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Kapitel 1

Wie durch einen Tunnel hindurch starre ich auf den braunen Karton. Meine Eltern haben mir ja gesagt, dass sich auf dem Dachboden unseres neuen Zuhauses noch Sachen der Vormieter befinden würden, doch irgendwie habe ich mit etwas mehr als nur einem kleinen Karton gerechnet.


Der Staub, der aufgewirbelt worden war, als ich die Luke geöffnet hatte, sink langsam auf die Erde zurück und bringt mich zum Niesen. Sauber gemacht wurde hier wohl auch schon lange nicht mehr. Das sollte definitiv einer aus meiner Familie auf seine To-do-Liste schreiben.
Langsam gehe ich mit einem mulmigen Gefühl auf den Kasten zu und wage es dabei nicht den Blick abzuwenden, denn irgendwas hat er an sich, was mir einen Schauer über den Rücken jage. Es hatte fast den Anschein als würde es von einer dunklen Aura umgeben werden.


Ich weiß nicht, ob es richtig ist einfach an die Sachen der Vorbesitzer zu gehen, doch mal wieder siegt meine Neugierde und lass mich von der Tugend, die mich packt, einfach leiten.


Mit ein wenig zitternden Fingern fahre ich erst über das harte, dicke Material, bevor ich die Klappen am oberen Ende langsam öffne. Während ich weiterhin mit dem minimalen Schuldgefühl, das mich nun doch überkommt, kämpfe, öffne ich das Paket immer weiter, bis mir der Inhalt fast entgegenspringt.


Ich starre überrascht auf die Sachen. Sowas habe ich tatsächlich nicht erwartet. Vielleicht habe ich mit alter Kleidung, die dem Besitzer zu klein geworden war, oder Kinderspielzeug gerechnet, doch das ist nicht der Fall. Stattdessen ist der Kaste von oben bis unten mit Papierkram gefüllt, weshalb die Aufschrift “Wichtig“ für mich keinerlei Sinn ergibt. Was soll an diesem Papierkram denn so wichtig sein.


Gerade will ich mich wieder von den Überresten abwenden, da fällt mir die Aufschrift eines Briefumschlags ins Auge und weckt mein Interesse doch erneut.


Mit der Kuppe meines Zeigefingers streiche ich über das Papier und die blaue Tinte, mit der die Worte “Für Miss Lewis“ geschrieben worden waren. Ich habe keine Ahnung, wer Miss Lewis ist, doch der Brief wirkt auf mich kaum wie irgendein unwichtiges Formular, sondern eher wie etwas tatsächlich Wichtiges. Und genauso wirken auch die anderen Briefe, deren Zipfel darunter zum Vorschein kommen.
Da kommt mir eine Idee. Ich schließe meine Hände um die Pappe und hebe den Karton einfach hoch.


Vielleicht sind diese Briefe nie dazu bestimmt abgeschickt zu werden, doch entscheiden kann es die Autorin nun sowieso nicht mehr. Warum solle ich dann nicht die Verantwortung dafür übernehmen? Schließlich ist sie, Fleur Frye, tot.

Kapitel 2

Vorsichtig, um nichts kaputt zu machen, stelle ich den Karton neben meinen eigenen auf dem Boden ab. Mein eigenes Zimmer habe ich noch nicht vollkommen eingerichtet, sondern stattdessen nur das Wichtigste ausgepackt.

 

Erleichtert atme ich aus, als ich es geschafft habe den großen Pappgegenstand sicher abzustellen. Mein Atem hallt von den frisch gestrichenen, leeren Wänden wieder und veranschaulicht mir, dass ich mein Zeug endlich auspacken muss.

 

Schließlich lebe ich nicht erst seit einigen Tagen, sondern bereits seit mehr einer Woche hier, doch da ist ein Problem. Ich bin super faul, was mein Zimmer betrifft. Auch in meinem früheren Zimmer, unzählige Kilometer entfernt, hatte ich bereits Probleme damit Ordnung zu halten, weshalb es hier wohl auch nicht besser sein wird.

 

Gerade will ich wieder einen weiteren Blick in das, soeben gefundene, Objekt werfen, da zerreißt die Stimme meiner Mutter die Stille: “Jenna? Wo bist du?“

 

Ich muss mich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen: “Ich bin oben.“ Ehrlich gesagt habe ich gerade wenig Lust darauf schon wieder mit ihr über die verdorrten Blumen im Vorgarten zu reden oder die Farbe im Schlafzimmer der Zwillinge auszusuchen. Viel lieber will ich mich auf die Briefumschläge stürzen und herausfinden, was es damit auf sich hat.

 

“Kann ich kurz reinkommen?“, bevor ich ihr überhaupt geantwortet habe, höre ich ihre Schritte auf der Treppe, die immer lauter werden.

Kurz überlege ich, was ich nun machen soll, brauche dafür aber so lange, dass meine Mutter bald vor meiner offenen Tür steht, während ich immer noch am Grübeln bin. Wie soll ich meinen Eltern auch erklären, was ich mit den Sachen unserer Vormieter zu schaffen habe?

“Jenna?“, in einer Kurzschlussreaktion schiebe ich den Karton mit dem rechten Fuß total auffällig hinter einen Größeren.

 

Natürlich muss meiner Mom das sofort wieder auffallen: “Was war das für eine Kiste?“ Sie hebt skeptisch eine ihrer gerade geschwungenen Augenbrauen, die, ebenso wie meine eigenen, pechschwarz sind. Warum scheinen Mütter es immer regelrecht zu riechen, wenn man versucht ihnen etwas zu verheimlichen. “Nichts“, beginne ich und suche nach einer Ausrede: “Das ist meine ... äh ... Unterwäschekiste?!“ War ja klar, dass mir in so einer Situation die dümmste Antwort der Welt einfällt. Am liebsten würde ich im Boden versinken.

 

“Warum das denn?“, natürlich bohrt meine Mutter einfach weiter. Entweder hat sie nicht gemerkt, dass es mir unangenehm ist oder es in meinen dunkelbraunen genau gesehen und will nun sehen, was ich noch so für Ausflüchte auf Lager habe. Wie ich Mom kenne, liege ich mit der zweiten Vermutung goldrichtig.

 

Leider habe ich aber immer noch eher weniger gute Erklärungen parat: “Sie ist zu klein oder lässt meinen Arsch wie den einer Oma aussehen.“ Inständig hoffe ich, dass sie endlich zu fragen aufhört und versuche gleichzeitig mit meiner vollen Konzentration ein Loch im Boden zu erzeugen, in das ich ganz zufällig hinein fallen kann.

 

Als ich ihr für wenige Sekunden wieder Aufmerksamkeit schenke, bemerke ich, dass sie mich nur skeptisch mustert und nicht vorzuhaben scheint weiter nachzufragen. Es hat den Anschein, als wäre ihr das Gespräch mittlerweile ebenso peinlich wie mir geworden, obwohl ich für ihre Unterwäscheprobleme als gute Tochter eigentlich immer ein offenes Ohr habe.

 

“Was wolltest du eigentlich?“, wechsele ich lieber das Thema, bevor sie es sich doch anders überlegt. “Ich wollte dich eigentlich nur fragen, wann du die anderen Kisten auspackst, womit du aber augenscheinlich schon angefangen hast, und was wir heute zum Abendessen essen sollen“, sie versucht wieder ganz objektiv zu klingen, doch ihr Blick ist nach wie vor perplex. “Eigentlich wollte ich morgen oder übermorgen damit anfangen und heute Abend habe ich irgendwie Lust auf Spaghetti. Das wäre für die Zwillinge sicher auch super“, beginne ich ihre Fragen schnell zu beantworten, um zum wirklich wichtigen Thema überzugehen. “Stimmt, danke, Schatz“, erwidert sie dankbar lächelnd. Manchmal frage ich mich echt, wie meine Mutter es schafft so entspannt zu bleiben, obwohl meine beide anderthalbjährigen Geschwister ihr augenscheinlich den letzten Nerv rauben.

 

“Gerne“, erwidere ich lächelnd, um ihr zu zeigen, wie lieb ich sie haben und dass sie eine gute Mutter ist: “Kann ich dich auch was fragen?“

 

Sie zuckt mit den Schultern: “Sicher, aber dann musst du mit zu den Zwillingen kommen. Sie sollen schonmal ein wenig schlafen, bevor es essen gibt.“ “Danke“, erwidere ich und schließe die Tür hinunter uns, als wir uns auf den Weg zum Zimmer am anderen Ende des Flurs machen.

 

Dad hatte explizit darauf bestanden so viel Raum zwischen die beiden und mich zu bringen, da er schon genug Probleme beim Schlafen hat, wenn sie mal wieder in der Nacht schreien, weshalb er mir das nicht zumuten will.

 

Mom stößt die Tür zum Zimmer der Kleinen auf. Sofort erblicke ich die Beiden und scheinbar kommen wir gerade noch rechtzeitig, um ein riesiges Geschrei zu verhindern.

 

Gerade ist Josh dabei seine Hand nach einem Bauklotz auszustrecken und damit auf seine Schwester Mila, die mir tauschend ähnlich aussieht, zu zielen, da eilt meine Mutter herbei und schnappt ihm den orangenen Bauklotz aus der Hand. Natürlich folgen auf diese Aktion so schnell Tränen, dass man wirklich glauben könnte, dass er genau auf den richtigen Moment gewartet hat, um zu weinen. Als sein Zwilling dann auch noch einsteigt, bereue ich es ein wenig mitgekommen zu sein, doch trotzdem gehe ich nicht.

 

Erstens brauche ich dringend Informationen von meiner Mutter, denn wenn sie es nicht weiß, weiß es keiner aus der Familie, und zweitens weiß ich wie grausam es wäre sie mit den Schreihälsen allein zu lassen. Also hebe ich die kleine Mila auf meinen Arm und beginne sie sanft in meinen Armen hin und her zu wiegen.

 

“Was wolltest du jetzt wissen?“, fragt meine Mutter nach, während sie meinem Bruder sein dunkles Haar kämmt. “Das ist vielleicht ne komische Frage, aber was ist mit der Tochter unserer Vormieter passiert?“, beginne ich und versuche möglichst einfühlsam zu klingen, was mir ziemlich gut gelingt: “Du hast gesagt, dass sie ausgezogen sind, weil sie gestorben ist, aber du hast mir nie gesagt, was genau passiert ist.“

 

Sofort legt meine Gegenüber seinen Kopf schief und sieht mich prüfend an: “Warum willst du das wissen, Schatz?“ “Nur so, schließlich will ich schon wissen in wessen Zimmer leben“, erkläre ich scheinheilig: “Du hast jedenfalls gesagt, dass es mal ihr Raum war.“ “Ja, das stimmt“, lenkt sie ein und legt Josh vorsichtig in sein Bettchen. Ich tue es ihr schnell gleich, denn in ihren Augen schwebt ein Ausdruck, der mir verrät, dass sie mir etwas mitteilen will, was die Kleinen nicht mitbekommen sollen. Diese Tatsache bringt mich zum Schlucken und sorgt dafür, dass mein Herz schneller zu schlagen beginnt. Will ich wirklich wissen, was da passiert ist oder würde es mich verfolgen, wenn ich es wüsste.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.09.2018

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