf ewig in der Hölle schmoren!!!!
Big Mike nahm mich auf und erzog mich in meinem zweiten Leben als Vampir. Er lehrte mich alles, was ich zum Überleben brauchte. Punkte sammeln für Nachher, nannte er das. Big Mike ist echt niedlich.
Für mich ist dieses Jahrhundert, in dem schon die 13-jährigen wie 18 aussehen wollen, perfekt. Wenn ich mich in voller Montur den Herren präsentiere, hält mich keiner mehr für ein Kind. Was nach nach so ca. 300 Jahren auch irgendwie seltsam wäre, oder?
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An diesem Abend war ich früh dran. Die Lounge war noch fast leer, nur zwei der Mädchen saßen an einem der Tische und bereiteten sich auf ihre Schicht vor.
Big Mike stand hinter der Bar und trocknete die Gläser. Letzte Vorbereitungen für eine lange Nacht.
Ich ließ mich auf einen der Barhocker gleiten und wartete. Es stand mir nicht zu, den Älteren anzusprechen. Er würde mich beachten, wenn er es wollte.
Schließlich hob er den Kopf und sah mich an.
"Na, Kleines - auch schon da?"
"Hmmm. Du wolltest mich sprechen?"
"Jepp. Schon Zeitung gelesen?"
"Ich lese NIE die Zeitung, Mike, das weißt du doch. Ich schaue auch keine Nachrichten. Deprimiert mich nur."
"Aber die Sache mit den Nutten hast du mitgekriegt, oder?"
"Dieter hat was erwähnt. Was ist denn passiert?"
Ich wollte Big Mike nicht auf die Nase binden, dass Dieter mich schon seit Wochen damit nervte. Manchmal war es besser, sich dumm zu stellen.
"Irgendein Vampir tötet Nutten. Er hat bislang drei erledigt, in drei verschiedenen Städten. Das Muster ist immer gleich - er reißt die Kehle raus."
"Woher willst du wissen, dass es einer von uns ist? Die Welt ist auch ohne uns krank genug - alle Arten von Irren laufen frei rum und tun, was sie meinen, tun zu müssen. Woher weißt du, dass dem Kerl nicht ein Alien erzählt hat, wie man Prostituierte zu töten hat?"
"Bin ich erst gestern geboren worden?"
"Nein. Schon gut. Und was habe ich damit zu tun?"
Er sah mich nur an. "Als ob du das nicht wüsstest. Oder hast du vergessen, was du bist, Madeleine? Was du gelernt hast?"
"Nein...natürlich nicht...aber ich bin ausgestiegen, Mike, das weißt du genau."
"Als ob das einen Unterschied machen würde. Wenn die Führung hopp sagt, springst du, oder du bist diejenige, die am Ende die Quittung kriegt - und DAS weißt du genau."
"Schon gut, ich kann mich ja mal umhören. Vielleicht weiß Jean was."
"Jean? Unser Jean?"
"Genau der - wie er heute heißt, keine Ahnung. Ich habe nur seine E-Mail Adresse und den Kontaktcode. Er handelt immer noch mit Informationen und weiß garantiert irgendwas."
"Mit Sicherheit. Geh jetzt nach hinten und mach dich fertig - ach, und Maddy?"
"Ja?"
"Ich will, dass du heute Nacht tanzt. Du musst heute alle Besucher hier begeistern. Es darf keiner den Saal verlassen, bis ich ich zu dir auf die Bühne komme, klar? Ich habe ein privates Meeting und will nicht gestört werden."
"Will ich wissen, worum es geht?"
"Nein."
"Gut. Wird erledigt. Kein Problem."
"Dann bis später."
"Bis später."
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Ich tanzte die ganze Nacht, während ich gleichzeitig die Menge in meinen Bann zog. Kaninchen vor der Schlange.
In früheren Jahrtausenden wurden viele von uns wegen dieser Fähigkeit als Götter verehrt. Vermutlich kommt auch der Mythos unserer Schönheit genau da her.
Ein paar Mal glaubte ich, Schüsse und Schreie zu hören und intensivierte meine Anstrengung, unsere Kunden bei der Stange zu halten.
Ha,ha, Flachscherz.
Aber ich schwöre, dass keiner daran dachte, auf's Klo zu gehen oder auch nur zu blinzeln.
Irgendwann kam Big Mike zu mir auf die Bühne.
Mir fiel auf, dass er sich umgezogen hatte. Aber das ging mich, wie er bereits gesagt hatte, nichts an. Und glaubt mir, wenn man überleben will, wird man gut darin, das Offensichtliche zu übersehen.
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Den Rest der Nacht verbrachte ich, wie immer, auf Streife.
Mein Revier war der Straßenstrich um die Ecke von Mikes Bordell. Ich achtete auf die Damen, kontrollierte Freier und Zuhälter. Wer zu weit ging, hatte mich am Hals. Wortwörtlich. Außerdem passte ich auf die Streuner am Bahnhof auf, vor allem wegen der "netten Onkel" . Wer die Kids schräg anmachte oder sich in eindeutiger Absicht nährte, hatte sich zum letzten Mal an einem Kind vergriffen.
In dieser Nacht sorgte ein Freier, der von der Benutzung eines Kondoms nichts hielt, für mein dringend benötigtes Nachtmahl. Er würde am nächsten Tag mit einem Filmriss und einem gigantischen Kater aufwachen. Und seiner Freundin Rosen mitbringen statt einen Tripper.
Gern geschehen. Auch ich brauche Punkte für Nachher.
Angenehm beschwipst - meine Beute war derart voll, dass selbst ich noch etwas merkte - saß ich anschließend an der Bar, bis die Wirkung des Alkohols nachließ und schrieb meine E-Mail an Jean.
Wir hatten uns während der französischen Revolution kennengelernt, einer Zeit, in der Blutsauger aller Art ein schönes Leben führen konnten. Er hatte auch schon damals mit Informationen gehandelt und gibt immer noch damit an, dass er die Politik dieser Zeit entscheidend geprägt hat, indem er Misstrauen, Verrat und Intrigen unterstützte oder auch nicht.
Heute prahlt er oft, dass er Kriege auslösen kann, wenn er will. Ich bin ja eher für's Beenden, aber das ist wahrscheinlich nicht lukrativ genug.
Ich tippte den vertrauten Code und klickte auf "Senden". Anschließend starrte ich auf den leeren Bildschirm und fragte mich zu 10000 Mal: "Warum ich?"
Erst als ich Big Mikes amüsiertes Lachen hörte, wurde mit klar, dass ich laut gesprochen hatte. Shit! Was war bloß los mit mir?
"Warum fragst du? Du kennst die Antwort doch!" lachte er.
"Ja, ich kenne sie..", knurrte ich, "Sie lautet: Warum nicht! Aber ich will nicht...Mike ich habe Angst....ich kann das nicht, nicht nachdem....“
Mike legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie.
"Sei nicht zu streng mit dir, Kleines. Jeder macht Fehler."
"Ja sicher. Aber nicht jeder bringt dabei die Liebe seines Lebens um, oder?"
"Nein." Er seufzte. "Das nicht."
"Na also. Und jetzt entschuldige mich. Es ist spät, ich muss heim."
Was ein Schwachsinn. Ich musste nicht heim. Niemand kontrollierte mich.
Bevor Mike mich damit aufziehen konnte schnappte ich meine Tasche und verließ fluchtartig den Club.
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Als ich nach Hause kam, schlief natürlich noch alles. Ich schlich mich lautlos in mein Zimmer und legte mich angezogen wie ich war auf mein Bett - obwohl Vampire keinen Schlaf brauchen, war ich todmüde. Zum ersten Mal in meiner langen Existenz fühlte ich mich so alt, wie ich war. Ich hatte Big Mike zwar gesagt, dass ich nicht zurück an die Front wollte, aber ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich saß in der Falle. Es gab keinen anderen Profi - Vampir - Killer. Nur mich.
Langsam rutschte ich vom Bett, bis ich davor kniete und griff in den Spalt zwischen Matratze und Gestell, bis ich den langen, schmalen Kasten hervorziehen konnte, den ich dort versteckt hatte.
Ich öffnete den Deckel und schlug vorsichtig den schwarzen Samt zurück, der den Inhalt bedeckte.
Da lagen sie. Zwei schmucklose Klingen aus geweihtem Stahl, Kurzschwerter, hart, scharf und in den richtigen Händen absolut tödlich.
Selbst ich, die ich diese Klingen geführt hatte, konnte ein Schaudern nicht unterdrücken.
Ich kniete da, dachte an den Mann, der mir diese Waffen gegeben hatte. Er war ein Jäger gewesen, zu der Zeit, als die Menschen noch um unsere Existenz wussten und uns - zu recht - fürchteten.
Ich hatte die Klingen seitdem ein paar Mal gegen Meinesgleichen führen müssen. Es gab und gibt Vampire, die unter Last ihres langen Daseins zerbrechen, und da sie weder sterben noch sich selbst töten können, fallen sie dem Wahnsinn anheim.
Dann kommen die Jäger....oder eben ich.
Ich hasse diese Arbeit, auch wenn sie getan werden muss.
Aber nach dem letzten Mal, als alles, aber auch alles schiefgelaufen war, war ich ausgestiegen. Ich hatte mir geschworen, nie wieder diese Schwerter in die Hand zu nehmen, nie wieder.
Wie es jetzt aussah, würde meinen Schwur brechen müssen.
Ich riss mich vom Anblick des seidig schimmernden Stahls los, schloss den Deckel und schob den Kasten unter das Bett.
Noch war schließlich nichts entschieden.
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Als ich Dieter und Heiko zwanzig Minuten später in der Küche rumoren hörte, gesellte ich mich zu ihnen, um sie über die neuen Entwicklungen zu informieren.
„Guten Morgen, ihr beiden,“ begrüßte ich meine Männer.
Dieter sah von seiner Zeitung auf, Heiko von seinem Kaffee. „Guten Morgen, Maddy.“ Dieter lächelte. „Wie war deine Nacht?“
„Lang...,“ grinste ich.
„Und, was wollte Mike?“ frage Heiko, „hat er dich auf den Nutten – Killer angesetzt?“
Jetzt fing der auch noch damit an.
„Hmmh,“ brummte ich, „nichts, was euch direkt betreffen würde. Aber seid trotzdem lieber vorsichtig, solange ich wieder an der Front bin. Wenn ihr nach Einbruch der Nacht aus dem Haus müsst, bewaffnet euch und schärft eure Sinne. Noch weiß meine Beute zwar nicht, dass ich sie jage, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“
"Ist das nicht ein wenig übertrieben, nachdem du gestern noch überzeugt warst, dass der Mörder ein Mensch ist?" Dieter blieb ganz ruhig.
"Möglich. Vielleicht habe ich auch nur verdrängt, wie gewalttätig meine Rasse wirklich ist. Nach der Schießerei gestern im Club habe ich jedenfalls beschlossen, dass ein bisschen Paranoia doch ganz gesund sein kann...und ein verrückter Alter ist jedenfalls tödlicher als alle Kugeln dieser Welt und noch kranker als die restlichen 99% von uns....BITTE, tut einmal, was ich sage. Ich will euch nicht verlieren...."
Überraschend legte Dieter die Arme um mich und drückte mich sanft an sich.
"Wirst du nicht, Kleine...wir halten uns daran...wenn dir soviel daran liegt..."
"Danke", murmelte ich.
"Hast du mit Jean gesprochen?"
"Ich habe eine Mail geschickt. Jetzt warte ich, dass er eine 1000000x gesicherte Leitung fertig kriegt und sich meldet, damit ich ihn auf die Polizeiermittlungen ansetzen kann. Vielleicht wird das Bild klarer, wenn wir Insider - Infos haben."
"Das klingt doch nach einem Plan", ermutigte mich Dieter.
&&&
Es dauerte fast eine Woche bis Jean sich meldete.
Ich kämpfte mich durch die Schultage, ließ den Anschiss vom Direx wegen des Ausrasters Bianca gegenüber über mich ergehen und versuchte, mich nicht alle zwei Minuten paranoid umzugucken, ob mich jemand beobachtete. Je länger sich das Warten hinzog, desto schlimmer wurde es.
Michelle hatte auch keine Zeit, um mich abzulenken. Sie hatte einen Typen kennengelernt, war total verknallt und vollkommen damit beschäftigt, ihm What'sApps zu schicken und Herzchen in ihre Hefte zu malen. Normalerweise hätte das bei mir alle Alarmglocken schrillen lassen, aber unter den gegebenen Umständen war ich zu sehr mir selbst beschäftigt, um mich mit derartigem Teenie – Kram zu beschäftigen.
Als ich endlich die gleichzeitig ersehnte und gefürchtete Nachricht bekam, saß ich in meinem Zimmer und hörte Musik.
"Within Temptation“, „A Shot in the Dark“. Na, das passte ja mal.
Jeans Mail war knapp und direkt:
"Hi, Süsse!
Lange nichts gehört - aber lass mich raten: Dein umwerfendes Timing hat etwas mit den Nutten - Morden zu tun, stimmt's?
Oder darf ich hoffen, dass du tatsächlich Sehnsucht nach mir hast???
Love, Jean"
Sehnsucht. Nach Jean. Genau.
Meine Antwort bestand darin, ihn nachdrücklich zu bitten, alles über die Morde herauszufinden. Ich musste wissen, was die Polizei hatte und nicht veröffentlichte. Und was unsere Leute hatten, die, die dafür sorgten, dass die Polizei manches eben NICHT wusste. Die, die sicher waren, dass ein Vampir verantwortlich war und zum Schutz unserer Art die Wahrheit manipulierten.
Meine Hand zitterte, als ich auf SENDEN klickte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Oh I wish it was over....and I wish you were here...“,sang die Band. Das Zittern verstärkte sich, als die Musik die seit dem Beginn dieser Geschichte aufsteigenden Erinnerungen an die Oberfläche trieb. Ich konnte die Kerzen in der kleinen Kirche, in der damals alles zu Ende gegangen war, beinahe riechen. Das Gefühl, mit dem Rücken flach an der Wand zu stehen, schnürte mir die Kehle zu.
„And it hurts...hurts me so bad....“ Blutgeruch mischte sich unter die Kerzen. Ich fühlte, wie meine Beherrschung bröckelte.
„I breathe under water...it's all in my hands.....“ Sein Lächeln erschien vor meinem inneren Auge, das Funkeln in seinem Blick, als er mich vor dem Kampf ein letztes Mal küsste. "Jeder für jeden und Gott für uns alle!" Der Schlachtruf der Jäger, in mein Ohr geflüstert von dem Mann, den ich liebte, immer noch liebe und wohl bis zum Ende meines Daseins lieben werde. Ich spürte, wie mein vor so vielen Jahren mühsam gekittetes Herz riss.
„I feel you...I'm fading away.....“ Langsam ließ mich auf mein Bett sinken, rollte mich auf den Bauch, vergrub mein Gesicht in den Kissen und brach in Tränen aus.
„Cause your soul is on fire, a shot in the dark...“
Ich lag da, roch, wie das Blut das Kissen durchtränkte und konnte trotzdem nicht aufhören zu weinen. Die Vergangenheit überrollte mich, ich ertrank in Erinnerungen wie ein schlechter Schwimmer in der Brandung.
Bilder durchfluten meinen Verstand.
Mein jüngeres Selbst, naiv, unbekümmert, ungehemmt die mir so unverhofft in den Schoß gefallene Macht nutzend, die Königin aller Bälle, von Männern umringt, umworben, die Tanzkarte immer voll...Alexj... und George, immer wieder George...meine Liebe...mein Leben...was war nur passiert????? Soviel Blut, Schmerz und Tod. Soviel Zorn, soviel Hass....
WAS HATTE ICH GETAN?????
Verzweifelt schluchzte ich auf, unfähig, meine Kontrolle, auf die ich sonst so stolz war, wieder zu erlangen.
Worte hallten durch meinen Kopf: "HURE! SCHLAMPE! DRECKSTÜCK!"
Alexjs wutverzerrtes Gesicht, George am Boden, Blut überall.
"ICH BIN DEIN FÜR IMMER, OB DU WILLST ODER NICHT, DU MIESE KLEINE NUTTE!!!!" Und ich, die Schwerter in den Händen, zitternd, unfähig zuzustoßen, unfähig, es zu beenden, unfähig, meine Liebe zu verteidigen.
Sein Lachen, als er ging: "WIR SEHEN UNS WIEDER! DAS HIER IST NICHT VORBEI!!"
Und Tränen...so viele Tränen...
Michelle kam mir in den Sinn, Michelle und ihre Träume von der ewigen Liebe an der Seite eines geheimnisvollen Fremden.
Ach Süße, was weißt du schon von der Ewigkeit. Wie VERDAMMT lang sie ist. Und wie VERFLUCHT eine ewige Liebe sein kann. Ehrlich Leute, Romantik sieht anders aus.
&&&
Langsam beruhigte ich mich.
Was war, WAR.
Ich konnte es nicht mehr ändern. Heulen half da auch nicht weiter. Nur besser machen.
Mit wackeligen Beinen erhob ich mich, holte die Kiste unter dem Bett hervor, öffnete langsam den Deckel, zog die Handschuhe an - Wahren Glauben mit bloßen Händen zu berühren ist auch für mich unmöglich - nahm die Klingen heraus und legte sie beiseite.
Kurz streifte die Erinnerung an George, wie er seine Schwerter führte, und an den drohend über ihm aufragenden Alexj mein Bewusstsein, aber ich schob sie beiseite, so wie ich die Klingen beiseite gelegt hatte.
Später. Dafür war später noch Zeit. Wenn ich den Bastard erledigt hatte.
Ich öffnete den doppelten Boden der Kiste und nahm die Bilder meiner vergrabenen Vergangenheit heraus. Dieter hatte Recht, ich konnte nicht fliehen.
Es war eine Illusion gewesen. Von Anfang an.
Langsam stellte ich den kleinen Rahmen auf den Nachttisch, hängte mir das Medaillon mit seinem Bild und der Locke um den Hals. Wenn ich tatsächlich wieder töten musste, brauchte ich jeden Funken Entschlossenheit, den ich finden konnte.
Und jeden Funken Hass.
&&&
Dieter sagte kein Wort, als er das ruinierte Kissen und das Medaillon sah. Aber sein Blick sprach Bände.
Er war noch fast ein Kind gewesen, als Alexj George getötet und mein Leben in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte, aber wie ich hatte er diese Nacht nie vergessen. Er hatte seinen Vater verloren, der damals in meinen Diensten stand und versucht hatte, mich zu schützen. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum Dieter mich nicht in den Grund und Boden hasste. Gefragt hatte ich nie. Überhaupt hatten wir nur wenig darüber geredet, was passiert war – jeder Versuch endete damit, dass einer von uns den Blick niederschlug und am Ende den Raum verließ, um sich wieder in den Griff zu kriegen. Von wegen, „die Zeit heilt alle Wunden“ und „geteiltes Leid und halbes Leid“...das gilt vermutlich nur für Menschen. Vampire und Ghoule sind da wohl außen vor.
Allerdings kam: “Was uns nicht umbringt, macht uns hart.“ scheinbar auch nur bedingt in Frage. Sonst hätte ich längst kein schlechtes Gewissen mehr, und Dieter würde mir nicht schweigend und ohne mich anzusehen einen der Blutbeutel aus dem Kühlschrank in die Hand drücken. ACH SCHEIßE, VERDAMMT!!!!!
Ich wusste, ich sollte was sagen, irgendwas, aber wie immer fiel mir nichts ein. Ich starrte also mal wieder auf die Tischplatte – wann hatte Dieter eigentlich einen neuen Tisch besorgt?? - und nuckelte an meiner Konserve. Und er lehnte am Kühlschrank und sah mir dabei zu. Alles wie immer. „Aufstehen, Mund abwischen, weiter machen“ oder so.
Nur, dass das dieses Mal nicht funktionieren würde. Mir war nur zu bewusst, dass die Gefahr bestand, dass der Killer, den ich jagen sollte, auch meine Ghoule angreifen könnte. Schließlich würden sie ohne zu zögern für mich sterben, wenn es sein musste. Das war ihre Pflicht, der Preis, den zu zahlen sie geschworen hatten, als sie in meine Dienste traten. Und Dieter würde mich so oder so bald verlassen müssen. Wollte ich ihn wirklich verlieren, ohne dass wir diese Sache aus der Welt geräumt hatten? Und die nächsten weiß – der - Teufel – wie - viele Jahre damit leben? Ganz sicher nicht! Wie war das doch gleich mit dem "Besser machen?" Konnte ich ja direkt mal mit anfangen.
Ich raffte also meinen ganzen Mut zusammen, hob den Kopf und sah meinem Vertrauten in die Augen.
„Dieter“, sagte ich, „setz dich. Wir müssen reden.“ Gott, wie originell. Aber besser als nichts.
„Ich wüsste nicht, worüber.“ Stoisch lehnte der Mann, mit dem ich die letzten 150 Jahre geteilt hatte, am Kühlschrank. Sein Gesicht gab nichts preis, die Augen schwarz wie polierter Obsidian. Ghoulaugen. Nichts Menschliches lag mehr in seinem Blick.
Ich schluckte.
„Doch, das weißt du – vermutlich besser als ich. Verdammt, Dieter, du kannst mir nicht vorwerfen, wegzulaufen und selbst den Schwanz einziehen! Ich kann verstehen, dass du das alles einfach vergessen möchtest, ich habe selber absolut keine Lust, mich damit auseinanderzusetzten, aber du hängst in der Geschichte genauso drin wie ich! Also tu nicht so, als wär's anders – setz dich hin und SPRICH MIT MIR!“ Die letzten Worte brüllte ich. Scheiße, war ich fertig.
Mit nach wie vor unbewegter Miene zog mein Ghoul einen Stuhl unter dem Tisch vor und setzte sich mir gegenüber.
„Du willst reden? Dann rede.“
Und da war sie. Die Mauer, an der jeder Gesprächsversuch scheiterte. Mit aller Kraft kämpfte ich mein Selbstmitleid und meine wütende Hilflosigkeit zurück. Würde ich eben gegen die Wand reden. Vielleicht kam ich ja doch durch. Irgendwie.
Immerhin war er damals bei mir geblieben. Trotz allem.
„Okay...also...ehrlich gesagt, weiß ich nicht wirklich, wo ich anfangen soll...“
Dieter sah mich nur an.
Ich wusste, gleich würde er aufstehen und gehen. Wie immer.
Panisch redete ich einfach weiter, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich eigentlich sagen wollte:
„Am Besten am Anfang, oder? Also, an meinem Anfang...nicht an dem Anfang von dem Abend...den kennst du ja eh...ich habe keine Ahnung, wie viel deine Eltern dir von mir, das heißt, aus meinem Leben, erzählt haben, aber was du bestimmt nicht weißt ist, dass der Kerl, der deinen Vater und George damals getötet hat, Alexj...er war kein Fremder für mich...im Gegenteil...ich kannte ihn viel zu gut....Dieter, Alexj...er war...er ist.....mein KIND.“ Super. Direkt mit dem Bulldozer durch die Blumenrabatten. Als die Empathie verteilt wurde, hatte ich wohl mal wieder geschwänzt.
„WAS?!?“ Mit einem Satz war Dieter über den Tisch, packte mich. „SAG DAS NOCH MAL!!“
Verflucht, war der sauer. Aber wenigstens hatte ich jetzt seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich zwang mich zur Ruhe, hob den Kopf und sah ihn an, hielt seinen Blick fest.
„Alexj ist mein unsterbliches Kind, geschaffen mit und aus meinem Blut. Das ist der Grund, warum ich in jener Nacht wie angenagelt dagestanden habe, statt diesem Irren eins meiner Schwerter ins Herz zu rammen und ihm mit dem anderen den Kopf abzutrennen. Darum hat George den Kampf verloren. Alexj war damals schon zu alt, um von einem Jäger allein erledigt zu werden. Selbst mit deinem Vater an seiner Seite. Sie waren einfach zu langsam....sie hätten mich gebraucht. Und ich...ich konnte es nicht. Ich konnte mein Kind nicht töten. Obwohl ich wusste, dass es verrückt ist. So, jetzt weißt du's. Und jetzt hau mir eine rein oder bring mich um oder was auch immer...ich hab's auf jeden Fall verdient. Ich werde nie wieder gut machen können, was ich von Anfang an komplett versaut hab.“
Dieter starrte mich an. Fassungslos. Langsam löste er seinen eisernen Griff um meine Schultern, fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Verdammt, Maddy....“ Er brach ab. Kämpfte darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Vielleicht solltest du mir wirklich alles erzählen. Von Anfang an.“
Ich nickte. „Von Anfang an....“
Ich lernte Alexj in meinem 50sten Jahr als Vampir in Paris kennen. Es war der Vorabend der Revolution, die Stadt schwirrte vor Gerüchten, die Spannung war beinahe greifbar.
Ich arbeitete, wie könnte es auch anders sein, mal wieder mit Mike zusammen – diesmal verschafften wir uns als „Lolita und ihr Bodyguard“ Zutritt zu den Palästen der oberen Zehntausend und machten uns auf ihre Kosten ein schönes Leben. Welche reiche Madame kann schon einem Augenaufschlag wie dem meinen widerstehen – vor allem, wenn ein klitzekleiner Hauch Gedankenmanipulation darunterliegt, der die Wahrheit so wunderbar relativ werden lässt…. Offiziell hieß ich gerade „Josephine de la Croix“, Mike nannte sich „ Jaques de Ville“. Und wir waren das beste Gaunerpärchen in ganz Frankreich.
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An jenem verhängnisvollen Abend waren Mike und ich in den Salon einer gewissen Madame D’Arbanville eingeladen. Die Dame hielt sich für unwiderstehlich brillant und sah ihre Zusammenkünfte in der Tradition der großen Madame Pompadour. Sie war exzentrisch, überdreht, reich und - für mein Dafürhalten – dumm wie anderthalb Meter Schotterweg. Das perfekte Opfer. Mike hatte ihr verkauft, dass ich ein Medium sei, das mit den Geistern der Verstorbenen in engem Kontakt stünde. Geplant war eine Séance mit Gläserrücken und selbstverständlich einer Geistererscheinung – Mikes Spezialität in jenen Jahren. Wenn die Show ein Erfolg war, würden wir wir in die Einzelbearbeitung gehen: Handlesen, Karten deuten, liebe Verstorbene befragen – das volle Programm. Ganz exklusiv, versteht sich.
Ich saß also in meinem schwarzen Kleid aus feinster Brüsseler Spitze in einem bequemen Sessel am Kamin und beobachtete die Gesellschaft durch die Massen schwarzen Tülls vor meinem Gesicht. Mike hatte jedem verboten, mich anzusprechen – das junge Medium war ja sooo zerbrechlich und scheu, nur mit hauchdünnen Fäden mit dem Diesseits verbunden, blablabla – so dass ich ungestört den Gesprächen lauschen und die Auren der Anwesenden prüfen konnte. Jeder noch so kleine Hinweis würde mir bei der folgenden Séance helfen, die Teilnehmer zu verblüffen. Die Hintergrundinformationen hatte, wie immer, der unvergleichliche Jean besorgt. Der auch damals schon in mich verknallt war. Aber das nur am Rande.
Ich ließ meinen Blick schweifen und meine hielt meine Ohren offen, als unsere Gastgeberin unverhofft in mein Blickfeld trat, im Schlepptau einen etwas genervt aussehenden jungen Mann, dem sie mit weitschweifenden Gesten irgendetwas zu erklären schien.
WOW, sah der gut aus! Großgewachsen, schlank und blond, nach der neusten Mode gekleidet, sehr gepflegt und, wie mir meine feine Vampirnase verriet, im Gegensatz zu vielen der Gäste, ausgesprochen gut riechend. Bis auf einen Hauch von Knoblauch aus seiner letzten Mahlzeit. Pfui Spinne!
Ich nutzte die Gardine um meinen Kopf, um ungestört ein bisschen zu sabbern – nein, nicht was ihr jetzt denkt! Für zahlende Kundschaft galt schon immer: nur gucken, nicht anknabbern! Zumindest, bis man ihr Geld in der Tasche hat.
Als hätte der junge Mann meine Blicke gespürt, drehte er sich und sah mich an. Seine Augen schienen sich direkt in meine zu bohren, obwohl es unmöglich war, dass er durch den Schleier irgendetwas von meinem Gesicht deutlich erkennen konnte. Schnell prüfte ich seine Aura. Menschlich, eindeutig – mit einer interessanten Farbgebung. Tiefes dunkelblau, ein wenig violett, ein kleiner Hauch orange…da verbarg jemand etwas. Schau schau, ein kleiner Betrüger…ich grinste. Offenbar stand ich mit meiner Einschätzung der Hausherrin nicht alleine da.
Diese war inzwischen der Blickrichtung ihres Schützlings gefolgt und geriet nahezu außer sich vor Begeisterung, als sie mich in meinem Sessel erspähte. Nicht, dass ich mich seit dem Beginn des Abends dort wegbewegt hätte - vielleicht hatte sie einfach vergessen, dass ich dort saß? Zuzutrauen war es ihr. Jedenfalls quietschte sie erfreut auf – der junge Mann und ich zuckten unisono zusammen, unsere armen Ohren - und begann übergangslos auf uns einzuplappern.
„Oh, ich sehe, Ihr habt den wichtigsten Teil des Höhepunktes dieses wunderbaren Abends entdeckt“, zwitscherte Madame, „mein lieber Graf Orlow, darf ich Euch mit unserem Medium, der unvergleichlichen Mademoiselle de la Croix, bekannt machen? Sie wird heute eine ihrer berühmten Séancen abhalten…ich kann es kaum erwarten!“
Graf Orlow betrachtete mich, als sei ich ein besonders widerliches Insekt, das gerade über seinen Teller mit leckerem Essen krabbelt. Ein Betrüger erkannte den anderen – und keiner wollte seine Beute teilen. Elegant öffnete ich meinen Fächer, um mein breites Grinsen zu verbergen. Oh ja, das würde interessant werden…
„Eine Séance…Madame, ihr verwöhnt uns“, log der Graf unterdessen ungeniert und mit einem Akzent, der wohl russisch sein sollte, der strahlenden Gastgeberin ins Gesicht, „ich glaube zwar eigentlich nicht an so etwas, aber ich bin mir sicher, diese entzückende Demoiselle wird mich eines Besseren belehren.“
‚Darauf kannst du wetten, du Aas‘, dachte ich, während ich mich ernst und ein wenig traurig an den jungen Mann wandte: „ Seid vorsichtig, mein lieber Graf, was ihr von den Geistern erbittet. Sie können euch Wahrheiten zeigen, die ihr auch nicht im Entferntesten erahnen könnt….“
„Oh, ist das so?“ fragte mein Gegenspieler amüsiert, „oder baut Ihr nicht vielmehr für Eure Entlarvung als Schwindlerin vor, Mademoiselle?“
„Betrachtet es als Warnung, werter Graf“, hauchte ich, „schon so mancher, der die Macht der Geister unterschätzte, hat sich in ihrer Welt verloren…“
Oder, unromantisch im Klartext: Komm uns in Quere und du bist Geschichte, Arschloch!
In diesem Moment kreuzte Mike auf und unterband unser anregendes Geplänkel. Wie konnten die Beiden es auch wagen, das Medium zu stören. Schweinerei, sowas!
Als wir allein waren, fragte Mike so leise, dass nur ich ihn hören konnte: „Was war das denn gerade?“ Ich schilderte ihm die Situation, was er mit einem Lachen quittierte. „Lass uns schauen, was er für Talente er hat, der gute Graf Orlow. Vielleicht können wir ihn gebrauchen – wenn nicht, können wir ihn immer noch auffliegen lassen.“ Ich lachte ebenfalls. „Wie du meinst. Lustig wird’s auf jeden Fall!“
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Die Séance war wie erwartet ein voller Erfolg. Mike übertraf sich selber, als er den Teilnehmer kurzeitig suggerierte, dass ich über meinem Stuhl schweben würde. Während ich meine kryptischen Botschaften aus dem Jenseits verkündete, ließ ich Graf Orlow nicht aus meinen, im dunkeln Raum tintenschwarzen, Augen. Perfekte Nachtsicht durch erweiterte Pupillen.
Er flirtete die gesamte Sitzung mit den Damen neben ihm, streichelte ihre Hände – und versuchte, unauffällig die Armreife und –bänder zu entwenden. Warnend ließ ich meine Augen aufleuchten, als ich für eine Sekunde seinen Blick einfing. Gleichzeitig gab ich ihm das Gefühl, dass ihn ein eisiger Hauch umgeben würde. Er erschauerte und der Schmuck bleib, wo er war.
Ich lächelte maliziös, um dann den Anwesenden eine Warnung der Geister, sich vor falschen Freunden und betrügerischen Hochstaplern in Acht zu nehmen, zukommen zu lassen. Jetzt leuchtete seine Aura ebenso rot wie meine Augen zuvor. Tja, PP – persönliches Pech. Was musste er auch unsere Show gefährden!
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Nach der Séance trug Mike sein zartes Medium in ein angrenzendes Zimmer, damit es sich erholen konnte. Gut, eigentlich wollte ich das Dienstmädchen um ein wenig Blut erleichtern – der Einsatz meiner Fähigkeiten hat seinen Preis. Auch mein Partner würde sich auf dem Rückweg zur Gesellschaft irgendwo einen schnellen Schluck gönnen.
Während ich auf der Chaiselongue ruhte und auf das Mädchen mit den Erfrischungen wartete, dachte ich über den angeblichen Grafen nach. Was für ein dreister Kerl! Aber hübsch….
Ein Krachen und Klirren vom Gang her unterbrach jäh meine Überlegungen. Gleich darauf hörte einen leisen Aufschrei: „Nein…bitte…nicht!“ Mit einem Satz war ich an der Tür und auf dem Gang. Niemand, wirklich niemand, vergriff sich an einer anständigen Frau, wenn ich es verhindern konnte. Für Überdruck gab es Nutten, Himmelherrgottnochmal!
Auf dem Flur bot sich mir ein Anblick, der meine Wut nur noch steigerte. An der gegenüberliegenden Wand, ein Stück den Flur runter, stand Graf Orlow und drückte ein hübsches Mädchen, dass nicht allzu viel älter sein konnte, als ich es bei meiner Wandlung war, gegen die Mauer. Ihren Rock hatte er bereits hochgeschoben und fummelte an seinem Hosenlatz herum. Meine Fänge machten sich selbstständig, ich gab ein knurrendes Fauchen wie ein gereizter Tiger von mir. Bevor er begriff, was geschah, hatte ihn schon gepackt und zu mir herumgerissen. „Lassss das Mädchen losss!“, zischte ich, „SSSSofort!“ Er gehorchte. Ich sah der Kleinen tief in die Augen. „Vergissss, wass gerade passsiert ist!“ befahl ich, „ und jetzzzt geh in die Küche zzzzurück!“ Sie nickte und verschwand. Ich wandte mich wieder dem Dreckskerl zu, der sich verzweifelt aus meinem Griff zu befreien versuchte. Als ob er eine Chance hätte!
Ich zwang ihn auf die Knie und rammte ihm ohne jede Vorbereitung meine Fänge in den Hals. Er stöhnte vor Schmerzen. Es war mir egal, so, wie ihm das Mädchen egal gewesen war. Als ich satt war, stieß ich ihn in die auf den Boden verstreuten Porzellanscherben und fixierte seinen Kopf so, dass er mir in die Augen schauen musste.
„Vergesst die letzten 10min Eures erbärmlichen Lebens!“ lächelte ich zuckersüß. Dass er seinen Schwanz, der noch richtig hart war – das Trinken eines Vampirs löst immer Lust aus - ,wieder einpacken sollte, vergaß ich ihm leider mitzuteilen. Dann ließ ich ihn in die Kaffeepfütze auf den Boden fallen, erhob mich, strich mein Kleid glatt und ging zurück zu meiner Chaiselongue. Ich hoffte, ich würde diesen Mistkerl nie wieder sehen. Heute weiß ich, dass das eindeutig das Beste gewesen wäre.
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Aber wie so oft bekam ich stattdessen Murphy's Gesetz.
Die Revolution brach aus und das Chaos übernahm die Regierung. Nicht, dass das die Vampirgemeinde von Paris groß gestört hätte, aber für unsere Geschäfte war es schon lästig, weil ständig die Kundschaft verhaftet und geköpft wurde. Die Vermögen der Adeligen verschwanden in den Taschen der unersättlichen Republik, man wusste nicht mehr, wie der aktuelle Monat oder Tag hieß, wie man wen anzusprechen hatte und so weiter und so fort.
Eines Abends schlich ich mich durch Straßen der Stadt auf dem Weg zu Jean, mit dem wir jüngst einen schwunghaften Handel mit „Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei“- Karten eröffnet hatten.
Ich achtete sorgfältig darauf, perfekt mit den Schatten zu verschmelzen – nach dem Beginn der Ausgangssperre mit der Miliz zusammenzutreffen war zwar an sich nicht tragisch, aber extrem nervig. Gedankenmanipulation ist anstrengend, wenn das Gegenüber so dämlich ist, dass man ihm den einfachsten Befehl erklären muss.
An einem der Zugänge zu einem der offenen Plätze blieb ich stehen, um zu prüfen, ob ich ungesehen zur anderen Seite huschen konnte, als ich auf eine Gruppe Milizionäre aufmerksam wurde, die einen Gefangenen zwischen sich führten. Der Mann war offensichtlich verletzt, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. 'Armes Schwein', dachte ich, 'wie dumm kann man sein, sich um diese Zeit draußen herumzutreiben?' Der Trupp nährte sich meinem Versteck, so dass ich beschloss, mich sicherheitshalber in den Schatten aufzulösen.
Keine Sekunde zu früh. Unmittelbar an der Stelle, an der ich eben noch gestanden hatte, sackte der Delinquent in die Knie und die Gruppe kam zum Stehen.
Moment – die Visage kannte ich doch?!? Tatsache: Das war Graf Orlow! Allerdings nicht mehr halb so schick wie bei unserem letzten Aufeinandertreffen. Seine Kleidung war verdreckt und zerrissen, die Haare verfilzt. Außerdem war er ganz offensichtlich heftig verprügelt worden, das rechte Auge war fast völlig zugeschwollen. Oh, Mann, bei was hatte er sich erwischen lassen??
„HEY!!! HOCH MIT EUCH!!“
Einer der Milizen riss den Gefangenen brutal an der Kette seiner Handschellen auf die Beine. Der stöhnte, schwankte und brach direkt wieder zusammen. "Lasst sein“, meinte der, der wohl der Anführer war, „wir ziehen ihn einfach. Ist eh ein Kandidat für Madame la Guillotine, brauchen wir jetzt auch keine Rücksicht mehr zu nehmen!“
Gesagt, getan. Die Typen waren wirklich das Letzte.
Gut, dass der Herr Graf ab und an eins auf die Fresse zu brauchen schien, war mir auch schon aufgefallen, aber das ging wirklich etwas zu weit.
Ich trat aus den Schatten, packte die beiden hinteren Kerle und schlug ihre Helme zusammen, dass es nur so schepperte. Sie kippten um wie zwei gefällte Bäume, während ich bereits ihren vorderen Kameraden Kopfschmerzen verursachte, bevor ich dem Typen, der die Kette des Gefangenen hielt, kurzerhand einen kräftigen Tritt in die Familienplanung verpasste. Im Anschluss schnappte ich mir den mittlerweile bewusstlosen Grafen, warf ihn über die Schulter, sprintete über den Platz und verschwand in der nächsten Seitengasse, wo uns die Schatten von der Bildfläche verschwinden ließen.
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Ein paar Straßen weiter machte ich in einer leeren Wohnung eine Pause, legte den Verletzten im Schlafzimmer auf das Bett und überprüfte seinen Gesundheitszustand. Er zitterte am ganzen Körper, glühte vor Fieber. Diverse Blutergüsse und Knochenbrüche deuteten auf Folter hin.
Ich stellte mal wieder fest, dass Revolution nur denen Spaß macht, die gerade den Profit einstreichen. Alle anderen schauen in die Röhre.
Der Graf stöhnte, öffnete die Augen,ohne irgendetwas zu sehen.
Vorsichtig streichelte ich seine Wange. „Alles ist ist gut. Ihr seid frei, sie können euch nichts mehr tun.“
Sein Blick flackerte. „Wasser...“, flehte er.
„Ich besorg was. Bleibt, wo Ihr seid!“
Sehr witzig. Als ob er irgendwo hingehen könnte.
Ich deckte ihn zu, flitzte ohne weitere Verzögerungen zu Jean, übergab ihm seinen Anteil und beeilte mich, zu dem Versteck zurückzukehren. Unterwegs ließ ich irgendwo Wasser und Verbandszeug mitgehen, gönnte mir außerdem einen Schluck frisches Blut von einer der Wachen. Zehn Minuten später war ich wieder beim Grafen.
Der lag noch genauso da, wie ich ihn verlassen hatte. Vorsichtig berührte ich seine Hand. Er zuckte heftig zusammen und versuchte, sich aufzusetzen, was ihm gründlich misslang, da er viel zu schwach war. Als er zurücksank, fing ich ihn auf.
„Ich bin's nur, Josephine de la Croix. Ich hab Wasser organisiert.“
„Das Medium?!? Was...warum..?“
„Gleich. Trinkt erstmal was.“
Vorsichtig setzte ich eine Tasse an seinen Mund und half ihm, während er gierig schluckte. Als ich die Tasse zurückzog, wimmert er leise. „Mehr...bitte...“
„Später. Wenn Ihr zu schnell zu viel trinkt, wird Euch schlecht. Am besten sorge ich jetzt dafür, dass Ihr sauber werdet – Ihr stinkt wie eine Müllkippe.“
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In den nächsten Wochen teilte ich meine Zeit zwischen unseren Geschäften und der Pflege des Grafen auf, doch trotz aller Bemühungen ging es ihm immer schlechter. Die meiste Zeit war er kaum bei Bewusstsein oder hatte wirre Fieberträume, in denen ich mehr über ihn erfuhr, als er mir mit klarem Kopf je erzählt hätte. So oft ich konnte, saß ich an seinem Bett, versuchte, mit Wadenwickeln das Fieber zu drücken, wechselte die Verbände. Aber ich war keine Ärztin und hatte eigentlich überhaupt keine Ahnung, was ich da tat.
Zusätzlich wurde die Situation draußen zunehmend schlimmer. Es gab kaum noch Nahrungsmittel, selbst die paar Löffel Suppe, die ich meinem Patienten ab und an einflößen konnte, waren kaum noch zu aufzutreiben. Als ob das nicht schon katastrophal genug war, probten auch noch einige Vampire von Paris den Aufstand gegen den Prinzen der Stadt – denen ging es allerdings weniger um „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, sondern ganz offen um „Alle Macht für MICH!“ Das passte Seiner Majestät natürlich überhaupt nicht und anderes als Louis XVI schlug er mit seiner gesamten Macht zurück. Und die war gewaltig.
Kurz: Es herrschte Anarchie an allen Fronten. Was genauso beschissen ist wie Totale Kontrolle. Nur die Form des Leids ist eine andere.
Irgendwann wurde mir klar, dass der Graf sterben würde, wenn kein Wunder geschah. Und da machte ich den ersten, dummen Fehler: Ich gab ihm mein Blut.
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Ja, ich weiß, ich hätte es besser wissen müssen. Jeder dusselige Frischverwandelte bekommt diesen Vortrag ungefähr 1000x zu hören: Vampirblut verleiht Macht und darum pass auf mit wem du es teilst! Aber ich konnte nicht anders.
Zum einen hatte ich ein wahnsinnig schlechtes Gewissen wegen der Sache bei der D’Arbanville – egal, was ein Mensch tut, es ist absolut unter aller Sau, seine Macht als Vampir dermaßen zu missbrauchen - ,zum anderen hatte er ein Scheißleben gehabt und wirkte so wehr- und schutzlos ohne seinen Panzer aus Arroganz und Kaltschnäuzigkeit.
Ich war damals noch nicht mal ein ganzes Menschenleben alt, geschweige denn, dass ich irgendwelche großartigen Erfahrungen als Vampir hatte. Was wusste ich denn schon über die Balance zwischen Menschlichkeit und der Unmenschlichkeit des Vampirdaseins? Richtig – einen Scheiß. Und Mike konnte ich nicht fragen. Er hätte mir schon für die Befreiung des Grafen den Kopf abgerissen. Tarnung und so.
Also tat ich, was ich damals meinte, was das Richtige war und verpasste ihm das Allheilmittel schlechthin: mein Blut. Über die Folgen dachte ich nicht groß nach – einmal ist keinmal, wie man so schön sagt.
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Zunächst passierte auch nichts, außer, dass es meinem Patienten sehr schnell deutlich besser ging. Die Verletzungen heilten fast sofort – natürlich nicht direkt, so dumm war ich dann doch nicht – und das Fieber ging runter. Langsam kam er wieder zu Bewusstsein, er erkannte mich.
„Mademoiselle de la Croix?!? Was ist passiert?“
„Josephine. Ich hab euch aus den Händen der Miliz befreit. Ihr wart ganz schön hinüber. Ich hab euch gepflegt und wie's aussieht, war ich dabei ganz erfolgreich.“
„Danke. Ihr habt mir das Leben gerettet. Auch wenn ich nicht weiß, warum.“
„Hey, ich hab Euch den Coup bei Madame D’Arbanville versaut. Wenn Ihr den Schmuck bekommen hättet, hättet Ihr nicht anstellen müssen – bei was auch immer sie Euch erwischt haben.“
„Wie man's nimmt. Ein Adliger hat mich mit seiner Tochter erwischt...“
„Oh Mann....MÄNNER! Wie heißt Ihr eigentlich? Graf Orlow ist ja wohl inzwischen Geschichte.“
Er grinste. „Alexj Sergejewitsch. Kein Graf, aber Russe bin ich trotzdem.“
„Wer's glaubt.“ Ich lachte.
„Glaubt, was Ihr wollt. Und was ist mich Euch?“
„Josephine stimmt, 'de la Croix' ist erfunden. Französin. Aber was sind schon Namen in unserer Branche.“
Wie wahr. Bei mir stimmte nichts – außer Französin. Und das auch nur noch teilweise, staatenlos passte wohl eher. Egal.
„Hmmm...also Josephine. Habt Ihr was zu essen?“
„Ich habe Suppe aufgetrieben. Es gibt kaum noch Möglichkeiten, an Essen zu kommen, geschweige denn, welches zu klauen. Da draußen ist die Hölle los. Ich weiß nicht mal, wer gerade an der Regierung ist...“
„Oha! Aber Suppe ist toll. Wo steckt eigentlich Euer Partner?“
„Nicht hier. Geht Euch auch nichts an.“
„So wie Ihr mich gerade anknurrt, weiß er von nichts, richtig?“
„So blöd können wir gar nicht sein, dass wir angesichts der nicht vorhandenen Sicherheit in dieser Stadt alle zusammenhocken und darauf warten, dass man uns erwischt. So können wir einander helfen, wenn's hart auf hart kommt.“
Lügen konnte ich schon immer schneller als ein Pferd läuft. Alexj grinste.
„Schon verstanden. Gibt's jetzt was zu essen?“
„Schon heiß.“
Da er noch immer keinen Löffel grade halten konnte, fütterte ich ihn. Anschließend saßen wir noch eine Weile zusammen und redeten. Dann musste ich los, noch ein paar gefälschte Papiere ausliefern. Ach wie viele neue Bürger diese Stadt plötzlich hatte. Adelig? Gab's hier mal Adel??? Nicht doch!
Ja nee, is klar. Aber es brachte Geld und das brauchten wir, wenn wir aus Paris verschwinden wollten, bevor der Vampirprinz uns noch der Rebellentruppe zurechnete – wobei, bei Jean konnte er durchaus richtig liegen. Beim dem wusste man nie.
&&&
Ein halbes Jahr später wurde es dringend Zeit zum Rückzug, solange wir den noch geordnet durchführen konnten. Die Prinz von Paris misstraute inzwischen allem und jedem. Er hatte den Kampf um seinen Thron zwar gewonnen, aber als Bonus eine ausgewachsene Paranoia dazubekommen. Keiner unserer Art war mehr sicher.
Dafür hatten die Menschen so etwas wie Ordnung in ihre Revolution gebracht. Immerhin.
Mike, Jean und ich beschlossen, uns zunächst zu trennen – grundsätzlich war unser Ziel London, England, aber wer schon einmal im Krieg versucht hat, irgendwo hinzukommen, weiß, dass das Zeit braucht. Und Europa brannte lichterloh, ein Ende war nicht abzusehen.
Einzeln hatten wir bessere Chancen, heile durch die Fronten zu schlüpfen, zumal wir alle unterschiedliche Fähigkeiten besaßen, die unsere Routen beeinflussten. Auch die Ernährung war allein einfacher – man brauchte nur ein Opfer pro Nacht, das war auch in ländlichen Gegenden machbar.
Außerdem hatte ich einen Sterblichen im Schlepp. Das würde mich langsamer machen. Nicht, dass ich meine Aktion inzwischen gebeichtet hatte, mit wem ich befreundet sein wollte, ging schließlich keinen was an. Und wenn man wirklich will, kann man sich alles Schönreden. Auch einen Vertrauensbruch wie diesen.
Heute bin ich mir sicher, dass Mike zumindest etwas ahnte. Aber er sagte nichts. Geändert hätte es sowieso nichts, außer, dass wir uns auch noch zerstritten hätten.
So nahm er mich einfach nur fest in die Arme, wünschte mir Glück („Pass auf dich auf, Kleines. Wir sehen uns!“) und verschwand in der Dunkelheit.
Jean machte da schon etwas mehr Theater („Au revoir, mon amour…du wirst in meinen Träumen sein, bis wir uns wiedersehen…“), ging aber dann ebenfalls seiner Wege.
Und ich?
Ich kehrte zu Alexj zurück.
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Mittlerweile waren wir gute Freunde geworden. Er hatte sich ein besseres Versteck gesucht und organisierte seine Mahlzeiten wieder selber, freute sich aber immer über meinen Besuch. Das einzige, was mich nervte, war, dass er mir ständig in den Ohren lag, wie Mike und ich unsere Séance so realitätsnah hinbekommen hatten.
Ich redete mich raus oder wechselte das Thema – was ich nicht begriff, war, dass Alexj da bereits vermutete, dass etwas an mir und Mike nicht „normal“ war.
Es ist für einen Vampir damals wie heute so gut wie unmöglich, einem Sterblichen dauerhaft nahe zu sein. Es ist leichter in Städten, wo die Ernährung kein Problem darstellt, aber trotzdem: Man muss nur einmal vergessen, einen Herzschlag zu fingieren, wenn derjenigen einem nahe kommt, und das war's dann schon. Von so Kleinigkeiten wie Körperwärme mal ganz abgesehen.
Es bleib mir also nichts anderes übrig, als mich in Alexjs Gegenwart ständig zu kontrollieren. Und nur zu ihm zu gehen, wenn ich SATT war. Es gab keine Blutkonserve, die mir – und ihm – im Ernstfall den Arsch gerettet hätten. Und er roch so verdammt gut....
Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihn zurückzulassen. Kam gar nicht in Frage!
Nachdem ich also meine Freunde auf ein (für Vampir – Verhältnisse) baldiges Wiedersehen verabschiedet hatte, schnappte ich mir noch einen einsamen Bürger zum Abendessen und kreuzte anschließend in dem Keller des Hauses auf, in dem Alexj sich versteckt hielt. Tagsüber war das zu gefährlich, nicht nur wegen möglicher Zeugen, sondern vor allem wegen meiner Augen. Verspiegelte Sonnenbrillen gab es nämlich auch noch nicht und eine Tüllgardine vor dem Gesicht ist auf die Dauer echt unpraktisch.
„Josephine!“ begrüßte Alexj mich, „schön, dass Ihr da seid. Ihr seid spät dran heute, was war los?“
„Nichts besonderes – ich hab mich nur von den Anderen verabschiedet. Wir brechen unsere Zelte ab, wird zu heiß hier.“
„Und Ihr seid noch da? Habt ihr euch zerstritten?“
„Nö, es nur sicherer allein...“
„SICHERER????“ unterbrach er mich, „für ein Kind wie Euch? Nicht Euer Ernst! Schöne Freunde habt Ihr – die Ratten haben das sinkende Schiffe verlassen, oder wie?!?“
„Sprecht nicht so über meine Freunde! Ihr wisst ja gar nicht, wovon Ihr da redet! Und ich bin kein Kind, merkt Euch das!“ fauchte ich zurück.
„Und Ihr habt keine Ahnung, worauf Ihr Euch einlasst! Wie alt seid Ihr? Fünfzehn? Sechzehn? Wisst Ihr, was Männer mit so jungen Dingern anstellen? Schlimm genug, dass Ihr mit diesem Neger (ja, das durfte man damals noch sagen, so gesehen war da wohl doch nicht alles besser...) zusammen wart, ganz allein geht überhaupt nicht!“ regte er sich auf.
„Er heißt Jacques, verdammt!“ giftete ich, „und wir sind nicht 'zusammen', er ist mein Partner, HERRGOTT!“
„Ach, so nennt man seinen Luden...“
Weiter kam er nicht, bevor ich ihm ansatzlos eine Backpfeife verpasste, die sich gewaschen hatte. Was soll ich sagen – es war Nacht. Alexj flog mit Sicherheit einen halben Meter seitwärts, dann stoppte ihn ein Wandregal. Seine Wange wurde sofort feuerrot und schwoll auf die doppelte Größe an. Dabei hatte ich nicht mal Kraft eingesetzt. Sonst wäre er auch ungebremst durch die Wand gekracht. Aber ich wollte ihn ja nicht gleich töten. Ich war nur sauer und das richtig.
„WAGT ES JA NICHT, IHN SO ZU NENNEN!!!“ brüllte ich, „Wenn man keine Ahnung hat, hält man das Maul, IST DAS KLAR!?!“
Alexj rappelte sich auf. „Sonnenklar!“, knurrte er zurück, „was sollte das?!? Das tat weh, verflucht!“ Er packte meine Handgelenke. „Und wie habt Ihr das überhaupt angestellt? Ist ja nicht so, dass Ihr irgendwelche nennenswerten Muskeln hättet!“
Mit einem Ruck befreite ich meine Arme. „Das geht Euch einen Scheiß an!“ Ich war immer noch sauer, „ich hab doch gesagt, ich kann mich wehren!“
Das hatte ich zwar nicht und die Sache lief bezüglich meiner Tarnung gerade völlig aus dem Ruder, aber die Logik hatte das Feld bereits geräumt. Es ging nur noch um's Recht haben.
„Das hab ich gesehen!“ Alexj spuckte einen Backenzahn aus. Shit, das Ding hatte echt gesessen!
„Wer oder was seid Ihr, Josephine???“
Tja...und da saß in der Tinte. Hätte ich wissen müssen. Das mit dem Recht haben hat noch nie geklappt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, roch der Keller jetzt nach Blut, seinem Blut. Was zur Folge hatte, dass meine Fänge jetzt auch gerne mitgespielt hätten. Ganz toll.
Ich drehte schnell den Kopf zur Seite, versuchte, mich zu fangen. Funktionierte gerade so, Gott sei Dank.
„Ich bin Josephine, immer noch“, brummte ich und sah ihm in die Augen, ein Hauch Gedankenmanipulation in der Stimme, „und ich bin auf der Straße aufgewachsen. Da lernt man so Einiges. Seid froh, dass ich nicht Eure Eier genommen habe!“
Das wirkte als Ablenkung eigentlich immer. So auch jetzt – Alexj schauderte 'Noch mal gut gegangen', dachte ich. Ja, und Schweine können fliegen. Bestimmt.
„Wenn Ihr das sagt“, murmelte er, „tut mir leid, ich hab Euch wohl unterschätzt...ich mach mir nur Sorgen, wisst Ihr...ich mag Euch nämlich sehr gerne...“
„Ist das so?“ fragte ich.
„Ja...“, er trat einen Schritt auf mich zu, „ich kann mir das wirklich nicht vorstellen, Ihr allein im Krieg...da sind mir die Nerven durchgegangen...Ihr als Freiwild...lasst mich Euch beschützen...“ Ich wollte gerade lachen – wer beschützt da wen? - als er mich sanft an der Wange berührte. Ich wollte ihn wegschieben, aber das ließ er nicht zu. Sein Finger glitten glitten tiefer, unter mein Kinn, hoben meinen Kopf an und seine Lippen legten sich auf die meinen. „Josephine..“, flüsterte er, „ich bin doch nur so wütend geworden, weil Ihr mir soviel bedeutet...ich will Euch nicht verlieren...Josephine...“ Und dann küssten wir uns. Und ich Idiot habe ihm jedes Wort geglaubt.
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In den nächsten Wochen reisten wir durch Frankreich – falls „Reisen“ überhaupt das richtige Wort war. Wir huschten nachts abseits der Straßen gen Rouen, orientierten uns an den Sternen und mieden größere Ortschaften so weit wie möglich. Nicht nur meinetwegen, auch Alexj musste sich vorsehen, da jeder junge Mann, der einigermaßen eine Waffe führen konnte, an die Front geschickt wurde. Ein Staat ohne Führung mit einer Armee ohne Führung gegen den Rest der Welt, das konnte nicht gut gehen. Dementsprechend viel „Kanonenfutter“ wurde rekrutiert, freiwillig oder nicht – und ebenso viele Männer desertierten auch gleich wieder. Von der Frontlinie ließ sich nur sicher sagen, dass sie irgendwo innerhalb Frankreichs war. Meistens jedenfalls. Plünderungen und Überfälle waren keine Seltenheit.
Das Erste, was ich außerhalb von Paris tat, war, meine Kleider gegen ein Paar Hosen und ein weites Männerhemd auszutauschen. Zwar hatte ich mit Korsetts nie Probleme gehabt – ich atmete ja auch nicht – aber auf einer langen Wanderung waren die Sachen absolut unpraktisch. Alexj wollte mir auch die Haare abschneiden, aber das ließ ich nicht zu. Nicht, dass ich eitel gewesen wäre, aber wie hätte ich erklären sollen, dass sie sofort wieder nachwachsen? Ich war ja schon froh, dass ich bei meiner Wandlung keine Korkenzierlöckchen oder ähnlichen Schnickschnack in den Haaren hatte! So flocht ich mir einen einfachen Zopf und steckte mir das ganze zu einem Dutt hoch, damit mich keiner daran festhalten konnte – bis heute meine Kampffrisur. Mütze drauf und fertig.
Was wir brauchten, klauten wir uns zusammen. Meistens war ich erfolgreicher, was ihn wurmte, mich aber nicht überraschte. Während er sich anschleichen musste, verschmolz ich einfach mit den Schatten. Das einzige Problem, dass wir beide hatten, waren die Hofhunde. Es gibt kein Tier, das mit Vampiren klarkommt, von daher waren auch Weiden und Ställe generell gefährlich für meine Tarnung. Aber vor allem die Hunde mit ihren Beschützerinstinkten gingen mir auf die Nerven, auch wenn sie mir das eine oder andere Mal eine Mahlzeit besorgten, wenn der Bauer auf ihr hysterisches Gebell und Geknurre aus dem Haus gelaufen kam.
Überhaupt erwies sich meine Nahrung meine größte Schwachstelle. „Menschlich sein“, rund um die Uhr, ist teuer und ich musste regelmäßig und reichlich trinken. Dabei wollte ich aber keine Menschen töten, schließlich konnten die ja nichts dafür, dass es sowas wie mich gab. Ich musste also schnell und oft weit jagen, um satt zu werden. Ohne, dass mein Begleiter sich wunderte, immer nachts und ohne den Werwölfen in die Klauen zu fallen, durch deren Revier wir zogen. Die hätten mich nämlich in der Luft zerrissen, im wahrsten Sinne des Wortes. Alles in allem nicht ganz einfach.
Zusätzlich entwickelte sich die Beziehung zu Alexj bis zu dem Punkt, wo er mehr wollte, als nur Küsse und Streicheln, was weitere Schwierigkeiten mit sich brachte, über die ich mir nie Gedanken gemacht hatte. Andere Mädchen haben Sorgen, weil sie nach dem ersten Sex keine Jungfrau mehr sind – ich hatte Probleme damit, dass ich weiterhin eine sein würde. Und zwar jedes Mal wieder. Außerdem ist meine einzige Körperflüssigkeit nun mal Blut, das alle anderen Körperflüssigkeiten bei Bedarf ersetzt, und die Erklärung „Ich habe meine Tage“ funktioniert nur alle vier Wochen. Einem unerfahreneren Kerl hätte ich vielleicht einen vorlügen können, aber meinem Aushilfscasanova bestimmt nicht.
Wir stritten des öfteren, weil ich auf der einen Seite schamlos in Hosen herumlief und durch meine Beobachtungen in den Straßen und Hurenhäusern meiner Kindheit im Hafen von Calais so einiges mit den Händen und dem Mund anstellen konnte, bei dem Alexjs sonstige Bekanntschaften im Boden versunken wären, wenn man es ihnen auch nur angedeutet hätte und auf der anderen Seite zu einer fauchenden Wildkatze wurde, wenn seine Hände in Richtung meines Hosenlatzes auf Wanderschaft gingen. Ich redete mich mit meiner Angst vor einer Schwangerschaft heraus, bettelte ihn an, einzusehen, dass ich schließlich noch heiraten wollte und das wäre schwierig, wenn ich schon einen Mann gehabt hätte und überhaupt, ein anständiger Mann achtet die Wünsche einer Dame. "Als wenn Ihr eine Dame wärt", lachte er mich aus, "und Ihr könnt ja mich heiraten, meine süße Josephine." 'Als wenn das so einfach wäre', dachte ich - aber verliebt war ich totzdem, rettungslos und bis über beide Ohren.
&&&
Eines Abends wollten wir gerade einer Scheune irgendwo im nirgendwo verlassen, als eine Gruppe Soldaten sich unserem Versteck näherte.
Ich hörte sie lange vor Alexj und wollte ihn warnen, aber er trat aus der Deckung, bevor ich irgendetwas tun konnte. Zwischen uns und dem Trupp war kein Baum, kein Strauch, nur ein flacher Acker. Sie sahen einander sofort.
„Halt! Stehenbleiben! Elender Deserteur!“ brüllten die Männer. Alexj reagierte instinktiv, drehte sich um und wollte fliehen. Die Soldaten legten auf ihn an – und ich machte meinen zweiten, unverzeihlichen Fehler: Innerhalb eines Herzschlags sprang ich vom Heuboden, warf mich vor Alexj und fing die Kugeln ab.
Es tat weh, ja, aber damals hatten die Waffen noch weniger Durchschlagskraft als heute, für mich also völlig ungefährlich. Während ein Mensch tödlich getroffen zusammengebrochen wäre, ging ich nur kurz in die Knie, schüttelte mich, sprang wieder auf und ging mit ausgefahrenen Krallen fauchend auf die Männer los. Ich war hungrig, hatte seit drei Tagen nicht mehr getrunken. Meine Fänge brachen aus meinem Oberkiefer hervor, die Iris meiner Augen färbte sich rot.
Als ich die Soldaten ansprang, sah ich aus wie das Monster, das ich bin.
Wieder legten die Männer auf mich an und feuerten. Ich tauchte unter den Schüssen durch, setzte zwei mit gezielten Schlägen unter das Kinn außer Gefecht und trat dem dritten die Beine weg. Nummer vier und fünf ergriffen die Flucht. Ich verfolgte sie, haute einen weiteren um, schnappte mir den letzten und bereitete ihn auf meinen Biss vor. Vampirgift, das wie bei Schlangen durch den Druck der Zähne auf den Hals und in die Wunde befördert wird, betäubt unter normalen Umständen die Bissstelle und wenn ich nicht gerade wütend bin, kann auch ich durchaus vorsichtig zu Werke gehen. Das Wort „Liebesbiss“ kommt ja nicht von ungefähr.
Ich drückte dem Mann meine Fangzähne an den Hals und pumpte so das Gift gegen die Schlagader, verteilte es mit der Zunge. Von weitem musste es so aussehen, als würde ich ihn zärtlich küssen.
Dann senkte ich vorsichtig die Spitzen der Fänge auf die Ader, biss kräftig zu und trank. Ich hatte keine Ahnung, was der junge Mann fühlte, aber er war deutlich begeisterter von der Aktion als ich. Der würde uns keine Schwierigkeiten mehr machen. Satttrinken durfte ich mich allerdings nicht, sonst wäre er gestorben, zumal ich ja auch noch die Schusswunden heilen musste. Ich nahm also noch ein paar Schlucke von seinem Kumpanen und trug die beiden dann mühelos in den Schuppen. Meine Tarnung war jetzt eh zum Teufel, also konnte ich die Truppe auch dort unterbringen, bis sie wieder aufwachte.
Alexj erwartete mich schon. Er war leichenblass und zitterte, stand sichtlich unter Schock. Ich verstand ihn gut. Das, was er gerade gesehen hatte, sollte ja mit Absicht kein Mensch je zu sehen bekommen. Aber er lebte und war unverletzt. Das war alles, was für mich zählte. Selbst, wenn er mich jetzt vermutlich hasste und ablehnte. Es würde wehtun, aber ich war Ablehnung gewohnt, und überhaupt ist die erste Liebe immer von der Hoffnung bestimmt, dass wahre Liebe alles überwindet. Ja nee, ist klar.
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„Hey, helft mir mal!“ Ich legte die Männer auf den Scheunenboden und begann, sie zu fesseln. Alexj starrte.
„Hallo, jemand zu Hause? Ich brauch den Strick da drüben!“
Er wich bis an eins der herumstehenden Geräte zurück, murmelte etwas Unverständliches, wandte mir den Rücken zu, klammerte sich fest und kotzte. Na wunderbar – so schlimm sah ich „ungeschminkt“ nun auch wieder nicht aus.
Gewöhnungsbedürftig zwar, aber nicht hässlich. War ja schließlich immer noch ich.
Während mein Begleiter sich also bemühte, seine Magen- und sonstigen Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen, vollendete ich meine Fesselkünste, packte unsere Sachen zusammen und legte sie in einen der Handwagen aus der Scheune.
„Wird das heute noch was mit Euch?“
Ich hätte ihn ja lieber in den Arm genommen statt ihn so anzupampen, aber mir war schon klar, dass das keine besonders gute Idee war.
„Jetzt reißt Euch mal zusammen! Seit Monaten liegt Ihr mir in den Ohren, dass irgendwas an mir „anders“ ist – nun, ich schätze, jetzt wisst Ihr's. Also hört auf zu heulen, wir müssen hier weg, bevor es hier von Soldaten nur so wimmelt. Die fünf waren bestimmt nicht allein unterwegs. Ich kann zwar so einiges, aber das französische Heer im Alleingang vermöbeln kann ich nicht.“
„Ah“, gab er von sich, drehte die Augen nach oben und verlor das Bewusstsein. Damit hatte ich allerdings gerechnet, fing ihn auf und machte es ihm in dem Wagen so bequem wie möglich. Anschließend durchsuchte ich die Soldaten nach Geld. Viel war es nicht, aber für ein Zimmer im Gasthof würde es reichen. Solange ich nicht wusste, wie Alexj den Schock wegsteckte, musste ich auf alles vorbereitet sein. Zum Abschluss klaute ich noch eine der Uniformjacken, deckte meinen Freund damit zu. Dann packte ich den Griff und sah zu, dass wir Land gewannen.
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Alexj regte sich erst wieder, als der Morgen bereits dämmerte. Wir waren inzwischen etliche Kilometer von der Scheune und den Soldaten entfernt, weiter, als wir zu zweit zu Fuß gekommen wären – ich wurde ja nicht müde und brauchte daher auch nicht wirklich eine Pause.
Während ich wanderte, überlegte ich, was zum Henker ich jetzt machen sollte. Ich hatte einem Menschen meine Existenz offenbart. In einer Stadt wäre dieser Bruch der ERSTEN REGEL aller Vampire mein Todesurteil gewesen. Okay, FAST aller Vampire. Aber zum Feind überlaufen wollte ich dann doch nicht – aber das ist Vampirpolitik, die erkläre ich Euch ein anderes Mal. An dieser Stelle hätte mir das Ganze schon deshalb nichts genutzt, weil es dann Alexj erwischt hätte. Der Feind löscht keine Erinnerungen, der Feind tötet. Weil er es kann. Weil wir die Krone der Schöpfung und die überlegene Rasse sind. Oder so ähnlich. Kotz.
Nee, da ließ ich mir doch lieber selbst etwas einfallen. Allerdings hatte ich keinen Schimmer, was genau das sein sollte. Heute wäre das kein Problem mehr, ich kann ganze Jahre aus einem menschlichen Geist tilgen, wenn es sein muss, aber damals reichte es höchstens für eine Stunde und einfache Befehle und selbst das funktionierte nicht immer zuverlässig. Ja, auch ich hab mal ganz klein angefangen...
Tja, ich hätte Alexj natürlich auch einfach selbst töten können, schnell und schmerzlos. Aber dann wäre meine Aktion zuvor absolut sinnfrei gewesen. Und ich glaubte, ihn zu lieben. Nein, sein Tod war keine Option.
Dass die Soldaten sich erinnern würden, war mir egal – denen würde eh keiner glauben. Außer der Inquisition, den Jägern, aber die wussten sowieso, dass es uns gab. Solange sie mich nicht eindeutig identifizieren konnten, spielten die Jungs keine Rolle.
Was also tun? Eigentlich blieb nur eins: Mit ihm reden und ihn entweder ghoulen oder wandeln, je nachdem, was er wollte. Aber wollte ICH das? Wirklich?
Ich hatte keine Ahnung. So sehr ich mit auch den Kopf zerbrach, ich fand keine Lösung.
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Gerade als ich beschlossen hatte, dass es Zeit war, sich ein Versteck für den Tag zu suchen, bewegte sich mein Begleiter und kam stöhnend zu sich.
Ich sah ihn an und lächelte: „Na, Schlafmütze, auch schon aufgewacht?“
„Josephine? Was ist passiert? Ich habe so seltsam geträumt...da war ein Monster....mit roten Augen und Reißzähnen...es hat die Soldaten angegriffen und ihr Blut getrunken...“, er schauderte, „seid Ihr in Ordnung?“
„Alles bestens“, sagte ich, „mir geht’s gut.“
„Aber...das Monster...“
„Das war kein Monster, das war ein Vampir“, stellte ich richtig, „Werwölfe sind Monster, Dämonen sind Monster, Magier sind Monster – aber Vampire sind einfach Vampire und die meisten außerordentlich zivilisiert.“
Meistens jedenfalls. Wenn sie Lust dazu haben. Wenn es sich lohnt.
„Ihr habt es also auch gesehen?“
Gesehen????? Wo? Im Spiegel?
„Nicht direkt...“
„Habt Ihr es nun gesehen oder nicht?“ Mittlerweile war er aus dem Handwagen geklettert und schaute mich ratlos an.
„Ähhhh...Alexj....“, ich starrte auf meine Fingernägel, als gäb's da irgendetwas Spannendes zu entdecken, „wie sah der Vampir denn aus?“
„Das Monster war weiblich...glaub ich....mit roten Augen...und riesigen Zähnen...es hatte schwarze Haare....und Krallen...es ging alles so unglaublich schnell...“
„So so“, meine Stimme kratze in meinem Hals, „weiblich...schwarze Haare...kam es von oben, vom Heuboden?“
Er starrte mich an. Ich sah das Begreifen in seinen Augen. Langsam wich er vor mir zurück.
„Alexj....“, flüsterte ich, „sah es vielleicht SO aus?“
Dann ließ ich die Maske fallen.
Er drehte sich um und rannte. Natürlich hatte er keine Chance. Ich überholte ihn mühelos, riss ihn um und legte meine klauenbewehrte Hand um sein Kehle, pinnte ihn förmlich an die Erde.
„Nichchchchcht bewegen!“ zischte ich böse, meine Gesicht eine schreckliche, verzerrte Fratze, in der meine Fänge wirklich riesig wirkten, „sssssonnsssst sssssseid Ihr tot!“
Alexj erstarrte. Meine Aura wurde tiefschwarz – das konnte er zwar nicht sehen, aber die Kälte, die sie ausstrahlte, deutlich spüren. Einschüchterung ist eine schreckliche Waffe. Ich konnte nur hoffen, dass ich ihn nicht um den Verstand brachte. Aber er MUSSTE mir zuhören, mir gehorchen, sonst waren wir beide so gut wie tot. Denn anders als bei den Soldaten war es nicht egal, wem er was erzählte – jeder kann einen Vampir erkennen, wenn er weiß, wonach er schauen muss. Da konnte ein kleiner Hinweis reichen und man war ein Gejagter, schuldig durch Existenz. Und Alexj konnte ganze Romane über mich erzählen, er kannte mich so gut wie kein anderer... - Mensch.
Trotzdem wollte ich ihm nichts tun. Wirklich nicht.
Er wimmerte unter meinem erbarmungslosen Griff, rührte sich aber nicht. In seinem Gesicht stand die nackte Panik, der Schritt seiner Hose färbte sich dunkel.
„Ich will Euch nichts tun“, langsam zog ich meine Fänge ein, meine Augen nahmen wieder ihre normale Farbe an, „aber ich kann Euch nicht gehen lassen. Ihr habt zu viel gesehen...“
„Josephine...“, flüsterte er heiser, „was....wie...wer...Ihr seid das Monster?“
„Vampir“, seufzte ich, „ich bin ein Vampir. Erkennt man an den ein- und ausfahrbaren langen Zähnen und der flüssigen Ernährung.“
„Aha...“
„Wenn ich Euch jetzt loslasse, bleibt Ihr liegen, verstanden?“
„Hmhm“, machte Alexj – nicken konnte er ja nicht.
Ich nahm die Hand von seiner Kehle und zog die Klauen ein. Er bewegte sich nicht. Seine Augen waren immer noch geweitet vor Angst.
Vorsichtig nahm ich die Knie von seinen Armen, stieg von seiner Brust.
„Ganz ruhig. Ich will nur reden, verstanden? Ich hab schon gefrühstückt.“
Alexj kämpfte um Fassung. Zitternd sah er zu mir hoch. „Die Soldaten....sind sie tot?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich töte nur, wenn es unbedingt sein muss – und das war nicht der Fall.“
„Werden sie jetzt Vampire?“
„Natürlich nicht. Wir sind hier doch nicht in einer billigen Horrorgeschichte. Wenn wir uns wirklich mit jedem Biss vermehren würden, würde uns ziemlich schnell das Futter ausgehen.“
„Aha...“
Das war vielleicht nicht die intelligenteste Unterhaltung meines Daseins, aber immerhin sprach er mir mir. Und war noch klar im Kopf.
„Darf ich mich aufsetzen?“ bat er.
„Sicher.“
Er rappelte sich hoch, rutschte instinktiv ein Stück rückwärts, weg von mir – und erstarrte sofort, als ihm klar wurde, was er da tat. Ich hatte ihm keine Erlaubnis erteilt, sich zu entfernen.
Alexj zog den Kopf zwischen die Schultern: „Tschuldigung...ich bleibe hier, in Ordnung? Nicht wieder angreifen...bitte...“
„Hey...das war ein Reflex. Dafür kann ich Euch wohl kaum bestrafen, oder?“
„Ich weiß nicht...“ Mann, war der fertig.
„Wenn ich Euch wirklich hätte töten wollen, hätte ich das in der Scheune erledigt und Euch nicht noch stundenlang durch die Gegend geschleppt“, stellte ich nüchtern fest, „ich hab das eben nur gemacht, damit Ihr versteht, worum es geht, klar?“
„Und das hättet Ihr anders nicht hinbekommen?“
„Hättet Ihr mir geglaubt, wenn ich's mit: 'Hallo, ich bin Josephine, ich bin ein Vampir und ernähre mich von Blut.' versucht hätte?“
Er lachte zittrig. „Vermutlich nicht...“
„Eben.“
„Und?“ fragte er nach einer kleinen Pause, „was habt Ihr jetzt mit mir vor?“
„Keine blasse Ahnung“, gestand ich, „Ihr solltet diese Seite von mir nie sehen. Aber als die Soldaten auf Euch gezielt haben, ist bei mir irgendeine Sicherung durchgebrannt...ich konnte nicht zulassen, dass sie Euch töten. Ich hab nicht nachgedacht – dafür hatte ich auch gar keine Zeit. Außerdem hatte ich verdammt noch mal Durst und Euch wollte jetzt nicht unbedingt anknabbern.“
„Soll ich mich jetzt freuen oder was?“
„Besser wär's! In Ordnung, wir sollten so langsam sehen, dass wir irgendwo unterkommen. Ich hab da vorne einen kleinen Wald gesehen. Da könnten wir untertauchen und in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll.“
„Wenn Ihr meint.“
„Oh, und glaubt ja nicht, dass Ihr ein bisschen Zeit schinden und Euch dann heimlich wegschleichen könnt – Vampire schlafen nicht.“
Er zog einen Flunsch. „War das so offensichtlich?“
Ich nickte. „Kommt Ihr freiwillig oder muss ich nachhelfen?“
„Ich komm ja schon, ich komm ja schon...“
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Wir redeten den ganzen Tag und die halbe Nacht, bis er irgendwann erschöpft einschlief. Jetzt, wo das Kind schon in den Brunnen gefallen war, konnte ich ihm auch gleich alles erzählen. Nach einer Weile kehrte seine Neugier zurück und er fragte mir Löcher in den Bauch. Wie ein Schwamm saugte er alles auf, was ich so von mir gab.
Zum ersten Mal kaschierte ich nichts mehr, legte seine Hand auf meine kalte Haut, zeigte ihm, dass ich tatsächlich keinen Herzschlag und keine Atmung hatte.
Das interessierte ihn allerdings deutlich weniger als die Antwort auf die Frage, welche Kräfte ich habe und wie ich sie nutze. Mein Hinweis, dass alles einen Preis hat und das Vampirdasein so einfach nicht sei, ignorierte er völlig.
Das wiederum ignorierte ich. Ich war ja so naiv.
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Alexj schlief unruhig, verfolgt von den dunklen Träumen, die meine Enthüllungen ihm bescherten. Auch wenn ihn das alles faszinierte, spürten seine Urinstinkte die Gefahr und warnten ihn vor mir, zeigten ihm die Bilder des Monsters, dessen Auftritt er verdrängt, aber keineswegs vergessen hatte.
Ich setzte mich ein Stück von ihm weg, da ich ihn nicht unnötig quälen wollte. Die Situation war beschissen genug, auch ohne, dass ich ihm auch noch meine Berührungen aufzwang, während er mit einer Realität kämpfte, die seinen Verstand zu überfordern drohte.
Irgendwie erinnerte er mich an mich selbst, unmittelbar nach meiner Verwandlung, ahnungslos, ständig hungrig und vollständig am Ende, immer hart an der Grenze zum Wahnsinn. Ganz, wie mein Erschaffer es wünschte, ein willenloses, abhängiges, gebrochenes Geschöpf. Ich schauderte bei der Erinnerung. Wenn Mike nicht gewesen wäre....'NEIN!!!!' befahl ich mir, 'NEIN, verdammt, diesen Weg gehst du nicht runter, es ist vorbei, VORBEI!!!' Und ich schwor mir, es besser zu machen, wenn Alexj die Wandlung wünschte. Ich würde ihm beistehen und ihm helfen, so, wie Mike für mich dagewesen war. Ich würde meinem Kind alles beibringen, was es brauchte, um zu überleben. Und wir würden zusammen sein, die Welt aus den Angeln heben. Für immer.
Aber erstmal musste mein Süßer die nächsten Stunden überstehen. Er wimmerte im Schlaf, warf den Kopf von einer Seite zur anderen, stöhnte. Ich ahnte, was kommen würde, und legte sicherheitshalber meine Hände über meine empfindlichen Ohren, als er auch schon zu schreien begann. Okay, das wurde jetzt wirklich gefährlich und nicht nur, weil ihn jemand hören könnte. Ein Werwolf zum Beispiel. Oder etwas Anderes, dass ich mit meinen Anfängerkräften nicht in Schach halten konnte.
Vorsichtig rutschte ich näher zu Alexj und stupste ihn an.
„Hey....“
Er schlug nach meiner Hand, panisch, gefangen in seinem Alptraum, der mein Leben war.
„Alexj! Kommt zu Euch, wacht auf, bitte!“ Ich schüttelte ihn an der Schulter, nachdrücklich diesmal.
Seine Augen flogen auf, der Blick starr, leer, das Gesicht eine Maske des Entsetzens.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er mich erkannte.
„Josephine....“, flüsterte er kaum hörbar, „Josephine....“
„Ich bin hier.“
„Lasst mich nicht allein...nicht jetzt...nicht DAMIT...ich verliere sonst den Verstand...“
Ich musste nicht fragen, was er meinte. Ich war der einzige Beweis, dass er nicht verrückt war, wenn er sich erinnerte. „Niemals.“
Er sah mich an, zwischen Angst und Wunsch nach Nähe hin und her gerissen.
Ich wartete ab, „heizte“ meinen Körper aber schon einmal auf menschliche Wärme auf – und behielt recht. Die Sehnsucht gewann.
Alexj warf sich in meine Arme, klammerte sich an mich und brach in Tränen aus.
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In den nächsten Wochen blieb unser Verhältnis auf diesem Niveau. Alexj schwankte zwischen Zuneigung und Hass hin und her, ich wusste nie, ob er nicht eine Waffe in der Hand hatte, wenn er meine Nähe suchte. Tatsächlich versuchte er mehr als einmal, mich zu töten, was mich zum einen erheiterte, zum anderen aber auch erschreckte. Als er anfing, mit Feuer zu hantieren, fesselte ich ihn bei unseren Pausen und schob ihm einen Knebel in den Mund, damit er nicht schrie.
Feuer gehört zu den wenigen Waffen, die auch einem Vampir gefährlich werden können.
Heute weiß ich, dass in dieser Zeit die Barrieren, die ich in seinem Geist errichtet hatte, brachen. Er erinnerte sich an meinen Angriff bei Madame d’Arbanville ebenso wie an all die kleinen Zwischenfälle, die ich mit Gedankenmanipulation gelöscht hatte – und dafür hasste er mich. Manchmal. Und er begriff, dass man mit Machtmissbrauch durchaus durchkam, wenn man sich nicht allzu doof anstellte. Eine Lektion, die mir später zum Verhängnis werden sollte.
Als es richtig schlimm wurde, besorgte ich uns ein Quartier in einem verlassenen Bauernhof kurz vor Rouen. Alexj fieberte und redete die meiste Zeit wirres Zeug. Da damals „Nervenfieber“ und „Hysterie“ häufige Diagnosen waren, dachte ich mir weiter nichts dabei. Psychologie spielte in der medizinischen Diagnostik noch keine Rolle, Angstzustände, Depressionen, Schizophrenie und andere Krankheiten dieser Art wurden einfach zusammengefasst, galten in der Regel als typisch weiblich und riefen allerlei Scharlatane auf den Plan, die DAS Heilmittel schlechthin in der Tasche hatten. Tatsächlich wurde deshalb der Vibrator erfunden – er sollte der Muskelentspannung dienen. Noch Fragen? Dachte ich mir.
Mein Lieblingsheilmittel ist allerdings, Überraschung, der Aderlass. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele sogenannte Ärzte damals Vampire waren, solange, wie diese Methode gegen alles und etliches populär war….
Ich fesselte meinen Partner an eins der Betten, damit er weder mich noch sich selbst verletzen konnte, bemühte mich, das Fieber zu senken und suchte in seiner Aura Anzeichen des Wahnsinns.
Die ich nicht fand, sei es aus Unvermögen oder weil einfach keine da waren. Darum betrachte ich es als unbedenklich, seinen Heilungsprozess mit meinem Blut zu unterstützen. Das letzte Mal war ja schon eine ganze Weile her und Blutbindungen, auch temporärer Art, lösen Zuneigung und Vertrauen aus. Also genau das, was Alexj jetzt brauchte, um sich zu erholen.
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Ja, ich weiß, die Idee war schon beim ersten Mal bescheuert und dieses zweite Mal machte sie auch nicht besser, im Gegenteil: wusste er vorher gar nicht, wie und was er empfinden sollte, entschied sich seine völlig überforderte Gefühlswelt jetzt dafür, dass ich ab sofort der Mittelpunkt in Alexjs Dasein wurde.
Er bewachte mich eifersüchtig, ertrug es kaum, wenn ich auf die Jagd ging. Jedes Mal flehte er mich an, ich möge nicht gehen, ich könnte doch auch sein Blut nehmen, das wäre doch überhaupt kein Problem, er wäre mir auch nicht mehr böse, ich könnte ja auch anders und so weiter und so fort. Das nervte unheimlich, aber da ich davon ausging, dass diese übertriebene Zuneigung durch das Vampirblut verursacht wurde, kümmerte ich mich nicht weiter darum.
Tatsächlich besserte sich sein Verhalten nach etwa einer Woche, auch wenn er sich nach wie vor wünschte, dass ich von ihm trank. Er bettelte so lange, bis ich nachgab, mich zu ihm auf die Bettkante setzte und nach seinem Handgelenk griff.
„Was habt Ihr vor?“ erkundigte Alexj sich vorsichtig.
„Was denkt Ihr denn? Ihr wolltet gebissen werden, ich tue es. Wenn Ihr wisst, wie es sich anfühlt, gebt Ihr hoffentlich Ruhe.“
„In das Handgelenk?!“
„Ja. Warum?“
„Ich dachte, Vampire beißen in den Hals.“
„Vampire beißen in die Ader, die sie erreichen können. Es macht nicht allzu viel Sinn, seinem Opfer das Genick zu brechen, nur, um in den Hals zu beißen. Ich könnte auch die Ader am Oberarm oder in der Leiste nehmen, für mich macht das keinen Unterschied. Am Handgelenk ist in diesem Fall das Beste, weil Ihr sehen könnt, was genau ich tue.“
„Ja dann….“
Ich lächelte, entblößte dabei meine Fänge. „Angsssssst?“
Er schluckte, starrte wie hypnotisiert auf mein Raubtiergebiss. „Nein…“
„Ihr lügt nicht besssssonderssss gut“, stellte ich fest, bevor ich seine Handfläche – und damit das Adergeflecht am Gelenk - nach oben drehte und den Arm fixierte.
Ohne meinen Blick von seinem zu lösen senkte ich meine Lippen auf seinen kräftig schlagenden Puls und leckte über die weiche Haut. Alexj begann zu zittern, ob vor Angst oder vor Aufregung, konnte ich nicht sagen.
Vorsichtig drückte ich die Fänge gegen den Arm, um dann schnell und gnadenlos zuzubeißen. Alexj versteifte sich und sog scharf die Luft ein, als sich meine spitzen Eckzähne wie Dolche in seine Ader bohrten.
Langsam begann ich zu saugen.
Normalerweise ist die Aufnahme von Blut es eine lästige Notwendigkeit, die ich in der Regel schnell erledige – nicht, dass ich noch gesehen werde. Parallel dazu achte ich auch nicht unbedingt auf die Reaktion meines Opfers. Warum auch? Ich sehe es sowieso nie wieder.
Noch nie zuvor hatte ich derart bewusst getrunken wie in diesem Moment.
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Dass Vampirbisse auf Menschen eine erotisierende Wirkung hat, wusste ich natürlich. Dass es auch auf den Vampir wirkt, war neu. Obwohl ich mich bereits von Alexj genährt hatte und ihn eigentlich kennen sollte, schmeckte sein Blut dieses Mal anders. Auch wenn es nach wie vor reichlich scharfes Adrenalin und leicht säuerliches Cortisol enthielt, kamen jetzt auch Endorphine hinzu, die den Schmerz des Bisses betäubten und deren euphorisierender Wirkung ich mich nicht entziehen konnte, sowie süßes Oxytocin und ein heftiger Schuss Dopamin. Alles in allem ein extrem berauschender Cocktail.
Über mir warf Alexj den Kopf in den Nacken, keuchte. Ich konnte seine Erregung deutlich mit allen Sinnen wahrnehmen, zog meine Fänge aus der Wunde, schloss sie, richtete mich auf und küsste ihn, sein Blut noch auf den Lippen. Er erwiderte den Kuss, schlang die Arme um mich, drückte mich an sich. Oder er sich an mich. Oder wie auch immer – egal. Irgendwann verteilten sich unseren Sachen auf Bett und Fußboden, während wir uns immer noch oder schon wieder küssten.
Ich leckte vorsichtig über Alexjs Hals, verteilte Vampirgift, biss ihn ein weiteres Mal. Der Stress war vollkommen verschwunden, außer dem Wahnsinnsgeschmack seiner Lust war da nichts mehr. Er stöhnte, krallte sich in meine Schultern, wir kippten hintenüber – und der Rest, meine Lieben, geht euch einen feuchten Kehricht an. Eine Lady genießt und schweigt.
Nur so viel: keine 14 Tage später war Alexj ein Vampir. Alles klar?
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Ganz so einfach wie es klingt war das natürlich nicht. Um ein Vampir werden zu können, muss man vor allem eins: Sterben. Keine schöne Vorstellung, wenn man jung und lebendig ist. Außerdem ist es schmerzhaft, weil der zu Wandelnde die ganze Zeit bei Bewusstsein ist.
Ich bin wahrlich hart im Nehmen, aber es kommt auch nicht von Ungefähr, dass Alexj bis heute mein einziges Kind ist. Auch wenn es sicher geeignete Kandidaten gegeben hätte, freiwillig gucke ich mir das nicht nochmal mal. Vielen Dank, da bleibe ich lieber allein.
Vermutlich hat er damals den Knacks bekommen, der ihn später zum Gejagten werden ließ. Aufgrund der Umstände war er seelisch nicht stabil genug, die Wandlung zu überstehen. Dass er, wie die meisten Frischlinge, seine ersten Opfer getötet hat, dürfte in Sachen geistiger Gesundheit auch nicht sehr förderlich gewesen sein. Im Rückblick ist mir das durchaus klar, aber ich hatte inzwischen ja auch eine Ewigkeit zum Nachdenken. Damals wollten wir einfach nur zusammen sein und bleiben. Was, verdammt noch mal, sollte daran falsch sein?
Seine Aura war sauber, keine seltsamen Bewegungen, keine psychedelischen Farben - nichts, was mich gewarnt hätte. Nicht mal die Farben der Lüge und Verstellung. Er liebte mich. Das war alles.
An diesem letzten Punkt hat sich auch nie etwas geändert. Und das ist vielleicht das Schlimmste: Dass er mich noch immer liebte, als er meiner Liebe – und damit auch mir – das Herz herausriss.
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Und ich? Ich werde für immer mit ihm verbunden sein, egal, was er tut, was er ist – bis dass der Tod uns scheidet. Ich weiß, dass er noch existiert, würde es spüren, wenn es anders wäre. Bislang hat sich kein anderer Jäger angefunden, der meinen Job erledigt hätte – kein Kunststück, meines Wissens nach gibt es nur noch drei von uns, einen in Nordamerika, einer bin ich und der dritte ist mehr ein Gerücht als eine erwiesene Tatsache. Angeblich ist er in Osteuropa und Russland unterwegs, was bedeutet, dass er entweder saugut , extrem lebensmüde oder bereits vernichtet ist. Oh – natürlich gibt es noch die Inquisition. Aber, wie bereits erwähnt, muss Vampir schon total verzweifelt oder sehr, sehr blöd sein, um sich den Verein in Haus zu holen. So schlimm wütet mein Ex-Geliebter offenbar nicht, dass jemand das Risiko eingegangen wäre. Aber er plant ohne Zweifel seine Rache an mir, Zeit genug hat er ja.
Warum? Tja, mit dieser Frage kommen wir zum Teil dieses Ausflugs in meine Vergangenheit: Unser Leben als Vampir – Paar.
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Es dauerte eine Weile, bis Alexj sich von den Folgen der Wandlung erholt hatte. Natürlich war er als Vampir körperlich sofort topfit, aber einige Aspekte seines neuen Daseins waren durchaus gewöhnungsbedürftig. Zum Beispiel das Atmen - man merkt erst, dass man es getan hat, wenn man es nicht mehr tut. Anfangs geriet er oft in Panik, zu nahe war die Erinnerung an die Erfahrungen während der Wandlung. Ich musste ihn mehr als einmal beruhigen, dass er weder tot war, noch demnächst endgültig sterben würde.
„Vampire sind Wesen der Zwischenwelt“, erklärte ich meinem Kind, „wir sind weder tot noch leben wir.“
Alexj kratzte sich am Kopf, runzelte nachdenklich die Stirn. „Sind wir sowas wie Dämonen?“
„Nein. Dämonen gehören zur Unterwelt. Die sind alles, was ihnen die Kirche so nachsagt. Wir sind anders, wir haben, wie die Menschen, noch immer die Wahl, wohin wir gehören möchten. Natürlich ist die Inquisition anderer Meinung – angeblich sind wir so böse, dass uns selbst die Hölle wieder ausgespuckt hat. Kann ich jetzt nicht bestätigen, ich habe keine Ablehnung erhalten. Hört denen bloß nicht zu! Wie alle Fanatiker reden sie am liebsten über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben.“
„Aber muss ich jetzt den Teufel anbeten?“
„Wenn Ihr meint, dass das was hilft, dann bitte. Aber erspart mir den Quatsch mit den Opfern, ja? Das ist Verschwendung von Nahrung.“
Alexj verzog das Gesicht. „Hab ich erwähnt, dass Blut nicht besonders gut schmeckt?“
„Man gewöhnt sich dran. Außerdem ist Blut nicht gleich Blut. Ihr werdet schon eine Geschmacksrichtung finden, die Euch zusagt.“
„Na, ich weiß nicht…“
Ich lachte. „Ihr hattet bisher nur ein paar verängstigte Bauern. Ich gebe zu, der Geschmack der Angst ist nicht gerade ein Gourmet – Menü. Wartet, bis Ihr wieder holde Jungfrauen verführt. Ich verspreche Euch, dann werdet Ihr anders denken.“
„Und wann wird das sein?“
„Jetzt seid nicht so ungeduldig! Erst müsst Ihr lernen, Eure Opfer am Leben zu lassen. Ich beabsichtige nicht, der Inquisition in die Hände zu fallen, weil Ihr eine Spur aus blutleeren Leichen hinter Euch herzieht!“
Alexj zog einen sehr niedlichen Schmollmund. „Wenn’s sein muss…“
„Tja“, sagte ich trocken, „das ist die höchste Kunst unseres Daseins: sich nicht erwischen zu lassen.“
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Alexj lernte schnell. Natürlich konnte ich ihn trotzdem nicht mit nach Rouen nehmen. Ein Frischling in größeren Menschenmengen stellt immer ein Risiko da. Zudem hatte ich ihn gewandelt, ohne zuvor irgendeinen in der Hierarchie über mir stehenden Vampir - vorzugsweise einen Prinzen – zu fragen. Das war ein eklatanter Regelverstoß. Böses Mädchen Josephine!!!
Wir umwanderten die Stadt nördlich und setzen den Weg Richtung Calais fort. Es war sehr amüsant zu sehen, wie mein Partner nach und nach seine Vampirfähigkeiten kennenlernte.
Angefangen bei so einfachen Dingen wie Nachtsicht und Ausdauer bis hin zu dem ersten Mal, als er feststellte, dass er mit seiner Stärke auch als Anfänger eine Tür pulverisieren konnte, war sein Erstaunen immer wieder zum Lachen. Der Brüller war, als er seine Klauen bemerkte. So verdutzt habe ich danach nie wieder jemanden aus der Wäsche schauen sehen.
Die psychischen Fähigkeiten entwickelten sich erst nach und nach. Das Sehen von Auren war fast sofort vorhanden und Alexj staunte die meine an, als hätte er nie etwas Schöneres gesehen. Dabei sind Vampirauren eigentlich von allen die schwächsten. Die Aura speist sich aus der Vitalität des Trägers – da schneiden wir als Rasse jetzt nicht soooo gut ab. Die Schönsten und Leuchtensten haben die Werwölfe. Allerdings sollte man die nicht anstaunen, es sei denn, man möchte eines schnellen und unerwarteten Todes sterben. Wölfe jagen im Rudel. Immer.
Gedankenmanipulation war und ist ein anderes Kaliber. Bei mir hatte es Jahre gedauert, bis ich einfache Ein – Wort – Befehle einigermaßen zuverlässig hinbekam und Jahrzehnte, bis das Löschen kurzer Zeiträume überhaupt in Frage kam.
Auch hier schlug mich Alexj um Längen, vermutlich, weil er schon vor seiner Wandlung ein Meister der Manipulation war. Instinktiv erfasste er die Gedankengänge der Menschen und verführte sie mit Charme und dem ersten Funkeln seiner neuen Fähigkeit. Gepaart mit seinem Hang zur Skrupellosigkeit würde ihn dieses Talent in voller Ausprägung zu einer mächtigen Waffe machen. Alexj hätte es weit bringen können in unserer Welt, wenn….ja, wenn alles so gelaufen wäre, wie wir es uns damals gewünscht haben.
Bevor an eine Karriere allerdings auch nur zu denken war, musste er die Basics beherrschen. Wir trainierten täglich mehrere Stunden, vor allem Nahkampf – es ist wichtig, den Einsatz seiner Fähigkeiten und damit auch des aufgenommen Blutes so zu dosieren, dass man nicht nach jedem kleinen Scharmützel kurz vor einem Blutrausch steht, weil man total ausgehungert ist. Außerdem vergessen junge Vampire gerne, dass sie nicht unverwundbar sind. Wir sterben zwar nicht so schnell wie Menschen, aber Verletzungen schmerzen trotzdem und es braucht Blut, um sie zu heilen. Was für mich inzwischen so selbstverständlich war wie für Menschen das Atmen, war für Alexj etwas vollkommen Neues, eine weitere Faszination seines neuen Daseins. Eifrig trainierte er den Umgang mit der Macht eines Vampires und genoss die Vorteile sichtlich.
An die Nachteile gewöhnte er sich. Wie wir alle.
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Aufgrund der schnellen Fortschritte erschien es mir auch bald sicher, mit Alexj nach Calais zu ziehen. Wir würden sowieso nicht lange dort sein, was sollte also passieren? Und in England krähte kein Hahn danach, ob er ein legal erzeugtes Kind war oder nicht. Die Prinzessin von London und der Prinz von Paris sprachen nicht miteinander. Frankreich und England waren Erzfeinde und was die Vampirwelt angeht, ist das bis heute so. Das wollte ich zu unserm Vorteil nutzen und Alexj einfach in unsere Welt schummeln. War er einmal anerkannt, konnte kein Prinz dieser Welt Einspruch erheben. Problem gelöst.
Außerdem wollte ich die Stadt meiner Geburt ein letztes Mal sehen. Nach etwas über 50 Jahren konnte ich mir fast sicher sein, dass mich kein Mensch mehr erkennen würde, es war also sicher, zurückzukehren. Wenigstens das Grab meiner Mutter wollte ich besuchen, bevor ich Frankreich für immer verließ. Ein klarer Cut zwischen meinem alten Leben und meinem neuen Dasein schien mir das Beste zu sein. Ich war kein Mensch mehr. Ende.
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Wir schlichen uns in einer mondlosen Nacht gegen Mitternacht lautlos in die Stadt. In der Mischung aus Dunkelheit und Schatten war es den Wachen unmöglich, uns zu sehen. Trotzdem prickelte die Anspannung auf der Haut, als ich über die Mauerkrone kletterte, mich auf der anderen Seite vom Wehrgang über ein paar Dächer in die stinkenden Gassen des Stadtrandes fallenließ und in einem Hauseingang Deckung suchte. Keine zwei Minuten später landete Alexj hinter mir. Seine Augen funkelten in einer Mischung aus Aufregung und Übermut, als er mich an der Schulter herumdrehte und mich stürmisch küsste. Ich griff nach seiner Hand und zog ihn mit mir. Kichernd wie zwei Kinder verschwanden wir Hand in Hand in den Straßen von Calais.
Von dem Geld, dass ich den Soldaten abgenommen hatte, mieteten wir ein kleines Zimmer in der Nähe des Hafens. Bereits am nächsten Tag erkundigte ich mich nach einer Passage nach England, musste aber erfahren, dass aufgrund des Krieges der Schiffsverkehr nur unregelmäßig funktionierte. Noch hatte England sich nicht eingemischt, aber seit in Paris ein ehrgeiziger, korsischer General namens Bonaparte nach der Macht griff, konnte es jeden Tag soweit sein.
Anders als ich nahm Alexj die Neuigkeiten gelassen auf.
„Nehmt es nicht so schwer, meine Süße“, meinte er nur, „wir leben so gut wie ewig, da kommt es auf ein paar Wochen mehr oder weniger nicht an. Wir sind zusammen. Was willst du mehr?“
„Meine Freunde?!? Ich vermisse sie. Und unser Geld wird auch nicht ewig reichen, das weißt du. Sollen wir bei den Docks schlafen oder wie stellst du dir das vor? Ich dachte eigentlich, die Zeiten wären vorbei.“
„Ach, die Nervensägen braucht doch keiner“, winkte er geringschätzig ab, „und was das Geld angeht, das kriegen wir schon hin...ist ja nicht so, dass wir gesetzestreue Menschen wären, oder?“
Da hatte er recht. Trotzdem missfiel mir die Art, wie leichtfertig er über das Brechen von Gesetzen sprach. Ja, wir spielten mit den Regeln der Menschen – aber alles hatte Grenzen. Und das sagte ich ihm auch.
„So,so. Das hat Euch doch mit Sicherheit dieser Jaques eingeredet“; knurrte Alexj, „ damit er Euch immer schön unter Kontrolle hat. Wozu hat man denn all diese Kräfte, wenn man sie nicht benutzen darf, hmmm? Gesetze sind zum Brechen da. Das war schon immer so!“
„Lasst Jaques da raus!“ fauchte ich, „das hier ist kein Eifersuchtsdrama, sondern eine grundsätzliche Sache. Ihr müsst begreifen, dass es da draußen Wesen gibt, die deutlich mächtiger sind als ein neugeborener Vampir. Es gibt Machtstrukturen in unserer Welt – und wir sind das unterste Ende der Nahrungskette. Also lasst den Kopf unten, sonst verliert Ihr ihn.“
Er lachte. „Das untere Ende der Nahrungskette, ja? Dann wird es Zeit, dass ich das ändere! Und jetzt entschuldigt mich. Ich gehe auf die Jagd.“
Sprach's und verließ türenknallend das Zimmer, während ich fassungs- und sprachlos zurückblieb.
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In der folgenden Nacht waren wir beim Prinzen von Calais und hörten den üblichen „Seid artig!“ - Vortrag an. Alexj hielt ausnahmsweise den Mund, was vermutlich daran lag, dass ich ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass jegliches Fehlverhalten seinerseits nicht nur seinen, sondern auch meinen Kopf kosten würde. Ich war als seine Erzeugerin in diesem frühen Stadium seiner Existenz für ihn und seine Taten verantwortlich. So ist das Gesetz.
Erziehungstechnisch gesehen war das Treffen trotzdem ein Reinfall, da ich seiner Hochnäsigkeit natürlich nur das mitteilte, was unbedingt sein musste. Ich konnte den Prinzen von Calais nicht ausstehen. Er hielt sich für den Nabel der Welt, weil er Calais schon im 100jährigen Krieg gehalten und gegen jeden Versuch einer dauerhaften Übernahme durch den legendären Schwarzen Prinzen verteidigt hatte. Gleichzeitig jedoch duldete er so ein Geschmeiß wie meinen Erzeuger in seiner Stadt. Und der wollte MIR was von Anstand, Sitte und Moral erzählen? Oh bitte....
„Ihr habt gelogen!“ stellte Alexj dann auch folgerichtig fest, als wir die Farce endlich hinter uns gebracht hatten und uns zur Jagd in die Stadt begaben.
„Hab ich nicht!“ verteidigte ich mich sofort, „ich habe lediglich ein paar Sachen ausgelassen!“
„Also gelogen“, sagte er.
„Nein. Das wäre gar nicht möglich gewesen. Er hätte es an meiner Aura gesehen. Ich habe die Geschichte nur ein wenig der neuen Realität angepasst, weil ein Prinz nicht alles wissen muss.“
„Aha. So nennt man das also...“
Ich verdrehte die Augen. „Selbst eine kleine 0-Nummer wie ich hat jawohl ein Recht auf ein bisschen Privatsphäre, oder?“
„Soso...sagt mal, wo sind wir hier eigentlich? Ich dachte, wir wollten jagen. Viel los ist hier nicht gerade.“
Ich stoppte abrupt, sah mich um. Ohne es zu merken, hatte ich meine Schritte nach Hause, soll heißen, in das Viertel, in dem ich geboren worden war, gelenkt. Es war immer schon eine miese Gegend gewesen und die letzten 50 Jahre hatten es nicht besser werden lassen, eher war das Gegenteil der Fall. Fassungslos starrte ich die verfallenen Reste dessen an, was einmal mein Elternhaus - sprich:der Puff, in dem meine Mutter gearbeitet und mich zur Welt gebracht hatte – gewesen war. Tränen stiegen mir in die Augen, liefen mir über die Wangen. Ohne nachzudenken wischte ich mir die blutigen Streifen mit dem Ärmel meines sündhaft teuren Seidenkleides, das ich mir für den Besuch beim Prinzen organisiert hatte, vom Gesicht. Noch nie war mir so deutlich geworden, wie weit ich mich schon von dem Mädchen entfernt hatte, das durch diese Straßen gerannt war. Ich war immer gerannt. Ich hatte immer irgendetwas ausgefressen, für das mich irgendjemand bestrafen wollte, sei es, dass ich etwas geklaut hatte, sei es, dass ich jemanden einen fiesen Streich gespielt hatte. Irgendetwas war immer. Aber es war harmlos gewesen, unschuldig...und heute? Heute trank ich Blut, manipulierte Menschen und belog den Prinzen. Was für eine Karriere. Trotzdem sah ich noch immer aus wie damals - und war doch so viel älter. Keiner der Menschen, die mich über's Knie legen wollten, lebte noch. Ich hatte keine Familie mehr, keine Heimat. Die bittere Konsequenz dessen, was mein Erzeuger mir angetan hatte, war in dieser verfallenen, stinkenden Gasse am Hafen von Calais wieder so brutal spürbar wie am ersten Tag meines Vampirdaseins: Ich war allein. Für immer und ewig.
„Josephine? Was ist denn los – Ihr weint ja?“
Alexj. Scheiße. Den hatte ich ja völlig vergessen!
Entschieden wischte ich mir das Gesicht sauber. Es hatte keinen Sinn, um vergossene Milch zu heulen. Ändern konnte ich es sowieso nicht.
„Nichts. Alles in Ordnung. Nur ein dämlicher Anfall von Nostalgie. Ich bin hier geboren, wisst Ihr?“
Er sah sich zweifelnd um. „Hier?“
„Ja, da drüben, in der Brandruine. Vor 50 Jahren war das noch ein florierendes Hurenhaus mit jeder Menge Kundschaft aus dem Hafen. Offenbar hat seitdem jemand mit dem Feuer gespielt...“
„Ihr wart eine Hure?“
„Nicht ich. Meine Mutter. Ich war noch ein halbes Kind, als mein Erzeuger mich geholt hat, wie Ihr unschwer erkennen könnt. Und Jungfrau, wie Ihr festgestellt haben solltet. Der Arsch hat mich erst gewandelt und dann an die Freier verkauft. Jungfrauen sind in diesem Gewerbe eine Menge Geld wert. Ewige Jungfrauen sind ewige Geldquellen. So einfach ist das.“
„Ich fasse es nicht! Ihr wart tatsächlich ein Hure!“
„Aber doch nicht freiwillig! Der Scheißkerl hat mich dazu gezwungen. Sonst gab es kein Blut. Ich war immer kurz vor dem Verhungern. Er hat mich in einem Käfig gehalten und nur gefüttert, damit ich meine Freier nicht umbrachte. Irgendwann hat er es übertrieben. Ich habe ihn im Blutrausch getötet. Kein Verlust für diese Welt, wenn Ihr mich fragt. Aber das ist lange her.“
„Eine Hure und eine Mörderin...ich glaub es nicht...“
„Dann lasst es. Gehen wir jetzt jagen oder was?“
„Gehen wir.“
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Natürlich war dieses Thema damit nicht vom Tisch. Meine durch die Warterei ohnehin schon strapazierten Nerven litten gehörig unter seiner ständigen Fragerei. Widerwillig musste ich eingestehen, dass mich nur Jaques – sprich Mikes – Intervention vor der sofortigen Vernichtung bewahrt hatte, nachdem ich meinen Erzeuger in die Hölle geschickt hatte. Hatte ich erwähnt, dass ich den Prinzen von Calais verabscheute? Nun, das beruhte auf tiefer Gegenseitigkeit.
Menschliche Gerichte konnten mir in diesem Punkt nichts anhaben – ich hatte einen Toten getötet. Ups.
Ich war damals dem endgültigen Tod entgangen, musste aber meine Heimatstadt sofort verlassen. Dass Jaques mitging, wunderte mich – ich hatte immerhin seinen größten Konkurrenten gefrühstückt, mit seinem Angebot an Mädchen und seinen Kontakten in der Unterwelt hätte er mühelos die Nummer 1 im Hafengebiet werden können. Wollte er aber nicht. Auf meine schüchterne Nachfrage hatte er nur mit einem lapidaren: „Langweilig.“ geantwortet. Heute weiß ich nur zu genau, was er meinte.
Alexjs Fragen wühlten all das und noch mehr wieder auf – Vampire haben durchaus Gründe, ihre Vergangenheit als Mensch nicht nur zu vergessen, sondern totzuschlagen, einzusargen, einzubuddeln, aufzubrennen – kurz: im Staubsauger oder sonst wo gründlich zu entsorgen. Unsere Erschaffung war unsere Geburt. Feierabend.
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Nur, dass Alexj in den Tagen und Wochen danach herumstocherte, eine Zeit, die ich noch weiter verdrängen wollte als mein menschliches Leben. Zusätzlich ließ der Prinz uns rund um die Uhr überwachen. Als wir nach vier Wochen immer noch keine Überfahrt hatten, hatte ich die Schnauze voll. Die Küste war lang, es gab andere Häfen. Ich beschloss, Calais zu verlassen und nie mehr zurückzukehren.
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Diesen Schwur habe ich bis heute eisern gehalten. Ich meide Frankreich wie der Teufel das Weihwasser. Nach Paris komme ich sowieso nie wieder, die Verschwörungstheorien des Prinzen sind im Laufe der Jahre immer ausufernder geworden. Wenn ich diese Stadt noch einmal betrete, dann, um das zu tun, von dem er glaubt, dass ich es tun würde: ihn töten. Oder erlösen. Alles eine Frage des Standpunkts.
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Alexj und ich zogen also durch das vom Krieg verwüstete Europa. Bald wurde uns klar, dass eine Überfahrt nach England bis auf weiteres unmöglich war, egal, von welchem Hafen aus. Wir wandten uns in Inland und taten das, was wir am besten konnten: Reiche Leute um ihr Vermögen bringen. Frei nach dem Motto: „Irgendwo wird immer getanzt!“ ignorierten wir Blut und Tod, amüsierten uns auf Bällen, Jagden und was das süße Leben des Adels sonst noch so bot. Mit Alexjs Charme, meinem Unschuldslächeln und all unseren sonstigen Talenten standen uns alle Türen offen.
Wir ließen uns von der Euphorie, die sich immer vor größeren Katastrophen breitmacht, anstecken, waren auf Bällen und in Salons vertreten. Es war, als würden die Leute schneller leben, als wollten sie alles gleichzeitig erleben, um ja nichts zu versäumen. Heute weiß ich, dass diese hysterische Lebensgier viel mit der Angst vor dem Unausweichlichen zu tun hat. Heute würde ich bei einer derart fiebrigen Stimmung blitzschnell meine Koffer packen und untertauchen. Damals habe ich einfach nur mitgemacht – und genommen, was ich kriegen konnte.
Es ist wenig verwunderlich, dass ich Alexj ein wenig aus dem Blick verlor, zumal mir seine Eifersucht fürchterlich auf die Nerven ging. Während er ein hübsches, junges Ding nach dem anderen abschleppte, bekam ich schon einen über‘s Dach, wenn ich mit einem Anderen tanzte. Seine Annahme lautete: „Einmal Hure, immer Hure“ und er verdächtigte mich aller möglichen Schandtaten, sobald ich mich mit einem Herren in ein Séparée zurückzog – ich wollte trinken, Herrgott, was bitte ist daran so schlimm?!? Offenbar alles.
Da ich weder Zeit noch Lust hatte, mir jedes Mal ein für ihn genehmes Opfer zu suchen, krachte es zwischen uns oft gewaltig. Er blieb dann nächtelang weg, schmollte, und ich sorgte mich, bis er wieder vor der Tür stand und verzweifelt um Verzeihung bettelte. Wir versöhnten uns, wild und ungezügelt - bis zum nächsten großen Streit.
Ich würde gerne behaupten, dass ich ihn NICHT bewusst provozierte, aber das wäre gelogen. Ich war - und bin – durchaus attraktiv und hatte nie Probleme, hübsche Männer in meinen Bann zu ziehen. Und zur damaligen Zeit galt ich keinesfalls als Kind, sondern als heiratsfähiges Exemplar der Gattung FRAU. Mit einem klangvollen Titel ging da so einiges – das hatte er mir schließlich selbst bewiesen.
So bemerkte ich auch nicht, dass Alexj sich keinesfalls an die Regeln hielt, die ich ihm so mühsam beizubringen versucht hatte. Er achtete darauf, stets niedere Stände mit seinen Regelbrüchen heimzusuchen – ein fehlendes Bauern- oder Dienstmädchen interessierte keinen Menschen, zumindest keinen, der etwas zu sagen hatte. Eine verschwundene Dirne war noch unwichtiger.
Ich habe bis heute keine Ahnung, wie viele Mädchen er in diesen ersten Jahren getötet hat, wenn er seine Wut auf mich an ihnen ausließ. Ich glaube fast, er weiß es selber nicht.
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Ein zunehmend nervigeres Problem wurde, dass der Krieg uns nach Osten abdrängte. Damit liefen wir Gefahr, Feindesland zu betreten.
Und damit, geneigte Leser meiner kleinen Geschichte, seid ihr mittendrin in Politik und Geschichte der Vampire. Die, wie ihr euch denken könnte, sehr lang und sehr schmutzig ist.
Daher für euch nur die Kurzform: Es gibt zwei große, rivalisierende Parteien in der unserer Welt. Die eine, zu der ich gehöre und zu deren Weltanschauung ich erzogen wurde, lebt mit den Menschen in einer Art Symbiose. Wir nähren uns von ihnen und nisten uns in Politik und Konzernen häuslich ein, bleiben aber immer im Schatten und tun alles, um nicht aufzufallen. Wie Blutegel eben so sind.
Die andere ist der Ansicht, dass Vampire den Menschen überlegen sind und von daher jedes Recht haben, sich zu nehmen, was sie wollen. Und so leben sie auch. Menschen haben in Gebieten, in denen diese Gruppe regiert, nicht viel zu melden. Totalitäre Systeme haben fast immer einen Vampir oder dessen Marionette als Oberhaupt – vor allem die, in denen viele Menschen unter ungeklärten Umständen verschwinden.
Wenn ihr euch über die Intensität der Auseinandersetzungen informieren wollte, empfehle ich das Studium der Geschichte Polens, Schottlands und Irlands. Alles Grenzgebiete, hart umkämpft und mit wechselnden Herren.
Seit dem WKII herrscht eine Art Burgfrieden – aber zu der Zeit, als Alexj und ich durch diese Gebiete zogen, war der Kampf in vollem Gange.
Ich muss euch nicht erzählen, WIE gut Alexj die lockeren Regeln auf der anderen Seite fand?!? Genau. Aber das Gras jenseits des Zauns war halt schon immer grüner…
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Vielleicht hätten wir an dieser Stelle trotz allem noch etwas retten können, wenn ich nicht ausgerechnet gerade jetzt Dieters Vater kennengelernt hätte.
„Kennengelernt“ ist nur leider der falsche Ausdruck - eigentlich passt „gefunden“ besser.
Wir waren in Preußen unterwegs, einem Land, das Herr Bonaparte soeben seinem Machtbereich hinzugefügt hatte. Eines Abends zog ich über eines der Schlachtfelder – Jena, 1806, wenn ich mich recht entsinne, die Allianz aus Preußen und Österreichern hatte gerade eine krachende Niederlage kassiert – als ich jemanden weinen hörte.
Das war auf einem Schlachtfeld jetzt nichts Ungewöhnliches. Verletzte wurden zwar in Lazarette gebracht – was ihren Tod in den allermeisten Fällen nur kurz verzögerte – aber gezielt gesucht wurde nicht. Wer zum Zeitpunkt der Begehung bewusstlos war oder generell als hoffnungsloser Fall galt, hatte Pech gehabt.
Und gerade nach einem Rückzug – böse Zungen würden es eine kopflose Flucht nennen – war das Chaos natürlich perfekt. Perfekt, um sich ein Opfer zu suchen, das meinen Partner nicht aufregen würde.
Ich folgte also der Fährte aus nicht unbedingt noblen Gründen und fand an ihrem Ende einen Jungen, nicht älter als ich…aussah. Ich erkannte auf den ersten Blick, dass er es nicht schaffen würde. Sie hatten ihn mit einem Bajonett erwischt und mindestens ein Pferd der durchgehenden Kavallerie war über ihn hinweggetrampelt. Eigentlich grenzte es schon an ein Wunder, dass er überhaupt noch einmal zu sich gekommen war. Manchmal war Gott echt ein Arschloch. Hätte er dieses Kind nicht einfach friedlich sterben lassen können?
Ich beschloss, Gottes ach so weisen Ratschluss zu unterlaufen, indem ich dem Leid ein schnelles Ende bereitete, kniete mich neben den Schwerverletzten, strich ihm behutsam das blutverklebte Haar aus der Stirn, legte den Hals mit dem hektisch schlagenden Puls frei.
Gerade als ich meine Zähne gegen die Ader drückte, schlug der Junge die Augen auf. Obwohl vom Schmerz verschleiert und nass von Tränen, waren sie von dem unschuldsvollsten Kornblumenblau, das ich je gesehen hatte.
„Bist du ein Engel?“ flüsterte er – und mein Herz schmolz wie Schokoladeneis auf der Zentralheizung.
„Nein“, sagte ich leise, „ich bin der Tod.“
„Du bist hübsch…“ Seine Augen fielen wieder zu. „Mach schnell, ja? Es tut so weh…“
Ich küsste mit meinen kalten Lippen sanft seine Stirn. „Todeskuss…“, schoss es mir durch den Kopf, als der Kleine seine Wange vertrauensvoll in meine Hand schmiegte.
Vorsichtig bereitete ich ihn auf meinen Biss vor, hob den Oberkörper leicht an, stützte den Kopf. „Ich kann das nicht...“, dachte ich, „…oh bitte…ich KANN das nicht…“
Der Junge wimmerte leise. „Schhhh…isssst gleich vorbei….“ Meine Zähne bohrten sich in seine Halsschlagader. Der Körper versteifte sich, um dann entspannt in meinen Arm zurückzusinken. Ein Lächeln erhellte das bleiche Gesicht. Zwei Züge später war das Kind bewusstlos. Sein Blut schmeckte nach Sommersonne und Unschuld.
Langsam zog ich meine Fänge zurück. Ich konnte es wirklich nicht. Ich konnte ihn nicht töten.
Aber in die Dunkelheit ziehen konnte ich ihn auch nicht. DAS hatte er nun wirklich nicht verdient!
Während der Junge langsam schwächer wurde, dachte ich fieberhaft nach. Anders als bei der Unterstützung der Heilung bei Alexj würden hier ein paar Schlucke Blut nicht reichen. Die Verletzungen waren einfach zu schwer.
So blieb mir noch die dritte Möglichkeit: einen Ghoul erschaffen. Ich hatte noch nie zuvor in Erwägung gezogen, mir einen Diener zuzulegen, aber andererseits war ich jetzt – zumindest auf dem Papier – adelig und dieser Schlag Mensch hatte immer ein ganzes Heer an dienstbaren Geistern um sich herumschwirren. Da konnte ein Page nicht schaden.
Allerdings würde Alexj ausrasten, wenn ich einen Fremden in unsere Bleibe bringen würde. Gut, es war ein Junge, kein Mann, aber trotzdem….der Kleine bewegte sich leicht, als er tiefer in die Bewusstlosigkeit glitt. Sein Atem war kaum noch spürbar.
Kurzentschlossen öffnete ich meine Pulsader, befeuchtete meinen Finger und ließ einen Tropfen auf die Unterlippe des Verletzten fallen. Wenn er ihn nahm, war die Sache entschieden.
Fasziniert beobachtete ich, wie sich seine Lippen teilten und eine kleine rosa Zungenspitze erschien, um den Tropfen aufzunehmen, dann legte ich mein blutiges Gelenk auf den Mund und spürte das Kitzeln seiner Zunge, während er die zähe, rote Flüssigkeit ableckte. Richtig saugen konnte er nicht, dafür war er zu weit weg, aber leben wollte er, das war deutlich.
Geduldig versorgte ich ihn weiter, bis sein Puls langsam kräftiger wurde und die ersten Verletzungen zu heilen begannen. ‚Den Umständen entsprechend stabil‘, würde das heute heißen.
Ich besorgte mir selber ein Opfer, dann hob den Jungen vorsichtig in meine Arme und trug ihn nach Hause.
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Alexj tobte. Ich hatte erwartet, dass er wütend und eifersüchtig sein würde, aber dass es so schlimm würde, hatte ich nicht gedacht.
„Ihr seid eine miese kleine Schlampe!“ brüllte er, „kaum dreht man Euch einmal den Rücken zu, hintergeht Ihr mich!“
„Moment mal, ja, das ist ein Kind, kein Mann – und ein schwerverletztes dazu. Wie bitte soll ich Euch mit ihm betrügen?“
„Das ist mir egal! Er wird ein Mann werden. Ihr wollt doch nur warten, bis er älter ist und dann…“
„Blödsinn. Wir brauchen einen Diener, wenn wir weiter als Adlige durchgehen wollen – und genau dafür werde ich diesen Jungen einsetzten. Er wird unser Ghoul.“
„Ach, und das soll mich beruhigen, ja? Ihr habt einen Anderen Blut gegeben und Eure dummen Ausreden machen es nicht besser!“
„Hab ich ihn gewandelt? NEIN! Wird er für immer bei uns bleiben? NEIN! Er wird sterben, Alexj, zwar später als normale Menschen, aber sterben. EUCH habe ich gewandelt, weil ich EUCH will! Ist das so schwer zu verstehen?“
„Umso besser, dass er sterben wird. Könnt IHR ihn einfach loswerden. Ihr habt gelernt, wie schwierig es ist, treu zu sein, ja? Jetzt nur noch Kerle zum Entsorgen….“
„Ihr spinnt doch! Ich betrüge Euch nicht, verdammt, weder mit ihm, noch mit sonst jemanden! Tut mir ja auch leid, dass ein großer Teil der Bevölkerung männlichen Geschlechts ist!“
„Dann beißt Frauen, verdammt!“
„Nur, wenn Ihr euch auf Männer festlegt“
„Ich bin doch nicht schwul!“
„Ich wünschte, Ihr wärt es!“
„Ach, und das würde Euch gar nichts ausmachen? So egal bin ich Euch also!“
Und so weiter und so fort. Was immer ich sagte, er drehte es um. Am Ende verpasste ich ihm eine Ohrfeige, die ihn durch die Wand in den Nachbarraum beförderte.
„Mein Domäne, mein Regeln!“ donnerte ich.
„Ihr seid eine Frau! Ihr habt hier gar nichts zu melden, verstanden?!“
„Ich bin die Ranghöhere und Eure Erzeugerin. Und Ihr werdet Euch fügen oder die Folgen tragen, IST DAS KLAR?!?“
„Verdammtes Miststück!“ fauchte er, bevor er - mal wieder – aus der Wohnung rauschte. Die Tür zerbrach, als er sie zuknallte. Mich schauderte. Für einen Moment hatte ich den puren Hass in seinen Augen gesehen.
Ich sprintete ihm nach, packte ihn von hinten am Hals, zwang ihn den Straßenstaub. Wenn ich jetzt unterlag, wären der Junge und ich unseres Lebens nicht mehr sicher.
„OB DAS KLAR IST, HAB ICH GEFRAGT?????“
Er wand sich, knurrte und versuchte, mich zu beißen. Ich warf ihn herum, drückte ihm mein Knie in den Nacken fixierte ihn.
„BEANTWORTET MEINE FRAGE! SOFORT!“
„Ja…“
„Ich habe Euch nicht verstanden! Geht das auch lauter? Also: IST DAS KLAR?“
„Ja, verdammt…und jetzt lasst mich los.“
„Nur, wenn Ihr mir versprecht, den Jungen in Ruhe zu lassen. SCHWÖRT ES!“
„Ich schwöre…“
„Gut.“ Ich ließ ihn aufstehen. „Und jetzt geht und kriegt euch wieder ein. Wenn Ihr wieder vernünftig seid, könnt Ihr wiederkommen. Mir reicht es so langsam, Alexj. Ich lasse mich so nicht behandeln. Noch so ein Aufstand und Ihr tragt die Konsequenzen. Allein.“
Alexj knurrte mich ein letztes Mal an, dann verschwand er in der Nacht.
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In den nächsten Tagen kümmerte ich mich ausschließlich um den Verletzten, versorgte ihn mit Blut und tat auch sonst alles, um ihn durchzubringen. Alexj ließ sich nicht blicken.
Was mir, ehrlich gesagt, egal war. Ich hatte auch ohne ihn alle Hände voll zu tun – zwar heilten die Verletzungen schnell und der Junge wurde auch extrem anhänglich, aber wie immer, wenn es um Vampire und ihr Blut geht, hatte die Sache zwei Seiten. Schon bei Alexj war mir aufgefallen, dass er, einmal probiert, nicht genug davon bekommen konnte. Hatte ich das noch auf unsere Liebe zueinander geschoben, wurde mir jetzt eins klar: Vampirblut macht süchtig. Diesen Teil des Vortrags hatte ich vermutlich überhört oder direkt geschwänzt.
Naja, zu mindestens wusste ich jetzt, warum Ghoule ihren Herren nicht untreu werden, selbst wenn sie sie wie den allerletzten Dreck behandeln. Das allerdings kam für mich nicht in Frage. Ich wollte keinen Sklaven, der mir jeden Wunsch von den Augen abliest, sondern ein neues Familienmitglied. So, wie ich es bis heute halte. Auch, wenn meine heutigen Ghoule ihre Wochenration für gewöhnlich aus einem Glas statt aus meiner Ader trinken. Heiko mischt sich immer gewürzten Tomatensaft drunter, der Spinner.
Wenn ich nicht mit der Pflege beschäftigt war, musste ich jagen. So klein der Bengel war, so viel Blut benötigte er, vor allem, so lange er noch heilte. Jedes Mal sicherte ich unsere Bleibe gegen Eindringlinge von außen, egal welcher Art. Die Angst, dass Alexj seine Wut an dem Jungen ausließ, saß mir im Nacken. Trotzdem bereute ich nicht, ihn mitgenommen zu haben.
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Zwei Monate später war aus einem verängstigen, viel zu jungen Soldaten ein fähiger Helfer geworden, der mir treu ergeben war. Er weigerte sich standhaft, mich bei meinem Namen zu nennen – wenn wir alleine waren, war ich sein „dunkler Engel“ oder „Fräulein Tod“, was mir später während meiner Zeit als Vampirjägerin den Spitznamen „Lady Death“ einbrachte, der bis heute an mit klebt.
Willig überbrachte mein neuer Page Botschaften und Einladungen, empfing Besucher, servierte Erfrischungen – kurz: Ich musste mich nicht mehr irgendwo hereinmogeln, sondern konnte entspannt meinen eigenen kleinen Salon führen.
Als ich mich eines Abends gerade auf die nächtlichen Vergnügungen vorbereitet, läutete es an der Haustür. Wie immer öffnete der Kleine, um mir im Anschluss zwei ihm unbekannte Herren anzukündigen. Er wirkte ein wenig eingeschüchtert, daher fragte ich ihn, was denn sei.
„Die Herrschaften…nun…sie sind wir Ihr, Herrin“, murmelte er, deutlich blass um die Nase.
„Wie ich?! Wie meint Ihr das?“
„So bleich…und kalt…“
Oh Gott. Vampire. Bei mir sprangen die Alarmglocken an – ich hatte nichts angestellt, jedenfalls nicht, soweit ich wusste, aber bei Alexjs Hang zu Regelbrüchen konnte der Besuch nur eins bedeuten: Er hatte Mist gebaut. Und zwar richtig. Scheiße, verdammte.
Dieser vermaledeite KINDSKOPF!!!
Ich schluckte trocken, straffte mich und bat, die Herrschaften in den Salon zu führen, wo ich sie mit einem möglichst gefassten, leicht arroganten Gesichtsausdruck empfing.
Wobei der nicht annähernd so überheblich war wie der meiner beiden Besucher. Ein Vertreter des Prinzen und das Oberhaupt meines Clans im Rat. Wunderbar. Vermutlich hatte ich unglaubliches Glück, dass Letzterer mich mochte. Ansonsten hätte ich wohl keine Warnung erhalten.
Ich erhob mich fast schon provozierend langsam und sank in den vorgeschrieben Hofknicks.
Mein Clanführer schnaubte genervt. „Oh, um Himmels Willen, steht auf! Ihr seid auch so schon klein genug“, knurrte er mich an.
Ich erhob mich, versteckte mein Grinsen hinter meinem Fächer.
„Guten Abend. Wie kann ich den Herren dienlich sein?“
Die Herren wechselten einen Blick. Dann sprach der Vertreter des Prinzen: „Wisst Ihr das wirklich nicht, Fräulein Josephine?“
„Was genau weiß ich nicht, Herr?“ stellte ich mich dumm. Nichts preisgeben. Keine Vermutungen äußern, ermahnte ich mich. „Ich komme nicht oft vor die Tür, Herr. Eine Dame allein…“
„Lasst das Theater!“ fauchte der Herr Clanführer mich an, „und stellt Euch nicht dümmer als ihr seid. Es geht um euren Gefährten, diesen großkotzigen, russischen Lackaffen, den Ihr vor zwei Monaten aus dem Haus geworfen habt!“
Oh Oh…
„Und….? Er ist erwachsen. Er kann tun und lassen, was er will.“
War er nicht, jedenfalls nicht, solange der Prinz der Stadt das nicht genehmigt hatte.
Entsprechend scharf fiel die Antwort des Herrn Gesandten aus: „Wer bildet Ihr Euch ein zu sein, dass Ihr darüber zu befinden habt? Ihr habt diesen Mörder erzeugt, Ihr steht für ihn ein, solange, bis seine Majestät das Gegenteil beschließt. Und DAS, junge Dame, liegt nach den neuesten Ereignissen in weiter Ferne! Und auch nur, falls Ihr das Urteil übersteht!“
„Was hat er denn so Schlimmes angestellt, dass Ihr mir mit der Vernichtung droht, Herr?“ Ich bemühte mich, jung, unschuldig, beinahe naiv, zu klingen, legte meinen ganzen vampirischen Charme in diese Aussage. ‚Ich habe keine Angst‘, redete ich mir ein, ‚ich habe keine Angst…‘
„Er hat Menschen getötet, junge Frauen“, mein Clanoberhaupt war so ernst wie noch nie, „wenn es nur ein oder zwei unbedeutende Weiber gewesen wären, in Ordnung, aber er hat sich an der Tochter eines bedeutenden menschlichen Führers vergriffen. Ich kann nicht darüber wegsehen, Fräulein Josephine, so sehr ich Euch schätze.“
OH. MEIN. GOTT. Jetzt HATTE ich Angst. Wie dumm war Alexj eigentlich?!? Er wusste doch, dass er mich mit reinzog, wenn…oder war das genau das, was er wollte? Das ich für seine Fehler bestraft wurde? War das seine Rache?
Ich schloss die Augen, überlegte fieberhaft. Was nun, Josephine, was nun?
„Verstehe…“, sagte ich schließlich langsam, „ wo ist er jetzt? Ist er gefasst worden, oder…?“
„Er sitzt im prinzlichen Verließ, Fräulein. Da, wo Ihr auch hingehen werdet. Morgen Abend werdet Ihr dem Prinzen vorgeführt, um sein Urteil zu erwarten. Denn nicht immer ist das Kind schuldig, wenn der Erzeuger versagt.“ Der Gesandte sah mich voller Verachtung an, mein Clanführer voller Mitleid. Ich wusste nicht, was schlimmer war.
Nein, nein, nein, nein…
„Wie Ihr wünscht." Demütig senkte ich den Kopf. „Wäre es möglich, dass ich mich vorher umkleide? Dieses Kleid ist eines Prinzen nicht würdig.“
„Ich bezweifele, dass der Prinz sein Augenmerk auf Eure Kleidung richten wird, aber wenn es Euer Wunsch ist, Euch umzukleiden, sei er Euch gewährt“, gab sich mein Clanführer großzügig, „ ich werde Euch überwachen, damit Ihr nicht flieht.“
„Seid bedankt…“
Ich erhob mich graziös, winkte den Jungen, der kreidebleich an der Wand an der Tür gelehnt hatte, mir zu folgen und eilte die Treppe hinauf in meine Gemächer. Als ich die Tür erreicht hatte, griff mein Clanoberhaupt mich am Ellenbogen.
„Ihr müsst fliehen, Fräulein Josephine, sofort! Eure Hinrichtung ist bereits beschlossene Sache. Euer verblödeter Balg hat die Tochter des französischen Statthalters geschändet und ihr die Kehle herausgerissen. Die Leiche hat er formschön auf ihrem Bett drapiert und sich danebengelegt. Seine Vernichtung ist unvermeidbar. Rettet Euch und Euren Pagen, solange Ihr noch könnt!“
Mittlerweile waren wir im Ankleidezimmer angekommen. Ich riss das teure Kleid einfach in Stücke, befreite mich von Korsett, Seidenstrümpfen und sonstigem Gedöns und schlüpfte in meine alte, abgetragene Männerkleidung. Meinen Schmuck behielt ich, ich würde ihn auf der Flucht verscheuern, zwar unter Wert, aber egal.
„Gibt es denn gar kein Möglichkeit…?“, fragte ich meinen überaus interessierten Zuschauer.
„Nein“, sagte er entschieden, „schlagt Euch das ganz schnell aus eurem hübschen Köpfchen. Selbst wenn Ihr ihn aus dem Verließ und der Stadt brächtet, wohin wolltet Ihr fliehen? Fast gesamt Europa gehört den Franzosen, bis nach Russland hinein. Ihr könntet ihn niemals verbergen…“
'Er hat Recht', musste ich mir eingestehen. So sehr ich an Alexj hing, ich würde nie heil nach England bringen. Musste er auch unbedingt eine Französin töten? Mein Herz blutete, es tat entsetzlich weh, aber bei aller Liebe war ich nicht bereit, für seine Dummheit zu bezahlen. Das es meine eigene Dummheit war, für die ich büßen sollte, sah ich damals nicht.
Also schnappte ich mir das Notwendigste, gab meinem Retter einen innigen Kuss, nahm den Jungen Huckepack und floh in die Nacht ohne mich auch nur einmal umzudrehen.
Alexjs Schicksal ging mich nichts mehr an.
"Ich floh mit deinem Vater nach England", schloss ich meinen Ausflug ins finstere Mittelalter meines Daseins, "den Rest kennst du. Er ist, wie man so schön sagt, Geschichte...."
Dieter sah mich schweigend an. Er wirkte müde, blass, sah alt und erschöpft aus. Und unendlich traurig. Es brach mir das Herz.
"Dieter...", bat ich, "sag was, bitte...nenn mich von mir aus eine dämliche Idiotin, ein arrogantes Miststück, was auch immer...aber rede mit mir...bitte..."
Er stütze die Stirn in die Hände, starrte auf die Tischplatte und schwieg weiter. Für einen Moment glaubte ich, Tränen in seinen Augen zu sehen. Oh, VERDAMMT!
Ein Teil von mir hatte immer gewusst, dass es für ihn nicht leicht war, gleichzeitig seine Familie zu vermissen und seiner Herrin – also mir – zu dienen, aber so zerrissen hatte ich ihn noch nie erlebt. Schätze, dass zwischen: „Dein Vater ist in Erfüllung seiner Pflicht gefallen“ und „Ich verfluchte, arrogante Idiotin habe deinen Vater aus Versehen umgebracht, weil ich ihn ins offene Messer habe laufen lassen, sorry“ eine ganze Welt aus Schmerz liegt.
Ich hätte ihn gerne getröstet, aber ich wusste nicht, wie. Mir blieb nichts weiter als zu warten, wie eine Delinquentin auf das Urteil des Gerichts. Ich hatte die Scheiße gebaut – ich musste dafür bezahlen. Und jetzt war eben Payday. Fertig.
Trotzdem kamen mir die nächsten 5min. länger vor als die letzten 300 Jahre. Dieters Schultern bebten, ich wusste, er weinte. Ich hatte ihn seit dem Tod seiner Frau nicht mehr so fertig gesehen. Am liebsten wäre ich geflohen, aber das ging natürlich nicht. Da musste ich jetzt durch. Ich war schließlich kein Kind mehr, das sich unter dem Bett versteckt, um einer Tracht Prügel zu entgehen. Ich war verdammt noch mal alt und erwachsen genug, um mich meiner Verantwortung zu stellen!
Schließlich hob mein Freund und Vertrauter den Kopf, fing meinen Blick ein.
„Maddy…du dummes, kleines Mädchen…war DAS denn wirklich nötig?“ fragte er leise und es lag so viel Zärtlichkeit in seiner Stimme, dass ich schwer schlucken musste, „jetzt komm schon her…du dämliche Zicke…ich lass dich nicht im Stich, egal, was du angestellt hast…“ Er breitete die Arme aus und ich warf mich an seinen Hals und versaute nach dem Kissen jetzt auch noch sein Hemd. „Tut mir leid“, schluchzte ich, „tut mir so unendlich leid…“
Ja – das ist kitschig. Und passt eigentlich gar nicht zu mir. Aber ich war so froh, dass er bereit war, mir zu verzeihen, dass mir mein Image einfach mal scheißegal war. Noch nie war mir so bewusst geworden, wie sehr ich meinen „Vater“ brauchte und das nicht nur als Teil meiner Maskerade sondern als Partner. Als jemand, der verstand, was es hieß, ewig zu leben.
Eine Weile hielten wir uns einfach nur in den Armen und heulten zusammen, um das, was war und um das, was hätte sein können. Irgendwann ließ er mich los, schob mich eine Armlänge von sich und hob mein Kinn sanft an, bis sich unsere Blickte trafen.
„Maddy…das hier ist fällt mir nicht leicht, aber kannst du mir etwas versprechen?“
„Alles…“, schniefte ich und versuchte, mir mit den Händen das Blut vom Gesicht zu wischen, was natürlich alles nur noch schlimmer machte.
„Wenn du dich ihm stellst, nimmst du mich mit? Ich will dabei sein, wenn du ihn tötest…und wenn es noch einmal 100 Jahre dauert.“
Ich nickte. „Versprochen – und irgendetwas sagt mir, dass du so lange nicht mehr warten musst.“
„Wie kommst du darauf?“
„Wenn ich jetzt diesen Killer erledigen soll, kann ich auch gleich ein Schild aufhängen, wo ich bin. Mit Neon – Leuchtreklame und Pfeil…wie in den alten Bugs – Bunny – Cartoons: ‚Versteck des Bösen!‘, ‚Zur Vampirjägerin bitte hier entlang!‘“
Dieter lächelte. „Ach Maddy – so schwierig ist es gar nicht, dich zu finden. Man muss nur Big Mike überwachen und der ist nun wirklich nicht zu übersehen.“
Da hatte er Recht. Irgendwann trafen Mike und ich uns immer wieder. Aber bislang schien das keinen zu interessieren. Naja, vermutlich braucht ein guter Racheplan Zeit – und einen nicht unerheblichen Machtzuwachs. Ist ja nicht so, dass man mich mit dem kleinen Finger umstupsen könnte. Wenn ich nicht gerade emotional gehandikapped bin, heißt das.
„Sag ich doch“, brummte ich, „Cartoon – Pfeile mit Beleuchtung.“
Er lachte – ein bisschen zittrig, aber immerhin konnte er es noch. „Ich glaube, wir sollten beide mal duschen gehen…wir sehen aus wie die Schweine. Wenn jetzt jemand kommt…“
„…hab ich mich geschnitten und du hast mich festgehalten, damit ich nicht vom Stuhl kippe, während du das Verbandszeug suchst. Ich kann nämlich kein Blut sehen….“
Jetzt lachte er richtig, nahm mich auf den Arm und trug mich mühelos die Treppe hoch Richtung Bad. Ich kuschelte mich an ihn, bis er mich vor der Tür absetzte und mir todernst in die Augen sah.
„Vergiss nicht, was du mir versprochen hast – wir erledigen das Arschloch zusammen. Ich meine es ernst!“
„Ich werde es nicht vergessen, Dieter. Und wenn er nicht zu mir kommt, werden wir ihn jagen. Zusammen.“
Das musste ich ihm einfach zusichern. Dieter hatte keine weiteren 100 Jahre mehr, verflucht – und er hatte sich seine persönliche Genugtuung bitter genug verdient. Ich würde sie ihm geben, auch wenn es vermutlich das Letzte war, was ich auf diesem Scheiß – Planeten erledigen würde. Denn einen Fehler würde nie wieder machen: Alexj zu unterschätzen. Wobei ich hoffte, dass mein Kind mir nicht die gleiche Ehre zuteilwerden ließ.
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In den nächsten Wochen passierte nichts. Trotzdem trainierte ich wie eine Verrückte – Schwertkampf ist eine Kunst und ich war ganz eindeutig eingerostet. Außerdem machte das Warten mich wahnsinnig. Nachdem mich alle darauf hingewiesen hatten, dass ich gefälligst wieder an die Front zu ziehen hatte, wollte ich das Ganze nur noch hinter mich bringen. Aber der Prinz dieser Stadt hatte erst die Befehlsgewalt, wenn der Killer hier zuschlug. Also kämpfte ich mit Schatten, um die alten Bewegungsabläufe wieder in den Kopf zu bekommen oder schoss auf Bierdosen im Wald am Stadtrand mit der uralten Walther P38, die ich mir bei einem kurzen Ausflug nach Nazideutschland zugelegt hatte. Für den Einsatz taugte sie zwar nicht mehr, aber für Zielübungen war sie gut genug. Vor der Polizei hatte ich keine Angst – das waren Menschen, die im Zweifel NICHTS GESEHEN hatten.
Jean kümmerte sich neben den gewünschten Informationen auch um ein Update meiner Bewaffnung. Die P38 verzog und vertrug keine Manstoppermunition – die einzige Variante, die Vampiren wenigstens wehtut. Außer Phosphor, versteht sich. Aber dabei wird die Waffe einfach zu verdammt heiß.
Tagsüber hatte ich eine Signalpistole für die Seefahrt dabei. Mit den Leuchtpatronen kann man immerhin Stoff anbrennen und so einen nicht ganz unerheblichen Schaden anrichten. Nicht tödlich, aber für ein „Außer Gefecht“ langt’s.
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Montagmorgen, 10:00 Uhr, ich saß in der Schule, auch wenn meine Anwesenheit rein körperlicher Natur war. Der Unterricht rauschte an mir vorbei und oft rettete mich nur die Tatsache, dass ich den Stoff schon kannte.
Michelle war immer noch total verknallt und mir daher keine Hilfe, eher war das Gegenteil der Fall. In der Pause betrachtete ich mäßig interessiert Bilder eines hübschen, geschniegelten, jungen Mannes, der ziemlich dämlich in die Kamera grinste. Das Einzige, was meine Aufmerksamkeit erregte, war seine leicht wächserne Blässe ohne jede Akne, Pickel, Rötungen, die ein mulmiges Gefühl bei mir auslöste. Die Poren wirkten zu glatt, das Gesicht zu eben…
„Blödsinn!“ tat Micki meine Bedenken ab, „das ist der Kamerablitz. Und Oliver war lange krank, er erholt sich noch… Du glaubst nicht etwa doch an Vampire, Maddy?“
„Natürlich nicht!“ schnaubte ich. Vermutlich hatte sie Recht und es gab wirklich eine harmlose Erklärung, versuchte ich mich zu beruhigen. Aber das Gefühl blieb.
„Hast du ihn eigentlich schon mal getroffen, deinen Oliver?“
Micki seufzte sehnsüchtig. „Nein…seine Mutter möchte nicht, dass er so früh nach seiner Genesung schon wieder ausgeht, vor allem, wo es jetzt so früh dunkel wird und es so feucht kalt ist. Er hofft, dass er sich abends einmal wegschleichen kann…“
Mein Misstrauen verstärkte sich.
„Abends. Soso. Wenn es besonders dunkel, feucht und kalt ist, ja?“
„Ja, mittwochs hat seine Mutter Yoga und da…ach Maddy, du willst mich doch nur ärgern! Oliver ist okay und ganz bestimmt kein Vampir! Ich bin nicht blöd weißt du?! Ich weiß schon, dass es keine Vampire gibt, okay?!?“
‚Einen Scheiß weißt du…“, dachte ich, sagte aber nichts. Stattdessen bat ich sie, mich beim ersten Treffen zumindest in der Nähe sein zu lassen. Schließlich konnten Dates auch auf ganz andere Weise aus dem Ruder laufen. Und dann war es gut, wenn jemand mit einem funktionierenden Handy da war. Widerwillig musste meine Freundin mir zustimmen.
„Aber wehe, du versaust mir mein Date, dann kriegst du richtig Ärger“, drohte sie nur halb im Scherz.
„Werd ich nicht, keine Sorge…“ Es sei denn, mein Gefühl traf zu und der Kerl war wirklich nicht ganz koscher. Dann lief meine Garantie für dieses Versprechen aber so was von aus….
Mein Smartphone meldet sich. E-Mail für mich. Von Jean. Am Tag. Irgendwas war passiert. FUCK!!!!!
Gerade als ich mich in der Schultoilette verschanzt hatte, um die Mail zu öffnen, klingelte das Telefon. MIKE?!? Jetzt war ich mir sicher: The shit just hit the fan…..
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„Mike?“ fragte ich vorsichtig.
„Maddy?!? Beweg deinen Arsch hierher. SOFORT!“
„Was ist denn passiert?“ Blöde Frage. Als ob ich das nicht wüsste.
„Der Killer hat heute in den frühen Morgenstunden eines der Mädchen erwischt. Die Polizei hat alles abgeriegelt“, knurrte Mike, „und wenn ich ‚sofort‘ sage, meine ich ‚sofort‘. Das war keine Bitte, Madeleine! Nicht labern! Antreten!“
„Jetzt bleib mal ruhig!“ fauchte ich zurück, „vor heute Nacht passiert eh nix mehr. Glaubst du nicht, dass die Herren in Blau es merkwürdig finden würden, wenn sich ein Teenager, der in die Schule gehört, in einem Puff rumtreibt? Lass die Kirche im Dorf, Herrgottnochmal! Ist ja nicht so, als wäre das nicht zu erwarten gewesen, oder?!?“
„MADDY!“ Drohend.
„Ja, brüll noch lauter!“ zischte ich, „die Kids an der Grundschule 3 Häuser weiter haben’s noch nicht gehört! Die Schulklos haben keine Schallisolierung, verdammt! Ich schlage vor, dass du dir von Bear eine runterhauen lässt, damit dein Verstand wieder anspringt, du Schnarchnase. Ich hab gezz Englisch. Mitten in der Stunde wird mir gleich ganz furchtbar schlecht, damit ich hier rauskomme. Du siehst zu, dass du mir 'nen Attest besorgst. Ich kontaktiere Jean und komme dann zur Lagebesprechung. Und krieg dich ein, ja?“
„Tut mir leid“, er klang tatsächlich zerknirscht, „es ist nur…Maddy…er hat sich Dany geholt…“
„Ach du Scheiße!“ Mikes aktuelles Lieblingsmädchen aus seiner Herde, die Kleine, die ihn hauptsächlich mit Blut versorgte. Kein Wunder, dass er schwer getroffen war. „Wer immer das war, wir kriegen ihn, Mike. Glaubst du, er hat sie absichtlich ausgesucht?“
„Keine Ahnung…“
„Es klingelt, ich muss rein und den Oscar für die beste Darstellung von Bauchschmerzen aller Zeiten gewinnen. Wir sehen uns. Halt dich tapfer!“
„Hmhm…bis gleich!“
Ich legte auf, checkte mein Spiegelbild, entfernte mein Make-up, um für die kommende Show noch bleicher als gewöhnlich auszusehen und begab mich in den Unterricht. Mickis seltsamen Oliver hatte ich durch die neuen Entwicklungen komplett vergessen.
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Etwa 30 Minuten später war ich auf dem Weg zu Mike.
Ob es für einen Oscar reichern würde, weiß ich zwar nicht, aber mein Auftritt war auf jeden Fall bühnenreif – zumal Vampire nicht krank werden und ich ehrlich gesagt schon vergessen hatte, wie das ist. Das einzige, was ich simulieren kann, ist Übelkeit und vielleicht noch Kopfschmerzen, wobei da immer das Risiko besteht, dass mir ein netter Mensch eine Tablette geben will.
Ersteres ist einfacher, da auch meiner Rasse durchaus schlecht werden kann, sei es, dass wir das Blut des Spenders nicht vertragen (durch beigemischten Alkohol oder Drogen oder durch eine generelle Unverträglichkeit einer Blutgruppe oder des Spendertyps – ja, es gibt tatsächlich arme Schweine unter uns, die eine Art Allergie vererbt kriegen), durch zu hektisches, zu schnelles Trinken (typischer Anfängerfehler), durch menschliche Nahrung (Deppenfehler von Erzeugern, die ihre Kinder nicht richtig in unsere Welt einführen) oder schlicht und ergreifend stressbedingt. Wie bei Menschen auch. Wir waren ja schließlich mal welche und dass wir strenggenommen tot sind beinhaltet nicht die Abwesenheit eines durchaus funktionsfähigen und überlastenbaren Nervensystems.
Ja, ja, ich weiß – Vampiren in Büchern passiert sowas nicht. Ist ja auch extrem unsexy, erstmal vor lauter Panik ‘nen Liter Blut auszukotzen, wenn man doch die Welt oder die holde Jungfrau oder sonstwas retten soll und die einzigen Blutflecke auf der Kleidung die des Feindes sein sollten. Außerdem ist es existentiell wichtig, dass die Angebetete im Anschluss das Sixpack bewundern kann, weil außer ein paar Kratzern nichts passiert ist. Vermutlich hat der Gegener sich totgelacht.
Ich jedenfalls habe nach meinem ersten Kampf als Vampirjägerin zugestanden wie ein Schwein, war heftig verletzt und habe das erste Blut, das man mir zur schnelleren Heilung verpasst hat, direkt als Blumendünger zur Verfügung gestellt. Soviel zum Heldentum und der Unverwundbarkeit von Vampiren in der Realität.
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Bei Mike angekommen öffnete ich erstmal die E-Mail von Jean. Er hatte mir sämtlich der gewünschten Informationen geschickt, inklusive Bildern. Was habe ich euch gerade über Magennerven erzählt? Genau – ich war verdammt froh, nichts getrunken zu haben. Auch wenn mir der Anblick von Leichen nicht fremd war, daran gewöhnt hatte ich mich nie. Und an eine dermaßene Sauerei wie die hier schon mal dreimal nicht.
Vor allem die Fotos, die unsere Cleaner geschossen hatten, waren grausam. Sie zeigten keine Morde, sondern Massaker. Die Opfer hatten nicht nur keinen Kehlkopf und keinerlei Blut mehr, ihre Körper waren zudem mit Klauenspuren übersät. Laut Bericht waren die Verletzungen nicht post mortem zugefügt worden. OH GOTT! Ich musste schwer schlucken. Jetzt war mit auch klar, warum Mike so ausgerastet war. Wenn er Dany gefunden hatte….ich wollte gar nicht drüber nachdenken.
Widerwillig lud ich Bilder runter und druckte sie an Mikes Drucker aus. Dann inspizierte ich gründlich mit einer Lupe die Wundränder der Klauenspuren. Sie waren glatt, erinnerten eher an Messerschnitte als an Tierkrallen. Nicht einmal Werwölfe schlugen so sauber. Das hatte ich befürchtet. Damit waren alle Zweifel und alle Hoffnungen dahin. Es war ein Vampir.
Ich fluchte lange, mehrsprachig und so schmutzig, dass ich das hier nicht wiederholen möchte.
Was natürlich Mike auf den Plan rief. Er sah schrecklich aus. Wortlos stand ich auf, legt meine Arme um seine Taille – vor BIG Mike bin nicht nur klein, sondern regelrecht winzig – und drückte ihn. Er bückte sich zu mir und hob mich hoch, bis ich ihn richtig in den Arm nehmen konnte. Viel besser!
„Tut mir echt leid, Mann“, sagte ich leise.
„Schon okay, ich komm‘ klar.“
„Klingt aber nicht danach.“
Er zuckte die Schultern. „Muss. – Sind das die Unterlagen von Jean?“
„Jepp.“
„Schon was rausgefunden?“
„War gerade bei der Auswertung.“
„Das hab‘ ich gehört, so schön, wie du fluchst…“ Er grinste schief. „Lass mal sehen!“
Ohne mich loszulassen, setzte er sich auf den Bürostuhl und mich auf sein Knie. Als er sich die Fotos ansah, hielt er mich so fest, dass ich froh war, nicht atmen zu müssen.
„Mike?“
„Hm?“
„Du erdrückst mich.“
„Tschuldigung…“ Er ließ mich los, so dass ich von seinem Schoß rutschen und gegen seinen Arm lehnen konnte. Er musste nichts sagen. Wenn man so lange befreundet ist wie wir, weiß man haargenau, wie der andere tickt.
Die nächsten Stunden analysierten wir Bilder und Berichte, trugen Tatorte in Landkarten ein, prüften, wo sich die „üblichen Verdächtigen“ gerade aufhielten, wobei wir feststellten, das wir tatsächlich mehr schräge Subjekte kannten als die Cleaner, die immerhin direkt der Justiz unterstellt waren. Vermutlich, weil wir auch mit den Illegalen sprachen.
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Um zu verstehen, was „Illegale“ sind, muss man ein bisschen über die Organisation der Vampirgemeinde der Stadt wissen. Wie alle Städte hat auch diese einen Prinzen als Oberhaupt, in diesem Fall Prinz Wilhelm von Anstetten. Ihm direkt unterstellt ist der Rat, der sich aus den jeweiligen Anführern der in der Stadt vertretenen Vampirclans zusammensetzt. Kommt ein Vampir neu in die Stadt, stellt er sich in aller Regel dem Prinzen und seinem Clanführer vor und kriegt die „Hausordnung“ verpasst. Soweit, so normal. Allerdings gab es eine Besonderheit, die dieser spezielle Prinz eingeführt hatte: Da diese Stadt im Vergleich zu anderen recht klein und in eher ländlicher Umgebung verortet ist, ist die Anzahl potentieller Blutspender begrenzt, vor allem nach der Tourismus – Saison. Wohlhabende Vampire haben ihre eigenen Spender, eine sogenannte Herde - so wie Mike seine Mädchen - aber Fußvolk wie ich braucht eine Sicherheit. Daher erhält ein dauerhaft hier wohnender Vampir eine monatliche Zuteilung an Blutkonserven, die ausreicht, um den Grundbedarf zu decken. Sofern er sich vorgestellt hat.
Das soll, zumindest theoretisch, das unkontrollierte Wachstum der Vampirgemeinde eindämmen und verhindern, dass unsere Tarnung auffliegt.
Wie alle guten Pläne von Politikern hat aber auch dieser hier Schwächen. Das fängt schon damit an, dass nicht jeder darauf erpicht ist, sich irgendwo vorzustellen. Dafür muss er nicht einmal böse Absichten hegen, es gibt auch bei uns Strömungen, die Kontrolle in jeder Form ablehnen. Außerdem illegal erzeugte Vampirkinder, Vampire, die aus unterschiedlichen Gründen fliehen und/oder untertauchen müssen, Ghoule, die keinen Herren mehr haben, Spione, Überläufer, etc.pp.
Diese Gruppen fallen durch Prinz Wilhelms Raster. Sie leben im Untergrund, am Stadtrand an oder in der neutralen Zone zwischen Vampir- und Werwolfgebiet. Und sie haben alle eins gemeinsam: sie brauchen Blut, ohne aufzufallen.
Und das macht Konserven, die man als „Legaler“ erübrigen kann, zu einer wertvollen Handelsware auf dem Schwarzmarkt. Wer Blut bietet, bekommt alles. Papiere zum Beispiel. Ich bin mir sicher, dass Jean in dieser Szene bekannt ist wie ein bunter Hund. Cleaner dagegen sind verständlicherweise extrem unbeliebt. Wenn sich der Gesuchte bei den „Illegalen“ versteckte, würden sie ihn nie erwischen.
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Meine Suggestion lautete dann auch, dort mit Hilfe aller unserer Kontakte nach dem Täter zu suchen. Die Legalen sollte sich Prinz Wilhelms Mannschaft vornehmen, ich würde die Infos ohnehin bekommen, wenn die Stadtoberen zur Jagd bliesen. Warum sollten wir ausgerechnet denen die Arbeit abnehmen? Zumal wir auch noch das Tagesgeschäft inklusive des Schutzes der Mädchen erledigen mussten.
Mike dachte eine Weile über meinen Vorschlag nach, dann nickte er. „Ich werde mich zusätzlich offiziell beim Rat beschweren“, fügte er hinzu, „in einer Stadt, die sich den Schutz der Menschen auf die Fahnen schreibt, darf so etwas wie heute einfach nicht vorkommen. Die Zeichen, dass der Mörder in unsere Richtung zieht, waren deutlich vorhanden, das geht aus den Unterlagen eindeutig hervor. Wie tief schlafen die da oben eigentlich?“
„So sehr ich deine Wut verstehe, Mike – es sind Politiker. Die kümmern sich erst um Probleme, wenn sie drüber fallen und sich dabei fast den Hals brechen. Das war schon immer so. Wenn du bei denen was erreichen willst, mach ihnen klar, dass der Kerl unsere Tarnung ernsthaft gefährdet. Die Polizei wird sich nicht ewig hinhalten lassen, nicht mit der „Großer Hund“ – Geschichte. Die brauchen nur einen hellen Kopf in der Pathologie und die Story fliegt uns um die Ohren. Jeder Depp kann sehen, dass das Schnitte sind, und was die Bisse angeht: War das ein Rottweiler mit der Kiefergröße eines Dackels, der die Dritten Zähne seines Herrchens trägt, oder wie? Das ganze Szenario ist so dünn, da hat jede Reality TV – Serie mehr Substanz!“
Zu meiner Freude lachte Mike. „Da könntest du Recht haben. Umso besser, dass der Pathologe mit dem hellen Kopf einer von uns ist. Ein bisschen Zeit bleibt uns also noch, es sei denn, der Feind macht den nächsten Zug.“
„Okay, gut zu wissen. Ich schätze, die Hoffnung, dass der Killer weiterzeiht, können wir direkt vergessen, hm? Dass er es einmal unbemerkt durch den Werwolfgürtel geschafft hat, heißt nicht, dass er das ein zweites Mal riskiert – vor allem nicht, wo er jetzt mit offenem Visier antreten muss. Prinz Wilhelm wird den Wölfen die Hölle heißmachen, wenn sie ihn laufen lassen, nachdem er hier die Sicherheit gefährdet hat.“
„Das wird er“, nickte Mike, „sofern ich eine stichhaltige Argumentation hinbekomme. Lass uns arbeiten, Maddy.“
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Die nächsten 2 Stunden malochten wir konsequent durch. Da ich wusste, wie sehr Mike die Bilder und Berichte belasteten, kümmerte ich mich um die Beweisführung, während er seine Kontakte durchtelefonierte oder seine Leute auf sie ansetzte, wenn sie kein Telefon zu Verfügung hatten.
Langsam legte sich mein Ekel, die alte Professionalität, gepaart mit einem gewissen Jagdfieber, ergriff wieder Besitz von mir.
Während ich die Bilder chronologisch sortierte, fiel mir auf, dass auf dem letzten, dem von Dany, etwas anders war: Die Leiche war, im Gegensatz zu allen anderen, die der Mörder mehr oder weniger achtlos weggeworfen zu haben schien, sorgfältig, beinahe malerisch, drapiert worden – sie hatte sogar Blumen im Haar, Rosen, blutrote Baccara – Rosen…
Und dann fiel mit ein, warum mir dieses Bild einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Wie war das doch gleich, damals: „Er hat sie geschändet, ihr die Kehle rausgerissen und die Leiche formschön auf dem Bett drapiert….“ Plus: Es war bei Mikes Lieblingsmädchen zum ersten Mal aufgetreten. In der Stadt, in der ich lebte. Das war kein Zufall, nie im Leben. Oh, SCHEIßE!!!!!!
Schweren Herzens wandte ich mich Mike zu. Was jetzt kam, fand ich schon im Vorfeld zum Weinen.
„Mike? Darf ich dich was fragen?“
Er drehte sich zu mir um und seufzte, kannte er mich doch zu gut, um nicht gewarnt zu sein.
„Was denn?“
„Hast du Dany gefunden?“
Er schluckte. „Ja.“
„Kannst du mir zeigen, wo?“
„Warum willst du das wissen?“ Abweisend, fast kalt. Warum musste eigentlich immer ich in andere Leute Wunden rumstochern?
„Weil der Täter sie anders abgelegt hat als die anderen Opfer. Vielleicht hat er uns noch weitere Hinweise hinterlassen, die man auf den ersten Blick nicht sieht?“
„Warum solltest du etwas finden, was die Polizei und die Cleaner nicht gefunden haben? Außerdem ist da so ziemlich jeder durchgetrampelt. Da ist nichts mehr!“
‚Du weißt ja auch nicht, wonach du suchen musst...‘, dachte ich traurig.
„Ich würde es trotzdem gerne sehen…und Abschied nehmen, ich mochte sie auch, weißt du…“ Oh Maddy, du Heuchlerin!
„Na gut, ich zeig‘s dir.“ Mike erhob sich schwerfällig. „Komm!“
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Langsam folgte ich meinem besten Freund nach draußen auf den Bahndamm. Oh bitte, Gott, mach, dass ich mich irre…mach, dass ich nichts finde…mach, dass ich NICHT SCHULD bin….
Aber Gott ließ mich hängen. Mal wieder.
In einer Kuhle nahe der Stelle, an der die Leiche gelegen hatte, fand ich unter einem Grasbüschel eine einzelne, schwarze Perle. Daneben hatte jemand etwas in die Erde geschrieben, nur ein Wort: „Putain!“ Nutte....
Wie betäubt hob ich den kleinen Gegenstand auf, drehte ihn zwischen den Fingern, erinnerte mich daran, wie er mir die Kette um den Hals gelegt hatte – und wie er sie Jahre später abgerissen hatte, wobei die Perlen auf den Boden geprallt waren. Sie hatten winzige Dellen durch den Aufschlag, Dellen, die ich jetzt spürte wie Krater. Ich hatte keine Ahnung, dass er eine von ihnen behalten hatte....
Ich versuchte, das Zittern meiner Hände unter Kontrolle zu bekommen, bevor Mike etwas merkte. ‚Es ist noch nicht bewiesen‘, redete ich mir ein, ‚noch ist nichts bewiesen…‘ Aber mein Herz wusste es besser. Entweder hatte Alexj das hier selbst angerichtet oder er hatte es veranlasst. Scheint, als hätte Dieter mit seiner Prognose meiner Auffindbarkeit Recht behalten.
Wie sollte ich das bloß Mike beibringen?!?
Erstmal gar nicht, beschloss ich. Nicht, bevor ich es beweisen konnte.
Die kleine, böse Stimme in meinem Hinterkopf, die mich fragte, wie viele Beweise ich eigentlich bräuchte, ignorierte ich. Wenn ich sowieso auf der Jagd war, war es doch egal, wer der Gegner war, redete ich mir ein, ändern konnte ich eh nichts daran und überhaupt gefährdete ich diesmal nur mich. ‚Und Dieter…‘, flüsterte die Stimme.
Ja, ja und den Rest der Welt und überhaupt. Entschlossen steckte ich die Perle in die Tasche, bevor ich mein Smartphone zückte und ein paar Aufnahmen von der Schrift machte.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, ich zuckte zusammen, fuhr herum – und stupste mit der Nase gegen Mikes Brust. Der Kerl war aber auch groß!
„Was gefunden?“ Und misstrauisch. Ich hatte ‚misstrauisch‘ vergessen. Ich zeigte ihm die Stelle mit der Kuhle.
„Ja, und? Der Kerl kann halt Französisch. Können wir doch auch.“ Er war unbeeindruckt, bis ich fragte: „Trug Dany gestern eine echte Perlenkette?“
„Nein. Sie fand die Dinger altmodisch. Warum?“
„Nur so…“
„Maddy?!!“ Scheiße, ich konnte Mike einfach nichts vormachen.
Widerwillig zeigte ich ihm meinen Fund. Schwarz und glänzend lag die verräterische Kugel in meiner Handfläche.
„Nein, so etwas trug Dany nicht. Und die lag hier?“
„Unter dem Grasbüschel..“
„Wie konnten unsere Leute die übersehen?!?“
‚Weil sie vermutlich noch nicht da war‘, dachte ich, bevor ich laut ein unverbindliches „Keine Ahnung“ von mir gab.
„Du hast sie angefasst“, knurrte Mike, „ist die Frage, ob sie jetzt noch als Beweis tauglich ist.“
„Vampire hinterlassen keine Fingerabdrücke“, fauchte ich zurück, „dafür braucht man nämlich Hautfette. Vergessen?“
„Nein. Aber aus der Lage…“
„…kann man gar nichts schließen. Ich weiß, dass das hier schwer für dich ist, aber reiß dich zusammen, verdammt! Ich setze Jean darauf an. Schwarze Perlen sind selten. Die Herkunft sollte feststellbar sein, zumindest für ihn.“
„HMMMMM!“ Mike war ganz eindeutig nicht zufrieden, hielt aber den Mund.
„Außerdem kann er herausfinden, ob bei den anderen Mädchen etwas Ähnliches gefunden wurde. In den Berichten steht zwar nichts, aber….“
Wobei ich das bezweifelte. Diese Perle war für mich bestimmt, nur für mich. Genau wie dieser Mord. Der Rest war Tarnung. Da war ich mir sicher. Alexj wusste, wie ich ermittelte, hatte es quasi am eigenen Leib erfahren. Und das hier war der Erste, den man als „meinen Tatort“ bezeichnen konnte. Also hatte er ihn nach Wunsch präpariert.
Plus: Im Gegnsatz zu den anderen Opfer kannte Dany Vampire durch ihren engen Kontakt mit Mike. Sie wäre mit einem mitgegangen, wenn er ihr glaubhaft versichert hätte, Mike würde es wünschen. Sie war so verflucht jung und naiv gewesen…selbst, wenn ihr Mörder verunstaltet gewesen wäre, hätte sie keinen Verdacht geschöpft…verletzt durch die Klinge einer geweihten Waffe zum Beispiel...er hätte es selbst tun können. Dany hätte bis zum Ende keinerlei Verdacht geschöpft.
Was hieß überhaupt „hätte“? Genau.
„Mike…weißt du, wohin sie Dany gebracht haben?“
„In die Pathologie. Wohin sonst. Unser Mann muss ja noch die Autopsie erledigen, bevor ich sie beerdigen darf.“
„Dann weiß ich ja, wo ich heute Abend einbrechen werde…“
„Maddy, WAS ZUM TEUFEL WILLST DU DA?!“
„Etwas überprüfen…darf ich mir dein Motorrad leihen? Das Auto ist zu auffällig...“
„NEIN!!!“
Mike war mit seinen Nerven am Ende. Und mit seiner Geduld. Ich konnte sehen, wie die Fassade seiner Tapferkeit langsam zerfiel.
Als er in die Knie ging und beide Hände vor das Gesicht schlug, legte ich schweigend meine Arme um seinen Hals und hielt ihn fest, so gut ich konnte. Ich versuchte gar nicht erst, meinen Freund zu trösten. Manche Verluste sind zu groß für ein bisschen Streicheln und ein paar freundliche Worte. Dieser gehörte dazu.
Und es war meine Schuld. Schon wieder.
&&&
Zurück in Mikes Etablissement schickte ich Jean eine E-Mail mit den neusten Entwicklungen, sowie Bilder von der Schrift und der Perle. Seine Antwort kam 2 Minuten später:
„Süße,
ich brauche die Perle. Bitte geh dahin, wo wir uns vor 2 Jahren wegen deiner Papiere getroffen haben. Da ist ein loser Ziegel in der Mauer. Hinterleg sie dort. Danke.
Love,
Jean
P.S. Eine schwarze Perle... du glaubst, dass ER es ist, oder? Sei vorsichtig. Jean“
Ich seufzte. Selbst Jean, der die Geschichte nur aus der Distanz und vom Hörensagen kannte, vermutete Alexj hinter dem Mord. Ganz toll.
„Hey, Jean,
ja, genau das glaube ich. Und es kotzt mich an. Können wir uns sehen?
Danke,
Maddy“
Wie erwartet kam keine Antwort. So wie jedes Mal würde er sich einfach materialisieren, wenn er ein Treffen für nötig hielt – da machte ich mir überhaupt keine Gedanken.
Ich hoffte sehr, dass er mein Anliegen als wichtig empfand, denn ich musste in die Pathologie und das, ohne die Tür einzutreten und die Alarmanlage aus der Wand zu reißen. Im Gegensatz zu mir ist Jean ein Einbruchsspeziallist – das Schloss, das er nicht aufbekommt, gibt es nicht. Aber er ist eben auch speziell…
&&&
„Madeleine? Kann ich eine ehrliche Antwort von dir haben?“
Mike sah nach einer ausführlichen Dusche wieder etwas frischer aus und klang auch lebhafter – was mich sehr freute, auch wenn ich jetzt Ärger bekommen würde.
„Das kommt auf die Frage an…“
Er verdrehte die Augen, zögerte.
„Jetzt frag schon!“
„Okay – was weißt du, was ich nicht weiß?“
„Wissen? Ich weiß gar nichts. Aber vermuten tue ich eine Menge, wenn du das meinst.“
„Hättest du dann vielleicht die Güte, mich an deinen Vermutungen teilhaben zu lassen?“
Jetzt zögerte ich. „Das ist alles noch sehr vage…“
„Maddy, Kleines…“ Oha. Es wurde ernst. „Wenn du eine Ahnung hast, wer Dany ermordet hat, dann sag es mir. Bitte.“
„Wie du meinst. Aber reiß mir nicht den Kopf ab, ja?“
„Warum sollte ich?“
„Weil…Mike, erinnerst du dich an Graf Orlow?“
„Den kleiner Gauner aus Frankreich? Was hat der damit zu tun?“
„Genau der. Allerdings ist der Fall nicht ganz so einfach, wie du glaubst….“
„Nicht ganz so einfach? Der Kerl ist tot…oder…Maddy? Was hast du angestellt?“
Tja, und so kam es, dass ich meine Geschichte innerhalb kürzester Zeit ein zweites Mal erzählen musste. Leichter wurde es dadurch nicht, dass kann ich euch sagen.
„…und ich denke, dass die Perle, die ich gefunden habe, von der Kette stammt, die er mir damals abgerissen hat. Jean sollte das herausfinden können. Und wenn das so ist, werde ich das Arsch finden und töten. Denn dann habe ich einen aktuellen Grund und kann ihn melden. Feierabend.“
Mike starrte mich einen Moment fassungslos und ungläubig an, dann holte er aus und haute mir Eine rein, die sich gewaschen hatte. Ich wich nicht aus, verdient ist verdient.
„AU!!“ Meine Wange brannte, mein Ohr und mein Auge schwollen an, ich spuckte einen Zahn aus. Jochbeinbruch. Mike machte keine halben Sachen. Wie gut, dass es nicht Nacht war.
„Und wann genau wollten Sie mir das sagen, junge Dame?“
So, wie er vor meinem Stuhl stand, fühlte ich mich wie eine verängstigte Maus vor einem sehr wütenden Bären. Er würde mich nicht fressen – aber durchgehen lassen würde er mir das auch nicht. Anders als Jean hatte er keine Ahnung gehabt, was nach Paris passiert war – und Jean wusste auch nur davon, weil einfach alles in Erfahrung bringen kann, was ihn interessiert.
„Eigentlich gar nicht….ich bin nicht stolz drauf, wenn du das meinst. Und ich hätte mir nie träumen lassen, dass er mich über meine Freunde angeht. Mich direkt, ja, aber euch?!? Warum?!?“
„Um dich zu isolieren.“ Manchmal war Mike wirklich klüger als er aussah. „Allein hast du schon einmal verloren, zusammen sind wir eine Macht. Das waren wir schon in Paris. Oder glaubst du ernsthaft, dass dieser kleine Hosenscheißer sich mit mir anlegen würde? Eher nicht.“
„Unterschätz Alexj nicht, Mike“, bat ich leise, „er war schon in England eine Granate, und ich gehe davon aus, dass er seine Macht noch ausgebaut hat.“
Mike schnaubte.
„Mag sein – aber eine feige Ratte ist eine feige Ratte, egal, was sie drauf hat.“
„So hab ich auch mal gedacht. Hat hervorragend funktioniert.“
Mike seufzte. „Glaubst du, er schlägt nochmal zu?“
„Eher nicht. Dieser Mord sollte dich treffen und mich provozieren. Ich schätze, er will mit uns spielen. Es würde keinen Sinn machen, wenn sich jetzt an anderen Mädchen vergreifen würde. Mal ganz abgesehen davon, dass keine von ihnen ausgerechnet Alexj folgen würde.“
„Warum nicht? War Dany dümmer als die anderen oder wie?“
„Jetzt wird nicht gleich wieder sauer, ja? Sie war nicht dümmer, sie war nur die Einzige, die an dem Abend draußen war und engen Kontakt mit Vampiren hatte. Der Rest deiner Herde war im Haus, gut bewacht von Bear und Berserk – und mit euch dreien legt man sich nicht an, da hast du Recht. Bevor du fragst – ich hab vorhin Mira gefragt, wo wer war.“
„Und? Ein Vampir deines Clans kann jeden Menschen becircen, das weißt du genau. Oder er könnte aus den Schatten treten – ist ja nicht so, dass deine Kinder nicht deine Fähigkeiten haben, oder sehe ich das falsch?“
„Theoretisch schon. Praktisch ist Alexj entstellt. Dass George gefallen ist, heißt nicht, dass er seinen Gegner nicht getroffen hat. Du weißt, was geweihte Klingen bei einem Vampir anrichten, oder?“
„Hältst du mich für blöd? Natürlich weiß ich das. Worauf darf ich achten, um nicht den Falschen zu erledigen?“
„Er hat einen Volltreffer im Gesicht kassiert. Ich bezweifele, dass er jemals ohne eine Maske vor die die Tür geht, geschweige denn, dass er auf dem rechten Auge noch irgendetwas sieht. Wobei er auch durch gewisse Fähigkeiten sein Aussehen tarnen kann. Dany war ein liebes kleines Ding – wenn er so mit seinem blutigen Gesicht vor ihr gestanden hat, war sie bestimmt zu einer Spende bereit…“
Mal ganz abgesehen davon richteten geweihte Waffen noch ganz andere Schäden als nicht heilbare Wunden an. Vor allem, wenn man so unmenschlich war wie Alexj. Aber das wollte ich Mike nicht auf die Nase binden, das war ein Berufsgeheimnis der Jäger. Und die gingen andere Vampire nichts an.
„Du meinst, er hat sie getötet, weil sie ihm helfen wollte? Weil sie…LIEB WAR?“
Ich nickte. „Das wäre genau sein Schema… und sie sah mir ähnlich… dunkle, lange Haare, schmale Gestalt, klein... nur die Augenfarbe hat nicht gepasst, aber irgendwas ist ja immer.“
Mike fluchte, lang und dreckig. „Wenn ich den in die Finger kriege….!!!!!!“
„Stell dich hinten an“, stellte ich nüchtern fest, „Dieter und ich und vermutlich so um 10000000 andere Leute wollen auch.“
„Du hältst ja richtig viel von deinem eigenen Kind.“
„Was soll ich denn sonst sagen: Alles gut?!? Wird wieder?!? Er hat sich bestimmt nach England bis auf diese eine Gelegenheit immer regelkonform verhalten?!? Wohl kaum!!!“
„Hast ja Recht. Was hast du jetzt vor?“
„Ich sorge dafür, dass Jean die Perle bekommt. Dann besorge ich mir einen fahrbaren Untersatz, der nicht mit mir in Verbindung gebracht wird, bei Ernie und breche in die Pathologie ein, um noch ein paar Beweise zu sichern, die vermutlich nur ich finde, weil nur ich noch weiß, wie mein Kind tötet. Und dann fahre ich heim und kriege in aller Ruhe einen Nervenzusammenbruch, bis ich morgen wieder zur Schule muss. Alles klar?“
„Ja – bis auf eine Kleinigkeit: Ich fahre!“
„Und wenn er uns beobachtet?“
„Das will ich doch stark hoffen. Wie gesagt, dieser Lackaffe macht mir keine Angst. Er kann ruhig sehen, dass er uns SO nicht auseinanderkriegt. Wenn er was von dir will, muss er auch an mir vorbei. Wir trinken jetzt noch was und setzen uns bei Einbruch der Dunkelheit in Bewegung.“ Er warf mir einen bösen Blick zu. „Widersprich mir nicht!“
Hatte ich nicht vor. Ich war ja froh, dass er mitkam. Denn im Gegensatz zu Mike hatte ich Angst. Ich wusste, wozu Alexj fähig war. Das hier war erst der Anfang, da war ich ganz sicher.
&&&
Am Abend waren wir startklar. Bis dahin hatte ich zwei umfangreiche Dossiers erstellt – eins über die bisherigen Opfer des Vampirkillers, eins über das letzte Opfer. Mike erklärte ich, dass ich zunächst einmal von zwei Tätern ausging. Inwieweit die Taten zusammenhingen, konnte ich noch nicht sagen.
„Aber die Wunden und die Zielgruppe sind die gleichen“, widersprach mir mein Freund vehement.
„Das schon – die Frage ist nur, wer hier ein Trittbrettfahrer von wem ist. Davon hängt ab, welchen von beiden ich der Obrigkeit präsentiere. Falls ich mit meiner Annahme Recht habe und Alexj nur DIESES EINE MAL zugeschlagen hat, werde ich ganz brav den anderen Vampir jagen und seinen Kopf auf ‘nem Silbertablett bei Prinz Wilhelm höchstpersönlich abliefern. Dann werden wir mein Kind gemeinsam und ohne Aufsehen erledigen. Mein Scheißdasein geht seine Majestät einen Scheißdreck an. Schlimm genug, dass der jetzt vermutlich weiß, wer und vor allem WAS ich bin. Alles andere erfährt er nur, wenn Alexj allein handelt oder der Haupttäter ist.“
„Du hast du ihm nichts gesagt?“
„Bin ich lebensmüde? Prinz Wilhelm steht nicht auf die Inquisition, das ist kein so großes Geheimnis. Da hab ich als letzte Jägerin Mitteleuropas so richtig große Chancen, dass ihn meine Anwesenheit erfreut.“
„Wenn du das weißt, was zum Teufel treibst du dann ausgerechnet in dieser Stadt?“
„Du hast mir gefehlt, du Trottel. Außerdem hatte ich natürlich gehofft, dass meine Vergangenheit mich nicht ausgerechnet hier sucht.“
„Ich geb dir gleich Trottel“, brummte Mike, aber ich konnte sehen, dass er sich geschmeichelt fühlte, „wobei: kann es sein, dass dein Kind diesen anderen Typen vorgeschickt hat, um dich zu suchen?“
„Zuzutrauen wär’s ihm. Würde auch passen, wenn man sich unsere Tatortkarte so anschaut. Dann haben wir eine Gruppe von Bekloppten. Riesig.“
„Zwei sind keine Gruppe…es sei denn…“
„…dass seine Anhängerschaft mit einem Vampir nicht erschöpft ist. Genau. Mike, dir muss ganz dringend mal was klar werden: Mein Sohn ist in Manipulator vom Allerfeinsten und das nutzt er. Okay… du kennst mich. Du weißt, dass ich sowohl Menschen als auch Ghoule und Vampire relativ mühelos in meinen Bann ziehen kann, wenn ich das will. Und jetzt stell dir vor, ich wäre machtgeil und rachsüchtig….DANN hast du Alexj.“
Mike zuckte die Schultern. „Nett. Aber du darfst eins nicht vergessen: Ich bin derjenige, der dich immer unterkriegt.“
„Im Gegensatz zu meinem Kind pflege ich auch nicht meine Artgenossen zu fressen, um stärker zu werden. Wollen wir dann los?“
Er nickte.
&&&
Fünf Minuten später saß ich auf dem Sozius von Mikes Harley auf dem Weg zum Treffen mit Jean. Wenn der denn kam. Da wir als Vampire bei unseren Reflexen grundsätzlich weder Helme tragen noch unsere Maschinen, egal wie schwer, drosseln, waren wir ziemlich schnell vor Ort. Ja, das ist verboten…aber wer Menschen manipulieren kann, kriegt keine Punkte in Flensburg.
Ich genoss die Fahrt. Es war lange her, dass ich selber eine Maschine besessen hatte – die letzte war eine Kreidler Florett in den 60gern gewesen. Schülerinnen fahren kein Motorrad, allenfalls eine Vespa. Booyah.
Seitdem war ich darauf angewiesen, dass Mike mich fahren ließ – was er nur in absoluten Ausnahmefällen tat. War aber auch logisch. Ich fuhr wie der letzte Henker und er hing an seiner Harley – keine guten Voraussetzungen, wenn man das Gefährt borgen möchte.
Als ich mich jetzt vom Sozius schwang, nahm ich mir fest vor, mir wieder ein eigenes Motorrad zu besorgen, wenn ich endlich den ewigen Kreis aus Schule – Abi – Schule unterbrechen durfte. Eine Rennmaschine wäre geil – eine Kawasaki Ninja ZX-10 R mit 295 km/h – 334 km/h Spitze zum Beispiel…ja, ich weiß. Aber man wird jawohl noch träumen dürfen.
&&&
Jeans toter Briefkasten war, wie könnte es auch anders sein, ein loser Stein in einer Friedhofsmauer. Unser Dramatiker liebte so „vampirmäßige“ Orte, vorzugsweise mit Kilotonnen Efeu und Hektolitern Nebel nebst wolkenverhangenem Vollmond. Bedauerlicherweise war diese Mauer frisch gesäubert, der Himmel heute sternklar und der Mond fehlte ganz. Kann halt nicht alles klappen. Von Jean war weit und breit nichts zu sehen.
Mike wartete geduldig, während ich den losen Ziegel suchte, um die Perle zu hinterlegen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie mein Freund sich plötzlich anspannte, langsam abstieg und die Harley aufbockte. Automatisch glitt meine freie Hand in meine Tasche, legte sich um den Griff der Walther und entsicherte sie, während ich weiter die Mauer abtastete. Ich kann auch mit links treffen, wenn es sein muss.
Als sich eine Gestalt aus den Schatten löste, riss ich die Waffe hoch und legte an, während Mike mit einem deutlichen Klicken seine Desert Eagle entsicherte.
Der Neuankömmling hob beide Arme und lachte. „Wow, wow, wow, wer wird denn gleich in Gegend rumballern? Seid ihr nervös oder was?“
Erleichtert ließ ich die Pistole sinken. „Mann, Jean, musst du uns so erschrecken? Wir haben einen Killer in der Stadt, vergessen?!?“
„Wie könnte ich? Aber eure Gesichter waren es wert…so unauffällig, wie ihr euch bewaffnet habt…“ Er lachte wieder.
„Lass den Scheiß, Jean“, fauchte Mike, „wir haben Wichtigeres zu tun als dich zu bespaßen, klar?!?“
„Schon gut, schon gut….“ Jean lächelte sein entwaffnendes Lächeln. Mit zwei schnellen Schritten war er bei mir und umarmte mich. „Mensch Süße, schön, dich zu sehen.“ Ohne mich loszulassen, drehte er den Kopf, nickte Mike zu. „Hey, Bär.“
„Ich bin nicht dein Bär!“ Mike war sichtlich geladen.
Entschlossen wand ich mich aus Jeans Klammergriff und positionierte mich zwischen den Beiden. „Auch schön, dich mal wieder zu Gesicht zu bekommen, Jean. Ich dachte schon, ich krieg dich nie aus deinem Kellerverlies.“
„Für dich tu ich doch fast alles, meine Süße.“
Okay, das reichte jetzt mit dem Süßholz.
„Auch in die Pathologie einbrechen?“ erkundigte ich mich nüchtern, was ihn schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurückholte.
„Äääähhhh, was? Was willst du denn da? Du bekommst den Bericht doch eh….“
„Ich muss etwas prüfen, das unser Mann, egal wie gut, vermutlich nicht finden wird.“
„Weil du glaubst, dass der Killer dein Kind ist, ja?“
„Ja. Auch. Aber das muss außer uns erstmal keiner wissen, klar? Bislang ist es nur ein Verdacht, mehr nicht. Wir haben da ein paar Theorien, Mike und ich…“
„MIKE und du? Seit wann kann der Bär denken…“
Mikes wütendes Knurren erfüllte die Luft, bevor er sich unmittelbar vor Jean materialisierte, um ihm Eine zu scheuern. Der wich mit einer anmutigen, beinahe tänzerischen Bewegung aus. „Du bist zu langsam, Dicker, sieh’s ein...und zu grobmotorisch…“
Wieder wich er einem Schlag aus und triezte Mike weiter mit seinem Lachen. Ich gab es auf, zog mich aus der Arena zurück und überließ die Männer ihren Machospielchen. Offenbar mussten sie jedes Mal, wenn sie sich trafen, ihre Rangordnung neu auszocken. Kerle halt.
&&&
Während die Beiden einander beharkten, lehnte ich mich entspannt an die Harley und zündete mir eine Zigarette an. Ja, ich bin ein mieses Vorbild – aber die entsetzten Gesichter der Erwachsenen waren es immer wieder wert. Sie wussten ja nicht, dass mir das nichts ausmachte.
Nach ca. 5 Minuten war meine Zigarette am Ende – und meine Geduld auch. Ich trat die Kippe mit dem Absatz aus, steckte sie ein und trat zwischen die Parteien.
„Hey, ihr Zwei, seid ihr bald fertig oder wollt ihr euch die ganze Nacht kebbeln? Sollte Letzteres der Fall sein, hätte ich gerne die Schlüssel. Ich hab zu tun, wisst ihr… da läuft ein Killer frei rum und ich wüsste gerne, worauf ich mich einlasse, bevor Seine Majestät Prinz Wilhelm mir damit auf die Nerven geht – was spätestens nach der Autopsie der Fall sein wird. Wilhelm ist zwar ein fürchterlich steifer Besserwisser, aber nicht blöd. Wenn ich nicht aufpasse, weiß der ratzfatz mehr als ich und zieht mich umgehend am nächsten Laternenpfahl hoch. Und darauf habe ich mal so wirklich keinen Bock…“
„Schon gut, Süße...“ Jean wandte sich mir zu. Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutze Mike, um ihm einen Stoß in die Seite zu verpassen, dass er zu Boden ging.
„Wer ist jetzt langsam, hm?“ fragte unser Testosteronmonster, bevor es seinem Freund die Hand hinstreckte und ihn wieder auf die Beine zog.
„Das war unfair!“ beschwerte sich Jean, „du hättest mir fast ‘ne Rippe gebrochen, du Blödmann!“
„Und wenn? Ist doch alles noch dran, oder?“ Mike grinste über das ganze Gesicht. „Armes kleines Duzi – Duzi…“ Er wuschelte Jean gespielt mitleidig durch die die Haare.
„Meine Frisur!!! Du bist unmöglich, Bär, weißt du das?!?“
„Männer…“, mahnte ich, „können wir vielleicht langsam zu Sache kommen? Ihr könnt euch später noch prügeln – wenn der Mörder Staub ist, haben wir jede Menge Zeit, okay?“
„Schon gut, schon gut…Waffenstillstand, Bär?“
„Von mir aus, du Spargel.“
Die beiden funkelten sich noch einen Moment an, dann fielen sie sich lachend um den Hals und bekundeten sich gegenseitig, wie toll sie das Wiedersehen fänden. Ja, hat mich auch gefreut. Hmpf.
Ich nahm vorsichtig die Perle aus meiner Jacke und streckte sie Jean hin.
„Hier. Dafür bist du doch gekommen, oder?“
Er nahm die fast perfekte schwarze Kugel und betrachtete sie nachdenklich.
„Bis auf die Dellen makellos….die ist ein Vermögen wert, weißt du das eigentlich?“
„Schon klar. Kannst sie verscheuern, wenn du mit der Untersuchung durch bist. Bringt nur Unglück, das Ding.“ Ich wischte mir die Hand an der Hose ab.
"Oh, ich finde schon jemanden, dem das scheißegal ist", grinste Jean, "eine so schöne Perle, verbunden mit einer tragischen Liebesgeschichte..."
„Fick dich“, knurrte ich, „wird das heute Nacht noch was?“
„Ruhig, Kleines“, brummte Mike, während er sich in den Sattel schwang, „lass deine miese Laune nicht an uns aus. Wir haben das hier nicht verbockt, klar?“
„Jaja…“ Ich setzte mich hinter Mike, legte die Arme um seine Taille. „Jean?“
„Komme…muss das wirklich sein? Ich hasse die Pathologie…da kommt man sich so tot vor.“
„Könnte daran liegen, dass wir tot sind.“ Mike mal wieder. Der Realist vorm Herrn ließ den Motor an. „Mach hin, ich hab einen Club zu führen.“
Jean brummte etwas Unverständliches, setzte sich aber in Bewegung.
&&&
Das Türschloss stellte für Jean, nachdem wir uns auffällig unauffällig durch das Krankenhaus in den Keller begeben hatten, wie erwartet kein Hindernis da. Die schwere Tür schloss sich hinter uns, Kälte und die vorherrschende Geruchsmischung aus Formaldehyd und Tod legten sich wie eine Decke um uns. Ich schauderte. Jean hatte schon Recht. Man kam sich so tot vor, wie man war – wir hatten eben nur das Umfallen vergessen.
Vorsichtig nährten wir uns der Wand mit den Kühlfächern, um die gewünschte Leiche zu suchen, als uns ein leises Geräusch zusammenzucken ließ.
Blitzschnell fuhr ich herum, die Hand an der Waffe – und erstarrte. Vor mir stand der älteste Vampir, den ich je gesehen hatte.
Obwohl äußerlich ein extrem junger Mann, nicht viel älter als ich, war seine Haut so weiß, dass sie beinahe durchscheinend wirkte. In seinem weißen Arztkittel wirkte er mehr wie ein Geist als ein Mensch. Seine Art, sich absolut lautlos zu bewegen, verstärkte den Eindruck noch – das Geräusch, das uns auf ihn aufmerksam gemachte hatte, hatte er vermutlich absichtlich erzeugt, um sich nicht einfach so zu materialisieren und damit unbedachte Handlungen zu provozieren.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Mike ebenso angespannt wie ich dem Neuankömmling entgegensah. Lediglich Jean war gänzlich unbeeindruckt.
„Maddy, Mike, darf ich euch Bruder Heinrich, das Phantom der Pathologie, vorstellen?“ fragte er. An seinem Grinsen erkannte ich, dass er sehr wohl gewusst hatte, was uns hier erwartete. Dieser kleine, hinterhältige….
„Guten Abend. Darf ich fragen, welcher Anlass mir die seltene Freude eines Besuchs in diesen kalten Hallen ermöglicht?“ Bruder Heinrich war noch ein wenig näher geglitten, so dass ich jetzt auch die Tonsur in seiner ausgeblichenen Haarpracht wahrnehmen konnte. Seine Stimme klang ein wenig rau und heiser, als würde sie selten genutzt, dafür sahen uns seine ebenfalls nahezu farblosen Augen umso wacher und aufmerksamer an.
Mike fing sich als Erster. „Wir möchten die Leiche von Daniela Anna Kleiber sehen“, sagte er ruhig.
„Aha…“ Der alte Vampir fixierte Mike mit seinem durchdringenden Blick. „Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf? Soweit ich weiß, hat Prinz Wilhelm den Leichnam noch nicht freigegeben, da einige…hmmm…höchst ungewöhnliche Umstände eine nähere Untersuchung erforderlich machen.“
„Mit dem unbestreitbarsten Recht, das es gibt.“ Mike hielt ihm, wenn auch unter Mühen, stand. „Sie gehört mir.“
„Soso…“ Bruder Heinrich schien vage Anfänge in seiner Rede sehr zu mögen. „Und warum weiß ich nichts davon?“
„Was weiß ich?“ knurrte Mike, „ist auch nicht mein Problem. Ich will mein Mädchen sehen, klar!?!“
„Hmmmm…und weil Ihre Rechte so unangreifbar sind, schleicht Ihr Euch mitten in der tiefsten Nacht in mein Refugium? Obwohl es eindeutig geschlossen ist?“
Gott, der Kerl nervte! Neben mir grollte Mike böse. Ich legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.
„Verzeiht.“ Ich legte meinen ganzen Charme in meine Stimme, wohl wissend, dass es bei dem Alter meines Kontrahenten sehr wahrscheinlich vergebliche Liebesmüh war. „Wir konnten ja nicht ahnen, dass Ihr um diese späte Stunde noch vor Ort seid.“
„Ich bin immer hier“, stellte Bruder Heinrich fest. Wie erwartet hätte ich mir die Show auch sparen können. Er wandte sich an Jean. „Das solltet Ihr eigentlich wissen…“
Der grinste immer noch. „Klar weiß ich das. Aber die Beiden wollten unbedingt hier einbrechen, also…der Wunsch meiner Freunde ist mein Befehl.“
Bruder Heinrich kicherte leise. „Soso…“
In der ihm eigenen, gleitenden Art, die irgendwie an die Marsianer in „Mars Attacks“ erinnerte, schritt er zu einem der Autopsietische, auf dem ein zugedeckter Körper lag.
„Wenn die Herrschaften mir bitte folgen würden...“
Wir folgten. Schwungvoll schlug unser Pathologe das Laken zurück. „Nun habt Ihr sie gesehen. Wenn Ihr nun bitte gehen möchtet, damit ich mit der Autopsie beginnen kann?!? Es ist für Angehörige doch zu schmerzhaft zu sehen, wie der Körper des geliebten Toten aufgeschnitten und ausgenommen wird…“
„Ich halte Einiges aus!“ fiel Mike ihm ins Wort, „ist nicht meine erste Leiche und nicht meine erste Autopsie.“
„Entschuldigt, Kindchen…aber wenn Ihr meine Arbeit stört, geht Ihr!“
Ich unterdrückte mühsam ein Auflachen. Noch nie hatte jemand Big Mike als „Kindchen“ bezeichnet.
Bruder Heinrich wandte sich derweil mir zu. „Ihr zumindest wisst, worauf Ihr Euch einlasst.“ Keine Ahnung, woher er das wusste.
„Ja.“
„Gut gut…“ Bruder Heinrich griff zum Skalpell. Jean wurde noch eine Spur blasser als gewöhnlich.
„Ich bin raus!“ verkündete er – und ergriff die Flucht.
Wieder kicherte Bruder Heinrich. „Da schickt man ihm jahrelang Berichte und er haut ab, wenn sie entstehen…“
„Jean hat ‘nen schwachen Magen“, brummte ich, „seid froh, dass er Euch nicht den Saal einsaut und die Beweise verfälscht. Er kann mit dem endgültigen Tod nicht gut umgehen…“
„Wer kann das schon?“ Bruder Heinrich nahm Danys Hand in seine freie. „Dann wollen wir doch mal sehen, wer dir das angetan hat, meine Hübsche….“
SHIT! Das hatte ich von dem Moment an befürchtet, als mir klar wurde, WIE alt dieser Vampir war. Eigentlich galt diese Fähigkeit als ausgestorben. Warum musste ich mal wieder auf die Ausnahme der Regel treffen?
Prinz Wilhelm war wirklich ein gerissener Bastard, wenn er einen Nekromanten wie Bruder Heinrich an einer strategisch so günstigen Position unterbringen und dann auch noch kontrollieren konnte.
Während ich gleichzeitig unseren Prinzen bewunderte und überlegte, wie ich aus der Situation wieder rauskam ohne unserem Oberhaupt mein halbes Leben beichten zu müssen, neigte Bruder Heinrich sich über den Leichnam und sah der Toten in die Augen.
„Komm schon….“, raunte er, „zeig mir, was ich sehen will….“
Offenbar zeigte sie immer eine Menge, denn er verharrte eine halbe Ewigkeit reglos über den Körper gebeugt und brummte unverständliches Zeug vor sich hin. Wie konnte ich auch hoffen, dass der Uralte etwas anderes als ein Meister seines Fachs war?
Neben mit trat Mike ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Abwarten gehörte nicht zu seinen Stärken, er wollte Danys Mörder. Jetzt. Zwischen seinen Bärenpranken. Und ihn zerquetschen. Langsam…
Ich stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.
„Hör auf zu zappeln, Mann! Du machst mich ganz rappelig damit!“
Mike knurrte unterdrückt. „Warum dauert das so lange? Macht den das Beobachten des Todes an oder was?“
„Bleib ruhig. Sonst fliegen wir beide hier raus!“
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Tatsächlich erforschen die Nekromanten den Tod, wobei für sie weniger die Zeit VOR als die NACH dem Ableben des Studienobjekts interessant ist, was die auf diesem Gebiet Erfahrenen auch wirklich sehen können, jedenfalls, wenn men den Gerüchten Glauben schenkt, die unter den Vampiren im Umlauf sind. Die Informationen über Todesursachen und mögliche Täter holen sie vermutlich nur, weil auch Nekromanten Miete zahlen müssen. Ihr kennt den Spruch: „Die Regenbogenpresse sprach zuerst mit der Leiche!“? Genau. Zwar gilt die Fähigkeit, den Toten ihre Geheimnisse zu entlocken, als ausgestorben, aber das galt auch mal für Quastenflosser. In den Tiefen der Welt, sei es Ozean oder Leichenkeller, sind immer noch seltsame Fossilien unterwegs.
&&&
Eines davon hob gerade den Kopf und sah uns an.
„Blut….sssssso viel Blut….“, flüsterte Bruder Heinrich und leckte sich über die Lippen. Seine Fänge waren nicht zu übersehen. Perverser alter Sack! Mike spannte sich.
„Das wär ich jetzt nicht drauf gekommen!“ fauchte er den Alten an, „was dachtet Ihr, wie man eine Sterbliche blutleer bekommt??? Man blutet sie aus, würde ich sagen!!“
„Isssssstt dassssss ssssooooo?“ Plötzlich stand Bruder Heinrich direkt vor uns. „SSSSeid Ihr Euch da ganzzzzz ssssicher? Isssst dassss der einzzzzige Weg, jaaaaa??“
Oh Gott, je älter, je bekloppter. Mike starrte ihn an wie das sprichwörtliche Kaninchen die sprichwörtliche Schlange, vollkommen im Bann des Nekromanten, unfähig, sich zu bewegen. Das konnte gefährlich werden. Ich räusperte mich laut.
„Und wie soll das sonst gehen?“
Die farblosen Augen entließen Mike und wanderten zu mir. Nur war ich zu klein, um direkt fixiert zu werden. So ein Pech aber auch.
„Dassssss wollt Ihr wisssssen, wie?!“ zischte der Alte.
„Eigentlich nicht“, sagte ich so cool wie möglich, aber mit einem leisen Zittern in der Stimme, „eigentlich will ich wissen, wer das Mädel umgebracht hat. Gibt’s da noch mehr Erkenntnisse, außer dass es blutig war?“
„Und aus welchem Grund wollt Ihr das wissen? Ich schulde nur dem Prinzen einen Bericht.“ Wenigstens hatte das Schlossgespenst seine Zähne wieder eingefahren.
„Weil Dany Mikes Mädchen war. Darum.“
„Soso….“
Ging das wieder los. Ich stöhnte innerlich, mein Lächeln bekam etwas Aufgeklebtes. Bruder Heinrich starrte gedankenverloren ins Nichts. Plötzlich schärfte sich sein Blick wieder.
„Was bekomme ich dafür?“
Aha. Wir kamen dann doch mal auf den Punkt. Auch ein so alter Vampir wie dieser war käuflich. Blieb die Frage: Was war sein Preis?
„Das kommt auf die Qualität der Informationen an“, entgegnete ich dementsprechend vorsichtig. Im Verhandeln war ich nicht besonders gewieft, ich versprach immer zu viel. Vielleicht konnte Mike ein faires Abkommen erreichen, jetzt, wo Jean das Weite gesucht hatte.
Bruder Heinrich runzelte die Stirn. Es sah aus, als hätte er in letzter Zeit reichlich Botox verpasst bekommen, ich konnte die Falten lediglich vage erahnen, zwei dünne Linien im glatten Porzellanweiß der Haut. „Jetzt hat die Schüssel tatsächlich einen Sprung“, schoss es mir durch den Kopf und ich musste ein hysterisches Kichern unterdrücken.
Mikes Blick brannte sich in meinen Scheitel. Er hatte das verräterische Zucken meiner Schultern natürlich bemerkt und signalisierte mir auf diese Weise, dass ich gefälligst die Nerven behalten sollte. Was mir zunehmend schwerer fiel, als Bruder Heinrich zu lächeln versuchte, was zu einem absolut seelenlosen Heben der Mundwinkel verkam. Ein kalkweißer Marsianer mit Pottschnitt, Sprung in der Schüssel und aufgemalten Emoji – Grinsen. Oh. Mein. Gott.
Energisch schob Mike mich hinter seinen Rücken, damit ich meine ausufernde Phantasie wieder in ihre Schranken weisen konnte ohne den Status Quo im Raum zu gefährden. Denn so lächerlich dieser Typ auch wirkte, so gefährlich war er – mit Sicherheit hatte er deutlich mehr drauf als die Taschenspielertricks, die er uns zu sehen gewährt hatte. Das brachte das Alter so mit sich.
Weil ich mir dessen bewusst war, kämpfte ich umso härter um meine Beherrschung, was die Sache nicht gerade erleichterte. Jeder, der schon versucht hat, NICHT loszukichern, kennt das: Je mehr man es versucht, desto mehr läuft man Gefahr, einfach rauszuplatzen. In einer Leichenhalle. Neben dem Mann, der gerade um sein Mädchen trauerte. DAS wäre wirklich der Tiefpunkt dieses verpfuschten Tages. Oh Mann, gut, dass ich hinter Mikes breitem Rücken vollkommen verschwinden konnte.
Der konzentrierte sich voll auf Bruder Heinrich. Er beherrschte sich so eisern, dass ich das Zittern seiner Muskeln durch die Motorradkluft spüren konnte.
„Hättet Ihr die Güte, mir mitzuteilen, warum ich für Informationen zahlen soll, die mir sowieso zustehen?“ Mike bemühte sich, die Wut aus seiner Stimme zu verbannen, was ihm semioptimal gelang.
Bruder Heinrich rührte sich nicht. Offenbar machte er sich überhaupt keine Sorgen bezüglich des gewaltbereiten Muskelprotzes vor seiner Nase.
„Wer sagt, dass ich mit Euch verhandele? Was könntet Ihr mir schon geben, dass ich nicht schon 1000-fach gehabt hätte?“
Och nö. Das war jetzt nicht sein Ernst!
Offenbar schon, denn er räumte Mike mühelos beiseite und baute sich vor mir auf.
„Bei Euch sieht das schon ganz anders aus…Engel des Todes.“
WAS? WOHER?????
„Wovon sprecht Ihr da bitte?“
Bruder Heinrich packte mich an der Schulter. Seine Hand war eiskalt, der Griff erinnerte an einen Schraubstock. Leicht vorgebeugt, starrte mir direkt in die Augen.
„WAGT ES NICHT, MICH ANZULÜGEN!“ donnerte er, „ICH KANN DIE SCHWINGEN AUF EUREM RÜCKEN SEHEN!“
Unmöglich. Die Dinger sah man nur, wenn ich meine Wandlung vom Standardvampir zur “Kriegerin des Herrn“ (Guter Witz!) bewusst vollzog. Wäre ja auch mega unpraktisch, ständig riesengroße, schwarze Flügel mit sich rumzuschleppen. Mal ganz abgesehen davon, dass sie Kämpfen in geschlossenen Räumen zum Scheitern verurteilten. Verdammt, eigentlich waren sie nur ein Symbol ohne jeglichen praktischen Wert! Wir waren schließlich nicht bei den X-Man!
Umso nerviger, dass sie mich offenbar soeben an diesen hinterhältigen Drecksack von Nekromanten verraten hatten. Und an jeden, dem er berichtete oder an den er Informationen verkaufte. Ganz großes Kino. Ich war sowas von am Arsch!
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Angriff die beste Verteidigung. Das wussten die schon die alten Preußen, wobei das Zitat ironischerweise General Carl von Clausewitz zugeschreiben wird, den ich vor allem aus der Schlacht von Jena und Auerstädt mit der Taktik „Türmen ist die beste Überlebensstrategie“ kannte.
Das kam nicht in Frage, also Variante A. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich. Eine Wandlung ist ohne die Klingen zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Schließlich ist das Erscheinungsbild des Jägers ein Teil von mir.
Wie jede gute Verwandlung ist auch diese mit einem Spruch verbunden, englisch mit einem guten Schuss Küchenlatein, völliger Blödsinn, der wichtig klingt, aber eigentlich nur der Konzentration dient und der mir "Ich höre und gehorche." endet.
Am Rande nahm ich am Rande Mikes fragenden Blick wahr.
„Welche Schw….?“
Weiter kam er nicht. Weit öffneten sich die tiefschwarzen Zeichen meines zweiten (oder dritten?!?) Lebens hinter mir, fegten einige Präparate von den Labortischen und holten Mike und Bruder Heinrich allein durch den Luftzug von den Beinen.
Wie immer, wenn die Macht von Generationen superheiliger Inquisitoren durch meine Adern strömte, strahlte ich eine Größe und Machtfülle aus, die jeden in meiner Nähe einschüchterte. Jeden – außer Alexj.
Und Bruder Heinrich. Der hatte vermutlich schon alles gesehen. Während Mike meine Erscheinung vom Boden aus mit offenem Mund anstarrte, kicherte er nur leise vor sich hin. Noch bevor ich meine Flügel vollständig eingefaltet hatte, stand die Nervensäge schon wieder aufrecht.
Der Todesengel in meiner Gestalt musterte sein Gegenüber kalt und distanziert. Es war nicht nur mein Aussehen, das sich wandelte.
„Was wünscht Ihr von mir?“ Meine normalerweise recht hohe, kindliche Stimme klang deutlich voller und bestimmter.
Bruder Heinrich musterte meine Erscheinung voller Interesse.
„Das ist also ein Todesengel“, murmelte er vor sich hin, „ich habe noch nie einen in voller Verwandlung gesehen….wie überaus interessant…..“
„Das ist nicht die volle Verwandlung“, knurrte ich, „ich bitte ausdrücklich um Entschuldigung, dass ich in einer Stadt voller Vampire mit einem Prinzen mit Inquisitionsphobie nicht ständig mit geweihten Waffen herumlaufe. Maxima culpa.“
„Ohhh jaaa, ich vergaß…die Wirkung des heiligen Lichts muss überwältigend sein…“
Nicht wirklich. Es erinnert an eine flackernde Neonröhre, die in flüssigen Stickstoff gefallen ist. Nur, dass kein Nebel entsteht. Die Kälte ist genau so – Heiligkeit brennt wie Feuer auf der Haut. Egal.
Bruder Heinrich schlich um meine Erscheinung herum wie ein Kind um den Weihnachtsbaum.
„Noch einmal: WAS wünscht Ihr?“
„Könnt Ihr Euch das nicht denken?“
„Wenn es das ist, was ich denke, dann NEIN!“
Ich war froh, dass er nicht direkt gefragt hatte. Eine Bitte um den endgültigen Tod hätte ich in dieser Gestalt nicht ablehnen können – ich hatte geschworen, zu dienen und „Seelen zu erlösen“, wenn es notwendig war oder gewünscht wurde. Soweit kein Problem, aber ich hatte ganz entschieden meine Zweifel, dass Prinz Wilhelm für einen Schwur dieser Art Verständnis haben würde. Bruder Heinrich war ein wichtiges Werkzeug, das er nicht freiwillig aus der Hand geben würde, da war ich mir sicher.
„Bitte…“
Der gute Bruder wirkte sichtlich geknickt. Kein Wunder, nach so vielen Jahren der Existenz musste sie ihm wie die Hölle auf Erden vorkommen. Er tat mir leid.
„Wenn Ihr es so sehr wollt, klärt Euren Wunsch mit Prinz Wilhelm“, sagte ich sanfter, „wenn er mir die Erlaubnis erteilt…“
Der alte Vampir schüttelte traurig den Kopf. „Er wird mich niemals gehen lassen.“
Das hatte ich befürchtet. „Dann darf ich Eurem Wunsch nicht entsprechen.“
Bruder Heinrich zuckte die Schultern. „Es war einen Versuch wert. Es hätte mir klar sein müssen, dass für eine einfache Information nicht Eure Existenz auf’s Spiel setzt.“
Das wäre der Moment gewesen, um einfach mal die Klappe zu halten. Und was tat ich?
„Ich lasse mir was einfallen“, hörte ich mich versprechen. Vermaledeite heilige Todesengel – Schwur – Heiligenschein – Logik, die mich mal wieder in Teufelsküche brachte! Dämliches Mitleid! „Der simple Tod eines durchgedrehten Vampirs wird nicht reichen, ich kann froh sein, wenn Prinz Wilhelm mir für’s Verschwiegen dieser Viecher - (ich ließ die Schwingen ein wenig rascheln) - nicht direkt den Kopf abreißt, aber irgendwie werde ich Euren Wunsch erfüllen.“
Hoffnung leuchtete in den farblosen Augen auf. Mann, der hatte es echt satt!
„Ich rede mit ihm“, bot mein Gegenüber überraschend an, „ich kenne ihn schon ewig. Er wird Euch nichts tun…“
Da hatte ich so meine Zweifel. Andererseits tat sich eine kleine Chance auf, mit einem blauen Auge davonzukommen. Ich beschloss, sie zu nutzen.
Langsam, um nicht noch irgendetwas umzuwerfen, trat ich auf Bruder Heinrich zu, legt eine Hand auf die Tonsur. Er erschauerte, spürte die Kälte und die Fremdheit der geliehenen Macht, obwohl ich ohne die Schwerter nur einen Hauch davon ausstrahlte.
Wie alle Vampire zuvor, sei es vor mir oder einem der anderen Jäger, ging er allein durch diese Aura auf die Knie. „Komm, mein Kind, empfange den Segen des Todes, den wir dir gewähren werden“, hatte der Anführer unser Gruppe in dieser Situation immer salbadert. Den Schmuß sparte ich mir. Das war nicht das, was ein angehendes Opfer hören will, das ist Kirchen – Bla-bla.
„Ich kann euch nicht sagen, wie lange es dauert, aber ich werde einen Weg finden, wenn Ihr es denn wirklich und wahrhaftig beenden wollt“, murmelte ich stattdessen.
„Danke…“
„Is mein Job…“ Ich lächelte messerdünn. Was wahr war, blieb wahr. Egal, wie oft ich es geleugnet hatte.
Bruder Heinrich lächelte zurück. Dieses Mal erreichte es seine Augen – er wirkte beinahe menschlich. Aber nur beinahe.
„Sagt mir, Bruder Heinrich, kann ich etwas tun, um Euch die Wartezeit zu verkürzen?“ Kann ich etwas tun, um jetzt an die Informationen zu kommen, ohne mich direkt mit der Obrigkeit anzulegen?
Die bleiche Gestalt strahlte mich regelrecht an.
„Eine Feder wäre schön…von Euren Schwingen…“
War so klar. Wie konnte man derart vom Tod besessen sein? Andererseits wollte ich auch schon immer wissen, was mich von anderen Vampiren unterschied. Warum hatte ich die Prüfung der Jäger überstanden, während andere sich fürchterlich die Hände verbrannten oder sogar ihre irdische Existenz verloren? Natürlich war so ein Ersuchen für mich durchaus gefährlich – wer weiß, womit er es zu tun hat, kann es auch vernichten. Und ich wollte noch ein bisschen Teil dieser Welt sein, vielen Dank auch.
„Wenn Ihr mir versprecht, dass Ihr Eure Untersuchungsergebnisse nur mit mir teilt“, stimmte ich daher nur vorsichtig zu.
„Selbstverständlich.“
Da war aber jemand optimistisch. Meine Zweifel standen mir wohl ins Gesicht geschrieben – was schon etwas hieß, Todesengel verziehen in der Regel keine Miene – denn er fügte bekräftigend hinzu: „Wirklich. Wenn ich nicht will, bekommt nicht einmal Prinz Wilhelm etwas aus mir heraus. Dafür bin ich zu alt… Wenn ich Euch schaden wollen würde, hätte ich es längst getan.“
Zu Deutsch: Gegen mich ist der Prinz ein Kleinkind und du liegst noch in den Windeln. Da hatte der Herr allerdings Recht. Um mich zu vernichten, müsste er vermutlich nicht einmal aufstehen. Ohne meine Schwerter war ich kein Gegner, das war von Anfang an klar.
Ich seufzte: „Also gut, von mir aus…aber ich erfahre alles über den Tod der Kleinen und Prinz Wilhelm bekommt keine Analyse der Feder. Deal?“
„Deal. Sofern Ihr Euer Versprechen nicht vergesst.“
„Das Wort einer Kriegerin des Herrn ist bindend. Immer.“
„Dann soll es sein.“
Langsam, um sie nicht zu beschädigen, löste ich eine der tiefschwarzen Schwungfedern in der Nähe des Kiels und riss sie mir mit einem kräftigen Ruck aus. Die Schwinge würde schnell heilen, so wie alles an mir. Weh tat es trotzdem.
„AU!!! VERFLUCHT!!!“
„Nanana“, schalt Bruder Heinrich, „sollte eine Kriegerin des Herrn fluchen?“
Ich verzog das Gesicht. „Wenn ER das nicht will, sollte ER SEINE heiligen Flügel schmerzunempfindlicher machen!“
„Schmerz ist eine Prüfung des Herrn, mein Kind…“
„Kann ich gut drauf verzichten, danke auch.“ Noch immer brummig ließ ich mein Gefieder wieder verschwinden – und war wieder nur Madeleine. Wie immer bleib nichts außer einem leichten Problem mit dem Gleichgewicht, als sich der Körperschwerpunkt verschob. Heiligkeit wiegt schwer.
„Bitteschön!“ Vorsichtig reichte Bruder Heinrich die Schwungfeder, die er sofort sorgfältig in einem seiner Präparationsgläser verstaute und im Schrank verbarg. Nicht, dass das Glas noch durch irgendwelche unvorhersehbaren Dinge zerbrach.
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Oder auch durch vorhersehbare. Mike hatte mittlerweile den Mund wieder zubekommen und war nicht sonderlich angetan von dem, was gerade passiert war. Wie immer hatte er keinerlei Probleme damit, mir diese Tatsache umgehend bekannt zu machen.
„SAG MAL, HAST DU EINEN DACHSCHADEN? Was soll das? Hast du Todessehnsucht oder was?“ schimpfte er, „den Prinzen der Stadt umgehen und jemanden den endgültigen Tod versprechen! Federn von etwas verschenken, was eigentlich gar nicht existieren sollte! Du spinnst doch! Was waren das überhaupt für Flügel? Wo kamen die her? Und warum weiß ich davon nichts?!?“
„Mike?“
„WAS?!?“
„Halt die Klappe!“
„MADDY! Was zum Teufel fällt dir ein, so…“
Mir platze der Kragen. Das hier war weder Mikes Problem noch seine Baustelle.
„Mach den Kopp zu, habe ich gesagt! Bist du vielleicht mal auf den Trichter gekommen, dass es verdammt noch mal besser ist, nicht alles zu wissen? Gesünder? Normalerweise sieht man einen Todesengel nur unmittelbar bevor er einen holt. Wenn überhaupt – seit wir nicht mehr unter freiem Himmel agieren, um die Maskerade zu wahren, sind diese Drecksriesenkrähenflügel eh nur im Weg. Dass Bruder Heinrich sie überhaupt wahrnimmt, könnte daran liegen, dass er schon ein paar Ewigkeiten lang Nekromant ist und weiß, wonach er Ausschau halten muss - ist nur so ein Gefühl, aber…“
„Und du glaubst, dass der Prinz das so stehen lassen wird, ja?!?“
„Wie ich bereits sagte, überlasst Prinz Wilhelm mir….“ Bruder Heinrich war auf seine lautlose Art zwischen uns geglitten und nahm Mike ein weiteres Mail in den Fokus seines durchdringenden Blicks. „Die Kräfte, die hier wirken, sind älter als wir alle zusammen, älter als die Kirche, die sie beansprucht, vielleicht sogar älter als die Zeit. Niemand kann sich ihnen entziehen, weder der Herr der Stadt noch Eure kleine Freundin hier. Ihr könnt mir glauben oder es lassen, ich habe den Tod studiert, in all seinen Varianten. Ich weiß, wovon ich rede…“
„Wenn das so ist, warum habt Ihr nicht direkt um Euren Tod gebeten?“ platzte ich heraus, „sein Engel hätte ihn gewähren müssen, das hättet Ihr wissen können, wenn Ihr wirklich so schlau seid.“
„Wer hat gesagt, dass ich Euch opfern will?“ Das Phantom der Pathologie sah mich aufrichtig überrascht an. „Denn das hätte ich, wenn ich Euch zum Töten gezwungen hätte, das weiß ich sehr wohl.“
„Ihr seid so umständlich“, stöhnte ich und verdrehte genervt die Augen.
Bruder Heinrich kicherte. „Nur alt, mein Kind, nur alt…das ich mein Dasein beenden möchte, heißt ja nicht, dass ich dabei Gesellschaft brauche, oder?“
„Ja…danke.“
„Dafür nicht, mein Kind. Dafür nicht…“
„Können wir jetzt BITTE zur Sache kommen?“ mischte Mike sich wieder in das Gespräch, „so langsam hätte ich gerne die versprochenen Informationen.“
„Jaja…das die Jugend es auch immer so eilig haben muss…“, brummte der Alte, „also: diese unglückliche junge Sterbliche wurde von einem unserer Art getötet. Einem schlanken, hübschen jungen Mann, sehr elegant gekleidet. Schmales Gesicht, dunkele Augen…“
Ich schloss die Augen. Nicht Alexj. Der hatte blaue Augen. Nicht Alexj. Haltsuchend griff ich nach einem Tische, als meine Knie nachgaben.
„Er näherte sich ihr so charmant…so liebenswürdig. Lullte sie ein, bis sie mitging an den Bahndamm….“
„Wusste Dany, dass sie einem Vampir folgte?“ erkundigte sich Mike.
„Oh ja…aber sie dachte sich nicht viel dabei. Seine Macht war zu groß für ihren sterblichen Verstand…und sie war so vertraut mit unserer Art…“
Bruder Heinrich unterbrach seinen Bericht und sah uns fragend an. „Möchtet Ihr wirklich alles wissen? Es wird…hmmm…unangenehm.“
Unangenehm. Okay. Eben war noch von „sehr blutig“ die Rede. Ich tauschte einen Blick mit Mike. Wir wussten beide, was unsere Art mit Zähnen und Klauen anrichten kann.
„Ja“, sagte der, ein bisschen ZU schnell, ZU entschieden für meinen Geschmack. Sein Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen finster entschlossen und total verunsichert angesiedelt. Er erinnerte mich an einen Menschen, der zum Schafott geführt wird und weiß, was ihm gleich blüht. Ich wollte etwas einwenden, irgendetwas sagen, um das Kommende abzuwenden, aber es war zu spät.
„Wie Ihr wünscht.“
Der Pathologe trat an den Seziertisch, schlug das Laken, das die Leiche bedeckte, zurück, um es dann beiseite zu legen.
Was auf den Photos schon schlimm ausgesehen hatte, wirkte im kalten Licht der Neonröhren noch brutaler.
Danys schmaler Körper war über und über mit Schnitten bedeckt, als hätte sich jemand mit einem Messer an dem jungen Mädchen ausgetobt. Da, wo ihre Kehle hätte sein sollen, klaffte ein Loch. „Overkill“, das „Übertöten“, galt gemeinhin als Zeichen einer Beziehungstat. Aus den Akten wusste ich, dass die Polizei vor allem in dieser Richtung fahndete. Sie hatten alle nach Stammfreiern, Freunden, Bekannten, Feinden und sonstigen Bezugspersonen befragt. Sie konnten ja nicht wissen, WIE falsch sie lagen…aber so waren die Sterblichen wenigstens beschäftigt. Sinnlos ja, aber beschäftigt. Und außer Gefahr.
Mike neben mir schluckte schwer, tastete nach meiner Hand. Er war - für einen dunkelhäutigen Vampir - kreidebleich geworden. Vorsichtig drückte ich seine Fingerspitzen, während Bruder Heinrich mit seinem Bericht fortfuhr.
„Am Bahndamm bedeutete er ihr, sich hinzulegen und beugte sich über sie…ganz klassisch, wie einem alten Vampirfilm…“
Kotz. Fehlte nur noch das Käuzchen. Und Van Helsing. Wo war der eigentlich, wenn man ihn brauchte? Offenbar im Urlaub, denn sonst würden wir ja nicht hier stehen und diesem uralten Gespenst lauschen, das uns erzählte, dass der Mörder eine Kralle ausgefahren und Dany über die Brust gezogen hatte… und über die Arme… die Beine… den Bauch… systematisch hatte er sie ausgeblutet, immer ein wenig an jedem der zahllosen Schnitte getrunken, gerade so viel, dass sie wehrlos blieb. Es musste Stunden gedauert haben, bis sie endlich das Bewusstsein verlor. Erst dann hatte der Killer angesetzt und ihr mit einem einzigen, gezielten Biss den Kehlkopf herausgerissen. Wie ein Tier. Die Wunde hatte kaum noch geblutet. Mir war kalt vor Entsetzen.
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Anders als Mike, dessen Aura ein tiefes, bedrohliches Rot ungezügelter Wut zeigte, wurde ich ganz ruhig, zwang mich zu professioneller Distanz. Das war nicht mehr die lachende Dany, die mir eine Korsage oder einen Lippenstift geliehen hatte, die mir Rouge auf die Wangen getupft und mir "Smoothies" besorgt hatte, weil ich so blass war – das hier war nur noch ein Körper, eine seelenlose Hülle. Mehr nicht. Während ich mich um meinen Freund bemühte, lief mein Hirn auf Hochtouren: Nach Bruder Heinrichs Schilderung hatte der Mörder sehr viel Spaß an dem, was er tat. Und er fühlte sich extrem sicher, so lange, wie er sich Zeit genommen hatte. Sadistische Drecksau.
‚STOPP!‘ rief ich mich selbst zu Ordnung, ‚nicht emotional werden! Konzentrier dich auf die Tatsachen! Irgendwas passt nicht ins Bild!“
Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: WIE KONNTE DER KILLER SICH SICHER FÜHLEN, KEINE 500M VON EINEM DER BEKANNTESTEN VAMPIRGEFÜHRTEN BORDELLE DER STADT???
Mike und seine Leute waren weder für ihre Unaufmerksamkeit noch für ihre Zimperlichkeit bekannt. Weder in dieser noch in irgendeiner anderen Stadt - oder Epoche, je nach Maßstab. Dem zur Folge war es unserem Killer entweder egal, ob er erwischt wurde, oder… da war immer noch die Perle…
„War der elegante Vampir allein am Tatort?“ vollendete ich meinen Gedanken laut, bevor mich der Mut verlassen konnte.
„Nein.“ Fuck. War so klar. „Die zweite Person konnte ich nicht klar erkennen… sie blieb im Hintergrund… nur ein Schatten…es konnte ja den Kopf nicht bewegen, das arme Ding…“
„SIE WAR KEIN DING!“ Gott, Mike hatte heute wirklich eine kurze Lunte. Ein Blick auf seine Aura zeigte mir, dass ich es mit Beruhigen nicht mehr zu versuchen brauchte. Also die harte Tour. Auch gut.
Ein weiteres Mal entfaltete ich meinen gesamten vampirischen Charme, um Mikes Aufmerksamkeit zu erhalten und zu fesseln. Eigentlich hasste ich es, Leute, die mir vertrauten, zu unterwerfen, aber mir blieb keine Wahl, wenn die Pathologie, ihr Hausgespenst und mein Freund heil bleiben sollten. Mike sah aus, als würde er platzen, wenn er nicht irgendetwas innerhalb der nächsten 2 Minuten kurz und klein schlagen könnte. Oder irgendjemanden. Selbst das schien ihm vollkommen relativ zu sein. Er war wirklich vollkommen fix und fertig.
„Mike….“, knurrte ich ihn daher mit einem leicht bedrohlichen Unterton an, „Mike, lass das! Ich weiß, das ist hart, aber wir brauchen die Infos. Also, REISS DICH ZUSAMMEN ODER GEH RAUS!!! Du kannst draußen irgendwas zertrümmern, wenn es unbedingt sein muss, aber NICHT HIER!!! Man erwürgt den Boten nicht, nur weil einem die Nachricht nicht gefällt. Klar?“
Mike starrte mich an. Er zitterte am ganzen Körper, am liebsten hätte er mich unangespitzt in den Boden gerammt, konnte sich aber meinem Bann nicht entziehen. Seine Kiefer mahlten, er bekam kein Wort heraus. Ich fühlte mich beschissen.
„Mike“, bat ich sanfter aber ohne mein Charmelevel zu senken, „ bitte… Du willst doch, dass der Richtige Ärger bekommt, oder? Dann lass mich das hier zu Ende bringen. Warte draußen bei Jean, ja?“
Willenlos machte er einen Schritt in Richtung Tür, dann noch einen. ‚Das wirst du mir büßen‘, erklärte mir sein brennender Blick, ‚das hast du nicht umsonst getan.‘ Natürlich nicht. Ich hatte nicht nur die Regeln der Freundschaft zum wiederholten Mal an diesem finsteren Tag gebrochen, ich hatte auch die Hierarchie der Vampire verletzt. Mike war älter, wenn auch nicht viel. Ich hatte ihm gar nichts zu sagen, geschweige denn, in irgendeiner Form Zwang auf ihn auszuüben.
„Komm schon“, schmeichelte ich trotzdem, „es bringt doch nichts, wenn du dich hier weiter quälst. Geh, frag Jean nach der Bewaffnung, die er uns versprochen hat. Dann können wir auch gleich nach Hause…“ Wobei ich wahrscheinlich Bus fahren darf.
Das genügte, Mike trat endgültig den Rückzug an. Als sich die Tür hinter ihm schloss, wandte ich mich wieder Bruder Heinrich zu, der die Szene mit einem kalten, aber durchaus amüsierten Lächeln beobachtet hatte.
„Lasst uns das hier beenden – bevor dieser große Ochse wieder zu sich kommt und hier alles kurz und klein schlägt.“
„Oh, das werde ich zu verhindern wissen, kleines Mädchen, das werde ich zu verhindern wissen…“
„Und das ist genau das, was ich befürchte. Also, bitte!“
Der Alte kicherte. „Wo war ich stehengeblieben?“
Oh Herr, schenke mir Geduld! „Bei der zweiten Person im Hintergrund.“
„Ach richtig…“ Bruder Heinrich krauste die Stirn, als müsste er ernsthaft darüber nachdenken.
Ich wartete ungeduldig, bis dieser elende Showmaker seinen Faden wiedergefunden hatte.
„Sie konnte ihn nicht sehen…“ – dramatische Pause – „…jedenfalls nicht, solange sie noch lebte. Danach jedoch…“
Trommelwirbel…
„…trat die zweite Person ins Bild.“
Katsching! Angeber.
„Und? Wie sah sie aus?“
„Das ist nicht ganz scharf…als würde sie sich tarnen…“
Ich war ja soooo unendlich überrascht. Mit einer entstellten Visage würde ich auch nicht offen rumlaufen. Ich wappnete mich.
„Spuck’s aus, Mann! WIE SAH SIE AUS?“
„Nanana, nicht frech werden, Küken!“ wurde ich prompt getadelt, was ich mit einen leisen, frustrierten Fauchen quittierte.
„Die Ungeduld der Jugend…jaja… aber ich will mal nicht so sein…die zweite Person war ebenfalls männlich, größer als die erste, schlank und blond...viel mehr war nicht zu sehen…das Gesicht war extrem unscharf... die Kleidung war edel, sehr gediegen, dezent auf diese ganz bestimmte Art des klassischen Understatements….“
Das passte. Alexj war immer schon ein Modenarr und eitler Fatzke gewesen.
„Hat diese Person die Leiche in die Position gelegt, in der sie gefunden wurde?“
Bruder Heinrich nickte. „Die Rosen hatte er mitgebracht…er hat etwas von einem ‚Bett aus Rosen‘ gefaselt, als er sie drapierte.“
„Sagt mir nichts. Sonst noch irgendetwas Auffälliges?“
„Er bewegte sich seltsam. So, als könne er es nicht richtig…als habe er Schmerzen…aber er ist ein Vampir, eindeutig…“
Oh ja, das glaubte ich sofort. Das ist das, was geweihte Waffen machen. Sie töten. Dauert zwar manchmal etwas länger, aber töten sie immer. Zuverlässig. Dafür wurden sie gemacht.
Ich seufzte. Jetzt, da sich meine schlimmste Befürchtung bewahrheitet hatte, hatte ich keine Energie mehr, mich darüber aufzuregen. Immerhin hatte mein Kind Dany nicht selbst getötet, auch wenn die Idee zweifellos die seine war und er garantiert begeistert bei der Sache gewesen war. Meine Vermutung ging dahin, dass Alexj den oder die Mord(e) nicht mehr selbst begehen konnte, weil das seine Existenz gefährdet hätte. Je weiter der getroffene Vampir sich von seiner Menschlichkeit entfernt, desto tiefer frisst sich das Gift des Glaubens in den Körper. Er war schon England ein Monster. Was war er dann heute?
Auf jeden Fall vorsichtig. Offenbar hatte er den Zusammenhang zwischen der Verletzung und seinem Verfall irgendwann hergestellt und sein Verhalten dahingehend geändert, dass inzwischen seine Schergen für ihn töten mussten. Auch wenn das an seiner Unmenschlichkeit nichts änderte, zögerte es das Ende auf jeden Fall hinaus. Schade eigentlich.
Bruder Heinrich war meine Nachdenklichkeit nicht entgangen.
„Wisst Ihr etwas über diese Person? Kennt Ihr sie etwa?“
Scheiße, der Kerl war einfach zu schlau! Und er erstattet Prinz Wilhelm Bericht. Wenn Alexj mein Problem bleiben sollte,musste ich mir etwas einfallen lassen. Jetzt. Sofort.
„Wie kommt ihr darauf?“ wich ich aus, „ich habe lediglich darüber nachgedacht, warum dieser zweite Mann sich so seltsam bewegt. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, einem von uns ein Handicap zu verpassen. Wenn ich noch Zugang zu alten Aufzeichnungen aus der Hochzeit der Inquisition bekommen könnte, würde ich eventuell etwas über den Kerl finden. Aber bei diesen Herrschaften sollte ich mich besser nicht sehen lassen, meint Ihr nicht auch?“
„Da habt Ihr nicht ganz Unrecht…Ihr glaubt, diese Person wurde durch einen Kampf mit den Jägern verletzt?“
„Möglich. So, wie dieser Mord durchgeführt wurde, macht der das nicht erst seit gestern. Und er hat einen Lehrling. Das macht ihn gefährlich. Ich setze Jean darauf an. Sagt Prinz Wilhelm, ich werde die beiden jagen, wenn er es wünscht. Eine allgemeine Jagd durch alle Vampire wäre nicht zielführend, da Wahnsinn durchaus über das Blut oder die Seelen der Täter weitergegeben werden kann. Ich töte mit der Klinge und nur damit. Was immer die Mörder an Macht oder Blut in sich tragen, können sie behalten.“
„Verstehe. Ich werde es ausrichten.“
„Danke.“
„Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass der Blonde der Kopf des Duos ist? Er hat sich nicht einmal an dem Opfer bedient…vielleicht wurde er zum Zuschauen eingeladen?“
Weil Alexj zum Überleben mit einer solchen Verwundung härtere Drogen braucht. Vampirblut zum Beispiel.
Aber das würde ich Bruder Heinrich bestimmt nicht stecken.
„Ist nur ein Gefühl. Der Blonde wird nicht mehr lange aktiv sein können, wenn er bereits Probleme mit der Motorik hat. Dann braucht er jemanden, der ihm hilft, denn sterben kann er ja nicht. Es wäre von Vorteil, wenn der ausgewählte Vampir seine …“Vorlieben“… teilen würde, oder?“
„Hmmmm“, brummte Bruder Heinrich wenig überzeugt.
„Wenn ihr nur einen Tropfen Blut an der Leiche findet, kann ich es euch beweisen. Es ist zwar schwieriger als mit Vampirblut, aber möglich.“
Mein Gesprächspartner sah mich zweifelnd an. „Ihr glaubt, ihr könnt feststellen, inwieweit der Dunkelhaarige und der Blonde Schöpfer und Geschöpf sind?“
„Ja. Bruder, ich bin zwar jung im Verhältnis zu Euch, aber nicht gestern erst vom Baum gefallen. Ein paar Dinge kann ich auch.“
„Da bin ich gespannt…“
Bruder Heinrich glitt wieder zum Seziertisch und begann, den toten Körper ausführlich zu beschnüffeln. Was widerlich klingt, ist eigentlich völlig logisch: Wenn etwas Blut im Körper einer eigentlich blutleeren Leiche feststellen kann, dann die Nase eines Vampirs. Und dass dieses Fossil keinerlei Scham in dieser Richtung kannte, dürfte wohl niemanden überraschen.
Offenbar hatte es das Schnüffelritual zur Zufriedenheit abgeschlossen, denn es griff nach seinem Skalpell und setzte einen kleinen, aber tiefen Schnitt an einer der noch unbeschädigten Hautstellen nahe der Stelle, an der einmal Danys Kehle gewesen war. Gut. Mit ein bisschen Glück war Tropfen, der hervorquoll, mit Vampirgift kontaminiert.
Ich neigte mich über die Leiche, leckte den Tropfen auf, schloss die Augen und konzentrierte mich. Scharf brannte das Gift meines Kontrahenten auf meiner Zunge, gemischt mit dem unverkennbaren Geschmack von Menschen- und Vampirblut. Vorsichtig ging ich eine Schicht tiefer. Der Killer war jung, viel jünger als ich, aber mächtig. Kein Wunder, dass er ständig am Rande des Wahnsinns entlangtaumelte. Kein so junger Vampir sollte so viel Macht haben, es überfordert den Geist. Eigentlich sollte sein Erzeuger das wissen und verantwortungsvoll bei der Erschaffung von Nachkommen agieren. Eigentlich. Ich schnaubte frustriert. Das würde ein harter Kampf werden.
Sorgfältig analysierte ich weiter, versuchte, so viele Informationen wie möglich aus diesem einen Tropfen zu ziehen. Danys süße Unschuld, Macht und Wahnsinn ihres Mörders und darunter, ganz leicht, wie ein Hauch, darunter….fand ich, was ich gesucht hatte. Dieses einzigartige Aroma, dem meinen so ähnlich und doch ganz anders. Alexj. Verdammt.
Meine letzte Hoffnung, die ich offenbar trotz aller Beweise noch gehabt hatte, zerbrach. Mühsam versuchte ich, das unkontrollierbare Zittern meines Körpers in den Griff zu bekommen. Nicht jetzt. Einen Nervenzusammenbruch konnte ich mir nicht leisten. Nicht hier.
‚Du bist Profi‘, versuchte ich mich einzureden, ‚du kannst das. Du hältst das durch. Das ist dein Job, verfluchte Scheiße, also reiß dich zusammen!‘
Vergeblich. Meine Beine knickten einfach unter mir weg und ich landete unsanft auf den Fliesen neben dem Seziertisch. ‚Auf dem Boden der Realität‘, dachte ich sarkastisch, ‚wie schön.‘
Tränen traten mir in die Augen, die ich mit aller Gewalt zurückdrängen musste. Machtgeiler Irrer oder nicht, Alexj war mein Kind. Nie war mir das so bewusst gewesen wie in diesem Moment mit seinem Geschmack auf meiner Zunge. Es war so lange her, so verdammt lange…
Während ich versuchte, mich wieder zu fangen, fühlte ich Bruder Heinrichs Blick auf mir, neugierig, aber keinesfalls ablehnend oder gar bösartig.
„Habt Ihr erfahren, was Ihr wolltet, mein Kind?“ erkundigte er sich.
„Hmmm.“ Mehr als ein undefinierbares Brummen war nicht drin. Ich traute meiner Stimme ebenso wenig wie dem Rest von mir.
„Mir scheint, Ihr habt mehr erfahren, als Ihr wissen wolltet“, forschte der alte Vampir behutsam weiter nach.
Ich schluckte meine Gefühle mit sichtbarer Anstrengung herunter und kämpfte mich auf die Füße.
„Kann man so sagen, ja.“ Klang nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Ein bisschen rau vielleicht. Immerhin.
Zu meinem Glück ging Bruder Heinrich nicht weiter darauf ein.
„Und?“ fragte er stattdessen, „ist der Blonde der Erzeuger den Dunkelhaarigen?“
„Ja. Eindeutig. Und sie sind mächtig. Alle beide.“
„Wie mächtig?“
„Sehr mächtig. Der Blonde ist schätzungsweise etwas jünger als ich, so ca. eine Generation“ – So circa. Ja genau. Lügnerin. – „aber die Machtfülle passt nicht dazu. Er hat sich hochgefuttert. Mindestens drei Generationen, wenn nicht sogar vier. Kann ich schwer einschätzen, dafür müsste ich sein Blut unverdünnt bekommen, auch, um die erworbenen Fähigkeiten bestimmen zu können. Der Dunkelhaarige ist erst ein paar Jahre Vampir. Die erhaltene Macht bringt ihn um den Verstand – wobei er auch vorher schon nicht die hellste Kerze auf der Torte gewesen sein dürfte.“
„Ihr meint, er hat Diablerie begangen?!?“ Das war keine Frage. Bruder Heinrich war sauer und das mit Recht. Das Töten und Aussaugen von Artgenossen war und ist verboten und wird immer mit der Vernichtung bestraft. Ohne Ausnahme. Tiefer kann ein Vampir nicht sinken.
„Ja. Mehrfach. Er dürfte eine Aura haben wie ein Streifenhörnchen auf Koks. Der andere aber auch.“
Das Töten anderer Vampire hinterlässt schwarze Schlieren in der Aura. Alexjs erinnerte inzwischen garantiert an chinesische Tusche. Um das zu wissen, musste ich sie nicht mal sehen.
„Soso“, knurrte der Alte. Seine Aura wurde dunkler und zunehmend rot. Zum ersten Mal wirkte er wirklich angsteinflößend, sein Zorn deutet mehr als alles, was bisher gelaufen war, an, zu was dieses so harmlos wirkende Fossil wirklich fähig war.
„Ganz ruhig. Besorgt mir die Erlaubnis von Prinz Wilhelm und ich kümmre mich drum.“
„Werde ich. Sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“
„Sagt unserem Prinzen, er möge die anderen Vampire warnen. Sie sollen sich fernhalten, wenn sie an ihrer Existenz hängen. Wahnsinnige Vampire sind unberechenbar und ich denke nicht, dass er Opfer in seiner kleinen Gemeinde hier möchte. Schlimm genug, dass unsere Tarnung in Gefahr ist.“
„Werde ich, keine Sorge. Wie sicher seid Ihr, dass Ihr die Beiden auslöschen könnt?“
Ähhhh – gar nicht?! Ich will meine Anonymität zurück? Ich will nicht antreten? Ich will nicht sterben? Ich hasse töten? – Alles keine passenden Antworten.
„Keine Ahnung. Aber Pflicht ist Pflicht. Ich werde antreten und mein Bestes geben. Entweder ich kriege es hin oder ich sterbe bei dem Versuch. So einfach ist das.“
Ist es nicht. Egal. Nicht drüber nachdenken.
„Ich werde es Prinz Wilhelm ausrichten.“
„Danke.“
„Und Ihr haltet Euer Wort.“
„Ja.“
„Gut.“
„Gut.“
Es war alles geklärt. Wir gaben uns die Hand drauf, nickten uns zum Abschied zu, bvor ich fluchtartig die Pathologie verließ. Hinter mir hörte ich Bruder Heinrich lachen. Danke, du Arsch.
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Entnervt traf ich vor dem Krankenhaus auf Jean, der gelangweilt an seinem Auto lehnte. Mike war nicht zu sehen, sein Harley auch nicht.
„Hi, Maddy“, grüßte Jean mich vorsichtig, „hat du auch so schlechte Laune wie der Dicke oder kann man mit dir reden?“
„Du kannst mich mal“, knurrte ich zurück, „was hast du dir dabei gedacht? Uns ins offene Messer laufen zu lassen! Warum hast du uns nicht gleich zum Prinzen geschleppt statt erst sein Sprachrohr zu behelligen? Mann, Jean, du Idiot!“
„Mach mal langsam, ja“, verteidigte er sich, „woher soll ich denn wissen, dass du direkt einen auf Engel der Nacht machst?!? Ich hatte ja nicht mal eine Ahnung dass es so was gibt!“
„Woher?!? Du weißt doch sonst immer alles! Und überhaupt, wenn wir sagen, wir ziehen eine Sache so lange wie möglich ohne Offizielle durch, dann ist so! Klar?“
„Dann ist 'so lange wie möglich' eben jetzt vorbei. Mensch Maddy, was kann ich dafür, wenn DU nicht mit offenen Karten spielst?!?“
Okay – gewonnen. Ich seufzte resigniert und gab auf.
„Erfahre ich irgendwann auch die ganze Geschichte?“ erkundigte Jean sich vorsichtig.
„Ja...aber nicht jetzt...Weißt du, wo Mike steckt?“
„Vermutlich zu Hause oder irgendwo, wo er sich austoben kann. Der war ganz schön sauer. Ich habe auch nicht ganz verstanden, warum, nur, dass du Flügel hast und unmöglich bist...was war los, Maddy?“
„Er het Recht, ich war unmöglich. Aber mir ist auf die Schnelle nicht anderes eingefallen, um ihn aus der Schusslinie zu holen. Er war kurz vor'm Ausflippen und das hätte Bruder Heinrich bestimmt nicht zugelassen...“
„Maddy? Du hast doch nicht...?“
„Doch. Hab ich. Ich hab ihn zum Gehen gezwungen....“
„Scheiße, Maddy, bist du eigentlich bescheuert? Das verzeiht er dir nie – auch wenn du wahrscheinlich seine Existenz gerettet hast!“
„Hmmmm, ich weiß....ich hoffe nur, dass ihm das mit der Existenzrettung noch einfällt.“
„Das hoffe ich auch – für dich. Wenn nicht, reißt er dir den Kopf ab, das ist dir schon klar, oder?“
Tja, da würde er sich wohl hinten anstellen müssen. Ich seufzte noch einmal.
„Ja – aber jetzt kann ich auch nichts mehr daran ändern. Mal was anderes – hast du die Waffe dabei, um die ich dich gebeten habe?“
„Willst du Mike erschießen oder was?“
„Haha, schwer komisch. Also, hast du oder hast du nicht?“
„Ich hab.“
Er öffnete die Beifahrertür seines Wagens und kramte eine Weile im Handschuhfach, bevor er eine Pistole zu Tage förderte.
„Das is eine Glock 18“, erläuterte er, „eine Weiterentwicklung der alten Glock 17 und in Deutschland verboten, weil sie im Gegensatz zum Schwestermodell auch auf Dauerfeuer umgestellt werden kann. Für die Jagd auf normale, sterbliche Verbrecher erscheint mir das auch zu heftig, aber wenn es um die geht, die sich gerne als „unsterblich“ bezeichnen, kann die Feuerkraft gar nicht hoch genug sein und die Waffe die Kugeln gar nicht zahlreich genug raushauen.“
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Wie wahr. Die sich die meisten Vampire bewegen sich schneller als das menschliche Auge, wenn sie in den Kampfmodus wechseln. Wenn man da für jeden Schuss einzeln den Abzug betätigen muss, ist das eher suboptimal. Nicht, dass eine 9mm - Pistole einen Vampir töten könnte, nicht einmal, wenn ich sie mit Manstopper – Munition lade; aber ein paar gute Treffer zwingen ihn, sich zu regenerieren und das kostet Blut. Blut, das er nicht mehr für die Anwendung irgendwelcher Fähigkeiten gebrauchen kann. Und treffen kann ich gut, nicht nur auf dem Schießstand. Es kann nie schaden, seinen Gegner in die Defensive zu drängen. Nach den Erkenntnissen des heutigen Tags war das wichtiger denn je, wenn ich überleben wollte.
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In den nächsten Wochen vertrugen Mike und ich uns trotz all der finsteren Prognosen, die Jean auf der Heimfahrt – er hatte mich netter Weise mitgenommen, nachdem er mir meine neue Bewaffnung erklärt hatte – von sich gegeben hatte.
Ich verstärkte ich meine Streifen auf dem Straßenstrich, um auf die Damen Acht zu geben. In diesem Punkt war ich mit Mike absolut einer Meinung: Wenn der Mörder nochmal in unserer Stadt zuschlagen sollte, dann waren sie am verwundbarsten. Zwar hatte auch die Polizei Warnungen herausgegeben, aber viele Mädchen hatten einfach keine andere Wahl und so oft konnten die Herren in Blau nicht vorbeifahren, dass sie alle im Blick behalten konnten. Außerdem waren die Streifen schlecht für’s Geschäft, weswegen einige Damen den Platz wechselten und die Sache damit weiter erschwerten.
Zum ersten Mal seit Jahren trug ich wieder eine Pistole unter einem Mantel verborgen im Holster an der Hüfte. Ich sah ein bisschen aus wie Lara Croft für Arme mit meinen Hotpants, dem Top, dass man kaum als solches bezeichnen konnte, Springerstiefeln, Waffe und Mantel, aber egal. Sicherheit ging vor.
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Während ich die Hauptstraße Richtung Bahnhof herunterschlenderte, fiel mir in einer Seitengasse Sonja, eine schon viele Jahre auf dem Straßenstrich tätige Prostituierte, auf, die mit einem Freier sprach. Sie war offensichtlich nicht damit einverstanden, weiter in den dunklen Weg geführt zu werden und versuchte, den Mann wieder in Richtung Hauptstraße zu lotsen. Augenblicklich glitt ich in die Schatten am Rand der Gasse, verschmolz mit ihnen, schlich lautlos näher an Streitenden heran. Eine kurze Prüfung der Aura ergab, dass der Typ ein Mensch war, aber irgendetwas störte mich trotzdem. Es schien so, als würde er nicht mal hören, was Sonja ihm sagte. Wie ferngesteuert zog er die protestierende Frau immer weiter die Weg hinunter.
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Ich zog die Glock und entsicherte sie, während ich den Beiden lautlos folgte. Nicht, dass ich auf einen Menschen schießen würde, aber hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Der Mann war eindeutig nicht Herr seiner Sinne. Trotzdem war er deutlich zu sicher auf den Beinen, um einen zu viel getrunken zu haben. Auch Drogen kamen nicht in Frage. Sonja wäre niemals mit einem zugedröhnten Freier mitgegangen, dafür war sie zu erfahren. Meine Instinkte schlugen lautstark Alarm.
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An einem Tor zwischen zwei Häusern blieb der Kerl stehen und versuchte, die sich heftig sträubende Sonja hindurch in den Hinterhof zu bugsieren. Ich war fast auf gleicher Höhe, als ein weiterer Mann im Durchgang auftauchte, die erschrocken aufschreiende Frau packte, mit sich zerrte. Den Menschen stieß er in die Gosse, wo er benommen liegen blieb.
Mit einem Satz überwand ich die letzten Meter, stand leicht breitbeinig, die Waffe im Anschlag, im Torbogen. Im Hinterhof, einem kleinen, gepflasterten, von Mauern umgebenen Areal von vielleicht 4x4m, bot sich mir ein Anblick wie aus einem alten Vampirfilm:
Sonja lag am Boden, der Oberkörper aufgerichtet von einem Arm des malerisch mit ausgefahrenen Reißzähnen über sie gebeugten, recht jung aussehenden und mir wohlbekannten Mannes. Sogar der Umhang und die zurückgegelten Haare fehlten nicht. Weia.
Wie gesagt, Vampir - Kitsch ist nicht meins. Dementsprechend checkte ich nur kurz die Aura, ob es sich um den echten oder einen ähnlich aussehenden Möchtegern – Vampir handelte – jepp, echt und gründlich gestört - ,visierte den Kopf des Kerls an und brüllte: „EY, ARSCHLOCH! Schicke Klamotten – aber sieh‘s ein: Christopher Lee als „Dracula“ schlägst du nicht! Der sieht einfach um Längen besser aus!“
Der Kopf meines Gegners flog hoch und ich drückte ab. Er war ein bisschen zu schnell, so dass ihn die Kugel nur seitlich an der Schläfe streifte. Aber das reichte, um ihn zu reizen. Er ließ Sonja los, stürzte sich auf mich. Ich legte den kleinen Hebel links an der Waffe um, pumpte die verbliebenen 17 Schuss in den Körper des Angreifers. Dann ließ ich die Pistole fallen und fuhr die Krallen aus.
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Gerade noch rechtzeitig. Der Gegner krachte in mich, riss mich von den Beinen. Ich rollte mich blitzschnell auf den Rücken, zerfetzte ihm Hemd und Brust, während ich wie eine wütende Katze fauchte. Als er zurückzuckte, versuchte ich, ihm die Klauen in die Augen zu rammen. Im Gegenzug bohrte er mir die seinen in den Bauch. Ich kreischte vor Wut und Schmerz, kam mit dem Oberkörper hoch, zog gleichzeitig die Hände vor die Brust, streckte die Arme und beförderte ihn so von mit herunter. Allerdings nicht, ohne ihm ein paar weitere tiefe Löcher in die Brust zu stanzen und dabei die Lunge zu perforieren.
Er knurrte. Ich sprang auf, ging in Verteidigungshaltung, doch bevor er sich wieder auf mich stürzen konnte, hörte ich dicht neben mir das vertraute Donnern von Mikes Desert Eagle.
„LASS MEINE MÄDCHEN IN RUHE, DU WICHSER!“ dröhnte Mikes Stimme durch das Klingeln in meinen Ohren. „UND VERPISS DICH GANZ SCHNELL, WENN DU DEINE ERBÄRMLICHE EXITENZ NOCH EIN WENIG LÄNGER BEHALTEN WILLST!“
Der Vampir knurrte wieder, wich zurück. Mike schoss ein zweites Mal, was den Feind zum Rückzug auf die die hintere Hofmauer veranlasste. Dort hockte er wie eine übergroße, ziemlich blutige Fledermaus auf der Mauerkrone und funkelte uns finster an. Der Typ ließ aber auch wirklich kein Klischee aus.
„Heute habt ihr gewonnen“, zischte er, „ aber der Meister wird euch alle vernichten….“ Dann sprang er von der Mauer und verschwand. Mike und ich wechselten ein Blick.
„Der Meister, ja?!?!“ sagte Mike trocken und zog die Augenbrauen hoch.
„Da weißte Bescheid“, kicherte ich leicht hysterisch, „weniger Dracula, mehr Renfield, eh?“
„Wer ist denn Renfield?“
„Oh Mann, Mike, und ich dachte, ich hätte Bildungslücken in Sachen Vampirliteratur. Sind bei dir eher Krater, was?“
„Deine Einstellung zu der dieser Sache gefällt mir nicht.“
„Welcher Sache? Graf Dracula und sein getreuer Renfield oder die Riesennebelkrähe von gerade?“
„Die Krähe. Im Gegensatz zu Dracula ist die nämlich real und wird wiederkommen, Meister hin oder her.“
„Zu der habe ich, ehrlich gesagt, keine konkrete Einstellung, außer, dass er der Kerl ist, der auch Dany und anderen Damen getötet hat. Womit auch klar sein dürfte, wer mit „Meister“ gemeint ist. Ich hatte also Recht: Alexj hat sich einen Verehrerkreis zugelegt. Dabei hätte ich mich so gerne geirrt, verdammt!“
„Das war der Kerl? Der mein Mädchen getötet hat? Wenn ich das gewusst hätte...!!!!“
„Was dann? Du hast keine Erlaubnis irgendwas zu tun, vergiss das nicht. Bruder Heinrich wird dafür sorgen, dass ich den Job bekomme und spätestens wenn der Prinz sich sicher ist, dass ich tatsächlich Jägerin bin, und mir die obligatorische „Tu–es-zum–Wohl–unserer–Existenz“–Predigt hält, ist Feierabend. Dann grille ich den Mistfliegenpilz und gut ist.“
„Der Existenz unserer Art oder seiner eigenen?“
„Pluralis Majestatis oder wie? Keine Ahnung, so gut kenne ich Prinz Wilhelm nicht. Ich war einmal zur Vorstellung da, als wir hergezogen sind und da war er aalglatt wie alle Stadtoberhäupter, die ich kennengelernt habe. Pokerface und joviales Gelaber, wie immer.“
„So was hab ich mir schon gedacht. Sei vorsichtig, Kleines, Wilhelm ist kein Feierabend – Prinz, auch wenn er gerne so tut. Er hat eine Ewigkeit unter seinem Drecksack von Vorgänger überstanden, bevor der unter nie geklärten Umständen verschwand. Man munkelt, dass der Kerl sogar sein Erzeuger war, was dem frischgewandelten Nachfolger eine knüppelharte Einführung in diese Welt beschert haben dürfte, denn Gnade war für den Fremdwort, genau wie Menschlichkeit. Ich wage zu bezweifeln, dass Prinz Wilhelm auch nur eine einzige Lektion vergessen hat, die der ihm verpasst hat.“
„Scheiße, da kann er einem ja fast leidtun, unser Prinz. Aber auch nur fast. Ich schätze, wenn man in seiner Welt klarkommen will, muss man so werden. Ich jedenfalls bin froh, dass ich mit Politik nichts am Hut hab. Keine Macht für niemand! So.“
Mike lachte. „Du änderst dich nie, was? Immer noch die kleine Göre, die heimlich auf dem Schulklo raucht?“
„Hahaha, seeehhhr witzig. Und so ungeheuer originell! Besteh‘ du erstmal das Abi so oft und mit so guten Noten wie ich, dann weißt, wie ätzend das ist. Ich sag dir eins: Wenn Prinz Wilhelm will, dass ich den „Nutten – Killer“ für ihn erledige, dann will ich, dass er mich vom Schirm der menschlichen Behörden verschwinden lässt. Ein fünftes Mal ab Klasse 10 zwischen Teenie – Problemen, Cyber- und sonstigem Mobbing, überforderten Paukern, dem neusten Smartphone und Kurvendiskussion ertrag‘ ich nämlich nicht! Ich bin fast 300 Jahre alt, keine 16 – auch, wenn ich so aussehe!“
„Na, wenn du ihm das so höflich mitteilst, wird Prinz Wilhelm dir sicher gerne weiterhelfen….“
Ich grinste und streckte Mike die Zunge raus. Es war gut, einen Freund wie ihn zu haben, mit dem unmittelbar nach einem Kampf trotz böser Verletzungen scherzen konnte. Die meisten Vampire interessiert es nicht sonderlich, was mit Nebenmann passiert. Solange sie nichts abbekommen haben, lassen sie die Verletzten einfach liegen – entweder, du kommst von selbst wieder hoch oder eben nicht. Ich war echt froh, dass Mike anders war.
Während wir quatschten, war ich zu der immer noch am Boden liegenden Sonja gegangen, während Mike sich um den Mann bemühte, den unser Dracula –Imitator benutzt hatte, um seine Beute herzubringen.
Nachdem wir die Beiden in Mikes Etablissement versorgt und uns sowohl um ihre Verletzungen als auch um ihre Erinnerungen gekümmert hatten, stimmten Mike und ich unsere Geschichten zu den heutigen Ereignissen ab. Vor einem Prinzen widerspricht man sich nicht.
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Schon in der nächsten Nacht wurden wir in den Regierungssitz zitiert. Prinz Wilhelm residierte im oberen Stockwerk eines Geschäftsgebäudes in der Innenstadt mit herrlichem Blick über sein Reich. Wer hat, der hat.
Ich parkte mein „Hauptsache – fährt – Mobil“ bei Mike und ließ mich von ihm mitnehmen - was mich angeht, ich hätte auch Bus und Bahn benutzt oder mich amüsiert, wie die Ghoule unseres Herrn und Meisters mit meinem Chausseefloh klarkamen oder auch nicht, aber Mike meinte, ein bisschen Stil sei durchaus angesagt.
Er selber war um einiges luxuriöser als ich mit Limousine und Chauffeur sowie seinen Bodyguards, Bear und Berserk genannt, unterwegs. Nicht, dass Mike die beiden letzteren wirklich gebraucht hätte, aber sie gehörten einfach zum Rotlicht – Boss – Image dazu, genauso wie unser Prinz immer seine Entourage im Schlepptau hatte, obwohl er vermutlich die allermeisten Gegner auch allein mühelos erledigt hätte. Männliches Imponiergehabe eben.
Ich wartete mit Bear und Berserk auf dem Flur, während sich Wilhelm Mike vornahm. Die beiden gerieten durchaus häufiger aneinander, trafen sich aber auch immer wieder bei irgendwelchen Events der Oberen Zehntausend auf durchaus friedlicher Ebene, von daher war ich nicht allzu besorgt. Man(n) kannte und respektierte sich.
Nach etwa 10 Minuten war Mike dann auch wieder draußen und der Türöffner – Ghoul vom Chef bat mich, einzutreten. Ich erhob mich, strich meinen Rock glatt - ich trug dem Anlass angemessen ein Kleid, das nicht aussah wie aus der Kaufhausabteilung für Kinder und Jugendliche, und skandalös hochhackige Schuhe (1,65m ist keine Größe, um mit jemandem zu verhandeln, der so ca. 1,80m ist) – und stöckelte gekonnt in das prinzliche Büro.
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Prinz Wilhelm war und ist ein gutaussehender Mann, schlank, trainiert, stets perfekt gekleidet und wirkt mit seinen vollen dunkeln Haaren und den lebhaften brauen Augen keinen Tag älter als 30. Über sein tatsächliches Alter und seine Herkunft kursierten so viele Gerüchte, dass ich ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Man kann ja schließlich nicht einfach fragen und überhaupt macht Tratschen viel mehr Spaß. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, dass Wilhelm älter ist als ich, aber einer der jüngsten Prinzen in Europa und dass er die Inquisition hasst. Trotzdem hält er sich schon bemerkenswert lange auf dem Thron dieser Stadt, mangelndes Rückgrat kann man ihm wirklich nicht unterstellen. Außerdem hat er Schlag bei Frauen, wann immer er irgendwo auftaucht, hängen die Damen wie die Kletten an ihm und himmeln ihn an, als sei er so was wie der liebe Gott und Michael Jackson in einer Person. Fehlt nur noch, dass sie kreischen wie Teenies. Fürchterlich. Aber sicher gut für's Ego.
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Wie beim letzten Mal empfing mich unser Oberhaupt hinter seinem Schreibtisch verschanzt, seine Aura sorgfältig verschleiert, ein leeres, wie aufgemaltes, Lächeln im Gesicht. Ganz der Polit-Profi tat er so, als hätte mein Eintreten nicht bemerkt. Sieh, wo dein Platz ist, Scherge.
Ich sank in meinen allerschönsten Hofknicks, schlug die Augen nieder zum Zeichen meiner Unterwerfung, wobei ich natürlich aus den Augenwinkeln die Szenerie beobachtete, und verharrte so. Ich konnte stundenlang reglos knien, wenn es sein musste – gelernt ist gelernt. Obwohl die ultimative Geste der Unterordnung, war das in diesem Fall auch ein dezenter Hinweis darauf, dass ich schon zu Zeiten existiert hatte, als eine knappe Verbeugung vor den Mächtigen dieser Welt keineswegs als ausreichend betrachtet wurde.
Zu meiner Überraschung erhob sich unser Oberhaupt fast sofort, um wie in den alten Zeiten meine Hand zu nehmen und mich aufzuheben. Er vergaß nicht einmal den Schmetterlingskuss auf die Handschuhspitzen. Während ich so von unten zu ihm hoch sah, hatte ich für einen Moment den Eindruck, dass sein Lächeln tatsächlich auch seine Augen erreichte – aber das konnte ich mir genauso gut auch eingebildet haben, denn als er mich galant in die „Wir-sind-ja-alle-so-gute-Freunde“ – Ecke des Büros geführt hatte, war er wieder so undurchschaubar wie gewohnt.
Prinz Wilhelm platzierte mich auf der Couch, bevor er sich in einem Sessel gegenüber niederließ. Bemerkenswert – das letzte Mal hatte er mich vor dem Schreibtisch stehen lassen. Offenbar stieg seine Freundlichkeit, wenn er etwas von jemandem wollte, exponentiell an. Meine Wachsamkeit allerdings auch.
„Fräulein Madeleine“, eröffnete Wilhelm unseren Schlagabtausch, „es ist lange her, dass ich einen so perfekt ausgeführten Hofknicks gesehen habe. Erinnert ein wenig an die gute alte Zeit, nicht wahr?“
‚Es ist gerade mal zwei Jahre her, du Vogel‘, dachte ich, ‚und was zum Geier war an der alten Zeit so gut? Wenn du schon Small – Talk machen willst, dann üb wenigstens vorher!‘
Laut sagte ich artig: „Nur, weil es ein wenig antiquiert wirkt, ist ja nicht verkehrt, mein Prinz. Allerdings bin ich froh, dass ich dabei keinen Vogelkäfig mehr tragen muss. Von daher habe ich auch nichts gegen die Moderne.“
„Vogelkäfig?“ Jetzt hatte ich ihn doch tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Huch.
„Reifrock“, grinste ich, „wenn man das Ding ohne die Stoffmassen drüber trägt, sieht es aus, als hätte man die Beine in einen Vogelkäfig gesteckt.“
Diesmal war ich mir sicher, ein echtes Lächeln gesehen zu haben. Na also, ging doch.
Prinz Wilhelm musterte mich aufmerksam. „Ich nehme an, Ihr wisst, warum ich Euch hergebeten habe, Fräulein Madeleine?“
„Tja…da fallen mir spontan zwei Gründe ein“, entgegnete ich, „welcher Euch dazu bewogen hat, mich sprechen zu wollen, kann ich leider nicht sagen. Beide sind für meine Begriffe wichtig zu klären, mein Prinz.“
Er schaffte es doch tatsächlich, nur eine Augenbraue hochzuziehen. Sehr stylisch, Mr. Spock. Gab es ein Seminar für Politiker, wo sie das lernten?
„Zwei Gründe? Jetzt habt Ihr es tatsächlich geschafft, meine Neugier zu wecken. Ich bin ganz Ohr.“
Himmel hilf! Wie arrogant kann‘s werden? Ich glaubte ihm nicht eine Sekunde, dass er nicht ganz genau wusste, wovon ich sprach. Nichtsdestotrotz hatte ich jetzt den Schwarzen Peter und musste Farbe bekennen. Blöder Arsch. Aber dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen.
„Nun, da beide Gründe eng zusammenhängen, fange ich mit dem offensichtlichen an: Die Schießerei in einer der Seitengassen am Straßenstrich am ehemaligen Güterbahnhof, im Volksmund Gleis Sex genannt. Oder vielmehr in einem der Hinterhöfe, ganz öffentlich war es ja nun nicht.“
„Schießerei? Nun, so kann man das auch nennen, schätze ich. Allerdings wurde mir zugetragen, dass Ihr den in Frage kommenden Vampir angegriffen habt.“
„Ist das so? Der Kerl hat einen Menschen beeinflusst, um eine der Damen in den Hinterhof zu bekommen. Als ich dazukam, hatte er sie sich gerade schön malerisch zurechtgelegt, um ihr die Zähne in Hals zu rammen. Was hätte ich denn Eurer Meinung nach tun sollen, nachdem in den Nachbarstädten mittlerweile mindestens vier Nutten durch einen der Unseren getötet wurden? Warten, bis er ihr die Kehle rausreißt und dann ankommen und ganz lieb nachfragen, ob es vielleicht gestattet sei, den Wichser zu erledigen? Ihr habt mir doch bei meiner Ankunft hier verklickert, dass wir als überlegene Rasse die Menschen zu schützen haben, vor allem vor Übergriffen von Vampiren. Hab ich gemacht. Und nun?“
„Ihr konntet nicht wissen, ob er sie wirklich ernsthaft verletzen oder sogar töten wollte.“
„Ich wollte das, mit Verlaub, auch gar nicht in Erfahrung bringen. Ich kenne die Frau, um die es geht, seit ich bei Mike anfangen habe zu tanzen, seit dieser verdammte Strich mein Jagdrevier ist. Ich setze ihr Leben nicht für ein „Schau’n mer mal“ auf‘s Spiel. Plus: Der Drecksack hat eine Aura wie der Atlantik bei Sturm in wunderschönen psychedelischen Farben. Der ist verrückter als eine New Yorker Scheißhausratte. Außerdem ist es ja nicht so, dass 18 Schuss 9mm ernsthaften Schaden anrichten würden. Das tut weh, ja, aber meines Wissens nach ist noch kein Vampir dran gestorben. Ich jedenfalls habe schon Schlimmeres eingesteckt und bin immer noch da. Die Krallen von dem Arsch sind jedenfalls auch nicht von schlechten Eltern.“
Wilhelm runzelte die Stirn. Ich hatte ihn und er wusste es. „Ihr hättet ihn warnen müssen.“
„Hab ich. Darum ist der erste Schuss vorbeigegangen, statt ihm ein schönes, rundes Loch in den Schädel zu stanzen. Er ist verdammt schnell. Keine Minute später hatte ich siebzehn weitere Kugeln in ihn reingepumpt und wir haben mit den Klauen aufeinander eingedroschen. Er hat nicht mal angebremst. Wenn Mike nicht aufgetaucht wäre, hätte es für mich eng werden können.“
„Verstehe. Glaubt Ihr, es wäre ein Kampf bis zum endgültigen Tod geworden?“
„Keine Ahnung. Von meiner Seite sicherlich nicht. Mein Plan war „kampfunfähig“. Ich würde mir nie anmaßen, ein Todesurteil zu fällen und ich vollstrecke auch nicht gern welche. Von seiner Seite aus? Keine Ahnung. Der Kerl ist für meine Begriffe absolut unkalkulierbar.“
So, das war seine Steilvorlage. Schluss mit dem Gerede über Dinge, die erstens nicht mehr zu ändern und zweitens so tragisch nun auch nicht waren.
Prinz Wilhelm lehnte sich leicht vor und schaute mir direkt in die Augen. Das Raubtier setzte zum Töten an, wenn auch nur verbal.
„Ihr vollstreckt nicht gerne Todesurteile? Nun, da habe ich etwas ganz anderes in Erfahrung gebracht, Fräulein Madeleine.“
Und da hatten wir Grund Nummer zwei. Bruder Heinrich hatte ordnungsgemäß Bericht erstattet. Jetzt wurde es spannend.
„Ach? Wer erzählt denn so was?“
Er versteifte sich. Wie konnte ich es aber auch wagen, so direkt zu fragen. Nicht, dass ich eine Antwort erwartete.
„Das tut nichts zur Sache“, stellte Wilhelm dann auch fest, „aber mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr mit dem Töten von Unseresgleichen sehr viel Erfahrung haben dürftet.“
„Und? Muss es mir deshalb gleich gefallen?“
Nein, ich mache es dir nicht leicht. Vergiss es! Wenn du was wissen willst, dann frag halt, verdammt!
„Natürlich nicht!“
Nachdenklich betrachte ich die sich langsam deutlicher abzeichnende, sich verdunkelnde Aura des Prinzen. Er verlor zunehmend die Contenace. Nicht, dass Einschüchterung bei mir funktionierte, aber allein, dass er sich von einem kleinen provokanten Unterling wie mir so aus der Reserve locken ließ, zeigte mir mehr, als er wahrscheinlich preisgeben wollte. Die Sache ging ihm nah.
Unser Oberhaupt versuchte, seine Wut und noch etwas Anderes, Dunkleres, unter Kontrolle zu halten. Ich ahnte, was kommen würde, kannte diese Reaktion. Wen hatten wir dieses Mal getötet, der seiner Meinung nach noch lange hätte existieren sollen?
Schließlich fragte Wilhelm leise, aber gefährlich: „Warum habt ihr mir verschwiegen, dass Ihr Jägerin seid?“
‚Weil ich genau diese Situation befürchtet habe‘, dachte ich, ‚ich bin zwar nicht mehr aktiv, aber das hätte ich niemanden klarmachen können. Ich wäre tot gewesen, noch bevor ich fertig gesprochen hätte.‘
Er ließ mich nicht aus den Augen. Ich spürte etwas wie ein Kribbeln im Kopf und war mir sicher, dass er meine Gedanken las. Verdammte Scheiße, musste dieser arrogante Drecksack mir so verflucht überlegen sein! Anderseits – das kostete auch richtig. Aus irgendwelchen Gründen wollte er sichergehen, dass ich jetzt nicht log.
„Weil ich ausgestiegen bin, schon vor einer halben Ewigkeit“, entgegnete ich ruhig, „ich habe das nie machen wollen und bin raus, sobald sich die Gelegenheit bot.“
Der Prinz nickte, erhob sich, trat an das Panoramafenster und starrte in die Nacht. Im Spiegel des Glases konnte ich sehen, wie er sich auf die Unterlippe biss. Das Bild flackerte leicht. Interessant.
Ich senkte den Blick, gab ihm ein bisschen Privatsphäre. Er war nicht der erste, der jemand, der ihm wichtig war, durch die Jäger verloren hatte. Er war nicht der erste, der uns dafür hasste.
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Wir schwiegen eine Weile. Irgendwann drehte Wilhelm sich zu mir um. Ich konnte seinen Blick auf meinem Scheitel spüren.
„Fräulein Madeleine, darf ich Euch etwas Persönliches fragen?“
„Sicher. Fragt.“ Vermutlich würde ich sogar antworten.
„Warum seid ihr Jägerin geworden?“
Autsch. Das war direkt. Aber wenn ich die Situation korrekt eingeschätzt hatte, verdiente er eine ehrliche Antwort.
„Ich bin Jägerin geworden, weil die große Ann von England das für eine gute Idee gehalten hat. Sie hat mir nicht mitgeteilt, was sie damit bezwecken wollte, und wenn Ihr sie kennt, wisst Ihr, dass ich auch mit Sicherheit nicht nachgehakt habe.“
„Nachvollziehbar“, stellte Wilhelm trocken fest, „war das der einzige Grund?“
„Nein. Aber der Rest ist privat und tut auch nichts zur Sache.“ Meine Hand wanderte wie von allein zu dem Medaillon um meinen Hals, spielte mit der Kette.
„Das würde ich gerne selbst entscheiden, junge Dame!“ Scharf. Er traute mit keinen Millimeter.
Ich biss die Zähne zusammen. Da musste ich wohl durch. Meine Hand umschloss den Anhänger so fest, dass ich aufpassen musste, ihn nicht zu zerdrücken.
„Okay...ich muss aber ein bisschen ausholen.“
Wilhelm nickte. „Bitte.“
Die ganze Geschichte begann in England. Ich lebte schon eine ganze Weile in London und nicht mal schlecht – ich hätte mir mein Blut nicht in den Armenvierteln besorgen müssen, irgendwo wurde schließlich immer getanzt und ich war ja soooo süß, so ein Püppchen. Vielleicht ging ich deshalb dorthin. Um mal wieder in den Ring zu steigen, Kontrastprogramm, Sehnsucht - einmal kein Kind sein müssen. Keine Ahnung. Jedenfalls war ich im Herbst 1888 fester Bestandteil des Nachtlebens von Whitechapel.
Offenbar habe ich das unglaubliche Talent, mich so alle 100 Jahre mal wieder in die totale Scheiße zu reiten. Falls Ihr die Daten nicht im Kopf haben solltet: In diesem verfluchten Jahr gab es in London nur ein Thema: Den Ripper. Jack the Ripper. Der, den sie nie gekriegt haben – weil er kein Mensch war.
Außerdem hatte ein Jahr zuvor ein gewisser Bram Stroker ein Buch auf dem Markt gebracht, dass alle Gemüter erhitzte und die Spekulationen anheizte: „Dracula“. Die Menschen, die beides in Verbindung brachten, waren die, die der Wahrheit am Nächsten kamen.
Die ohnehin nicht für ihre gute Laune bekannte Ann, damals noch „nur“ Prinzessin von London, tobte. Neben dem unendlichen Krieg gegen den Feind in Schottland hatte sie jetzt auch noch diesen Killer am Hals – und mit ihm einen Haufen Jäger, echte und Möchtegerns in rauen Mengen. Wie sollte man unter diesen Umständen anständig regieren? Überhaupt hatte ihr das bestimmt „der Bastard aus Edinburgh“ eingebrockt und sie würde nächstens sein Schloss abfackeln, dann wäre da endlich Ruhe. Geschwisterliebe auf höchstem Niveau.
Für uns, die wir in der Hierarchie irgendwo zwischen Ratte uns Kakerlake eingeordnet wurden, hieß das: Kopf einziehen und ja nicht auffallen. Weder unserer Prinzessin noch den Jägern. Dreimal dürft Ihr raten, wer das wieder nicht geschafft hat.
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Dabei waren die Voraussetzungen im überfüllten Whitechapel gar nicht mal so schlecht. Auch wenn sich zahlreiche Vampire dort herumtrieben – es war ein gutes Jagdrevier, niemand interessierte sich für die Menschen dort – kamen wir uns kaum in die Quere. Wie mich gab es einige, die tagsüber brave Bürger der Oberschicht waren, aber natürlich auch gescheiterte Existenzen, Einsiedler und andere, die ein Dasein in den Schatten vorzogen. Gewalt war in diesem Viertel der Stadt an der Tagesordnung - die Polizei hatte das Talent, immer erst dann zu erscheinen, wenn alles schon vorbei war - aber sie ging von Menschen aus. Die Vampire fauchten sich allenfalls ein wenig an, bevor jeder wieder seiner Wege ging. Daran änderte auch der Ripper nichts, im Gegenteil. Die Vampirjäger, -forscher und -gläubigen sorgen dafür, dass wir unsere Eigenheiten schön für uns behielten.
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Am 30ten September 1888 bummelte ich wie gewöhnlich auf der Suche nach Kundschaft/ Beute durch das Viertel. Besondere Vorsichtsmaßnahmen hatte ich nicht getroffen, obwohl der blutige Jack bereits 2x zugeschlagen hatte. Zumindest offiziell – in Vampirkreisen war von mindesten 4 Opfern die Rede, die Dunkelziffer lag vermutlich noch höher. Alibimässig trug ich eine kleine Damenpistole bei mir, aber mit der hätte ich aus 1m kein Scheunentor getroffen, wenn sie überhaupt zündete. Egal – meine eigentlichen Waffen waren besser verborgen und weitaus gefährlicher.
Kurz nach Mitternacht schlenderte ich die Berner Street (heute Henriques Street) entlang, als mir in einem der Hinterhöfe ein merkwürdiges Schattenspiel auffiel. Ein Mann, zu erkennen am Zylinder, der ein Messer in der Hand hielt und sich über Etwas am Boden liegendes beugte.
Wenn ich einfach weitergegangen und mich um meinen eigenen Scheiß gekümmert hätte, säße ich jetzt nicht vor Euch und müsste mich rechtfertigen. Es hätte so einfach sein können.
Aber weil ich nun einmal bin, wer ich bin, trat ich in den Hofeingang und überraschte einen Vampir mittleren Alters, der gerade einer Frau die Kehle durchschnitt und dabei das hervorsprudelnde Blut trank, wobei er verzückt die Augen verdrehte. Er hatte mich noch nicht bemerkt.
Ich hätte gehen können. Ich hätte gehen sollen. Der Frau war nicht mehr zur helfen, auch wenn ihr Herz noch schlug, die Wunde hätte selbst mein Blut nicht mehr schließen können, bevor sie tot gewesen wäre. Aber ich ging nicht.
Stattdessen fuhr ich die Krallen aus, trat einen weiteren Schritt in den Hof und knurrte leise. Der Vampir fuhr herum, fauchte, hob das Messer, schwankte zwischen Angriff und Verteidigung.
Mein Knurren wurde lauter, während ich mich dem Mörder nährte, wobei ich versuchte, in seine Flanke zu kommen. Sein Blick folgte mir. Er bewegte sich nicht.
Versteht mich nicht falsch, die Tatsache, dass dieser Verrückte Frauen tötete, berührte mich damals nicht sonderlich. Nur, dass er das in meinem Revier tat und ich dadurch ständig aufpassen musste, nicht von Vampirfans oder -gegnern entlarvt zu werden, nervte ich mich fürchterlich. Ich wollte, dass der Kerl verschwand. Ich wollte meine Ruhe, verdammt!
Jack erhob sich langsam und wir begannen, uns in sicherem Abstand zu umkreisen, knurrend und fauchend wie zwei Kater, die ein Revierduell ausfechten.
Gerade als ich wieder mit dem Rücken zum Hofeingang stand und der Kerl sich kaum merklich spannte, um zum Angriff überzugehen, ertönte hinter mir die leicht kieksige Stimme eines Jungen im Stimmbruch: „Sir, lasst das Messer fallen, sofort!“
Verdammt! Jetzt ging alles ganz schnell. Ich verwandelte mich instinktiv in die kleine Unschuld vom Lande zurück, um dem Menschen meine Art nicht preiszugeben. Der Bastard von Killer erkannte sein Chance, schnellte über den Hof, packt mich und drückte mir das Messer an die Kehle. Ihm war es offensichtlich egal, was die Sterblichen dachten, so schnell, wie er sich bewegte. Andererseits: es war ein Messer. Nur ein Messer. So ganz helle war mein Gegner demnach auch nicht.
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Da mir für mein Empfinden keine unmittelbare Gefahr drohte, riskierte ich einen Blick auf den Menschen, der uns in die Quere gekommen war.
In dem schmalen Durchgang stand ein Junge, etwa in meinem Alter, schlank, eine Deerstalker Mütze á la Sherlock Holmes auf den wirren brauen Haaren, die Kleidung zu gut für diese miese Gegend. In der Hand hielt er kampfbereit ein Florett.
Ein Kinderdegen. Sehr wirkungsvoll. Normalerweise hätte ich schallend gelacht, aber etwas an dieser Waffe war anders. Sie strahlte eine Kälte aus, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Es dauerte eine Weile, bis mir aufging, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte, kannte ich es doch nur aus Beschreibungen anderer. Die Klinge war geweiht.
Der Kleine war ein Jäger. Heilige Scheiße.
Allerdings schien er nicht besonders erfahren zu sein, denn nach seinem tapferen – und ziemlich dummen – Einschreiten hatte er keine Ahnung mehr, wie er weitermachen sollte. Er fürchtete vermutlich, mich zu gefährden, wenn er sich meinem Geiselnehmer weiter nährte. Das wiederum bedeutete, dass er nicht mitbekommen hatte, dass ich ebenfalls ein Vampir war. Gut. Blieb mir dieser leuchtende Zahnstocher vom Leib.
Trotzdem konnte dieser Patt nicht ewig dauern. Der Killer hinter mir wurde zunehmend unruhiger, er reagierte wesentlich heftiger auf die Waffe des Jungen als ich, sein ganzer Körper war gespannt wie eine Bogensehne. Er drückte das Messer so fest auf die Ader an meiner Kehle, dass sie bei einem Menschen bereits Geschichte gewesen wäre.
Ich entschloss mich zu handeln. Mit aller Kraft und ein bisschen Vampirstärke rammte ich dem hinter mir Stehenden meinen Ellenbogen in die interessanteren Teile der männlichen Anatomie.
Vampir oder nicht, ein Mann bleibt ein Mann. Obwohl er den Schlag kaum gespürt haben dürfte, ließ mein Kontrahent mich sofort los und schwankte an die Mauer zurück, wobei er leicht in die Knie ging.
Ich unterdrückte ein Grinsen, während ich seitlich auswich, um dem Jäger freie Bahn zu geben. Der zögerte jedoch eine Sekunde zu lange, sein Angriff kam zu spät um zu verhindern, dass der Kerl sich fing und fauchend über die Mauer in danebenliegenden Hof verschwand.
Ich fluchte wie die Straßenhure, die ich war. Von allen Jägern in dieser Stadt bekam ich den ohne Erfahrung! Ganz toll! Ohne weiter nachzudenken, überwand ich den Abstand zur Mauer, zog mich hoch und versuchte, den Typen im Dunkel vor mir auszumachen. Keine Chance. Er war weg. Natürlich. So eine verdammte Scheiße! Ich knurrte wütend und frustriert.
Hinter mir hörte ich ein erschrockenes Japsen. Oh, Mist, den hatte ich ja völlig vergessen! Ich drehte mich so geschickt, wie es nur ein Vampir kann, auf der schmalen Mauerkrone um und sah zu dem Jungen, der inzwischen da angekommen war, wo ich eben noch gestanden hatte, hinunter.
„Was ist los, Kleiner? Keine Lust, mich zu erledigen? Oder hast du Angst?“
„Nein...“, stammelte er, „ich hatte nur keine Ahnung, dass Ihr auch...ich dachte...ich...“
„Du hast überhaupt nicht gedacht“, stelle ich fest, „und du hast eine Scheißangst. Keine guten Voraussetzungen in dieser miesen Gegend. Vom Vampire Jagen mal ganz zu schweigen.“
„Ich habe keine Angst!“ Trotzig, aber das auf mich deutende Florett zitterte ganz leicht.
„Mach dich nicht lächerlich. Ich kann sie bis hierher riechen. Und jeder meiner Art im Umkreis von 5 Meilen gegen den Wind auch. Tu dir selbst einen Gefallen und steck den Zahnstocher da weg. Dann kann ich nämlich von der Mauer springen und du kommst heile nach Hause.“
„Wenn ich das tue, fallt Ihr über mich her!“
„Und wenn nicht, dann jeder Andere. Krieg dich ein. Ich trinke nicht von Kindern, die Gefahr, eins zu töten, ist zu groß. Im Übrigen habe ich bereits gefrühstückt, ich bin schon ein paar Stunden unterwegs...“
„Ihr lügt. Wie alle Vampire! Und die Anderen sind gleich da...“
„Wenn die so lange brauchen, um aufzutauchen, seid ihr die dämlichste Vampirjägertruppe aller Zeiten. Ich hätte dich schon mindestens 3x töten können, wenn ich gewollt hätte.“
Das war, freundlich ausgedrückt, stark übertrieben. Ich hatte sehr wohl einen Heidenrespekt vor der Waffe in der Hand des Jungen. Aber im Gegensatz zu ihm konnte ich meine Angst gut verbergen – er konnte mich ja nicht einmal richtig sehen.
„Also, was ist jetzt? Soll ich runterkommen oder in den Hof hinter mir verschwinden und dich der Nacht überlassen? Deine Entscheidung, Kleiner.“
Er schluckte hörbar. Vermutlich wurde ihm jetzt erst klar, wie dumm er sich verhalten hatte. Menschliche Jäger kamen immer in Gruppen und das aus gutem Grund. Einer allein hat keine Chance, einen Vampir zu töten – verjagen ja, aber nur, weil der betreffende Blutsauger Angst vor der Waffe hat. Vor dem Sterblichen an sich ganz sicher nicht. Insofern genoss ich meine Macht auch ein bisschen – in sicherer Entfernung auf einer Mauer konnte mir ja nichts passieren. Bei einer Pistole wäre das natürlich anders, aber so....
„Du solltest so langsam zu Potte kommen – wir kriegen Gesellschaft und keine nette. Sterblich auch nicht, was das angeht....“
Tatsächlich konnte ich Vampire in der Nähe wahrnehmen. Kein Wunder, der Geruch des Blutes des Opfers, das immer noch vergessen zwischen lag, und der Angst des Jungen lockte jeden hungrigen Blutsauger der Umgebung an. Alles in diesem Hof schrie: „Leichte Beute!“
Da der Kleine immer noch zu Nichts in der Lage zu sein schien, entschied ich das Ganze, bevor die Anderen mir den Rückzug abschneiden konnten. Ich sprang von der Mauer, trat dem Jungen das Florett aus der Hand, klemmte ihn unter den Arm und folgte dem Weg des Killers in die Schatten. Erst viel später wurde mir klar, dass ich dazu gar nicht hätte in der Lage sein sollen. Die Waffe hätte mich lähmen, die Berührung mich verbrennen müssen, Lederschuhe hin oder her. Nichts von alledem geschah.
Ein paar Straßen weiter, in sicherer Entfernung, setzte ich den Jungen ab. Der starrte mich mit offenem Mund an. ER hatte begriffen, was gerade passiert war.
„Wie...“, stotterte er, „wie....habt ihr das gemacht?“
„Was gemacht? Ich hab ich dich da rausgeholt, sonst nichts. Ich sagte doch, ich verletze keine Kinder. Und ich gucke auch nicht zu, wenn es ein anderer tut.“
„Ähhhh...“
„Ich heiße übrigens Sally. Und du?“
„George...ich heiße George...“
Und so begann es.
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Bevor ich weitererzähle, noch eine kurze Erklärung zu der Prostituierten, die in dieser Nacht in diesem schmierigen Hinterhof ihr Leben an Jack the Ripper verlor: Die bedauernswerte Elisabeth Stride gilt bis heute offiziell als das dritte Opfer des Rippers, das einzige, bei dessen Tötung und Ausweidung er gestört wurde – dass es ein Kellner mir einem Fuhrkarren war, ist natürlich von einem der Unseren in die Welt gesetzt worden. Die Wahrheit wäre ja auch allzu absurd. Allerdings tötete ebendiese in jener Nacht auch Catherine Eddowes, die das Pech hatte, dem geharnischten, hungrigen Killer auf der Flucht über den Weg zu laufen. Ich wünschte, es wäre anders ausgegangen.
Mögen sie in Frieden ruhen.
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Bereits am nächsten Abend sah ich den jungen Jäger wieder, allerdings dieses Mal in deutlich besserer Gesellschaft – wenn auch nicht unbedingt in angenehmerer, denn er kam in Begleitung zweier weiterer Gentlemen zu mir, beide älter und ganz offensichtlich erfahrener, da schwer bewaffnet und mit gefährlich wachsamen Augen. Ihre ganze Art, sich zu bewegen, strahlte Gefahr aus.
Sie hatten nicht die katzenhafte Geschmeidigkeit eines Vampirs, aber auch mit Bären legt man sich besser nicht an. Allein die Tatsache, dass sie völlig selbstverständlich bei Einbruch der Dunkelheit in der Domäne eines nicht mehr so ganz jungen Vampirs auftauchten, sagte mir mehr, als ich wissen wollte. Mein Page – oder eher Diener, aus dem viel zu jungen Soldaten war mittlerweile ein stattlicher Mann mit ordentlich Schlag bei Frauen geworden – reagierte ebenfalls alarmiert und bezog Posten an der Tür, um dem Trio gegebenenfalls den Rückweg abzuschneiden. Auch er war, wie immer, bewaffnet.
Ich zauberte ein Lächeln auf meine Lippen, lehnte mich in meinem Sessel leicht vor und legte meinen ganzen Charme in meine Stimme: „George! Wie erfreulich, Euch wiederzusehen! Und dieses Mal in so charmanter Begleitung!“
Gott, ich hasste mich selber, wenn ich so redete – wie ein kleines, plapperndes, dummes Fräulein, das einen Gatten sucht. Zuckersüße Unschuld, von keinerlei Ahnung beleckt….Natürlich wirkte es bei den Jägern nicht. Hätte mich auch überrascht.
Trotzdem bemerktem sie den Versuch. Der Älteste der Gruppe, den ich auf Anfang bis Mitte 40 schätzte und dessen Narben ein deutliches Bild von den Gefahren der Vampirjagd zeigten, fauchte mich an: „Schweigt, Höllenbrut! Eure verderbte Magie hat keinen Einfluss auf die Krieger des Herrn! ER hält sein schützendes Schild über SEINE treuen Diener!“
Oha. Das war an Theatralik ja kaum noch zu überbieten. Fehlte nur noch, dass er mit einem Kreuz in der Gegend herumwedelte. So langsam dämmerte mir, warum der Junge gestern so planlos in den Kampf zweier Vampire geplatzt war. Den Unterschied zwischen Gottvertrauen und grenzenloser Selbstüberschätzung hatte ihm vermutlich keiner erklärt.
Ich überlegte kurz, was ich mit so viel Schwachsinn anfangen sollte, dann sah ich dem wackeren Soldaten der Kirche genau in die Augen und sagte trocken: „Naja, wenn der liebe Gott so gut auf Euch aufpasst, könnt Ihr mich ja unbesorgt weiterreden lassen. Ich gehe mal davon aus, dass Ihr Euch in dieser Sache verdammt sicher seid – einfach so am frühen Abend in die Domäne eines Vampires zu spazieren, grenzt schon an Größenwahn, das dürfte Euch klar sein, oder?“
„Wir fürchten die Konfrontation mit der Hölle nicht!“ bekam ich zur Antwort. Soso.
„Tja“, schoss ich zurück, „da haben wir was gemeinsam. Ich nämlich auch nicht.“
Das war gelogen. Ich hatte Angst. Drei – naja 2 ½ - Jäger konnte ich nicht besiegen und das wusste ich auch. So schnell ich mich auch bewegen konnte, einer würde mich treffen und dann war Feierabend. Wenn ich sehr viel Glück hatte, konnte ich einen von ihnen mit in den Untergang ziehen, aber das wäre vermutlich der Junge und das wollte ich nicht. Nicht nur, weil ich das billiger hätte haben können.
Wir funkelten uns eine Weile an, beide sprungbereit, als der zweite Mann das Wort ergriff. Er sah George sehr ähnlich, vermutlich ein naher Verwandter und wirkte längst nicht so auf Krawall gebürstet wie sein Partner.
„Nanana“, brummte er und legte dem Älteren begütigend die Hand auf den Arm, „sei nicht so streng mit der jungen Dame. Vergiss nicht, sie hat George unbeschadet freigelassen…“
Freigelassen?!? „Ich hab dem Jungen den Arsch gerettet“, sagte ich nüchtern, „bevor Ihr mich anmacht, solltet Ihr erstmal Eurem Küken beibringen, nicht auf eigene Faust loszuziehen und vor allem nicht ohne Plan in Auseinandersetzungen zwischen Vampiren zu platzen. Verlängert das Leben ungemein, wenn Ihr mich fragt.“
Der Junge wurde flammend rot. „Was kann ich dafür, dass Ihr nicht wie ein Vampir reagiert?!“ sprudelte er hervor, was ihm einen strafenden Blick seiner Begleiter eintrug.
Ich ignorierte die beiden Himmelskomiker von Gottes Gnaden und wandte mich direkt an George. So sehr mich der Besuch ängstigte, so sehr weckte er auch meine Neugier. Ich meine, hey, wann hat man schon mal Gelegenheit, mit dem Erzfeind zu plaudern?
„Wie sollte ich denn Eurer Meinung nach reagieren?“ erkundigte ich mich interessiert.
„Ängstlich? Immerhin habe ich Euch mit einer geweihten Waffe bedroht.“
„Das ist mir aufgefallen. Aber warum sollte ich Angst haben? Respekt, okay, aber letztendlich war es nur ein Florett. Ich hätte jetzt kein Bedürfnis gehabt, mit dem Ding in Berührung zu kommen, aber sonst…“
„Und genau das ist das Problem“, mischte sich der Mittlere des Trios wieder ein, „Ihr hättet Angst haben MÜSSEN. Der Andere ist laut Georges Aussage beinahe durchgedreht, während Ihr…Ihr habt unserem Krieger die Waffe aus der Hand getreten!“ Er sah mich vorwurfsvoll an, so als hätte ich ein ehernes Gesetz gebrochen, weil ich vor dem leuchtenden Zahnstocher nicht in Ehrfurcht erstarrt war.
„Wie gesagt, ich wollte sie nicht unbedingt berühren. Mein Wunsch nach unheilbaren Wunden hält sich, wie Euch sicher denken könnt, in sehr engen Grenzen. Und was den Anderen angeht – der war sowieso schon gestört. Wer weiß, was der gesehen hat.“
„Macht Euch DAS HIER Angst!“ fauchte der Ältere plötzlich und zog ein ziemlich beeindruckendes Schwert aus der Scheide an seiner Hüfte.
Die Raumtemperatur fiel um mehrere Grad, als es zu leuchten begann.
Ich knurrte, glitt in hinter die Lehne meines Sessels, während meine Fänge aus dem Kiefer traten. Meine Augen glühten so rot, wie das Schwert kalt und blau glänzte.
„Ssssssseid Ihr besssscheuert? Packt dassss Ding wieder ein oder wollt Ihr, dasssssss mein Diener Euchchchch eine Kugel in den Kopf jagt?“
Ihr werdet es nicht glauben, aber der Kerl LACHTE und machte einen weiteren Schritt in meine Richtung. Ich fuhr die Krallen aus.
„Ichchchchch warne Euchchchch. Noch ein Ssssschritt und Ihr könnt Euchchch vor Eurem Gott für Eure Dummheit rechchchchtfertigen!“
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Ghoul die Waffe hob. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Ich konnte nicht gewinnen und legte keinen Wert auf ein Dasein auf der Flucht. Das hieß: Entweder steckte der Jäger die Waffe in die Scheide oder es würde enden, hier und jetzt.
Davon gänzlich unbeeindruckt nährte er sich mir weiterhin. Okay, dann eben anders.
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Mit ausgefahrenen Krallen und gefletschten Reißzähnen schnellte ich über den Sessel, landete im Rücken des Typen, packte seinen unbewaffneten Arm und drückte die Fänge auf den Puls.
„Fallenlassssssssen, hab ichchch gesssssagt!“
Während ich sprach, pumpte ich Vampirgift gegen die Ader – er wollte mich mit seiner Waffe lähmen? Nun, das konnte ich auch. Und zwar besser.
Ein erster Blutstropfen erschien, als ich meine Zähne etwas tiefer in das Gelenk bohrte. Der Mann erstarrte augenblicklich, als das Gift seine Wirkung entfaltete. Das Schwert polterte zu Boden. Ich erhöhte den Druck und er stöhnte erregt, vollkommen in der Illusion gefangen, die ich ihm vermittelte. Idiot.
Den Körper als Schutzschild nutzend, wandte ich mich den beiden anderen Helden zu, die fassungslos auf die Szene blickte. Das Ganze war so schnell gegangen, dass sie noch nicht einmal ihre Waffen gezogen hatten.
Ich legte eine Kralle über die Kehle meines Opfers und zischte: „Eine falssssche Bewegung und er issst tot. Wasssss sssssoll dasss hier? Wassssss wollt Ihr von mir?“
Der mittlere Typ hob die Hände. „Ganz ruhig. Wir wollen Euch nichts tun...“
„Dasssss hab ichchch gessssehen!“
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trat ich das Boden liegende Schwert außer Reichweiteund nahm den Kerl in den Schwitzkasten. Meine Angst war einer gnadenlosen Wut gewichen – was bildeten sich diese Angeber eigentlich ein, mich in meinem eigenen Haus zu bedrohen?!? Der sollte bloß die Klappe halten, dieser kleine Versager!
Zu meiner Überraschung meldete sich George zu Wort: „Siehst du, das ist es, was ich meinte: Wenn sie wütend wird und die Regeln vergisst, ist ihr egal, ob eine Waffe geweiht ist. Sie bewegt sich, als wäre es nichts besonderes, es hat keinerlei Einfluss auf sie.“
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„Moment!“ unterbrach Prinz Wilhelm meine Erzählung, „Ihr habe eine Geweihte Waffe wegetreten. Einfach so.“
„Ja. Einfach so.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe bis heute keine Ahnung, warum ich so etwas kann. Ist ja nicht so, als ob ich die einzige Anwärterin unserer Art gewesen wäre, die Stadtführung hätte schon früher gerne Spione in den Reihen der Jäger gehabt. Allerdings hat es die meisten spätestens beim Führen der Geweihten Klingen zerlegt, egal wie sehr sie versucht haben, ihre Hände zu schützen. Bei mir reichen Lederhandschuhe. Soll ich weitererzählen?“
„Ich bitte darum.“
„Okay, …“
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„… ich stand also mit meiner Geisel im Schwitzkasten vor den anderen Jägern, beide mit der Hand an ihren Waffen. Patt.
Allerdings nur, solange sie nicht gleichzeitig von den Seiten her angriffen. Die Spannung knisterte förmlich in der Luft, als wir uns gegenseitig musterten.
„Wasss ssssoll dassss?“ zischte ich, „wenn Ihr glaubt, dasss ihr mich so aus dem Konzzzzept bringen könnt, dann habt ihr euch geirrt!“
„Das hätte eigentlich schon die Klinge meines Partners erledigen sollen“, sagte der jüngere Mann trocken, „und Ihr habt Recht. Es hat NICHT funktioniert. Die Frage ist: Warum nicht?“
Ich verdrehte nur die Augen. Das hatten wir doch alles schon. Langsam verstärkte ich den Druck meines Arms auf den Hals des Opfers. Es knirschte hörbar, der Typ stöhnte.
„Falschschsch. Die Frage isssst: Wasss geht euch dassss an? Und antwortet bessssser, mir geht die Geduld aussssss.“
„Das kann etwas länger dauern…würdet Ihr vielleicht unseren Freund loslassen – er weiß am meisten über diese Dinge.“
„Nur, wenn Ihr Eure Waffen draußen im Eingang ablegt! Und zzzzzwar alle – auch die Dolche in den Stiefeln! Dasss sssie mich nicht beeinflusssen heißßßßt nicht, dasssssss ich sssssssie nicht wahrnehme!“
Das taten sie dann auch – nachdem sie sich angemessen gesträubt hatten, versteht sich. Was ich aber auch verstehen konnte. Im Gegensatz zu ihnen WAR ich eine Waffe und damit deutlich im Vorteil.
Weil ich so ein nettes Wesen bin, erlaubte ich allen ein Messer. Okay, bis sie mir so nahekommen könnten, dass sie mich damit verletzen könnten, wären sie längst tot. Aber das hatten sie in der ihnen eigenen Selbstüberschätzung vermutlich komplett verdrängt. Selbst schuld.
So kam es etwa 10 Minuten später zu der absurden Situation, dass die drei Helden des Herren zusammen mit mir im Salon Tee tranken und sich um höfliche Konversation bemühten.
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Prinz Wilhelm zog skeptisch eine Augenbraue nach oben
„Jetzt schaut nicht so. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, würde ich es auch nicht glauben…“
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Es dauerte ein bisschen, bis meine ehemalige Geisel ihr Selbstbewusstsein – und ihre Stimme, immerhin hatte ich ihren Kehlkopf malträtiert - wiedergefunden hatte, aber danach beschränkte sich meine Rolle erstmal auf‘s Zuhören.
Wie alle Vampire wissen, hat sich die Church of England 1531 vom Papst losgesagt und den König zu ihrem Oberhaupt erklärt – offiziell, weil der König seine Gattin loswerden wollte, inoffiziell hatte unsere Rasse maßgeblich die Finger im Spiel, weil uns auf dem Kontinent die Inquisition im Nacken saß. Was lag also näher, als die ohnehin freiheitliebenden Engländer ein wenig in unserem Sinne zu manipulieren?
Dass das ganze nicht auf Anhieb funktionierte, bezahlten überwiegend die Menschen mit ihrem Blut, aber das konnte uns ja egal sein. Die meisten Vampire glauben sowieso an nichts und niemanden, was kümmert sie also der Glaube ihres Futters?
Trotzdem lief auch für unsereinen nicht alles nach Plan – der Wunsch nach einer Kirche ohne Inquisition scheiterte. Heinrich VIII ließ sich von niemanden am Gängelband führen, auch nicht von uns. Punkt. Außerdem musste ja jemand die katholischen Ketzer auf Linie bringen.
Wie immer, wenn Menschen sich um absolute Wahrheiten streiten, gab es auch diesmal zunächst einmal Krieg. Mary, die katholisch erzogene und sehr fromme älteste Tochter Heinrichs, führte nach ihrer Krönung den alten Glauben wieder ein und ließ ihrerseits die Anglikaner hinrichten.
Nach ihrem Tod übernahm ihre Halbschwester Elisabeth - die der anglikanischen Kirche angehörte und diese umgehend zur Staatsreligion erklärte.
Zurück blieb ein ziemlich entvölkertes Land, dessen Bewohner nun gar nicht mehr wussten, was sie glauben sollten. Wenn die neue Religion die „einzig wahre“ war, was war mit den Vorfahren, die ja alles falsch gemacht hatten – waren die jetzt in der Hölle? Oder war man selbst verdammt?
Die Krone interessierte das nicht – die freute sich eher darüber, dass sie als Oberhaupt der Kirche diese Abgaben auch noch einstreichen konnte. Von dort war also keine Unterstützung zu erwarten.
Die Menschen fingen an, das noch recht kahle Gerüst der neuen Glaubensrichtung mit eigenen Legenden und altem Wissen – wie das um Feen, Elfen, Werwölfe, Vampire und dergleichen - zu füllen. Und da schlug die große Stunde unserer Art.
Die Geschichte der Todesengel war unter den Vampiren keineswegs neu, nur war bis zu diesem Zeitpunkt niemand darauf gekommen, sie ausgerechnet mit Religion zu mischen. Die katholische Kirche hätte uns auch was gehustet.
Nun aber verflochten kluge Köpfe aus unseren Reihen genau diesen Mythos untrennbar mit dem neuen Glauben und schafften es, unsere Art wenigstens etwas aus der Dämonenecke zu führen – gleiches passiert übrigens heute wieder, nur dass es jetzt „mein blutsaugender Lover, der die Welt rettet“ ist, der diesen Job übernimmt. Unsere Propagandaabteilung, eine Erfolgsstory für und in Ewigkeit. Amen.
Die unwesentliche Kleinigkeit, dass die Kirche selbstverständlich begann, den oder die von Gott erwählten Vampire zu suchen, wurde umgehend dazu genutzt, in Ungnade Gefallene aus unseren Reihen zu entsorgen. Viele Vampire starben einen qualvollen Tod, weil man ihnen geweihte Waffen in die Hand drückte. Ein bisschen Schwund ist eben immer.
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In dieses Konglomerat aus Religion und Staatsmacht, Mythos und Realität, platzte nun also meine Wenigkeit, deren Respekt vor leuchtenden Waffen verschwand, wenn sie wirklich sauer war.
Kein Wunder, dass die Drei so aus dem Häuschen waren. Meine Begeisterung hielt sich eher in Grenzen. Das Letzte, was ich wollte, war in irgendeiner Form eine Heldin sein und Scheiße, ich glaubte nicht einmal an Gott. Warum sollte er mich also beachten? Schwarzer Humor, oder was?
An meiner engelsgleichen Unschuld konnte es jedenfalls nicht liegen, das war sicher.
Unbeeindruckt von meiner angesäuerten Miene erklärten mir die wohl unfähigsten Vampirjäger des letzten Jahrtausends, wie geehrt sie wäre, meine Bekanntschaft zu machen und überhaupt und keine Ahnung – so langsam bereute ich es, den Kleinen am gestrigen Abend nicht einfach seinem Schicksal überlassen zu haben.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sah er zu mir und lächelte mich schulterzuckend an. Dann nahm er seinen Dolch und hielt ihn mir hin, den Griff voran. Kalt leuchtete die Klinge im warmen Kerzenlicht.
‚Traut Ihr Euch?‘ neckte mich sein Blick, ‚traut Ihr Euch?‘
Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, streckte ich ihm meine Hand entgegen. Wie es der Mode entsprach, trug ich dünne Lederhandschuhe, aber mir war klar, dass die mich bestimmt nicht retten würden, wenn dieses Experiment fehlschlug.
Unendlich langsam und vorsichtig berührte ich das untere Ende der Dolchgriffs mit einer Fingerspitze.
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„WA…?!?“ Prinz Wilhelm starrte mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.
„Naja, das klingt jetzt einfacher als es tatsächlich war. Kennt Ihr den Moment, in dem die Neugier die Angst überwiegt und sich der Verstand einfach abschaltet? Das war so einer.“
Mein Gegenüber runzelte die Stirn. „Nein.“
Warum überraschte mich das jetzt nicht?
„Wenn ich nur eine Sekunde überlegt hätte, wenn ich hingesehen hätte, hätte ich es nicht hinbekommen. Ich schwöre Euch, meine Hand hat noch nie so sehr gezittert wie in diesem Augenblick. Ich weiß bis heute nicht, was mich da geritten hat, es war, als würde ich ferngesteuert oder so. Es gab einfach kein Zurück…als würde mich etwas locken…herausfordern...“
„Aha. Obwohl sich Vampire nicht selbst verletzen oder töten können.“
Ich nickte.
„Und was ist passiert?“
„Nichts.“
„NICHTS?!?“
„Gar nichts. Meine Hand wurde kalt, als hätte ich in Eiswasser gefasst, aber sonst – nichts.“
„Eiswasser? Nicht flüssiger Stickstoff?“
Ich war verwirrt. Woher wusste unser Prinz, wie sich der Kontakt mit geweihten Waffen anfühlte?
„Nein, nur Eiswasser.“
Prinz Wilhelm senkte den Kopf, sein Blick ging in Leere. Vollkommen geistesabwesend spielte er mit der Knopfleiste seines Hemdes, sein Mund verzog sich, als hätte er Schmerzen.
Jetzt hätte ich gerne seine Gedanken gelesen. Aber das konnte ich leider nicht.
Stattdessen räusperte ich mich leise, um ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückzubringen. Wilhelm zuckte zusammen und sah mich an, als hätte er vollständig vergessen, dass ich noch da war.
Bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, nahm ich den Faden meiner Erzählung wieder auf:
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…Kalt…war mein erster Eindruck, kalt. Nicht heiß, wie ich es aus den geflüsterten Erzählungen anderer Vampire kannte.
Die Kälte prickelte in meinem Finger, breitete sich über meine Hand aus und krabbelte meinen Arm hoch. Das Gefühl, ferngesteuert zu werden, nahm zu.
Meine Handfläche schob sich fast gegen meinen Willen weiter, bis meine Finger den Dolchgriff umschlossen.
Etwas in mir veränderte sich. Ich packte zu, zog die Klinge zu mir, als hätte ich nie etwas anderes getan. Die Berührung war immer noch eisig, trotzdem fühlte ich mich vollständiger als jemals zuvor. Die Waffe gehörte hierher, in meine Hand, gar kein Zweifel. Sie war ein Teil von mir.
Im nächsten Moment flutete mich eine Macht, die mich fast von den Füßen holte. Ich sage „fast“, weil man sich mit riesigen Krähenflügeln auf dem Rücken einfach nicht hinsetzen kann. Punkt.
Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass ich aufgestanden war.
Den drei Jägern klappte der Kiefer runter. Vollkommen fassungslos sahen sie mir zu, wie ich bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, instinktiv die gigantischen Schwingen öffnete und dabei den Teetisch und den Sessel umwarf.
Ich bemerkte nichts davon. Das blaue Licht der Klinge umhüllte mich wie ein Elmsfeuer, mein Körper zitterte unter dem Ansturm einer Kraft, die so archaisch war, dass mein Verstand sie weder begreifen noch fassen konnte. Dennoch ließ ich den Dolch nicht los. Er komplettierte mich. Ich hatte ihn vermisst. So, genauso, sollte ich sein.
Die Stimme meines Ghouls holte mich in die Gegenwart zurück. Er hatte seinen Posten an der Tür verlassen und kniete nun ein paar Schritte vor mir entfernt, den Kopf gesenkt.
„Dark Angel, Lady Death“, flüsterte er, „ich habe es immer gewusst…“
„Was gewusst?“ fragte ich und war erschrocken, wie fremd meine Stimme klang, wie viel Kraft und Autorität sie enthielt.
„Dass Ihr ein Engel seid. So habe ich Euch gesehen, damals…“
Texte: Katharina Wienecke
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: keins
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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- Ich danke den Kollegen von White Wolf - ohne eure Ideen in "Vampire, The Masquerade" wäre die meinen nie zum Leben erwacht.