London, 2000
Die dumpfen Schritte eines in einen schwarzen Umhang gehüllten Mannes hallen geräuschvoll auf dem dunklen Stein der kleinen Gassen wieder. Sein Weg wird von nichts erleuchtet als den flackernden Laternen an den Hauptstraßen und den Sternen, die in dieser kalten Nacht über ihm noch heller leuchten als sonst, während die Glocken von Big Ben ihren Klang über das schlafende London schicken. Der seichte Wind, der um diese Zeit durch die Straßen weht, zerzaust das dunkelbraune Haar des Verhüllten und lässt ihn sich die Kapuze tiefer ins Gesicht ziehen. Der Ausdruck auf seinem gebräunten Gesicht ist von Nervosität geprägt und er wirkt gehetzt. Die Augenbrauen hat er zusammengezogen, als würde er nachdenken, während er sein Tempo immer weiter erhöht, bis es beinahe so wirkt, als würde er vor etwas fliehen. Auf den Straßen riecht es nach dem Regen der letzten Nacht, der sich überall in den Gassen und auf den Straßen angesammelt hat.
Plötzlich ragt eine riesige Steinmauer vor dem Londoner auf und versperrt ihm seinen Weg, doch das scheint den Mann nicht davon abhalten zu können weiter zu gehen. Vorsichtig streckt er seine schwieligen, mit Narben übersäten, Hände aus und drückt sie gegen die harte Barriere vor ihm. Erst drückt er sanft dagegen, nimmt die Hände dann jedoch wieder weg und hält sie rechts und links neben seinem Körper fest angespannt. Für wenige Sekunden verharrt er beinahe leblos in dieser Position, doch dann beginnt er leise Worte in einer fremden Sprache vor sich hin zu flüstern: "Gaamts'vane nateli." Sobald bereits die erste Silbe über seine vollen Lippen gekommen ist, leuchtet plötzlich ein blauer Kreis in der Mitte der Wand auf. Den Kopf richtet er gen Himmel und seine blauen Augen beginnen zu leuchten wie der Ozean, der in helles Mondlicht getaucht ist, während er den Satz wie ein Mantra immer wieder vor sich hin flüstert, bis es fast so wirkt, als würde er nie wieder damit aufhören, doch dann verstummt er wieder und erneut herrscht eine schneidende, kalte Stille um ihn herum. Er verbirgt seine Hände wieder in den Taschen des Mantels und dreht sich unsicher noch einmal um, um sicher zu sein, dass keiner ihm gefolgt ist, denn schon seit er sein Zuhause verlassen hat, um sich auf den Weg zu machen, beschleicht ihn das ungute Gefühl verfolgt zu werden. Dann dreht er sich jedoch wieder nach vorne und läuft einfach weiter, denn die Wand vor ihm ist verschwunden, ohne nur irgendeine Spur ihrer eigentlichen Existenz zurückzulassen.
Nun eröffnet sich dem Mann der Blick auf zwei junge Frauen, die gemeinsam gegenüber von ihm stehen. Als der sie erblickt, schleicht sich ein erleichtertes und gleichzeitig liebevolles Lächeln auf seine Lippen und er beginnt nun schneller auf die Beiden zuzugehen.
Die Blonde löst sich von ihrer Freundin mit dem dunkelblonden Haar und will auf den Mann zu gehen, doch bevor sie sich auch nur einen Zentimeter bewegt hat, stößt der Hexer vor ihr einen schmerzerfüllten Schrei aus und die Spitze eines Messers, die seine Brust halb durchbohrt hat, schimmert gleißend hell im nächtlichen Licht des Mondes, während die Hände des Opfers zu seinem durchlöcherten Herz wandern. Sie schlägt sich geschockt die Hände vor den Mund, um einen lauten Schrei des Schrecks zu unterdrücken und läuft auf den Mann zu, der langsam auf dem Boden in sich zusammen sackt, doch ihre Freundin packt sie am Arm und zieht sie weg von dem Erdolchten.
Hinter einer dunklen Ecke bleiben sie stehen und die blonde Frau lässt sich, mit sich schnell hebender und senkender Brust und wild schlagendem Herzen, an der Wand hinunter auf den dreckigen Boden gleiten. Tränen bilden sich in ihren Augenhöhlen und sie ist kurz davor loszuweinen, doch ihre Freundin bedeutet ihr sich zurückzuhalten: "Dafür ist gerade genau der falsche Moment. Wir müssen los, bevor man uns entdeckt, Miss Blakemore." Doch sie schüttelt den Kopf und versucht sich am Boden fest zu klammern: "Nein, das geht nicht. Ich kann nicht ohne ihn gehen, Molly." Molly versucht die vollkommen verzweifelte Frau vor mir zu beruhigen: "Er ist tot, Miss, und nun ist es meine Aufgabe ihr Leben zu schützen. Also kommen sie jetzt mir mit, sonst werden sie bald das Schicksal ihres Geliebten teilen müssen." "Das ist nicht wahr. Ich kann ihn noch retten", fleht sie: "Du weißt, dass ich stark bin." "Ja, das weiß ich, aber all Ihre Stärke wird ihnen bald nichts mehr bringen, wenn die Mörder Ihres Geliebten uns hier entdecken, also los jetzt." "Es sind nicht irgendwelche Mörder", klärt Miss Blakemore auf: "Es sind Harvey und Adam Hollingsworth." "Was? Aber ...", setzt Molly an, versucht sich dann aber wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren: "Das ist doch nur noch ein Grund mehr dafür, dass wir hier sofort verschwinden müssen. Seien Sie doch vernünftig, Miss Blakemore." "Ich kann ihn hier aber nicht zurücklassen. Bitte lass mich ihn holen", fleht sie: "Ich liebe ihn." Molly rauft sich überfordert die Haare:"Na gut, ich verspreche ihnen, dass ich losgehen und ihn holen werde, nachdem ich sie in Sicherheit gebracht habe. Die Hauptsache ist jetzt, dass Sie am Leben bleiben. Die Welt braucht Sie, Miss Blakemore!" "Versprochen?", versucht die Blonde sich noch einmal zu vergewissern. "Versprochen!", bestätigt Molly mit demselben magischen Leuchten in Ihren braunen Augen, dass schon bei dem Hexer vor ihr zu sehen war, bevor die beiden Freundinnen gemeinsam in die Anonymität der Dunkelheit verschwinden.
Evie
Mein Wecker klingelt an diesem Morgen pünktlich um sechs Uhr morgens und reißt mich aus meinen unruhigen Träumen, die mich seit Tagen plagen. Laut gähnend drehe ich mich in meinem Bett herum und würde diese Entscheidung am liebsten wieder rückgängig machen, denn sofort schießt mir gleißend helles Sonnenlicht vom gegenüberliegenden her Fenster ins Gesicht. Mit geschlossenen Augen taste ich nach dem Wecker, der neben mir auf dem Schreibtisch steht und laut bimmelt. Genervt knurrend, drücke ich auf dem weißen Plastikgehäuse herum, doch meine Versuche sind vergeblich und es klingelt einfach weiter. Seufzend schnippe ich daraufhin einfach mit den Fingern und endlich hört das Piepen auf.
Erleichtert drehe ich mich wieder weg und versuche weiter zu schlafen, doch das Zusammenspiel von Licht und Ton hat mich geweckt und es mir unmöglich gemacht erneut in die Welt der Träume einzutauchen. Frustriert öffne ich die Augen und strample beleidigt meine grün-weiß karierte Decke weg. Wieso muss mir dieses bescheuerte Dingen direkt den Morgen versauen?
Da es jetzt sowieso zu spät ist, setze ich mich auf und taste, nach wie vor im Halbschlaf, auf dem weißen Nachttischen neben meinem großen Boxspringbett herum, bis ich endlich mein Handy finde, dass ich am Abend zuvor direkt neben dem kleinen Wecker positioniert hatte.
Mit noch ziemlich kraftlosen Händen, stecke ich den kleinen, hoch elektronischen Kasten mit dem Apfelsymbol an der Rückseite in meine hintere Hosentasche und tapse mit nackten Füßen zu meinem hölzernen Kleiderschrank.
Generell brauche ich morgens glücklicherweise nicht lange, um zu entscheiden, was ich anziehe, da ich kein Mensch bin, der darauf übermäßig viel wert legt, weshalb ich mich für eine legere, dunkelblaue Jeans und mein Lieblings T-Shirt entscheide. Es besteht aus weichem, hellblauem Stoff, der sich einfach nur wunderbar weich auf der Haut anfühlt. Das ist auch der Grund dafür, warum ich dieses Kleidungsstück nie ausziehen will, wenn ich es einmal angezogen habe.
Mir die, vom Schlafen noch ein wenig trüben, Augen reibend, öffne ich meine helle Zimmertür und trete auf den in Fliedertönen gestrichenen Flur hinaus, wo ich den Lichtschalter betätige, um besser sehen zu können. Der kühle Boden unter meinen Füßen lässt mich leicht erzittern, während ich durch den Flur auf das kleine Badezimmer, das sich am Ende des Ganges befindet, zugehe.
So leise es geht, versuche ich die Tür zu öffnen, doch anstatt leise aufzugehen, schwingt sie mit einem lauten Knarren auf und sorgt dafür, dass ich mir feste die Lippe beiße und einfach hoffe, dass keiner wach geworden ist, denn kein anderes Mitglied meiner Familie wäre froh um sechs Uhr morgens von mir geweckt zu werden, was ich ziemlich gut nachvollziehen kann.
Sofort gehe ich zum Fenster, um die Schalosien hoch zu ziehen. Das morgendliche, gleißend helle Sonnenlicht schießt mir entgegen, woraufhin ich meine Augen schnell mit meiner rechten Hand vor der Sonne zu schützen versuche.
Als ich mich endlich an die plötzliche Veränderung des Lichts um mich herum gewöhnt habe, nehme ich wahr, wie stickig es hier ist und öffne das Fenster vorsichtig.
Automatisch strömt mir die angenehme Augustluft entgegen, die zwar kühle, aber nicht kalt, und angenehm frisch ist. Wie in Trance stütze ich mich mit meinen Ellenbogen auf der Fensterbank ab und betrachte die Dächer Londons, die vor dem Fenster aufragen. Schon immer bin ich total verliebt in diese Stadt gewesen, die für mich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint. Bereits um diese Zeit sehe ich einige Autos, die schneller als wahrscheinlich erlaubt, über die Straßen schießen und das Wasser aus den vielen Pfützen aufspritzen lassen, die sich während des nächtlichen Gewitters fast überall auf den Straßen und in den Gärten gebildet haben. Das laute Rascheln der grün-gelben Blätter, wenn die Spätsommerluft hindurch fegt, passt hingegen perfekt zum Bild der schlafenden Stadt. Die Lichtstrahlen schießen jetzt, am Morgen nach dem Unwetter, an einigen Stellen durch die aufklarende Wolkendecke, die sich am Tag zuvor so hartnäckig am Himmel gehalten hat.
Am liebsten würde ich hier für immer stehen bleiben und zusehen wie die Stadt wieder zum erwacht, doch schon in weniger als zwei Stunden muss ich schon auf meinem unbequemen, quietschenden Stuhl in der Schule sitzen, also wende ich meinen Blick ab, um mich fertig zu machen.
Aus dem Spiegel heraus blickt mir ein Mädchen mit schulterlangem, dunkelbraunem, beinahe schwarzem Haar aus tiefblauen Augen entgegen. Ihre ebenfalls dunkelbraunen Brauen hat sie noch vor wenigen Tagen mit einer Pinzette in eine ordentliche Form gebracht und mit ihrer hellen Haut, die man jedoch noch nicht als blass bezeichnen kann, und den schmalen Lippen, die ihre, in einem gesunden weiß gefärbten, Zähne verbergen, hat sie starke Ähnlichkeit mit Schneewittchen. Jedenfalls sagen das die Menschen um sie herum, denn sie selbst hat den Disneyfilm noch nie geschaut. Schnell wende ich mich wieder von meinem eigenen Spiegelbild ab, um mich umzuziehen.
Meine Finger streichen sanft über den Stoff meiner Alltagskleidung, in die ich mich gerade eben gekleidet habe und fahre mir durch das offene, leicht gewellte Haar, dass ich bis gerade so akribisch durch gekämmt habe. Dann werfe ich einen kurzen Blick auf mein leuchtendes Handydisplay. Etwa zehn Minuten habe ich gebraucht um mich fertig zu machen, doch es ist fast halb sieben, was bedeutet, dass auch im Rest des Hauses bald die Wecker Sturmklingeln werden.
Nachdem ich auf der Toilette war und meine Schlafsachen in die Wäsche gebracht habe, höre ich bereits den Wecker meiner Eltern durchs Haus schrillen und laufe nun komplett wach und voller Energie die Treppe hinunter. Sofort schlägt mir der frische Geruch von Zitronen entgegen. Beschwingt laufe ich in die helle, einladende Küche, die barrierefrei in das weiß-blaue Wohnzimmer übergeht, um schon mal etwas zu essen zu mich zu machen, bevor es hier vor lärmenden Familienmitgliedern nur so wimmelt. Zwar liebe ich meine Familie wirklich, doch manchmal kann jeder von ihnen auf seine Weise ziemlich laut sein und an meinen Nerven zerren.
Anstatt jedoch weiter darüber nachzudenken, stelle ich den Wasserkocher an, nachdem ich ihn mit Wasser befüllt habe, und stöpsele das Radio ein aus dem wenige Sekunden später "Mr Blue Sky" von "Electric Light Orchestra" ertönt. Automatisch drehe ich die Lautstärke auf u. Wenn ich meine Familie schon wecke, dann sollte es wenigstens durch so schöne Klängen geschehen wie durch diese, oder?
Als der Teekocher endlich mein Wasser fertig aufgewärmt hat, hole ich mir eine Tasse aus einem der hohen Schränke über mir, um das Wasser hinein zu kippen. Dann greife ich nach einem Teebeutel, den ich selbst mit Kräutern befüllt habe, und falte ihn auseinander, um ihn kurz darauf in das kochend heiße Wasser, dessen Dampf aus der Tasse hervor steigt. Sobald der kleine Beutel einige Sekunden in der farblosen Flüssigkeit schwimmt, färbt sich alles innerhalb von kurzer Zeit komplett hellblau und der angenehme Geruch der Kräuter steigt mir in die Nase.
Während der Tee durchzieht, beginne ich schon mal Teller, sowie Gläser, auf den Tisch zu stellen, weil ich genau weiß, dass meine Mom sich freuen wird, wenn sie nach unten kommt. Auch den Aufschnitt hole ich aus dem Kühlschrank, nachdem ich jedem eine Scheibe Brot auf den Teller gelegt habe. Das weiche Roggenbrot, dass meine Mutter gestern selbst gebacken hat, duftet frisch, was dafür sorgt, dass ich am liebsten hineinbeißen würde, doch ich halte mich zurück und setze mich mit meinem, bereit etwas abgekühlten, Tee an den Tisch, um auf meine Familie zu warten.
Gerade als ich meine Tasse an den Mund geführt habe und einen Schleck der lauwarmen Flüssigkeit nehmen will, höre ich das zaghafte Knarren der Stufen und wenige Sekunden später taucht ein verschlafener Rotschopf am Fuß der Treppe auf.
Aufmerksam betrachte ich das zwölfjährige Mädchen, das mit halb geöffneten Augen zu mir in die Küche hinüber tapst. Sie trägt ein blau-weißes Kleid und neonfarbene Socken, die einem gerade so entgegen leuchten. Ihr naturrotes Haar, dass sie zusammen mit ihren giftgrünen Augen mit den dunkelgrünen Sprenkeln darin, ein wenig wie die typische Hexe aus den alten Sagen, aber auch tiefgründig und intelligent, wirken lässt, hat sie mit einem grünen Haargummi zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Körperbau des Kindes ist zierlich und dünn, doch trotzdem ist das Mädchen für ihr Alter nicht klein.
Ein müdes "Guten Morgen" entflieht ihren rosigen, eher schmalen Lippen, gefolgt von einem leisen, zurückhaltenden Gähnen. Ich erwidere ihren Gruß und frage: "Und? Hattest du wieder Albträume?" Still nickt das Sommersprossengesicht. "Wie lange schon?", frage ich nun ein wenig besorgt um meine Schwester. Sie lässt sich auf den Platz am Tisch mir gegenüber fallen: "Mehrere Tage. Vielleicht eine Woche. Wie sieht es bei dir aus?" "Nicht sonderlich besser, also die Träume sind nicht weg, obwohl diese Nacht im Verhältnis zu sonst ziemlich ruhig war", erkläre ich meinen Tee schlürfend. Ich sehe zu, wie sie damit beginnt eine Scheibe Brot zu schmieren und anschließend zu belegen. Genau betrachte ich jede Bewegung, die meine Schwester macht, mit beunruhigender Konzentration, stelle dann aber endlich die Frage, die mir schon seit Tagen auf der Zunge brennt: "Wovon handeln deine Träume?" Unsicher zuckt sie mit den Schultern: "Keine Ahnung. Ich kann mich nach dem Aufstehen nicht mehr daran erinnern." Sobald sie nur ein Wort gesagt hat, weiß ich, dass meine Schwester mich gerade anlügt. Schon als kleines Kind war sie nicht gut darin und eigentlich weiß sie auch, dass ich sie durchschaue, doch trotzdem versucht sie es immer wieder, was ich ihr jedoch nicht verübeln kann.
Anstatt sie jedoch darauf anzusprechen, ziehe ich nur misstrauisch die Augenbrauen in die Höhe, während ich erneut einen Schluck von meinem Tee nehme. Die Flüssigkeit fließt durch meinen Mund, in meinen Rachen und von dort aus durch meine Speiseröhre in meinen Magen hinunter. Der blaue Tee wärmt mich von innen heraus und lässt mich spüren wie die Kräfte, die ich schon seit meiner Geburt in mir trage, gestärkt werden. Beinahe entflieht mir ein freudiges Seufzen, doch ich beherrsche mich und beginne nun auch mein eigenes Essen anzurichten. Dabei stecke ich jedoch tief in den Albträumen, die mich jede Nacht heimsuchen, und grabe in meinen Erinnerungen daran, denn ich kann mich ganz genau an das erinnern, was sich Nacht für Nacht an meinem Verstand kratzt.
"Evie?", plötzlich reißt mich jemand aus meinen Gedanken und holt mich in das Geschehen um mich herum zurück: "Geht es dir gut?" Als die weiche Stimme meiner Mutter Scarlett ertönt, hebe ich den Kopf und sehe ihr tief in die Augen, die, wie Azurit in der Sonne, blaue strahlen. "Ja, alles bestens", antworte ich und fasse mir kurz an den Kopf, denn für wenige Sekunden überkommt mich schwindel, als ich wieder ins hier und jetzt zurückkomme. "Bist du sicher, Schatz?", fragt Mom mit besorgter Stimme und legt eine ihrer warmen Hände an meine rechte Wange. Wiederwillig versuche ich mich aus ihrem Griff zu befreien: "Ja, Mom. Wenn ich sage, dass es mir gut geht, dann geht es mir auch gut." Ich weiß genau, dass ich gerade ein wenig zu hart zu ihr bin und dass sie sich lediglich Sorgen um mich macht, doch sie hat mich aus meinen Träumereien geholt und das ärgert mich. "Sei nicht so hart zu deiner Mom, Ev", ermahnt mich mein Vater, der gerade die Treppe hinuntersteigt, doch in seiner Stimme höre ich, dass er sich freut seine Familie zu sehen. "Tut mir leid, Mom", entschuldige ich mich: "War nicht so gemeint. Ich habe einfach grade nachgedacht." "Schon gut. Ich weiß ja, dass du es nicht so gemeint hast", sagt die junge Blondine verständnisvoll und setzt sich zu uns: "Danke fürs Decken übrigens, Schatz. Das spart mir echt Zeit." "Immer wieder gerne, Mom." Nun ist auch mein Vater Elliot in der Küche angekommen und wirft prüfend einen Blick auf die Uhr: "Ich denke, es ist an der Zeit, dass ihr euch fertig macht, oder?" Stirn runzelnd werfe ich einen Blick auf die Zeitanzeige meines Smartphones. Sofort ist ein Ausdruck der Überraschung auf meinem Gesicht zu erkennen: "Stimmt, ich sollte mich wirklich fertig machen." Tatsächlich ist die Zeit nahezu wie im Flug vergangen und nun ist die perfekte Zeit für meinen Aufbruch zur Schule gekommen, weshalb ich mich stürmisch vom Tisch erhebe. Überraschenderweise ist es sogar schon so viel Zeit vergangen, dass ich mir wirklich Sorgen darum machen muss nicht zu spät zu kommen. Auch für meine Schwester wird es langsam Zeit, weshalb ich auch ihr Bescheid gebe:"Komm schon, Ana. Beeil dich, wenn du nicht zu spät sein willst." Sofort erhebt sie sich und läuft hinter mir her zur Garderobe, wo wir unsere Schulsachen hin verfrachtet haben.
Schnell schnappe ich mir meine Schultasche und schiebe die Tragegurte über meine Schultern, nachdem ich meine Herbstjacke und die etwas dickeren Schuhe angezogen habe. Dann drehe ich mich, mittlerweile doch relativ gehetzt, zu meiner Schwester und helfe ihr mit ihrer Tasche, als ich sehe, dass sie es nicht schafft sich die Träger über die Schultern zu schieben. Dankbar sieht sie mich an und in ihren leuchtenden Augen sehe ich die Liebe, die sie für mich empfindet und die ich nur erwidern kann. Sie ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, weshalb ich alles versuche um sie vor den schlimmen Sachen, die einem im Leben geschehen können, zu schützen versuche, obwohl ich aus eigener Erfahrung sagen kann, dass man es besonders als Hexe in einem London voller Streitigkeiten in der magischen Welt manchmal noch schwerer haben kann, als es sowieso schon ist. Schnell wende ich meinen Blick ab und starre stattdessen auf die Uhr, denn wie aus einem Instinkt heraus spüre ich, dass uns nur noch wenig Zeit bleibt: "Komm jetzt, Annabelle. Wir müssen los, sonst gibt's Ärger mit der Schule." Zustimmend nickt sie und öffnet dann mit einer kurzen Handbewegung die Haustür ohne sie tatsächlich zu berühren.
Kurz verabschiede ich mich von meinen Eltern, bevor ich, gemeinsam mit Annabelle, aus der Tür und durch unseren Vorgarten schreite, um mich eilig auf den Weg in die Schule zu machen.
Evie
Der Wind wirbelt mein dunkles Haar durcheinander und das Geräusch des aufspritzenden Wassers, wenn ein Auto durch eine Pfütze rast, gepaart mit den Stimmen der anderen Schüler auf dem Parkplatz vor dem Schulgebäude, klingelt in meinen Ohren. Mein Blick wandert zu meinem Handydisplay und ich stelle fest, dass ich doch eher gekommen bin, als erwartet. Langsam laufe ich über den Parkplatz, während ich durch die Reihen von parkenden Autos auf das Schulgebäude zulaufe. Überall lehnen Schüler an ihren Wagen, die sie wahrscheinlich von ihren Eltern bekommen haben, und versuchen irgendwem zu beeindrucken. Ich selbst habe jedoch weder einen Führerschein noch ein Auto, was mich nicht wirklich stört. Schließlich habe ich noch genug Zeit, um fahren zu lernen, denn mit sechzehn Jahren habe ich mein ganzes Leben noch vor mir und kann fahren lernen, wann immer ich will. Schon lange versuche ich mir mit den Dingen, die die Teenager in meinem Alter alle so wichtig finden, keinen Stress zu machen, sondern einfach mein Leben zu leben.
Kurz vor dem Eingang bleibe ich stehen um prüfe, ob die Türen bereits offen sind, stelle jedoch fest, dass das nicht der Fall ist. War ja klar! Ein resigniertes Seufzen verlässt meinen Mund und ich starre auf den kalten Betonboden unter mir.
Plötzlich ist ein lautes Räuspern hinter mir zu vernehmen. Wie automatisch ziehe ich eine Augenbraue nach oben und fahre herum.
Dort steht eine kleine Gruppe von Schülern, von denen ich einige kenne, während wenige Gesichter mir vollkommen fremd sind. Sicher sind es die Neuen, die die kleine Gruppe immer wieder bei sich aufnimmt, damit sie die Dinge, für die erledigen, die schon länger dabei sind. Besonders ein bestimmtes Mitglied der Gruppe zieht seine Aufmerksamkeit auf sich.
Ihr blondes, schulterlanges Haar ist an einigen Stellen von hellbraunen Strähnen durchzogen. Es glänzt nicht wie in der Werbung, sondern ist eher dick und schwer. Die ozeanblauen Augen des Mädchens und die dickten, schwarzen Wimpern verbirgt sie hinter den Gläsern ihrer Brille. Darüber sitzen die Augenbrauen, die sich mit ihrer dunklen Farbe komplett von dem Haar unterscheidet. Auf der rechten Seite unterhalb des braunen Brillengestells auf der rechten Seite befindet sich ein kleines, braunes Muttermal, dass nur zu sehen ist, wenn man ganz genau hinsieht. Die schmalen Lippen hat sie dünn mit Lipgloss bedeckt. Ihre weißen Zähne werden von ihren vollen Oberlippen zum Teil verborgen und ergeben einen schönen Kontrast zu ihrer cremefarbenen Haut und ihren leicht geröteten Wangen. Durch den schwarzen Faltenrock, den sie trägt, wirken ihre Beine lang und ihr Oberkörper eher kurz. Der Name des elegant gekleideten Mädchens ist Avery Hawthorne und sie ist meine frühere beste Freundin.
Lange waren wir gut befreundet und haben seit unserer Kindheit fast jeden Tag miteinander verbracht, doch irgendwann habe ich angefangen mich meinen Kräften mehr zu widmen, während sie sich mehr mit Jungs und der Schule beschäftigt hat. Immer öfter musste ich ihr absagen und wollte erst Recht nicht mit zu irgendwelchen Freunden kommen, die sie kennengelernt hatte. Besonders in den Vollmondnächten! Nach kurzer Zeit hat sie mir gesagt, dass sie keine Lust mehr auf meine ständigen Absagen hat und das Gefühl hat, dass ich ihr etwas Wichtiges verheimliche. Immer wieder habe ich versucht sie vom Gegenteil zu überzeugen, während sie ja eigentlich insgeheim immer recht hatte. Das konnte ich ihr aber auf keinen Fall erzählen, was mir meine Mutter als ich noch jünger war, auch immer wieder eingetrichtert hat.
Doch es ist nicht meine frühere Freundin, die sich geräuspert hat, sondern einer ihrer Freunde. Ein Junge mit schwarzem Haar, der mir nun triumphierend entgegenblickt und seine breiten Arme vor der Brust verschränkt hält. “Ist irgendwas?“, frage ich ein wenig verwirrt, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, was er von mir will. Tatsächlich bin ich nämlich kein großer Fan von ihm und das beruht, soweit ich weiß, auf Gegenseitigkeit. Er ist nämlich ein Freund von Avery und sie ist gemein zu mir, wann immer das geht, weshalb er auch nicht freundlich zu mir ist. Außerdem habe ich ihm mal einen Korb gegeben als er mit mir ausgehen wollte und weil Jungs wie er nicht gerne abgewiesen werden, hat er jetzt was gegen mich.
“Ja“, sagt er und schubst mich leicht nach hinten, womit ich gar nicht gerechnet habe. Obwohl er mich nicht feste zurückgestoßen hat, taumele ich leicht nach hinten und falle fast die oberste Treppenstufe hinunter. Bevor ich jedoch richtig fallen kann, schließen sich meine Finger fest um das schwarz gestrichene Geländer, dass die Treppe säumt, und halte mich so auf meinen Füßen. “Was sollte das?“, frage ich entsetzt, während ich versuche mich wieder richtig hinzustellen. Der Junge dreht sich jedoch nur kurz zu seiner Gruppe um und bricht dann in Gelächter aus. Seine Freundinnen und Freunde lachen ebenfalls amüsiert und betrachten mich herablassend. Mein Blick ruht in diesem Moment aber nur auf Avery, die gar nicht glücklich zu wirken scheint.
“Na du, Freak?“, fragt mich eine Schwarzhaarige gehässig: “Geht’s du heute nach der Schule wieder in deinen Keller, machst Voodoozauber und betest den Teufel an?“ Ihre Worte versetzen mir einen festen Stich. Natürlich mache ich weder das eine noch das Andere, aber Avery scheint ihnen wohl irgendwie sowas erzählt zu haben. Der Schmerz des Verrates verwandelt sich in Wut und ich richte meinen Blick auf die Pfütze zwischen der Schwarzhaarigen und dem Jungen, der mich geschubst hat.
Vom einen auf den nächsten Augenblick spüre ich wie sich mein Blut plötzlich erwärmt und beinahe fühlt es sich so an, als würde es kochen. Hinter meinem Rücken verkrampft sich meine rechte Hand zu der Form. Die Hitze scheint sich von meinem Blut nach draußen auf meine Haut auszubreiten und wird zu einem Prickeln, von dem ich nicht sagen kann, ob es eher angenehm oder unangenehm ist. Mein stechender Blick ist so konzentriert auf das Wasser gerichtet, dass man fast denken könnte, dass ich verrückt geworden bin.
Als sich die komplette Hitze überall in mir ausgebreitet hat, spüre ich ein Pochen in meinem Kopf, dass fast nicht auszuhalten ist, doch als mir beinahe vor Hitze eine Schweißperle von der Stirn tropft, lassen das diese Empfindungen plötzlich nach und laut knisternd lodert auf einmal eine rot-orange knisternde Flamme auf. Sofort wende ich meinen Blick ab, als das Kreischen der anderen Gruppe ertönt.
Ein verwegenes Grinsen macht sich in meinem Gesicht breit und fast fühlt sich dieses Feuer wie ein kleiner Triumph an. Als die Schüler vor mir, dann auch noch reiß aus nehmen, wird dieses Gefühl noch ein wenig größer und fast ist die kleine Demütigung von gerade vergessen. Sobald ich aufhöre mich zu konzentrieren, erlöschen auch die Flammen und nur die kleine Pfütze, sowie ein leichter Brandgeruch bleiben zurück.
Endlich ist Clique verschwunden und ich habe endlich wieder Ruhe vor ihnen, weshalb ich mich auf die Betontreppe fallen lasse. Meinen Kopf stütze ich leicht an das Geländer und versuche mich wieder zu beruhigen, denn meine Wut ist nach wie vor noch nicht ganz abgeklungen, obwohl es mir schon viel besser geht. Glücklicherweise hat mich der Zauber nicht sonderlich verausgabt, denn sowas konnte ich schon als kleines Kind, was meine Eltern echt verrückt gemacht hat. Wert war es das auf jeden Fall.
Komplett in Gedanken versunken, erschrecke ich mich schrecklich, als auf einmal jemand seine Hände auf meine Augen legt und mir damit die Sicht versperrt. Als urplötzlich alles schwarz um mich herum wird und die Welt um mich herum verschwindet, bin ich ziemlich perplex und lege meine Hände an die Hände der Person hinter mir. Sie sind klein, doch die Haut ist trocken und kühl. Diese Hände würde ich unter tausenden erkennen und ein Lächeln erscheint auf meinen Lippen: “Nimm deine Hände sofort von weg, bevor ich mich von dir befreien muss, Reese.“ Ein sanftes Lachen ertönt hinter mir und meine Sicht wird wieder klarer, als meine beste Freundin ihre Hände wegnimmt. Grinsend drehe ich mich zu dem, auf der Stufe über mir hockenden, Mädchen herum. Einen Teil ihres blonden Haares, das sie zu einem Zopf geflochten hat, verbirgt sie unter einer grauen Mütze, die sie locker auf dem Kopf trägt. Ihr Lächeln ist kumpelhaft und eines von diesen, die man nicht oft im Leben zu sehen bekommt und dass sich bis in ihre nussbraunen Augen ausbreitet. “Sag mal, was hast du mit der Z und seiner Gruppe gemacht?“, fragt sie mich interessiert:“Sie haben ja beinahe die Flucht ergriffen.“ Zachary, den Anführer der Gruppe, der mich gerade eben mit seiner Anwesenheit genervt hat, nennen wir beide nur “Z“, weil wir seinen Namen zu lang finden und nicht sonderlich mögen. Mich erinnert dieser Name immer so sehr an einen alten Zauberer mit langem Ziegenbart. “Ich? Ich habe nichts gemacht. Da muss wohl irgendwas anderes passiert sein, aber ich kann sicher nicht schuld sein“, ich versuche belustigt darüber zu klingen, dass sie denkt, dass ich irgendwas gemacht habe, was mir jedoch nicht gerade gut gelingt. Schließlich habe ich etwas getan, aber das sollte Reese lieber nicht erfahren. “Ich habe sie aber über dich reden hören, Ev“, erklärt sie und klopft mir kumpelhaft auf die Schulter. Ich verdrehe die Augen und überlege mir, was ich als Nächstes sagen könnte: “Ist doch keine große Sache. Die reden doch meistens abfällig über mich.“ “Aber dieses Mal war es irgendwie komisch“, erklärt sie weiter und scheint nicht so als würde sie nicht mehr locker lassen wollen: “Irgendwas musst du doch gemacht haben.“ Glücklicherweise rettet mich die Schulklingel davor schon wieder antworten zu müssen und beinahe entfährt mir ein erleichterter Seufzer als ich mich von den Treppenstufen erhebe und mich mit wirren Worten von meiner besten Freundin verabschiede. Schnell reiße ich die Tür auf und spurte voller Erleichterung durch den, von Spinden gesäumten, Hauptgang der Schule bis hin zum Klassenraum, in dem der Englischkurs stattfindet. Das ist eines der ersten Male, dass ich mich über den Beginn der ersten Stunde freuen.
Das Kapitel ist irgendwie...schwach. Tut mir leid!
Evie
"Hey, Ev", plötzlich legt mir jemand eine Hand von hinten auf die Schulter. Nach dem spärlichen Kampftraining mit meiner Mutter ist das mittlerweile ein typisches Alarmsignal für mich. Sofort balle ich meine rechte Hand zu einer Faust und versuche mit der anderen Hand das Handgelenk meines Angreifers zu packen, der zu meiner Überraschung um einiges schneller ist und seine Hand aus meinem Griff befreit. "Hast du gerade versucht mich anzugreifen, Ev?", fragt die Person erneut und dieses Mal hebe ich meinen Kopf. Augenblicklich wird mir klar, warum der Angreifer schneller war als ich selbst. Eine leichte Röte schleicht sich auf meine Wangen, weil ich die Stimme meiner besten Freundin nicht erkannt habe, schleicht sich auf meine Wangen und ein wackeliger Ausdruck der Unsicherheit schleicht sich auf mein Gesicht: "Tut mir leid, Reese. Ich war gerade ein wenig in Gedanken." "Hab ich gemerkt", glücklicherweise grinst sie nur und richtet die Stoffmütze auf ihren Kopf: "Zum Glück bin ich in allem schneller als du, sonst läge ich jetzt vielleicht da unten." Mit einem Nicken lenkt sie meinen Blick auf einen Fleck auf den Boden vor uns, auf dem ein Burger liegt, der ziemlich zertreten aussieht. Ob da aber wirklich jemand drauf getreten ist oder ob unsere Köchin einfach mal wieder mit dem Essen herumexperimentiert hat und "etwas Neues" probieren wollte, kann man aber nicht mehr so genau sagen. "Tut mir leid", sage ich erneut und ziehe mein Matheheft aus dem Rucksack: "Ich mache dir auch ein Friedensangebot." Reese schüttelt nur lachend den Kopf und erneuert den Knoten des schwarz-roten Karohemds, das sie, wie auch an vielen anderen Tage, um die Hüften geschlungen trägt. Irgendwie passt das zu ihr. Ich will nicht sagen, dass sie nicht normal ist, weil sie nicht diese stinknormalen Sachen trägt wie die anderen Schüler, sondern eher, dass es zu ihrem entspannten, coolen Charakter passt, den ich so sehr schätze. Sie ist einfach ein Mensch, mit dem man Spaß haben kann, ohne sich Gedanken um alles mögliche machen zu müssen, weil man ihr vertrauen kann. Wahrscheinlich rührt diese Eigenschaft von ihrer Kindheit in der Wohnwagensiedlung mit ihrer Mutter her, in der sie sich nie wirklich auf jemanden verlassen konnte. Da könnte ich mich aber auch täuschen, denn faul ist sie manchmal trotzdem. "Nein, danke. Hab heute schon Clarkson fünf Mäuse und das Versprechen, dass ich ihm keine nervigen Spitznamen mehr geben, dafür geben, damit ich Mathe von ihm abschreiben kann", erklärt sie und lässt sich an der Wand des Ganges, in dem wir stehen, hinunterrutschen. "Na toll, das Versprechen hätte ich besser gebrauchen können", spaße ich, obwohl sie mir schon seit einem Monat keine nervigen Namen mehr gegeben hat.
Zwar würde ich das nie wirklich zugeben, denn dann würde sie wieder damit anfangen, aber manchmal vermisse ich diese eine ihrer vielen Angewohnheiten irgendwie. Schließlich war einer ihrer Spitznamen die Sache, die uns zu Freundinnen gemacht hat, nachdem sie eine Klasse wiederholen musste. Sofort ist ihr meine echt minimale Ähnlichkeit zu Schneewittchen aufgefallen und so hatte ich meinen Spitznamen schon weg. Ein paar Mal haben wir uns deshalb in die Wolle gekriegt, doch dann hat sie versprochen sich einen anderen, besseren auszudenken, wenn wir Zeit miteinander verbringen, was auch mir damals nach dem Freundschaftsbruch mit Avery recht gelegen kam, also habe ich ja gesagt.
Sanft boxt sie mich in die Seite, steigt dann aber in die Verhandlungen mit ein: "Wenn du für mich den Physiktest nachher mit schreibst, kannst du haben, was du willst." Ich verdrehe die Augen. Oh Gott, der Physiktest! "Wenn du eine Fünf kassieren willst, kann ich das gerade für dich übernehmen. Das schaffst du aber auch selbst", bemerke ich halb im Spaß halb ernst. "Du hast recht. Ich muss es selbst machen. Eine Fünf würde meinen Notendurchschnitt so sehr heben, dass meine Lehrer sowieso denken würde, dass ich irgendwie geschummelt hat", der sarkastische Unterton, der in ihren Worten mitschwingt, ist kaum zu überhören, denn wir beide wissen genau, dass sie sich in diesem Jahr in beinahe allen Fächern relativ gut zu Recht findet, weshalb mittlerweile auch Witze über ihre, vorher echt miesen, Noten macht.
Deshalb bin ich verwundert, als sie plötzlich ernst wird. Ihre Gesichtszüge werden härter, ich bemerke, wie sie beginnt an ihren kurzen, zu einem Zopf geflochtenen, blonden Haaren herumzuspielen und natürlich entgeht mir auch nicht, dass sie die Zähne fest zusammen beißt. Das sind drei ihrer typischen Zeichen dafür, dass ein Thema folgen wird, dass ich gar nicht mag, weshalb es ihr jetzt schon unangenehm ist das anzusprechen. Sie ist sowieso ein Mensch, der unangenehme Themen unausgesprochen lässt. "Was ist?", frage ich, wahrscheinlich ein wenig zu harsch, als sie nicht zu sprechen beginnt. Scheinbar merkt Reese nun, dass mir die Veränderungen ihres Körpers aufgefallen sind, weshalb sie endlich auspackt: "Hast du heute Nachmittag Zeit oder muss ich dafür erst einen Monat im Voraus einen Termin machen?" Mit aller Kraft versuche ich mir ein sehnsüchtiges Seufzen zu verkneifen. Es tut mir schrecklich weh, dass sie bei diesen Worten so eine Bitterkeit in ihrer Stimme hat und dass es ihr so schwerfällt mich das zu fragen. Schließlich sollten Freunde keine Angst haben müssen einander, um ein Treffen zu bitten. Leider ist auch das mit dem Termin nicht nur eine maßlose Übertreibung.
Als Hexe hat man jedes Mal an Vollmond die Möglichkeit mit einem Zauber seine Kräfte neu zu stärken und an diesen Tagen kann ich mich ja schlecht mit Reese treffen, da es günstig ist die Vorbereitungen für den Zauber schon vor dem Abend zu treffen. Außerdem haben Hexen generell die Angewohnheit in ihrer freien Zeit in der Stadt herumzustreifen. Für mich gibt es da sogar noch einen weiteren Anreiz.
Während des Vollmondes vor einem Monat als ich auf dem Weg nach Hause war, habe ich ein riesiges, verschnörkeltes Symbol an einer Hauswand entdeckt. Es hat blutrot geleuchtet und war für mich kaum zu übersehen, weshalb ich mich zu fragen begonnen habe, warum die anderen Menschen auf der Straße sich nicht schon längst darum positioniert haben, um Fotos oder so zu machen. Als ich jemanden darauf angesprochen habe, was im Nachhinein echt eine schlechte Idee war, hat er mich für verrückt erklärt. Von dem Moment an war für mich klar, dass ich wohl eine der Einzigen sein muss, die dieses Symbol sehen kann. Schnell habe ich ein Foto geschossen und bin nach Hause gegangen. Von dem Tag an bin ich fast immer nach der Schule irgendwo auf der Straße unterwegs und suche nach weiteren, was mir bisher nicht eigentlich relativ gut gelingt, obwohl es bei Vollmond aus irgendeinem Grund viel einfacher ist.
Heute Nacht ist eine dieser Vollmondnächte, was für mich sonst eigentlich immer ein Grund zur Freude ist, doch genau in diesem Moment fühlt es sich gar nicht gut an. Also beiße ich mir unsicher auf die Lippe und spüre wie sich mein ganzer Körper automatisch versteift, während ich all meinen Mut zusammen nehme: "Weißt du, Reese, heute ist es ganz schlecht." In meinem ganzen Körper kribbelt alles, als würden tausende Feuerameisen darin herumrennen und mir brennende Stiche versetzen. Sobald ich den Mund wieder schließe, verdunkelt sich ihr Blick und ich kann beinahe den Level ihrer Enttäuschung bestimmen. Es tut mir schrecklich weh meine beste Freundin so enttäuschen und versetzen zu müssen. "Warum?", fragt sie wie jedes Mal fast roboterhaft. Natürlich kann ich ihr das nicht sagen, also überlege ich mir schnell etwas anderes. "Ich muss auf meine Schwester aufpassen, weil meine Eltern heute arbeiten müssen", lüge ich, während das schlechte Gewissen mich beinahe innerlich zerreißt. Reese rollt mit den Augen und ich sehe, dass sie mir nicht glaubt, doch was soll ich denn machen. Dieser Tag heute ist verdammt wichtig für mich und ich kann ihn nicht ausfallen lassen egal für wen. Wäre Reese in der gleichen Situation wie ich, würde sie sicher auch nicht anders reagieren als ich. "Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen an einem anderen Tag verabreden", schlage ich vor, um mich nicht ganz so mies zu fühlen und eine gute Lösung für uns beide zu finden. "Morgen?", fragt sie nach und ich nicke wie automatisch, doch dann wirft sie noch etwas in die Runde: "Frag aber lieber erst, sonst sagst du mir wieder kurz vorher ab." "Ja, ich frage direkt nach der Schule meine Mom", erwidere ich und beginne nervös Däumchen zu drehen. Immer noch fühle ich mich total mies, denn sowas hat Reese echt nicht verdient. Schließlich war sie mir immer eine gute Freundin.
Evie
Das Klicken des Haustürschlosses ertönt und ich trete in den Hausflur hinein. Mein ganzer Körper kribbelt schon, seit ich das Schulgebäude verlassen habe, vor Aufregung und ich konnte gar nicht schnell genug zu Hause sein. Beinahe bin ich auf dem Weg nach Hause über die Londoner Straßen gesprintet, was im Nachhinein meiner Meinung nach echt genug Sport für die ganze Woche war, aber schon jetzt ist mir klar, dass meine Mom mich trotzdem dazu verdonnern wird mit ihr joggen zu gehen. Schließlich weiß sie selbst wie wichtig ein starkes Immunsystem und ein fitter Körper für Mitglieder unserer Spezies sind, denn mindestens einmal ist jede Hexe dank mangelnder Kraft nach der Nutzung ihrer Kräfte aus den Sohlen gekippt.
"Ich bin zu Hause", brülle ich durch den Flur und stelle meine Schultasche auf das Schuhregal, um meine Jacke und meine Stiefel auszuziehen. Lieber werfe ich meine Tasche in keine Ecke irgendwo im Haus, da ich später immer zu faul bin sie wieder aufzuheben und das führt dann sowieso nur zu Streit mit meiner Mutter.
Als Keiner antwortet, laufe ich in die Küche, wo jedoch auch Keiner zu sehen ist: "Leute? Ist irgendwer da?" Erneut bekomme ich keine Antwort. Auch im Wohnzimmer ist niemand. Geräuschvoll stapfe ich die Treppe hinauf und bekomme abrupt ertönt die sanfte Stimme meiner Mutter aus dem Bad: "Ich bin im Bad und sortiere Wäsche. Willst du helfen?" Sofort höre ich auf zu rufen und verschwinde aus dem Sichtfeld meiner Mutter, damit sie mich nicht wirklich dazu verdonnert unsere Kleidung nach Farben zu sortieren. Ohne noch weiter zu antworten, schleiche ich auf Zehenspitzen in mein Zimmer und schließe schnell die Tür hinter mir. Das Augenrollen meiner Mutter kann ich mir schon bildlich vorstellen, verteidige mich aber gedanklich damit, dass es Zeit ist sich auf den Vollmond vorzubereiten. Schließlich packen sich meine Sachen ja auch nicht von allein.
"Evie?", eine leise, vorsichtige Stimme dringt von rechts an meine Ohren. Ich fahre zu meinem Bett herum, wo die Töne herstammen müssen. Dort, mitten auf meinem Bett, sitzt meine kleine Schwester Annabelle, die zwangsläufig eher einige Stunden vor mir nach Hause zurückgekehrt sein muss. Mein erschrockener Blick muss ihr wohl gezeigt haben, dass sie mich auf dem falschen Fuß erwischt hab: "Sorry, dass ich mich einfach in dein Zimmer geschlichen habe. Ich wollte dich echt nicht erschrecken."
Grinsend winke ich ab und stoße mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte: "Nicht schlimm, ich geh schließlich auch oft ungefragt in dein Zimmer." Ein schüchternes Lächeln schleicht sich auf ihre rosafarbenen Lippen und sie beginnt mit den Fingern in ihren orange-roten Locken herumzuspielen. "Irgendwas willst du dich, oder", fordere ich auf dem Weg zu meinem Schreibtisch. Interessiert lasse ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und stütze meinen Kopf erwartungsvoll in die Hände.
"Ich wollte dich frage ..., ob du ...", immer wieder unterbricht sie sich selbst, was mich fast verrückt macht. "Raus mit der Sprache, Ana", dränge ich ein wenig. Es platzt beinahe so aus ihr heraus, als wäre es etwas, was sie schon lange zurückgehalten hat: "Du hast schon so lange nicht mehr mit mir meine Kräfte trainiert und ich wollte dich fragen, ob du mir zur Wiedergutmachung heute nach mit nimmst. Du weißt, dass es dann für mich mit dem Training leichter werden würde." Ihr bettelnder Blick lässt mich den Kopf schief legen und das Gesicht verziehen, weil es so echt schwer ist ihr etwas abzuschlagen, aber ich habe schon so oft mit meiner Mutter über das Thema geredet und wir haben abgemacht es ihr noch nicht zu erlauben. Schließlich hat meine Mutter mir gesagt, dass ich Anas Alter meine Kräfte auch noch nicht trainiert habe, sondern erst mit vierzehn Jahren angefangen habe. Der Körper eines Kindes könnte durch zu hartes Training nämlich beträchtlichen Schaden nehmen und das Risiko wollen meine Eltern glücklicherweise nicht eingehen. Das Schlimmste, was einer Hexe nämlich erwarten kann, wenn sie sich überanstrengt, ist der Tod. "Darüber haben wir doch schon geredet, Ana. Wenn du älter bist, nehme ich dich gerne mit, aber jetzt ... geht es einfach noch nicht", erkläre ich ohne ihr die Gefahren, die sie erwarten könnten, mitzuteilen, da ich ihr keine Angst vor ihren eigenen Kräften machen will. "Warum?", ihre leise Stimme klingt beharrlich. Ratlos beiße ich mir auf die Lippe und weiche ihrer Frage ungeschickt aus: "Rede darüber bitte mit, Mom. Sie kann es dir viel besser erklären als dich." "Du kannst mir das aber viel besser erklären." "Nein, kann ich nicht. An einem anderen Tag kann ich gerne mit dir üben, aber mit nehmen kann ich dich nicht und jetzt lass mich bitte meine Sachen packen", es tut mir innerlich zwar weh sie so abwimmeln zu müssen, doch ich kann ihrem Drängen eben nicht nachgeben, egal welches Argument sie bringen mag. "Morgen?", fragt sie beharrlich weiter. Ohne zu überlegen, stimme ich einfach zu: "Ja, und jetzt raus oder ich trag dich raus." Da sie es hasst wie ein kleines Kind rumgetragen zu werden, erhebt sie sich zufrieden von meinem weichen Bett und verlässt mein Zimmer eher semizufrieden, doch da lässt sich nichts machen.
Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hat, entflieht meiner Kehle ein verzweifeltes Stöhnen. Die Diskussion gerade hat mir echt die Vorfreude auf den Vollmond genommen. Warum müssen kleine Geschwister immer so viel diskutieren?
Evie
Als die Stimme meiner Mutter ertönt, stehe ich bereits im Hausflur und bin gerade auf dem Sprung: “Evie? Bist du schon weg?“ Ein wenig enttäuscht von der Störung durch meine Mutter, bleibe ich stehen: “Nein, aber ich wollte gerade los, Mom.“ “Kannst du noch kurz warten? Ich muss mit dir reden“, ich höre, wie sie die Treppe hinuntersteigt.
Wenige Sekunden später taucht der blonde Haarschopf meiner Mutter im Gang auf. Der Blick auf ihrem Gesicht ist eine Mischung aus Enttäuschung und einem leichten Anflug von Wut.
Scheinbar hat Ana sie wegen der Vollmondthematik angequatscht. “Was ist?“, ich klinge ein wenig genervt:“Ich muss jetzt los. Heute Nacht ist Vollmond. Du weißt, wie wichtig das ist.“ “Ich weiß auch, dass du mit Ana über den Mond geredet hast“, sie stützt die Hände als Ausdruck ihrer Empörung in die Hüften und blickt mich vorwurfsvoll an: “Ich dachte, wir wollten mit ihr nicht darüber reden und erst recht nicht diskutieren.“
Verzweifelt überlege ich, wie ich aus dieser Situation am besten wieder raus kommen kann: “Das ist mir bewusst. Deshalb habe ich ja auch gesagt, dass es nicht geht. Soll ich ihr etwas sagen, dass sie nicht mit kann, weil wir Angst haben, dass sie stirbt? Dann würde sie ihre Kräfte nie wieder freiwillig nutzen.“ Die letzten beiden Sätze flüstere ich, um nicht das Risiko einzugehen, dass Ana uns vielleicht hört. “Du solltest aber eigentlich gar kein Wort darüber verlieren“, schimpft Mom weiter. Um endlich hier wegzukommen, vertröste ich sie: “Können wir das bitte später diskutieren? Ich muss endlich los, Mom. Das ist super wichtig. Ich hab Reese extra dafür vertrösten müssen.“
“Schon wieder?“, meine Mutter wirkt enttäuscht: “So verlierst du sie nur.“ “Das weiß ich“, erwidere ich nun ziemlich gereizt. Warum habe ich meiner Mom nur erzählt, wie es momentan zwischen Reese und mir aussieht? Denn dass sie mir immer wieder sagt, wie falsch es ist meine beste Freundin zu vertrösten, kann ich gerade echt nicht gebrauchen. “Ich verspreche, dass ich mich um Reese kümmere und mit Ana trainiere. Aber erst morgen, ok? Jetzt muss ich gehen, sonst schaffe ich die Dinge, die ich heute noch vorhabe, nicht mehr“, mache ich ihr klar. Ein Seufzen entflieht ihrer Kehle: “Na gut, aber du musst es versprechen.“ Auch ich seufze: “Versprochen? Ist noch irgendwas oder bin ich frei?“
“Nein, du bist frei zu gehen“, ihr sanftes Lächeln sagt mir in diesem Moment, dass ich sie an sich selbst in meinem Alter erinnere: “Versuch aber bitte in nichts rein zu geraten.“ Noch ein letztes Mal überprüfe ich, ob ich alles habe, was ich brauche: “Bin ich je in was reingeraten?“ “Ja, zum Beispiel letzte Woche“, erinnert sie mich.
Ertappt beiße ich mir auf die Lippe und setze meinen Rucksack wieder auf: “Ok, ich werde heute Nacht versuchen eine brave Hexe zu sein und keinem irgendwas anzutun. Ich verspreche, dass ich keinen Streit und keinen Kampf anfangen werde.“ Dass ich aber nicht zurückschrecken werde mich zu verteidigen, wenn mich irgendwer angreift, doch das erwähne ich lieber nicht.
“Und trainier doch bitte ein wenig mit Annabelle, während ich weg bin. Vielleicht heitert sie das ja ein wenig auf“, schlafe ich vor, während meine Hand zur Türklinke wandert, um die Tür zu öffnen. “Dir ist aber schon klar, dass sie lieber mit dir übt, als mit mir, richtig?“, wirft sie ein. Aus der Tür tretend, antworte ich knapp: “Aber du bist ihre Mutter. Du schaffst das sicher irgendwie.“
Mit diesen Worten schlage ich die Tür hinter mir zu und laufe durch den Vorgarten. Während ich über den schmalen Kiesweg, zwischen den kniehohen Büschen, laufe, packt mich die Erinnerung an den Tag, an dem die Kräfte meiner kleinen Schwester erwachten.
Wir waren die Einzigen im Haus und beinahe hat sie eine Panikattacke bekommen, doch ich war glücklicherweise da, um sie zu beruhigen und ihr alles in Ruhe zu erklären. Seitdem bin ich immer für sie da, wenn es um ihre Hexenkräfte geht. Trotzdem kann ich, wenn es um den Mond geht, auf keinen Fall nachgeben. Das Risiko, das sie sterben könnte, wenn sie nicht stark genug ist, will ich einfach nicht eingehen. Selbst, wenn sie mich dafür hasst!
Evie
Bereits aus der Ferne sehe ich den schwarzen Metallzaun aufragen. Schon um diese Uhrzeit sind Unmengen von anderen Leuten auf den Weg zum Tor, das den Zaun an einer Stelle unterbricht und Einlass zum Friedhof gewährt. Die Meisten von ihnen tragen schwarze Kapuzenpullover und Regenjacken, deren Kapuzen sie tief ins Gesicht gezogen haben, oder Mützen, die ihre Augen verbergen.
Reihenweise betreten junge Hexen und Hexer den alten Friedhof, der im riesigen Meer an Gebäuden und Plätzen dieser Stadt fast untergeht, was für die Hexen dieser Stadt praktisch ist, denn so gelingt es uns in der Menge unterzutauchen und im Verborgenen zu bleiben, selbst wenn wir uns versammeln. Und auch wenn man uns entdecken würde, wären wir für die Meisten nur eine der vielen komischen Gruppen, die sich hier in der Stadt tummeln.
Mein Schritt beschleunigt sich, als ich sehe wie viele andere bereits auf dem saftigen, grünen Rasen zwischen den grauen Grabsteinen sitzen.
Endlich bei der letzten Ruhestätte vieler Londoner angekommen, trete ich durch das metallene Eingangstor und spüre sofort ein leichtes Beben, das jeden leicht durchschüttelt, der den Verhüllungszauber durch dringt. Schon seit mehreren Jahrhunderten umhüllt dieser Zauber den Platz und verbirgt die Hexen und ihre Magie für die Menschen außerhalb des Grundstücks.
Gewissenhaft lasse ich meinen Blick über den riesigen Rasenplatz wandern. Überall ragen Grabsteine in den verschiedensten Formen und Größen aus dem Boden. Der Gedanke, dass im Boden unter uns tote Menschen begraben liegen, mag für normale Menschen vollends erschreckend sein, weshalb sich auch Keiner von ihnen lange mit gutem Gewissen hier aufhalten würde, doch bei Hexen ist es etwas ganz Anderes. Meine Spezies ist schon seither mit der Natur verbunden und das Sterben ist ein Werk des natürlichen Kreislaufes des Lebens. Deshalb überkommt mich auch jedes Mal eine gewisse Form der Aufregung und es fühlt sich so an, als würde man von einem Energieschub erfasst und mitgerissen werden, der ein berauschendes Kribbeln in meiner Magengrube mit sich bringt. Diese Gefühle sind fast mit einem Rauschzustand zu vergleichen, der nur hier zu spüren ist.
Anstatt mich wie sonst auf meinen gewohnten Platz zwischen einer alten Eiche mit unzähligen Astgabeln und den großen Familiengrabstein der Familie ‘Haywire‘ fallen zu lassen, entscheide ich mich dafür einen privateren, geschützten Ort zu wählen. Schließlich habe ich heute Nacht nicht nur vor meine Kräfte neu zu stärken, sondern zudem meine Forschung weiter voran zu bringen.
Schnellen Schrittes verlasse ich deshalb den Weg und steuere auf ein Gebäude, von der Größe einer Gartenlaube, zu. Es besteht aus grauem, von der Zeit bereits ziemlich in Mitleidenschaft gezogenem, Backstein, an dem sich grün-braunes Moos mit aller Kraft Hilfe suchend festklammert. Das Dach ist flach und besteht aus genau dem gleichen Stein, wie die Wände darunter.
Es gibt keine Tür, sondern nur ein freies Loch, das den Blick auf eine vierstufige Steintreppe freigibt. Schnell steige ich die wenigen Stufen hinunter und lausche den Geräuschen, die die Absätze meiner Stiefel auf dem Beton erzeugen.
Im Inneren ist es kälter als draußen, weshalb ich die Jacke fester um meinen Leib schlinge. Das Gebäude, das von Außen klein aussieht, ist drinnen um einiges größer. Durch eine ähnliche Lücke scheint das Licht des Mondes in den Raum und ermöglicht mir einen besseren Blick auf die spärliche Einrichtung.
Vor dem Fenster steht ein schmaler Tisch aus Weißeiche, der mit einer Vielzahl von Geräten bestückt ist und genau die richtige Größe für mich hat. Am anderen Ende des Raumes befindet sich ein ebenfalls steinernes Becken. Darin bebt die Oberfläche des klaren Wassers bei jedem Schritt, den ich mache, kaum merklich und schlägt seichte Wellen. An der letzten Wand, links des Eingangs, stehen unzählige Namen, in einem gleichmäßigen Abstand, in das harte Material eingemeißelt. Zwei kleine Feuerschalen sind in beiden, an die Wand angrenzenden, Ecken von einer unbekannten Person, scheinbar vor langer Zeit, platziert worden. Bei meinem Eintreten zündeten entzündeten sich die Flammen wie auf magische Weise von selbst und erleuchten die Worte flackernd.
Nach langer Recherche habe ich bereits vor längerer Zeit herausgefunden, was es damit auf sich hat. In goldenen Lettern stehen dort die Namen der mächtigsten, hier begrabenen, Hexen und Hexer meines Zirkels, als Anerkennung für ihre Leistungen. Auch ein Großteil der ‘Blakemore‘-Blutlinie, der Linie von einer der mächtigsten Hexenfamilien und Gründerfamilie des Zirkels, liegt hier begraben und einige von ihnen wurden sogar auf der Wand vermerkt.
Mein Liebling ist Margaret Blakemore. Sie lebte während des Zweiten Weltkrieges und war eine der größten Magierinnen ihrer Zeit, die im Krieg auch das Gebäude, in dem ich mich gerade befinde, nutzte, um versteckt vor den Bewohnern Londons, Magie praktizieren und neue Zauber entwickeln zu können.
Zwar bin ich kein Freund davon, dass beide Gründerfamilien, die Hollingsworth’s und die Blakemores, nach wie vor darauf bestehen ihre Zirkel mehr oder weniger zu leiten. Wenigstens haben die Blakemores zu Beginn des Jahrhunderts beschlossen mit gutem Beispiel voran zu gehen und deshalb einen demokratischen Rat eingeführt, der aus sämtlichen Vertretern bekannter Familien unseres Zirkels besteht. Währenddessen wollen die Hollingsworth weiterhin stoisch alle wichtigen Entscheidungen für den Richmondhexenzirkel, mit dem wir schon lange im Clinch stehen, alleine treffen.
Nachdem ich lange genug die goldene Schrift betrachtet und mit dem Finger federleicht hinübergestrichen habe, wende ich meinen Blick schnell ab, um mich meinem eigenen Ziel zu widmen. In der Mitte des Raumes lasse ich mich auf den eiskalten Boden fallen und setze meinen Rucksack ab. In Gedanken bin ich bereits bei den Zaubern, die ich heute Nacht sprechen werde. Ob ich es dieses Mal schaffen werde, weiß ich nicht, und ehrlich gesagt verlässt mich langsam auch die Hoffnung daran.
Evie
Vorsichtig ziehe ich eine vergilbte Karte aus meinem dunklen Rucksack und breitet sie in der Mitte des kleinen Raumes auf dem dünn mit Staub bedeckten Boden. Auf dem vergilbten Papier wurde mit dunkler Tinte die Karte Londons gezeichnet. Meine Mutter hatte sie mir gegeben, nachdem ich sie nach irgendeiner Karte Londons gefragt habe, doch verschwiegen, dass sie nicht aus diesem Jahrhundert stammt, sondern aus bereits lang vergangenen Zeiten stammt. Zwar dachte ich erst, dass es ein Problem wäre, doch dann habe ich mich damit abgefunden und dann festgestellt, dass es für meine Zwecke nicht wichtig ist, aus welchem Jahr sie stammt. Ich brauche sie nämlich lediglich, um zu markieren, wo ich in London bereits Zeichen gefunden habe. Vielleicht ergibt sich ja irgendwann ein Muster. Das Papier ist vom ganzen Falten schon ziemlich porös, weshalb ich besonders vorsichtig sein muss sie nicht kaputt zu machen, denn als Mom sie mir gegeben hat, hat mir ihr Blick gezeigt, dass es für sie ein emotionaler Gegenstand zu sein scheint, den sie mir nun anvertraut.
Als ich nächstes lege ich eine Art Buch daneben. Es ist das Grimoire der Familie ‘Grey‘. Menschen würde es als normales Zauberbuch abstempeln, doch für meine Spezies bedeutet es viel mehr. Darin stehen sämtliche Zaubersprüche und Anleitungen für magische Rituale oder zur Erschaffung von okkulten Objekten. Diese besonderen Schriftstücke werden von Generation zu Generation in der Familie weiter gegeben, erweitert und verfeinert. Deshalb ist es für mich auch so eine Ehre zu meinem fünfzehnten Geburtstag meines Vaters erhalten zu haben.
Das dünne, braune Band, das den Tierlederumschlag, der laut meines Vaters aus dem siebzehnten Jahrhundert stammen muss, umschließt, öffne, ich vorsichtig und schlage jede Seite einzeln um, bis ich auf den Zauber stoße, den ich heute schon zum zweiten Mal versuchen will. Am Erfolg dieses neuen Versuches zweifele ich allerdings ziemlich, wenn ich daran denke, was passiert ist, als ich es erstmals ausgetestet habe. Eigentlich hatte ich gehofft, dass er mir die Suche nach den Zeichen erleichtern würde, doch stattdessen hat er mich nur ausgelaugt und außerdem kein Stück weiter gebracht. Schon damals bin ich auf die Idee gekommen, dass jemand die Symbole vor solchen Zaubern geschützt hätte, doch nachdem auch fast alle anderen Zauber aus dem Grimoire keine Wirkung hatten oder schiefgelaufen sind, fühlt es sich immer mehr so an als würde ich keinen Bezug finden.
Danach ziehe ich eine Holzschale, sowie eine Wasserflasche hervor. Langsam schraube ich die Flasche auf und fülle das sprudelnde Wasser in die Schale. Das Ganze dient dem Zweck, dass ich meine Kräfte durch dieses natürliche Element verstärke. Man könnte sagen, dass ich die Stärke des Wassers in mich aufsauge.
Die letzte Zutat, die ich für mein Ritual benötige, ziehe ich dieses Mal aus meiner Jackentasche, da viel zu zerbrechlich ist, um es mit den anderen Sachen im Rucksack zu transportieren. Es ist eine kleine Folie, die mit meinem mittlerweile abgekühlten, roten Blut gefüllt ist, dass ich beim letzten Arztbesuch absichtlich hab mitgehen lassen.
Zwar weiß ich, dass man sowas eigentlich nicht machen sollte, aber mein Blut ist eine der wichtigsten Zutaten der meisten Rituale und Zauber, und es ist besser ein Röhrchen mitzunehmen, als selbst zu versuchen mir etwas abzunehmen, denn es tut echt weh, wenn ich die Vene verfehle. Einmal ist mir das passiert und seitdem bin ich nicht mehr wirklich scharf darauf mir in meinem Zimmer selbst die rote Flüssigkeit aus dem Körper zu nehmen, obwohl ich einige Vorräte im Kühlschrank habe. Zwar sind meine Eltern davon nicht unbedingt begeistert, doch sobald ich ihnen erkläre, dass es nur Tierblut ist, dass ich für meine Zauber nutze, hören sie, wenn auch noch nicht richtig zufrieden damit, auf mich darüber auszufragen. Auf die Idee zu testen, ob das gelogen ist oder nicht, sind sie glücklicherweise bisher noch nicht gekommen.
Achtsam entferne ich den Korken mit Daumen und Zeigefinger vom Hals der kleinen Glasflasche und lasse das dickflüssige Blut Tropfen für Tropfen auf die Karte sickern, bis nichts mehr übrig ist. Eigentlich müsste sich die Essenz meines Lebens tief in jeden Teil das Blatt hinein graben und rasend in alle Richtungen fließen, doch stattdessen bleibt es auf einer Stelle und bewegt sich keinen Millimeter.
Konzentriert lege ich meinen Fokus auf die Worte, die mit schwarzer Tinte auf die aufgeschlagene Seite geschrieben worden waren und tauche meine Hände in das kalte, um meine Finger herum sprudelnde, Mineralwasser. Sobald ich die Substanz an der Haut zu spüren ist, fühlt es sich so an, als würde urplötzlich Strom durch mich hindurch fließen. Die Worte sprudeln beinahe aus mir hinaus, wie etwas, was ich dringend sagen wollte, aber lange zurückgehalten habe, doch ich halte mich zurück und versuche Ruhe und Gleichmäßigkeit in meine Stimme zu bringen. Mit jedem Wort fühlt es sich so an, als würde eine unsichtbare Kraft an mir ziehen und immer stärker werden.
Sobald ich meinen Blick auf das alte Dokument richte, werde ich augenblicklich unkonzentriert. Eigentlich hätte sich die rote Flüssigkeit schon längst vom Fleck wegbewegt und mir einen neuen Ort zeigen sollen, doch da bewegt sich rein nichts. Wut macht sich tief in meinem Inneren breit und brodelt immer weiter, bis sie aus mir heraus zu brechen dort. Wieso klappt das nicht? Die Wassertropfen fliegen umher, als ich meine Hände aus dem Wasser befreie und das Zauberbuch zuschlage. Entweder bin ich die mieseste Hexe aller Zeiten oder es liegt an einer anderen, bisher unbekannten Komponente.
Eine Mischung aus Wut und Frust macht sich in mir breit und lässt mich das Buch einfach unbedacht zurück in meine Tasche stecken. Langsam habe ich echt keine Lust mehr auf dieses ganze magische Zeug. Vielleicht bin ich einfach dazu verdammt meine Kräfte nicht nutzen zu können und ein Leben als Mensch zu führen. Nach wie vor deprimiert stelle ich das Fläschchen auf den Boden und schließe meine Augen. Die Hände halte ich einige Zentimeter über dem Blutfleck. Wie automatisch verkrampfen sich meine Finger, als ich einen leichten, schon oft geübten, Spruch verwende: “Dóse mou to aíma mou. Dóse mou to aíma mou.“ Tröpfchenweise schwebt die Essenz des Lebens durch die Luft zurück in das kleine Glasrohr, sodass auf dem Papier keine Spur der Flüssigkeit mehr zurückbleibt. Auch die Phiole verstaue ich wieder sicher, obwohl ich sie am liebsten wütend auf den Boden pfeffern würde. Die Karte lasse ich an ihrem Platz, denn schließlich werde ich sie später noch brauchen.
Um mich ein wenig zu trösten, entscheide ich mich jetzt lieber einfach den Vollmondspruch zu sprechen und dann von hier zu verschwinden. Schließlich war der Abend echt schon mies genug. Erneut lasse ich meine Hände wieder in die Wasserschüssel gleiten und richte meinen Blick gen Himmel. Sofort bewegt sich der Mondlichtkegel, der durch das Fenster dringt, zu dem Platz, an dem ich sitze. Erneut beginne ich den, mir wohlbekannten, Spruch, den mir meine Mutter bereits sehr früh beigebracht hat. Sobald ich ein Wort gesprochen habe, flammen die Kerzen im Raum um mich herum urplötzlich auf. Dass meine Augen gerade blau leuchten, weiß ich aus Erfahrung, doch trotzdem ist es nach wie vor ein komisches Gefühl dieses Wissen zu haben. Mein Herzschlag beschleunigt sich und erneut ist dieses Ziehen zu spüren, dass sich von meinen Händen aus weiter über meine Arme auf den ganzen Körper ausbreitet. Ich spüre wie meine Zellen die Hitze der Kerzen und das Licht des Mondes in sich aufsaugen und eine berauschende Energie durch mich hindurch zucken lassen.
Als ich nach unbestimmter Zeit verstumme, erlöschen die Kerzen mit einem lauten Zischen innerhalb von wenigen Sekunden. Die nassen Hände wische ich an meiner Hose ab und stehe dann mit der Wasserschale auf. Jeder meine Schritte ist federleicht und wirkt beschwingt, als ich auf das Wasserbecken, dass an der Wand hinter mir steht, zu gehe und den Inhalt meiner Schüssel dem Wasser, dass sich bereits im Becken befindet, hinzufüge. Dadurch trage ich meinen Teil dazu bei, den Anderen, die hierherkommen, eine Energiequelle zu geben, wenn ich sie nicht mehr brauche. Natürlich hätte auch ich mir einfach von hier etwas nehmen können, ohne irgendwelche Probleme zu bekommen, doch was die Vorbereitung eines Ritus angeht, überlasse ich lieber nichts dem Zufall.
Als ich mein leichtes Gepäck wieder schultere, fühle ich mich wie neu geboren und der Ärger ist vergessen. Erneut ist es als wäre ich einen Rauschzustand versetzt worden. Die Abenteuerlust hat mich wieder gepackt, weshalb ich innerhalb von wenigen Sekunden beschlossen habe mich tatsächlich auf die Suche zu begeben.
So stehe ich also wenige Minuten später komplett vorbereitet am Tor des Friedhofes und richte den Blick auf die Karte in meinen Händen. Wo ich heute jedoch suchen muss, liegt für mich vollkommen im Verborgenen. Da wird mir wohl das Schicksal einfach wie so oft weiterhelfen müssen.
Prüfend sehe ich mir noch einmal die Punkte an, an denen ich bereits auf Zeichen gestoßen bin, doch auf Anhieb sehe ich zu meinem Bedauern keine Verbindung. Sobald ich allerdings meinen Finger über das Stück Papier in meinen Händen fahren lasse, spüre ich eine starke Anziehungskraft, die von einem ganz bestimmten Ort auszugehen scheint. Langsam bewege ich meinen Finger weiter zu dem Punkt und lasse ihn dort ruhen.
Unerwartet werde ich aus Realität gerissen und nehme vor meinem inneren Auge das verschwommene Bild eines Ortes wahr, von dem ein mir mehr als bekanntes blaues Leuchten ausgeht. Es gleicht nämlich nicht nur dem in meinen Augen, wenn ich starke Magie anwende, sondern auch dem von einigen der Zeichen, auf die ich bisher gestoßen bin. Das Bild ist jedoch viel zu verschwommen, um mir den Weg zu diesem Ort sparen zu können.
Ohne Vorwarnung wirft mich etwas zurück in die Realität, doch obwohl sich um mich herum alles zu drehen scheint, hat sich ein Gedanke fest in meinem Kopf verankert. Dieser Ort ist es! Da muss ich unbedingt noch in dieser Nacht hin, sonst ist es vielleicht zu spät.
Dieses Kapitel hier würde etwa um zwei Uhr nachts geschrieben, also verzeiht mir bitte die Rechtschreibfehler und die vereinzelten Wortwiederholungen, aber irgendwann sind mir einfach keine Synonyme mehr eingefallen und im Internet gab es auch keine Guten mehr. Hoffe es gefällt euch trotzdem!
Evie
Das dumpfe Leuten der Glocken von Big Ben schallt über die Dächer Londons hinweg. Die Sterne leuchten sanft über meinem Kopf und ich flackernden Laternen links und rechts der Straßen erhellen meinen Weg. Schon lange wandert mein Blick auf der Suche nach dem Zeichen, dass in mir in meiner Vision erschienen ist, durch die Gegend. Meine Suche ist jedoch vergebens. Nirgends ist das gewohnte blaue Flackern zu sehen, das normalerweise von dem Zeichen ausgeht. Ein enttäuschtes Seufzen entflieht meiner Kehle. Überall hetzen Menschen umher und ein Großteil starrt gebannt auf das Handy in der Hand. Mich beachtet glücklicherweise niemand. Achtsam lasse ich meinen Blick den großen Turm vor mir hinauf und wieder hinab gleiten, doch erneut bleibe ich erfolglos.
Plötzlich verstummen die Glocken und es für einen Moment totenstill auf dem Platz, auf dem ich stehe. Erneut erscheint vor meinem inneren Auge ein Bild, während sich in meinem Kopf ein Stecken ausbreitet, dass sich anfühlt, als würde jemand hunderte von Spritzen in meine Stirn bohren.
Es zeigt sich mir das Bild einer Person in schwarzer Kutte, die ihren Kopf auf den Boden gerichtet hat. Sein Gesicht bleibt vor mir verborgen, doch die Statue des Menschen kann nur zu einem Mann gehören. Er wirkt muskulös, doch sein Rücken ist gebeugt und selbst von hinten kann ich an der Haltung erkennen, dass die Person vor mir bereits ziemlich in die Jahre gekommen ist. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass er einen langen Kristall aus der Tasche zieht.
Sobald seine schwieligen Finger sich um das Mineral schließen, beginnt es zu leuchten. Blaues Licht strahlt er in alle Richtungen! Langsam und unter starkem Ächzen kniet sich der Unbekannte, unbemerkt von den Menschen um ihn herum, auf den dunklen Steinboden und drückt die Spitze des Kristalls zwischen die Steine. Immer lauter höre ich seinen Herzschlag und spüre, wie sich meiner seinem Rhythmus anpasst, während die beißenden Schmerzen in meinem Kopf immer unerträglicher werden.
Fast augenblicklich leuchtet der ganze Platz ozeanblau auf. Unter den Füßen des Verhüllten brennt sich ein Zeichen, dass auf genau die gleiche Art gezeichnet wurden, wie die, auf die ich bereits gestoßen bin, in den steinharten Boden ein.
Doch obwohl dort gerade so offensichtlich Magie angewendet wurde, starrt niemand in die Richtung des Mannes oder beginnt gar erschrocken loszuschreien. Stattdessen scheint es, als hätte keiner es bemerkt. Beinahe könnte man denken, dass das Leuchten nur eine Halluzination war, doch ich weiß es besser, denn dieses Mal ist das Symbol unter den Stiefeln des Mannes steckend scharf erkennbar.
Irgendwas schleudert mich mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Tagtraum heraus und wie auf einen Befehl hin, prasseln die Empfindungen auf mich ein. Das Stecken in meinem Kopf ebbt ab und mein Herz schlägt für einige Sekunden gefährlich unregelmäßig, bevor es in seine alten Gewohnheiten zurückfällt, während das brennende Gefühl, dass sich über meine Haut ausgebreitet hat, zu erlöschen scheint. Das Einzige, was nach einigen Minuten, die ich verbracht habe, ohne mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, zurückbleibt, sind meine weit aufgerissenen Augen und ein hartnäckiges Schwindelgefühl.
Und dann spüre ich plötzlich, wie etwas warmes langsam von meiner Nase im Schneckentempo weiter nach unten läuft. Bevor die Flüssigkeit meine Lippen berührt, habe ich mich wieder soweit gefangen, dass ich es schaffe den Tropfen mit meinem Daumen aufzufangen, bevor er mein Gesicht verlassen und auf den Stein unter mir tropfen kann. Die Flüssigkeit schimmert auf meinem Finger dunkelrot und löst in mir Schrecken aus. Das Erschreckende ist nämlich nicht das Nasenbluten an sich, sondern der Grund aus dem es Auftritt. Denn schon seit meiner Geburt hatte ich sowas nur, wenn ich zu viel Magie genutzt habe. Gerade habe ich nur eigentlich meine Kräfte gar nicht bewusst verwendet und nur durch eine Überlastung können Hexen sowas bekommen. Was ist da also gerade passiert?
Zu dieser Frage gesellt sich jedoch noch eine weitere, als ich bemerke, was da schwach unter mir leuchtet. Es ist genau das Symbol, das auch gerade in der Vision zu sehen war, doch das, was mich wirklich schock ist die Größe. Denn es streckt sich über den ganzen Platz aus.
Nervös blicke ich durch die Gegend und versuche kein Aufsehen auf mich zu ziehen, doch wie immer scheint niemand zu sehen, was ich sehe und genau das ist es, was mich so sehr verunsichert. Wieso bin ich die Einzige, die das hier sehen kann? Für mich ist es nämlich kaum zu übersehen und mit jeder Sekunde wird es unaufhörlich heller.
Evie
Die kühle Nachtluft bahnt sich seicht ihren Weg über die Dächer hinweg und durch die Straßen vorbei an den Menschen. Die Metallbank unter meinem Gesäß beginnt langsam ebenfalls kalt zu werden und das Licht der Straßenlaterne zu meiner Rechten scheint von Minute zu Minute stärker zu flackern, weshalb ich besonders froh bin, dass meine Zeichnung bald beendet ist. Meinen Blick habe ich so konzentriert auf das Papier gerichtet, dass ich alles um mich herum vergesse.
Plötzlich legt sich eine Hand auf die Karte und ich weiß gar nicht wie mir geschieht, als mir das Papier weggerissen wird. Überrascht und verärgert zugleich, hebe ich den Blick und starre direkt in die Gesichter zweier Jungen, die etwas älter als ich sein muss.
Das Haar des Jungen, der ihr die Karte weggenommen hat, ist dunkel und beinahe sein ganzer Körper ist mit Tattoos übersät. In seinen Augen glänzt ein aggressiver Ausdruck, der mich einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Dann fällt mein Blick auf den Zweiten, der halb versteckt hinter dem Anderen steht. Er wirkt nicht so selbstsicher wie sein Kumpan, hat jedoch einen ebenso gespenstischen Ausdruck, der sich in seinen blauen Augen widerspiegelt. Sein schneeweißes Haar lässt ihn jung wirken, doch sie weiß, dass er etwa um die siebzehn Jahre alt sein muss. Denn sie kennt beide Gesichter nur zu gut! Und niemals würde Evie dazu kommen sie, als zwei Gesichter zu bezeichnen, die sie gerne betrachtet. Denn es sind James und Fynn! Die Hollingsworths Cousins sind Feinde der Gesellschaft, in der ich lebe, und somit auch irgendwie automatisch meine, obwohl ich nie wirklich ausgiebig Zeit mit ihnen verbracht habe. Das brauche ich allerdings auch nicht. Schließlich habe ich schon genug von den Beiden gehört und bereits kurze Streitigkeiten mit ihnen gehabt, aus denen ich aber glücklicherweise immer wieder entkommen konnte. Doch selbst diese Minuten mit den Cousins haben gerecht um ihre skrupellose Seite kennenzulernen.
Der Blick des tätowierten James fliegt über die Karte und auch Fynn scheint seine Neugierde nicht unter Kontrolle zu haben. Sobald sie einige Sekunden darauf geblickt haben, brechen beide gleichzeitig in Gelächter aus.
Ich schlucke schwer und versuche nach meiner Karte, in der Hoffnung, dass sie es nur für irgendeinen Quatsch halten, zu greifen, doch James zieht sie wieder weg. “Gib mir meine Sachen zurück“, bitte ich mit Wut in meiner Stimme und verschränke die Arme. Aus dem Versprechen an meine Mutter, dass ich in nichts reingeraten werde, scheint heute wirklich dazu verdammt gebrochen zu werden, wenn ich nicht bald meine Sachen wieder bekomme.
Meine Worte ignoriert er einfach und dreht die Karte so, dass ich sie sehen kann. Dann tippt er auf eines der Zeichen und sieht mich fordernd an: “Was ist das?“ “Papier“, antworte ich scheinheilig und versuche dabei wirklich so rüber zu kommen, als würde ich es wirklich nicht wissen. Fynn legt den Kopf schief und sieht mich misstrauisch an: “Sehr lustig, aber hör auf zu lügen.“
Regelrecht merke ich, wie beide die Schlinge um mich herum enger zu ziehen, weshalb ich mich entscheide endlich durchzugreifen und die Diskussion zu beenden.
Hinter meinem Rücken verkrampfe ich die Hand und augenblicklich verkrampft sich die muskulöse Hand von James. Bevor beide Jungen überhaupt registrieren können, was passiert ist, schnappe ich mir die alte Karte und stecke sie blitzschnell in meine Tasche, wobei sie leicht verknickt.
Dann springe ich von der Bank auf und laufe panisch über den Platz. Mein Puls rast und mein Herz schlägt fest gegen meinen Brustkorb. Ich wollte nicht, dass irgendjemand davon erfährt und dann lasse ich mir meine Sachen einfach von diesen beiden Idioten wegnehmen. Für die Aktion könnte ich mich echt selbst schlagen, denn die Hollingsworth Familie gibt nie Ruhe, wenn sie einmal Blut geleckt hat.
Plötzlich fühlt es sich so an, als würde sich ein unsichtbares Seil um meine Beine wickeln und diese zusammen schnüren. Kurz bevor ich jedoch zu Boden stürzen kann, bleibe ich stehen und drehe mich um.
Mit einer Mischung aus Wut und Panik strecke ich meine Hand aus als würde ich nach ihm greifen wollen und krümme meine Finger erneut zu einer Klaue. Einige Sekunden geschieht nichts und fast glaube ich, dass meine Kräfte schon wieder nicht richtig funktionieren, doch dann ertönt ein lautes Knacken, das mich zusammen zucken lässt. Darauf folgt ein Schmerzensschrei aus James Mund, der durch Mark und Bein geht. Seine Hand ist plötzlich vollkommen deformiert und hängt auf eine merkwürdige Weise herunter. Kurz starre ich auf die Hand, die gerade notgedrungen gebrochen habe und registriere dann, dass sich das unsichtbare Seil um meine Beine gelöst zu haben scheint. Kein Wunder, schließlich habe ich gerade mit seiner Hand auch gleichzeitig seine Magie gebrochen. Man wird einfach einen normalen Heilzauber nehmen können.
In der Hoffnung, dass das schon irgendwie wieder wird, drehe ich mich weg von den beiden Jungen und sprinte beinahe über die Bürgersteige der Straßen Londons.
Während ich durch die kalte Nachtluft spurte und mich eine Reihe von Menschen anrempele, kann ich nur an meine Karte und an die Folgen denken, die es mit sich tragen kann, wenn einer der Cousins etwas an die Familie weitergibt. Das kann ich mir echt nicht leisten. Langsam merke ich wirklich wie mich diese Symbole in Schwierigkeiten bringen und diese Erkenntnis lässt mich daran zweifeln, ob ich tatsächlich weiter machen sollte.
Dieses Kapitel gefällt mir wieder nicht so gut. Kann aber auch damit zu tun haben, dass ich es irgendwie ungerne schreiben wollte. Deshalb habe ich das neue Update auch so lange nicht gebracht. Sorry!
Evie
Gedankenverloren starre ich den Baum vor dem Fenster an, während der Mathelehrer an der Tafel irgendwas erklärt. Das interessiert mich jedoch gerade eher weniger, da meine Gedanken um etwas ganz anderes kreisen. Mal wieder habe ich mich selbst in Schwierigkeiten gebracht, in dem ich mich für heute mit Ana und Reese gleichzeitig verabredet habe. Zwar weiß ich, dass ich es irgendwie schon schaffen könnte Zeit mit beiden von ihnen zu verbringen, doch eigentlich habe ich ganz andere Pläne.
Ich muss unbedingt ein Buch finden, in dem die Bedeutung der Symbole niedergeschrieben steht. Wenn ich die Bedeutung kenne, kann ich nämlich entscheiden, ob es besser wäre mit der Forschung aufzuhören oder weiter zu machen.
Diesen Entschluss habe ich gestern getroffen. Die ganze Nacht lag ich im Bett und habe mir Gedanken gemacht, als mir schmerzlich klar geworden ist, dass ich mich mit zwei Menschen zur gleichen Zeit verabredet habe. Wie kann eine Person nur so tollpatschig sein? Kaum konnte ich schlafen, was die dunklen Ringe unter meinen Augen auch jedem Außenstehenden mitteilen.
Beinahe fallen meine Augen immer wieder zu und am liebsten würde ich einfach den Kopf auf den hellen Holztisch legen und einschlafen, doch sowas kann ich in der Schule nicht bringen. Also starre ich einfach die Eiche an, die von Wind leicht durchgeschüttelt wird.
Als ich gerade die Blätter zu zählen beginnt, verstummen plötzlich die Stimmen der, miteinander quatschenden, Schüler und eine ungewohnte Stille erfüllt den ganzen Raum.
Überrascht von der plötzlichen Ruhe überrascht, folge ich den Blicken meiner Mitschüler. In der Tür stehen zwei Personen. Eine von ihnen ist eine Mitarbeiterin im Sekretariat, während ich das junge Mädchen, das sie im Schlepptau hat, nicht zuordnen kann. Die Sekretärin flüstert ihr etwas zu und huscht dann zum Lehrer herüber, um ihm die Situation leise zu erklären, während alle Schüler das Spektakel interessiert beobachten.
Als die ältere Frau wieder verschwunden ist, winkt unser Lehrer das neue Mädchen zu sich und spricht das aus, was wir alle uns schon denken können: “Leute, das ist Belle Gellar. Ab heute geht sie mit euch in eine Klasse.“
Misstrauisch betrachte ich Belle. Ihr schwarzes Haar fällt ihr in sanften Locken auf die Schultern. Sie trägt ein dünnes, weißes T-Shirt, das sich an ihre Form anschmiegt und ihre Figur betont. Auch ihre kurze, hellblaue Jeans zeigt ihren schönen Körper deutlich. Doch selbst, wenn ihr Look wirklich schön ist, sind es ihre Augen, die mich beeindrucken. Die Augen der jungen Frau sind groß und rehbraun. Das Besondere daran sind aber die bernsteinfarbenen, fast goldenen, Sprenkel darin, die sich durch die ganze Iris ranken. In ihren Augen liegt ein selbstbewusster, starker Ausdruck, der mich ziemlich überrascht. Schließlich ist sie neu hier und kennt niemanden. An ihrer Stelle könnte ich wahrscheinlich nicht so selbstsicher vor einer Gruppe von Fremden stehen.
“Setzt dich doch bitte neben Evie“, wird sie vom Lehrer gebeten. Als mein Name ertönt, zucke ich kurz zusammen und all meine Mitschüler drehen ihre Köpfe wie Zombies in meine Richtung, sodass Belle auf ihrem Weg nur noch den Blicken folgen muss. Ihr Schritt ist selbstsicher und als sie sich lässig auf den freien Stuhl zu meiner Rechten fallen lässt, versuche ich sie nicht zu beachten, sondern starre lieber auf das unausgefüllte Arbeitsblatt vor mir. Das ist doch der perfekte Moment für Mathe.
Aus dem Augenwinkel nehme ich zufrieden wahr, wie sich die Blicke langsam wieder nach vorne zur Tafel richten. Zufrieden beginne ich das Papier vor mir auszufüllen und versuche mich wirklich zu konzentrieren, doch Belle scheint nicht vorzuhaben dem Unterricht zu folgen.
“Hey, ich bin Belle“, stellt sie sich vor. Von der Seite schaue ich sie an. Ein leichtes Grinsen schleicht sich auf meinen Lippen: “Hey, ich bin Evie. Warum kommt du außerhalb des Schuljahrs zu uns?“ Sie senkt ihre Stimme und beginnt zu flüstern:“Sag das Keinem, aber ich bin vom Internat geflogen und jetzt haben meine Eltern entschieden mich auf eine Schule hier in London zu schicken.“ “Das heißt, deine Familie wohnt auch hier in London?“, frage ich in der gleichen Tonlage weiter. “Ja, schon seit Generationen“, lächelt sie sanft und lässt ihren Blick dann durch die Menge schweifen: “Erzähl mir was über die anderen Leute hier.“
Irgendwie macht es mir Spaß ihr etwas über die Leute aus meiner Klasse zu erzählen, also deute ich auf einen Jungen, der zwei Reihen vor uns sitzt: “Okay, der da. Das ist Brian Medina.“ “Er ist süß“, grinst die Schwarzhaarige: “Hat er eine Freundin?“ Ich beginne ihn selbst zu mustern und sie hat recht. Das lange, hellbraune Haar, das ihm verwegen in die Stirn fällt, ist wirklich irgendwie süß. “Nein, hat er nicht“, erkläre ich. “Wie alt ist er?“, fragt sie flüsternd weiter. “Fünfzehn. Er ist der Jüngste hier, weil er die dritte Klasse übersprungen hat.“ “Ein Genie also?“, lächelt Belle interessiert. Kurz überlege ich. Clever ist der Junge in der Tat: “Ja, schon irgendwie.“
“Genug über den ‘Medina‘-Junge geredet“, schaltet sich urplötzlich Avery ein, die eine Bankreihe hinter mir sitzt. Gemeinsam drehen sich die Neue und ich zu meiner früheren Freundin um: “Du solltest lieber etwas über unsere Liebe Evie erfahren.“ Ihre Worte überraschen mich sehr, aber wenn man genau drüber nachdenkt, sieht ihr das wirklich ähnlich.
Meine Augenbrauen heben sich und ich starre auf sie wütend an: “Halt dich da raus, Avery.“ “Wusstest du, dass Evie fast gar keine Freunde hat?“, fragt sie Belle, um mich zu provozieren. Auch Belle hebt eine Augenbraue: “Nein, warum?“ “Weil sie eine Lügnerin ist“, antwortet Avery mit einer tiefen Bitterkeit in ihrer Stimme: “Schon als ich mit ihr befreundet war, hat sie mich immer vertröstet, in dem sie irgendwelche komischen Ausreden gefunden hat. Mittlerweile hat sie nur noch eine Freundin, die sie genauso anlügt.“ Am liebsten würde ich ihr gerade den Kopf abreißen: “Halt endlich die Klappe. Du hast keine Ahnung von meinem Leben, also halt dich einfach raus.“ “Ja, aber ich habe nur keine Ahnung, weil du mich immer angelogen hast. Heißt du überhaupt Evie?“, provoziert die Blondine weiter.
Bei der Frage kann ich mich wirklich nicht mehr zusammen reißen. Ich presse meine Kiefer aufeinander und starre sie wütend an. In meiner Wut wandert mein Blick auf den metallenen Kugelschreiber in ihrer Hand. Kurz blinzele ich und starre dann wie gebannt auf den Stift. Sofort spüre ich, wie sich Wärme über meinen ganzen Körper ausbreitet, während ich Avery weiter anvisiere.
Es vergehen wenige Sekunden, bis Avery den Kuli wie von der Tarantel fallen lässt. Ein schmerzerfülltes Zischen ist zu hören, bevor sie beginnt ihre Finger vorsichtig an zu pusten. Während ich ihr so zusehe, muss ich mich wirklich bemühen ein Lächeln zu verbergen.
“Man, was soll das, Grey?“, flucht sie wütend, als der Schmerz in ihren Fingern nachzulassen scheint. “Was? Warum ich?“, ich klinge richtig entsetzt: “Ich kann nichts dafür, dass sich Karma so schnell bei dir Recht.“ “Genau, was soll Evie den gemacht haben“, pflichtet mir Belle glücklicherweise bei: “Sie sitzt ja nicht mal neben dir.“ Erleichtert werfe ich ihr einen dankbaren Blick zu.
Als mir das Mädchen allerdings den Kopf zu wendet, erstarrt das Lächeln auf meinen Lippen und ich fühle mich wie eingefroren. Ihr Blick hat etwas Gespenstisches an sich und lässt mich kurz erschaudern.
“Können wir nach der Stunde noch kurz warten bis alle aus dem Raum raus sind? Ich würde dich gerne etwas fragen“, Belles Stimme ist vom einen auf den anderen Grund kühl und tonlos geworden. Mein Grinsen erstirbt und mein Gesicht verliert augenblicklich an Ausdruck. Als ich die Stimme erhebe, spreche ich ungewohnt langsam und mein Misstrauen ist zu hören: “Na gut!“
Oha, schon das 10. Kapitel. Das ging schnell. Gestern ist mir übrigens ein Ende für dieses Buch eingefallen. Ich finde es mega süß und wenn mir das passieren würde, würde ich wahrscheinlich anfangen zu heulen.
Evie
Langsam strömen die Schüler aus dem Klassenraum und der Lehrer beginnt seine Tasche mit Unterlagen zu füllen, bevor er den Raum verlässt. Auch ich stehe von meinem Platz auf und will meine Tasche packen, da ich meine Pause nutzen und mir noch etwas zu essen kaufen möchte, doch Belle hält mich auf: “Warte, Evie. Wir wollten doch noch reden.“ Unbewusst beiße ich mir auf die Lippe.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie es vergessen hat. Ehrlich gesagt hat mir der Ausdruck in ihren Augen, als sie mich darum gebeten hat nach dem Unterricht auf sich zu warten, stutzig gemacht und auch für leichtes Misstrauen in meinem Inneren gesorgt. Für den Rest der Stunde hat sie mich von der Seite regelrecht angestarrt und dafür gesorgt, dass ich mich regelrecht wie ein Tier im Zoo fühle, das man durch eine Glasscheibe im Zoo anstarren kann.
“Ich muss unbedingt los. Tut mir leid, Belle“, erwidere ich deshalb mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube und verstaue das schwere Mathematikbuch als Letztes in meinem Rucksack.
Ohne ein weiteres Wort schiebe ich die Träger des Rucksacks über meine Schultern und will gerade aus dem Raum spurten, da packt sie mich am Arm und hält mich so auf dem Fleck, auf dem ich gerade stehe, fest.
Sobald sich unsere Körper berühren, fühlt es sich von der einen auf die andere Sekunde so an, als würde jemand Strom durch meinen ganzen Körper hindurch jagen. Mein Körper fühlt sich so an, als hätte sich pure Energie mit meinem Blut gemischt und würde es schneller durch meine Adern pulsieren lassen, als es wahrscheinlich gut für mich ist. Erschrocken schnappe ich nach Luft und starre weiter in die hellbraunen Augen der Person vor mir, die aber keinerlei Zeichen von Überraschung aufweisen. Beinahe wirkt sie so ruhig, dass ich mich frage, ob sie es überhaupt spüren kann.
Meine Stimme klingt erstickt: “Was willst du von mir?“ “Ich würde mit dir gerne darüber reden, was da vorhin mit Avery passiert ist“, im Gegensatz zu mir klingt sie selbstbewusst wie in den Minuten zuvor auch. Keinerlei Regung ist in ihrem Gesicht zu erkennen. Schnell schlucke ich den dicken Kloß in meinem Hals hinunter und versuche unwissend zu klingen: “Was meinst du?“ “Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen, Evie“, sie sieht mich durchdringend an und beinahe fühlt es sich so an, als könnte sie in meinen Körper und meinen Kopf hineinschauen. Ich bin nicht mächtig meinen Blick von ihr abzuwenden und spüre es kaum, als sie den Griff um mein Handgelenk erst lockert und ihre Finger letzten Endes komplett von meiner Haut löst. Beinahe bin ich durch ihren Blick hypnotisiert und traue mich kaum mich zu regen. Irgendwas hat die Schwarzhaarige an sich, was mich einerseits fesselt und mir andererseits einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen lässt. Das stärkste Gefühl, dass sie allerdings in mir auslöst, ist Angst.
Eigentlich bin ich keine ängstliche Person, doch bei ihr ist es anders. Die Aura, die sie wie ein Schleier umhüllt, wirkt mysteriös, stark, unerschrocken und weist gleichzeitig auch eine Spur von Aggressivität auf. So etwas habe ich vorher bei noch keiner anderen Person gesehen. Na ja, zwei Ausnahmen fallen mir schon ein!
“Denk bitte daran. Ich stehe jederzeit zu deiner Verfügung, wenn du Hilfe dabei brauchst dein Talent richtig zu nutzen“, sie zwinkert mir verschmitzt zu, hat gleichzeitig aber auch kühles Grinsen, dass mein Vertrauen zu ihr nicht wirklich weiter stärkt.
Ich bin total perplex. Wie meint sie das? Etwa so wie ich es denke? Mein Mund klappt ein Stück weit auf und meine Finger verkrampfen sich automatisch. “W-Wie meinst du das?“, stottere ich und warte darauf, dass sie mir die Bestätigung gibt. Die Bestätigung dafür, dass das Mädchen auf Magie anspielt. “Ach stell dich nicht so an. Du weißt genau was ich meine“, kurz wirft sie einen Blick auf das helle Ziffernblatt, auf dem sich die glänzenden, spitzen Zeiger langsam im Kreis drehen. Mit einem schwarzen Lederband ist das Uhrwerk an ihrem Handgelenk befestigt und bildet eine elegante Armbanduhr: “Ich muss jetzt aber auch dringend los. Tschüss, Evie.“ Bevor ich noch etwas erwidern oder mich ebenfalls verabschieden kann, dreht die junge Frau sich um und macht sich auf den Weg zur Tür.
Bei der schweren Holztür angekommen, lässt sie ihre Finger auf die eiserne Klinke gleiten, doch bevor sie diese hinunterdrückt, um den Raum zu verlassen, dreht sie sich noch einmal um und sieht mir tief in die Augen.
Die bernsteinfarbenen Stellen in ihren Augen funkeln. Das Leuchten gleicht fast dem, was bei mir wiederzufinden ist, wenn starke magische Kräfte auf mich einwirken. Als ich dieses Funkeln sehe, höre ich fast zu atmen auf.
Dann ist die Neue weg und ich bleibe allein zurück. Überrumpelt stütze ich mich auf der harten Platte eines Tisches ab und schließe die blauen Augen. Ich hatte ja vieles erwartet, aber das hat meine Vorstellung definitiv überstiegen. Immer mehr Angst macht Belle mir und wahrscheinlich ist das auch genau das, was sie beabsichtigt. Woher weiß sie, dass ich eine Hexe bin? Das hat vorher noch keiner einfach so herausgefunden. Schließlich wusste Avery es nicht mal nach zig Jahren. Wie kann Belle mein Geheimnis dann also einfach so schnell herausfinden?
Evie
Eine Lärmwelle schlägt mir entgegen, als ich die Tür der Mädchentoilette öffne und auf den Gang hinaus trete. Überall hetzen Schülerinnen und Schüler durch den Gang und von allen Seiten sind unterschiedliche Stimmen zu hören. In meinen Ohren klingt das alles aber nur dumpf und wirkt weit entfernt. Unreal! In meinem Kopf hallt gerade nämlich nur ein einziger Gedanke wieder und wenn ich darüber nachdenke, was mir bevorsteht, könnte ich sofort wieder zurück auf die Toilette verschwinden, um mich zu übergeben. Denn nur in der Pause habe ich Zeit zu Reese zu gehen und ihr zu sagen, dass ich heute mal wieder keine Zeit für sie habe.
Das tue ich schon so oft, dass es eigentlich ein Leichtnis für mich sein sollte mit ihr darüber zu sprechen. Das war es aber bei Avery schon nicht und der Verlust ihrer Freundschaft hat mir tief ins Fleisch geschnitten und eine tiefe Wunde erzeugt, die jedes Mal wieder aufreißt, wenn ich Reese' enttäuschten und verletzen Blick sehe, der mir durch Mark und Bein geht. Man sagt immer, dass es mit der Zeit leichter wird, je öfter man mit Menschen über unangenehme Themen redet, doch das ist eine glatte Lüge. Es wird nur schlimmer und verletzender für uns beide.
Langsam mache ich mich auf den Weg durch den Gang und gehe in Gedanken nochmal das durch, was ich mir gerade eben vor dem Spiegel zehn Minuten lang zusammen gereimt habe, während ich beinahe im Schneckentempo einen Fuß vor den anderen setze. Wieso musste ich überhaupt so dumm sein und zwei Verabredungen auf denselben Tag legen? Sowas passiert auch echt nur mir und jetzt darf ich es wieder ausbaden.
In dem Flur angekommen, in dem Reese normalerweise in den Pausen oder Freistunden rumhängt, bleibe ich stehen und lasse meinen Blick den Gang auf und ab wandern. Leider ist es hier allerdings nicht so voll, dass man sich gut in der Menge verbergen könnte, da es fast nur Abstellkammern und Lagerräume gibt. Zu meinem Bedauern kann ich mich deshalb auch nicht länger vor meiner Pflicht drücken, weshalb ich mich mehr oder weniger zielstrebig auf dem Weg zu dem Platz mache, an dem sie normalerweise zu finden ist.
Die Siebzehnjährige sitzt auf dem dreckigen Boden und hat ihre weißen Kopfhörer in den Ohren, als ich vor sie trete. Den Rücken hat sie gegen die moosgrüne Wand mit dem weißen Streifen am unteren Ende gelehnt, während sie ihr, durch einen lila-schwarzen Einband geschütztes, Lieblingsbuch aufgeschlagen in den Händen hält.
Auch wenn ihr Look das nicht sofort vermuten lässt, liebt das Mädchen Klassiker und ihr Lieblings Buch "Stolz und Vorurteil" ist. Man sollte einen Menschen eben nicht nur nach seinem Äußeren beurteilen, sondern bis ins Innere vordringen. Erst dann kennt man eine Person richtig.
Als ich vor sie trete, starrt sie die Blondine für einen kurzen Moment auf meine roten Turnschuhe und hebt dann den Kopf, um mir in die Augen zu sehen. Sofort verändert sich der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie meine bedröppelte Miene bemerkt.
Mit einer Bewegung signalisiere ich ihr, dass sie kurz die Stöpsel aus den Ohren nehmen soll, damit wir sprechen können. "Was ist los, Evie?", fragt Reese misstrauisch und zeigt mir damit, dass sie mich bei meinem ganzen Namen nennt, anstatt mir einen Spitznamen zu geben, dass sie bereits darauf wartet von mir schlechte Neuigkeiten zu bekommen. "Kann ich mich zu dir setzen?", rede ich ein wenig um den heißen Brei herum. "Nein", ihre Stimme ist hart und kühl. Fast schon so, als würde sie wissen, was ich als Nächstes sagen werde: "Sag einfach, was du zu sagen hast." "I-Ich muss dir was sagen, aber bitte versprich mir, dass du nicht böse auf mich bist", bitte ich und spiele nervös an dem Reißverschluss meiner ebenfalls roten Strickjacke, mit der Kapuze daran, herum. Sie hebt misstrauisch eine Augenbraue und schlägt das Buch feste zu, sodass die Seiten laut zusammen klatschen, woraufhin ich ruckartig zurückzucke. "Ich kann gar nichts versprechen", sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich fordernd an. "Du weißt ja, dass meine Eltern oft lange arbeite, arbeiten müssen", nun beginne ich auch noch auf meiner Lippe herumzukauen: "Und dann gibt es eben Tage, an denen keiner von ihnen zu Hause ist. Da meine Schwester erst zwölf ist, bleibt deshalb manchmal die Verantwortung an mir hängen, sodass ich auf Annabelle aufpassen und ihr im Bezug auf die Schule helfen muss. In ihrem Alter kann sei ja noch nicht alleine bleiben. So ein Tag ist heute, weshalb ich leider wieder nicht kann, aber wir können uns gerne an einem anderen Tag treffen." "Weißt du was? Spar dir diesen Scheiß. Langsam kann ich deine Ausreden nicht mehr hören. Freundinnen lügen einander nicht an", mit diesen Worten nimmt sie einfach wieder die Kopfhörer und steckt sie in die Ohren zurück.
In diesem Moment fühlt es sich so an, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen und mich in ein schwarzes Loch fallen lassen, dass nie zu enden scheint. Und dann ist da noch diese schreckliche, schmerzhafte Leere, die Reese in meinem Herzen verursacht hat. Fast ist es so, als wäre dort nun ein unausgefüllter Platz, der vorher von dem Mädchen vor mir besetzt wurde. Tränen sammeln sich in meinen Augen, doch ich probiere mit aller Kraft nicht zu weinen. Habe ich sie nun für immer verloren oder wird sie mir noch einmal verzeihen, dass ich sie mal wieder versetzt habe?
Es war mir super unangenehm dieses Kapitel zu schreiben udn ich finde, dass man das auch merkt. Ich mag Reese und Evie eben.
Evie
Als ich in den Hausflur hinein trete, umfängt mich Stille. Verwundert wandert eine meiner dunklen Augenbrauen in die Höhe. Wo sind denn alle? Dass meine Eltern heute arbeiten müssen, war doch nur ein Teil meiner Ausrede für Reese, die mich für den Rest des Tages keines Blickes mehr gewürdigt hat. Dass ich mit Annabelle ihre Kräfte trainieren will, kann ich ihr schließlich schlecht mitteilen. Bisher war der Tag also nur eine einzige Katastrophe und ehrlich gesagt glaub ich auch nicht, dass es noch irgendwie besser wird. “Mom? Dad?“, rufe ich prüfend. “Evie?“, der rote Haarschopf meiner kleinen Schwester taucht im hellerleuchteten Flur auf. “Hey Ana“, ich beginne mir Jacke und Schuhe auszuziehen: “Wo sind unsere Eltern?“ “Weißt du es denn nicht mehr?“, sie klingt total erschrocken: “Sie sind im Kino und wollen danach in ihrem Lieblingsrestaurant essen gehen.“ Als sie meinen, nach wie vor verwirrten Blick bemerkt, fährt sie mit ihrer Erklärung fort: “Heute ist doch ihr fünfzehnter Hochzeitstag. Hast du das etwa vergessen?“
Ich wusste es ja nicht mal. Meine Eltern hatten 2003 geheiratet, an welchem Tag ihre Hochzeit jedoch stattgefunden hat, wollten sie mir nie erzählen. Egal wie oft ich sie deshalb genervt habe. Die Erkenntnis, dass sie erst etwa anderthalb Jahre nach meiner Geburt geheiratet haben, trifft mich hart. Mom hatte mir immer gesagt, dass ich erst danach geboren wurde, aber nun scheint es so, als wäre ich schon etwa achtzehn Monate alt gewesen, als sie vor den Traualtar getreten sind. Warum hat Mom mich angelogen?
Um mir nichts anmerken zu lassen, antworte ich schnell und versuche dann vom Thema abzulenken: “Ja, stimmt. Also haben wir Zeit für uns. Hast du irgendeine Idee wie wir die Zeit miteinander verbringen könnten?“ Ihr Blick zeigt mir, dass sie nachdenkt: “Ne, ich hatte gehofft, dass dir was einfällt.“ Auch ich überlege kurz.
Dann kommt mir eine, wahrscheinlich ziemlich bescheuerte, Idee: “Wollen wir zusammen ein Rätsel lösen?“ “Ein Rätsel?“, auf ihren Lippen mach sich ein Grinsen breit. “Genau“, ich weiß wie sehr sie Rätsel und Herausforderungen liebt: “Es gibt sogar eine Geheimschrift, die du entziffern musst. Also, hast du Lust?“ Sofort nickt Ana interessiert: “Klar, ist sicher interessant.“ Auf ihre Worte folgt allerdings das laute Knurren ihres Magens. “Hast du dir noch nichts zu essen gemacht?“, ich klinge vorwurfsvoll. Ertappt weicht sie meinem Blick aus: “Nein, noch nicht.“ Ich stelle meine Tasche weg und bedeute ihr mit einer Handbewegung mir in die Küche zu folgen: “Na komm, dann mach ich uns erst mal was.“ Ihr jetzt einen Vortrag darüber zu machen, dass sie auch etwas essen muss, wenn gerade keiner da ist, halte ich nicht für das Richtige. Mom tut das schon oft genug und ein schlechtes Gewissen will ich ihr auch nicht machen. Schließlich war ich, als ich zwölf Jahre alt war, genauso und wollte lieber auf die Anderen warten, anstatt mir selbst etwas zu essen zu machen. Damals hatte ich nämlich echt große Angst vor der Mikrowelle.
Nachdem ich für uns beide Chicken Wings im Ofen gebraten habe, lassen wir uns zusammen an den Küchentisch fallen. “Gibst du mir bitte mal den Ketchup?“, bittet Ana freundlich und streckt ihre Hand nach der Verpackung aus. Ich reiche sie ihr und sehe zu wie sie die dicke, rote Flüssigkeit aus der Tube auf den Teller quetscht und über die Hähnchenflügel verteilt. Als sie fertig ist, greife ich ebenfalls nach dem Ketchup und verteile ihn ebenfalls, während mir der Duft des warmen Fleisches in die Nase steigt. “Dann gibt mir mal das Rätsel“, fordert meine kleine Schwester, die zu Essen begonnen hat. Bevor ich meine Finger mit Fett beschmiere, überlege ich mir die Karte nach unten zu holen: “Warte hier, ich hole es kurz von oben.“ Sie nickt zustimmend und sieht zu, wie ich meinen Stuhl nach hinten schiebe, aufstehe und die Treppe hinauf in mein Zimmer renne.
Wieder zurück am Tisch angekommen, breite ich die Karte vor uns auf dem Tisch so aus, dass sie gerade vor ihr liegt. “Dann streng mal dein Gehirn an, Ana“, fordere ich. Sie legt den Kopf schief: “Willst du nicht erst mal das Rätsel stellen? Ich brauche schon ein wenig Kontext.“ Mist, jetzt muss ich mir schnell was überlegen: “Äh, es geht um eine Botschaft, die ein Mann für die Frau hinterlassen hat, die er liebt. Sie muss die Zeichen entschlüsseln, um herauszufinden, wo er sich versteckt hat. Erst dann weiß er, dass sie ihn wirklich liebt.“ Das Rätsel ist zwar echt schlecht, doch leider das Beste, was mir auf die Schnelle eingefallen ist.
Sofort erscheint der Blick auf Anas Gesicht, der mir zeigt, dass in ihrem Kopf gerade Milliarden von Gedanken herumschwirren. Wahrscheinlich vergleicht sie gerade innerlich alle Zeichen und Sprachen, die sie kennt mit den Zeichen vor ihren Augen. Zwar ist sie eigentlich nicht in dem Alter, in dem man viele Sprachen kennt, doch Annabelle war schon immer ein sehr belesenes Kind und hat sich Stunden lang in ihrem Zimmer versteckt, um alle möglichen Bücher zu lesen. Als ich noch kleiner war, hat mich das oft ziemlich neidisch gemacht, doch mittlerweile bin ich sehr stolz auf ihr breitgefächertes Wissen und bin mir fast sicher, dass sie in der Menschenwelt einmal eine großartige Karriere hinlegen wird, doch leider stehen ihr meine Eltern da ja ein Stück weit im Weg. Für uns Kinder wollen meine Eltern eine Zukunft in der Hexenwelt und kein Leben als normaler Mensch. Zu Ana sind sie dabei viel strenger als zu mir, weil ich eigentlich eine Hexe bin, obwohl mir das ziemlich oft Steine in den Weg legt. Ana ist eben viel gefestigter in der Welt der Menschen, als ich es je gewesen bin.
Nach guten zehn Minuten erhebe ich die Stimme: “Und? Schon was herausgefunden?“ Niedergeschlagen schüttelt sie den Kopf, hebt den Blick aber nicht von der Karte: “Solche Zeichen habe ich noch nie gesehen. Ich kann nicht mal sagen, ob es eine Sprache ist oder nicht.“
Als ich gerade den Mund öffne, um etwas darauf zu erwidern, ertönt die laute Türklingel. Erschrocken zucken wir beide zusammen und starren gebannt auf Quelle des Geräusches. Kaum traue ich mich, mich zu bewegen. Wer kann das nur sein? Freunde habe ich schließlich nicht mehr. “Wer ist da?“, Ana klingt verwundert. Ihre gehobene Augenbraue fällt mir auf, als ich meinen Kopf zu ihr drehe: “Keine Ahnung. Hast du dich mit irgendwelchen Freundinnen verabredet?“ “Nein, du?“ Ich sehe sie vorwurfsvoll an: “Du weißt, dass das nicht meine Freunde sein können.“ Dass sie schwer schluckt und mir dann einen entschuldigenden Blick zuwirft, registriere ich nur am Rande. “Los, mach schon, Evie. Mach die Tür auf“, fordert sie leise flüsternd. War ja klar, dass das wieder an mir hängen bleibt.
Mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengrube erhebe ich mich wieder vom hellen Holzstuhl, auf dem ich gesessen habe, und laufe schleichend langsam auf die Haustür zu. Bei der Tür angekommen, lege ich meine Finger um die kalte Türklinge und drücke diese dann hinunter, woraufhin die Tür aufschwingt.
Die Tür einmal komplett geöffnet, bietet sich mich der perfekte Blick auf die Person vor dem Haus. Meine Kinnlade fällt unkontrolliert nach unten und mein Herz macht einen kurzen Satz, während meine Finger sich fester um die Klinke krampfen, als ich die Person vor meiner Tür erblicke.
Evie
Der Anblick der Person vor meiner Tür überrascht mich so sehr, dass ich ihr in einer Kurzschlussreaktion die Tür einfach vor der Nase zuschlage. Mehrmals blinzele ich verwundert, bevor ich tatsächlich realisiere, wer da gerade auf den drei Stufen vor meinem Haus steht. Niemals hätte ich erwartet diesen Menschen hier zu sehen. Schnell entscheide ich mich einfach so zu tun, als wäre nichts passiert und einfach zurück zu Annabelle zu gehen, die mir einen überraschenden Blick schenkt.
“Wer war das?“, ruft sie durch das Haus, während ich langsam auf sie zukomme: “Hast du etwa einen Verehrer?“ “Nein, natürlich nicht“, erwidere ich und bleibe im Türrahmen stehen, um meine kleine Schwester zu beobachten. Ihr Gesichtsausdruck sprüht vor Interesse und beinahe klebt der Blick des Rotschopfes an meinen Lippen. “Wer dann?“, fragt sie mir weiter Löcher in den Bauch. Abwehrend antworte ich: “Ach niemand Wichtiges. Hat sich sicher nur in der Tür geirrt! Lass uns einfach weiter an dem Rätsel arbeiten.“ Mit dem Zeigefinger deute ich auf das Papier auf dem Tisch und versuche ihren Blick darauf zurück zu lenken. Der Besucher hat jedoch bereits ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen: “Warum bist du dann so nervös?“ “Bin ich nicht“, als ich spreche, merke ich tatsächlich, dass in meiner Stimme Nervosität mitschwingt. Es fällt mir eben nicht leicht den Schreck, der mir soeben in die Glieder gefahren ist, zu verstecken. “Doch bist du“, nun schiebt auch sie ihren Tisch zurück und erhebt sich.
Als sie auf die Tür zu geht, beginne ich mich wirklich zu wundern. Sonst ist Ana gar nicht so offen im Bezug auf Fremde, sondern eher schüchtern und zurückhaltend. Sanft schiebt sie mich zur Seite und geht auf die Tür zu. “Lass das doch lieber, Ana. Ich bin sicher, dass das keine gute Idee ist“, versuche ich noch ein letztes Mal zu argumentieren, obwohl ich weiß, dass es keinen Sinn mehr hat mit ihr zu diskutieren. Das Mädchen ignoriert mich einfach und öffnet die Haustür.
Unsicher trete ich vom einen auf den anderen Fuß, als mir der Besucher kurz einen fragenden Blick schenkt und sich dann an meine Schwester wendet, die mit dem Mädchen vor der Tür zu sprechen begonnen hat: “Hallo?“ “Hi“, erwidert die Jugendliche, die etwa in meinem Alter ist: “Schön dich kennenzulernen. Ich wollte zu deiner Schwester Evie.“ Ihre weiche Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken, denn ich kann nur daran denken, was sie heute zu mir gesagt hat, und ihr Anblick überrascht mich. Erst dreht Ana sich zu mir um, fragt dann aber die Person vor sich: “Wer bist du denn und woher kennst du meine Schwester?“ “Ich bin Belle Gellar und seit heute gehe ich auf dieselbe Schule wie Evie“, erklärt sie meiner Schwester freundlich, sieht dabei allerdings weiterhin nur mich an, anstatt dem kleine Mädchen vor sich nur einen einzigen Blick zu schenken. Ich selbst kann in diesem Moment aber nur an das unheimliche Leuchten in ihren Augen denken.
Langsam baue ich wirklich starkes Misstrauen gegen sie auf. Erst macht sie so komische Andeutungen und taucht dann bei mir zu Hause auf. Woher kennt weiß sie überhaupt, wo ich wohne? Als würde sie sich die Mühe machen und in Telefonbuch gucken.
“Und was willst du hier?“, schalte ich mich nun ein und lege meiner Schwester schützend eine Hand auf die rechte Schulter. Irgendwie verspüre ich gerade das starke Bedürfnis sie vor Belle zu schützen. “Ich war lange nicht mehr in London und habe deshalb fast keine Freunde mehr hier. Deshalb habe ich mir überlegt, dass wir doch vielleicht ein wenig Zeit miteinander verbringen könnten. Schließlich kann man nie zu schnell Freunde finden“, antwortet sie mit einem gekünstelten Lächeln.
Ana hebt den Kopf und sieht mich mit funkelnden Augen an. Sie weiß viel zu gut wie es momentan bei mir mit Freundschaften aussieht, da ich ihr oft mein Herz ausschütten. Denn selbst, wenn sie noch ziemlich jung ist, hat sie oft hilfreiche Ratschläge für mich und kann mich trösten, wenn es mir mal nicht so gut geht. Manchmal habe ich Angst sie mit meinen Problemen zu belasten und ihr deshalb ein Stück ihrer unbeschwerten Kindheit zu nehmen, doch dann kommt sie immer wieder von selbst auf mich zu, um zu fragen, wie es bei mir läuft, und erzählt mir gleichzeitig auch von ihren Problemen.
Obwohl meine Schwester mich so lieb ansieht, gebe ich Belle einen Korb: “Tut mir leid, aber ich habe gerade leider gar keine Zeit. Annabelle und ich sind gerade am Essen und danach wollten wir in die Bücherei gehen.“ Sofort verdunkelt sich die Miene meiner Klassenkameradin und ich sehe wie ihre Kiefer zu mahlen beginnen: “Das ist … schade.“ “Wir können Belle doch mit in die Bücherei nehmen und vielleicht kann sie uns auch dabei helfen das Rätsel zu lösen“, beharrt Ana. Ihre Lippe hat sie traurig nach unten gezogen und schenkt mir den Welpenblick, den sie immer aus der Trickkiste zieht, wenn sie etwas wirklich unbedingt will.
Notgedrungen verdrehe ich die Augen und merke wie sich meine Finger fester um ihre Schultern graben. Ein letztes Mal atme ich tief durch, um ihr dann nachzugeben: “Na gut, dann kommt sie halt mit, wenn du dann aufhörst zu betteln.“ “Deal!“, ein überglückliches Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen und wird von Sekunde zu Sekunde breiter. “Gut, dann geh schon mal hoch und hol deine Büchereisachen, sonst bleiben wir doch hier“, ich versuche ein wenig streng zu klingen, denn im Inneren verfluche ich mich dafür, ihr nachgegeben zu haben. Tja, Schwesternliebe eben! Bevor sie aber losläuft, beuge ich mich zu Annabelle herunter und flüstere ihr so leise etwas ins Ohr, dass nur sie es hören kann: “Das mit dem Rätsel bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden, okay?“ Mit großen Augen sieht sie mich an und nickt bedächtig.
Sobald die aufgeweckte Zwölfjährige die Treppe hinauf verschwunden ist, wende ich mich an wieder an Belle, die mich erwartungsvoll anblickt. “Danke“, sie klingt zufrieden und tritt in den Flur, bevor ich sie überhaupt hineingebeten habe. “Jaja, das hast du nicht mir zu verdanken, sondern meiner Schwester“, mit viel Schwung werfe ich die Tür wieder resigniert ins Schloss:“Warte bitte hier, während wir unsere Sachen zusammen packen. Und wehe, du fasst irgendetwas an.“
Auf dem Weg in die, mit dem Wohnzimmer verbundene, Küche, muss ich daran denken, dass ich Reese heute Morgen abgesagt habe und dafür einen Tag mit Belle verbringen muss. Mein Karma hat sich wohl entschieden ausgerechnet heute zuzuschlagen und mich mit voller Wucht zu treffen.
Evie
Die Sonne scheint heiß auf unsere kleine Gruppe hinunter und lässt es mich bereuen, dass ich meine Kleidung, entgegen den Warnungen meiner Mutter, heute nicht an das Wetter angepasst habe. Wie sollte man auch wissen, dass sich das Wetter innerhalb von zwei Tagen so stark wandelt?
Mein Blick wandert kurz zu meiner Schwester, die entspannt durch die Gegend blickt und wahrscheinlich das Laufen vergessen würde, wenn ich sie nicht immer wieder daran erinnern würde. Sie sagt nichts und gibt keine Antworten auf Fragen, wenn sie gerade in so einem Zustand wie jetzt ist. Mittlerweile weiß ich genau, dass sie gerade am Grübeln ist und über die Menschen um uns herum, und wahrscheinlich auch über Belle und mich, nachdenkt. Genau deshalb beschließe ich sie auch nicht unbedingt anzusprechen, sondern lieber das Ergebnis ihres Gedankenganges abzuwarten und Belle lieber mit Argusaugen zu betrachten.
Seit wir losgegangen sind, hat sie kein einziges Wort gesagt, obwohl sie mir in der Schule und auch als sie vor unserer Tür stand, nicht sonderlich wortkarg vorkam. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass mich plötzlich ein komisches Gefühl wie eine Welle überrollt und mitreißt.
Ich würde es nicht als Sorge um das, mir fast gänzlich unbekannte Mädchen, bezeichnen, sondern eher als Misstrauen gegen sie. Schließlich besucht man jemand beinahe Fremden nicht einfach in dessen Zuhause ohne einen Grund dafür, egal ob er guter oder böser Natur ist. Und dass sie nach Freunden sucht, würde ich ihr niemals abkaufen, denn besonders dann benimmt man sich nicht so komisch, sondern setzt sich vielleicht beim Mittagessen in der Cafeteria neben einen der neuen Klassenkameraden, besucht ihn habe nicht einfach.
Die verstohlenen Blicke, den ich ihr immer wieder zuwerfe, scheint sie nicht zu bemerken, doch sicher kann man sich bei der schwarzen Haarwand, hinter der sie ihre rehbraunen Augen verbirgt, auch nicht sein.
Am liebsten würde ich sie einfach hier, mitten in Princes Gardens, in Anwesenheit meiner, total abgedrifteten, Schwester danach fragen, warum sie zu uns gekommen ist. Stattdessen halte ich jedoch den Mund und verfluche mich selbst innerlich einfach nur dafür, dass ich dem Drängen der, sonst so stillen, Annabelle nachgegeben habe. Ich muss unbedingt mal an meiner Widerstandsfähigkeit, die sonst doch so ausgeprägt ist, arbeiten, anstatt an Zaubersprüchen, die sowieso nicht klappen.
Irgendwann bleiben wir im Gedränge Londons vor dem weißen Eingang der Goethe Institut Library stehen, woraufhin einige der gehetzten Passanten uns böse Blicke zu werfen, während sie weitereilen und dabei beinahe die Person vor ihnen anrempeln. Würde ich nicht hier leben, würde die Reaktion dieser Menschen mich wahrscheinlich erschrecken oder wenigstens überraschen, aber glücklicherweise weiß ich es besser.
Schnell steige ich die weißen Steinstufen vor dem Eingang hinauf und drücke dann die Türklinke hinunter. Durch die Hitze, die schon seit heute Mittag die Vorherrschaft in der ganzen Stadt hat, hat sich das Metall der Klinke aufgewärmt. Kurz ziehe ich meine Hand deshalb zurück, weil ich nicht damit gerechnet hatte, lege meine Hand nach dieser Schrecksekunde dann jedoch wieder, wenn auch vorsichtiger, darauf und öffne die Eingangstür der britischen Bibliothek.
Im Inneren des Gebäudes wird alles durch eine Klimaanlage angenehm abgekühlt, wodurch der Aufenthalt hier direkt viel erträglicher ist. Sofort steigt mir der Geruch von Staub und frisch gedruckten Buchseiten in die Nase und ich muss einen sehnsüchtigen Seufzer unterdrücken. Hätte ich keine genaue "Mission" würde ich erst ein paar Bücher aus den Regalen kramen, mich in einen der gemütlichen Ohrensessel fläzen und für einige Stunden in der Welt der Bücher verschwinden.
Sofort fällt mir das zaghafte Leuchten in den Augen meiner kleinen Schwester auf, das immer erscheint, wenn wir hier sind. Automatisch zücke ich ihren Büchereiausweis, damit sie auch etwas leihen kann, ohne mich erst suchen zu müssen: "Hör mir jetzt bitte gut zu, Ana." Sie nimmt den Ausweis vorsichtig entgegen und sieht mich aufmerksam an, als ich meine Hände sanft auf ihre Schultern lege und mich zu ihr hinunter beuge, damit sie mich ansieht und mir auch richtig zuhört: "Ich geh jetzt nach oben und suche danach einem bestimmten Buch. Bleib bitte hier unten und verlass' das Gebäude nicht." Ich weiß zwar, dass ich die Zwölfjährige hier eigentlich nicht unbedingt allein lassen sollte, aber sie ist für ihr Alter schon ziemlich reif und vertrauenswürdig. Außerdem ist sie eine Hexe und kann mich jederzeit finden, wenn etwas ist. "Klar, mach dir keine Sorgen. Ich komm zu Recht", versichert sie mir leise mit ihrer so ehrlichen Kinderstimme. Kurz ziehe ich die Rothaarige in eine sanfte, schwesterliche Umarmung, während ich Belle keines Blickes würdige. Momentan betrachte ich wie nur als einen hartnäckigen Störfaktor.
Nach einiger Zeit klopft Ana mir vorsichtig mit ihren kleinen Händen auf die Schulter: "Hast du vor mich auch irgendwann wieder loszulassen, Ev?" Sobald ich realisiert habe, was sie gerade gesagt hat, lasse ich sie los. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich sie solang umarmt habe. Dass ich meine Schwester nicht liebe, kann man mir dann wenigstens nicht vorwerfen. "Tut mir leid, Ana", grinse ich und mache mich dann, nachdem ich sie nochmal daran erinnert habe, wo sie mich finden kann, auf den Weg zu den Stufen aus dunklem Holz, die ins Stockwerk über mir führen.
Mit jeder Treppenstufe, die ich nehme, steigt auch mein schlechtes Gewissen, weil ich Annabelle alleine gelassen habe. Deshalb drehe ich mich, oben angekommen, noch einmal um und sehe, wie das Mädchen in den Filmen herumkramt. Ein Hauch von Erleichterung überkommt mich, wird aber vom einem anderen merkwürdigen Gefühl überschattet, als ich bemerke, dass Belle nirgends zu sehen ist.
Von dem plötzlichen Verdacht überwältigt, dass jemand hinter mir steht, drücke ich meine Schulterblätter nach hinten, als mich ein kalter Schauer überkommt. Dann drehe ich mich wie von der Tarantel gestochen herum, um die Person zu sehen, die da hinter mir steht, doch anstatt auf einen Menschen, starre ich nun lediglich auf die weiße Tapete an der Wand. Ich schlucke einmal schwer. Langsam verhalte ich mich echt paranoid!
In der Hoffnung, dass Keiner mich gesehen hat, atme ich mehrmals tief durch, versuche den Kloß, den ich nach wie vor im Hals habe, hinunterzuschlucken und streiche meine Kleidung glatt.
Sobald ich wieder ein wenig entspannter bin, laufe ich durch die Regalreihen der obersten Etage des Gebäudes bis ich in der, mit "historische Zeichen und Sprachen" betitelten, Abteilung angekommen bin. Genau die habe ich gesucht! Vorsichtig ziehe ich einen kleinen Zettel aus der vorderen Tasche meiner Jeans. Auf den ersten Blick wirkt er vollkommen leer und bleibt es auch auf den zweiten und dritten Blick zu bleiben. Als ich ihn jedoch in eine Hand nehme und mit dem Daumen der Anderen langsam darüber streiche, während ich kaum hörbar eine Reihe von kurzen Worten vor mich hin flüstere, wirken meine Kräfte darauf. Je länger ich spreche, desto sichtbarer wird das, was ich vor unserem Aufbruch schnell darauf gekritzelt habe. Als das Symbol drauf leicht schimmernd zu sehen ist, unterbreche ich mich augenblicklich, da ich nicht will, dass es durch die ganze Etage strahlt und massenhaft Leute anzieht.
Nun ist auf dem Papier eines der Zeichen zu erkennen, die man überall in der Stadt antrifft. Soweit ich mich erinnere, war es eines der Ersten, die ich gefunden habe und im Gegensatz zum Großteil der Anderen, leuchtete es blutrot, was ich bisher nur wenige Male gesehen habe. Das Symbol erinnert an ein mit einem "N" verschlungenes "E" mit Schnörkeln an den richtigen Stellen. Beinahe hat es sogar den Anschein, als würden die Buchstaben einander umklammern.
Die, für meine Verhältnisse relativ gut gelungene, Zeichnung habe ich angefertigt, um auch das richtige Buch finden zu können und es dann zur Sicherheit mit einem Zauber verborgen, damit nur Hexer, die meinen genauen Wortlaut kennen, es selbst sichtbar machen können, und den Zauber kennt soweit ich weiß niemand. Nicht einmal meine Familie.
Konzentriert beginne ich nach der Reihe jedes Buch aus dem Regal zu ziehen, den Titel zu lesen und die Zeichen zu vergleichen, doch aus irgendeinem Grund kann ich keine Übereinstimmungen finden. Resigniert lasse ich mich an einem der dunklen Holzregale hinunterrutschen, bis ich auf dem Teppichboden sitze, der überall außer auf den Stufen verlegt worden ist. Vielleicht ist das auch überhaupt keine Sprachen, sondern einfach nur ein absonderlicher Spaß von irgendwelchen Jugendlichen, die sich überlegt haben mit besonderen Farben, die in bestimmten Nächten leichten, Passanten zu ärgern. Vielleicht sogar die aus dem Richmondhexenzirkel mit dem mein Zirkel schon seit Jahrhunderten verfeindet ist. Möglicherweise sogar die Hollingsworths persönlich. Eine andere, viel plausiblere Erklärung wäre es aber auch, dass ich am Ende doch einfach nur übergeschnappt bin und eigentlich in die Klapse gehöre. Ich meine, ich denke plötzlich, dass jemand hinter mir steht, obwohl da keiner ist, bin neuen Mitschülern gegenüber misstrauisch, obwohl sie wahrscheinlich genauso stinknormal sind wie alle Anderen aus meiner Klasse, und denke irgendeinem Londoner Geheimnis auf der Spur zu sein. Ja, das muss es sein. Ich bin einfach verrückt geworden!
Von dem Aufprall eines Objektes neben mir auf dem Boden, werde ich aus meinen Gedanken gerissen und sehe aus dem Augenwinkel eine Hand mit einem blutroten Ring am Zeigefinger, die jemandem auf der anderen Regalseite zu gehören scheint. Innerhalb von zwei Wimpernschlägen ist die leicht gebräunte Hand auch schon wieder auf die andere Seite verschwunden. Wie automatisch beginne ich verwundert zu blinzeln und starre dann wie gebannt durch die Lücke, die durch den Fall des Schriftstückes entstanden ist. Zu sehen ist aber niemand. Das kann doch keine Einbildung gewesen sein. So verrückt bin selbst ich nicht!
Immer noch ein wenig geschockt, aber auch misstrauisch, hebe ich das Buch, mit kaum merklich zitternden Händen, auf. So etwas geschieht in einer Bücherei eben nicht alle Tage, obwohl ich auch nicht sagen würde, dass seit meinem ersten Fund der Zeichen vor etwa einem Monat irgendwas in meinem Leben normal verläuft. Und seit Belle aufgetaucht ist, wird es nicht unbedingt besser.
Gegen noch mehr Absurditäten gewappnet, lege ich das Buch, das alt wirkt und so aussieht, als würde es bei der nächsten Berührung zu Staub zerfallen, auf meinen Schoß. Als ich es schaffe die blass goldenen Buchstaben, die den Titel "schottischen Runen des siebzehnten Jahrhunderts" bilden, zu entziffern, verwandelt sich mein Misstrauen plötzlich in Zuversicht. Enthusiastisch schlage ich das Werk, das so riecht und aussieht, als würde es aus dem gleichen Jahrhundert stammen wie die Runen darin, auf und beginne die ersten paar Zeilen zu überfliegen.
Auf den ersten Seiten werden die Geschichte der Runen und die Legenden, die sich darum ranken, in voller Länge beleuchtet, weshalb ich nie die wesentlichen Teile lese und den Rest überspringe. Nachdem ich mit dieser Taktik das erste Kapitel mehr oder weniger "gelesen" habe, bin ich mir fast sicher, dass es das richtige Buch sein muss. Der Inhalt bezieht sich darauf, dass die Zeichen zum ersten Mal zur Zeit des siebzehnten Jahrhunderts das erste Mal in Schottland gesichtet wurden. Man sagte ihnen nach, dass die Hexen, die zu der Zeit gelebt haben, sie zur Kommunikation genutzt haben sollen. Richtig beweisen konnte es aber niemand, weshalb der Teil mit den Hexen nur eine Legende blieb, während die Zeichen immer häufiger an Hauswänden und in Wäldern auftauchten und sich bald auch auf den Rest der Vereinigten Königreiches ausbreiteten. Ein Jahrhundert später hörten die Sichtungen jedoch überall außer in London auf. Einige Seiten weiter finde ich die ersten Zeichen und zücke sofort mein Symbol, um es mit den Runen zu vergleichen. Tatsächlich ähneln sich die Runen von der Art wie sie gezeichnet wurden, fast komplett, was bei mir dafür sorgt, dass sich ein zufriedenes Lächeln auf meine Lippen schleicht. Leider sind jedoch nicht unter alle Zeichen Bedeutungen gedruckt worden. Je weiter ich blättere, desto häufiger sind zu dem die kleinen, mit Bleistift hinzugefügten, Notizen und Bezeichnungen. Gelegentlich scheint es sogar so, als wären einige der abgedruckten Bezeichnungen von dem gleichen Leser berichtigt worden. Wie aus einer Ahnung heraus, schlage ich auf die erste Seite und liege mit meiner Vermutung, dass dort auch etwas hin gekritzelt wurde, richtig. Wie auch weiter hinten im Buch hat jemand mit seine Initialen hingeschrieben. Mit einem Finger streiche ich über das ordentlich geschriebene "J.H." und versuche das Gefühl und den Geruch des porösen, vergilbten Papiers unter meinen Fingern aufzusaugen, während sich in meinem Kopf eine Frage manifestiert. Wer ist "J.H."?
Zwar ist es komisch, aber ich weiß, dass es ein Mann sein muss, denn das ist anhand der Schrift leicht abzulesen. Den Entschluss gefasst, dass dieses Buch und ich für einander gemacht wurden, erhebe ich mich vom Boden, was für meinen Po eine echte Erleichterung ist. Schließlich ist sitzen das neue rauchen.
Beschwingt renne ich die Treppen so schnell hinunter, dass es ein richtiges Wunder ist, dass ich nicht stolpere. Bereits von Weitem sehe ich Ana, die nach wie vor bei den Filmen steht und scheinbar etwas ganz Bestimmtes sucht. Hat sie sich in meiner Abwesenheit etwa gar nicht bewegt? Verwundert sehe ich auf die grüne, leise tickende Uhr über dem Tresen, an dem man die Sachen leihen kann. Bereits eine geschlagene Stunde ist vergangen. "Hey, hast du einen schönen Film gefunden?", frage ich laut, während ich zielstrebig auf sie zugehe. Überrascht dreht sie sich zu mir um. Ihr unzufriedener Blick verrät mir, dass die Antwort "Nein" lauten wird, was sie mir mit einem niedergeschlagenen Kopfschütteln auch augenblicklich bestätigt. Vorsichtig beuge ich mich runter, sodass ich auf ihrer Höhe bin und schaue mit ihr zusammen auf die Filme im Regal: "Was suchst du denn?" Auf den ersten Blick sehen alle Filme, die ich im Regal erspähe, interessant aus. "Den ersten Teil von Harry Potter", murmelt sie resigniert. Als mir die Ironie in diesem Satz klar wird, muss ich grinsen. Eine echte Hexe, die sich einen Film über eine Schule voll mit falschen Hexen und Zauberern ansehen will. Da sie es aber scheinbar wirklich ernst zu meinen scheint, beginne ich mit ihr zusammen zu suchen.
Letztendlich finden wir den Streifen unter "Comedy", weil jemand ihn wohl falsch weggestellt haben muss, und endlich ist auch meine Schwester zufrieden. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zur Ausleihe und stellen uns in die, zugegebener Maßen ziemlich lange, Schlange, da fällt mir plötzlich etwas auf: "Hey, Ana?" "Ja?" "Wo ist eigentlich Belle? Ist sie schon gegangen?", frage ich ein wenig perplex, als ich bemerke, dass ich die Schwarzhaarige gar nicht bei Ana aufgefunden habe, als ich wieder nach unten gekommen bin. "Sie meine, dass sie sich auch noch nach einem Buch umsehen gehen will. Ich hab' okay gesagt", sie zuckt mit den Schultern, spricht aber weiter, als sie meinen Blick bemerkt, der wohl nicht gerade der Freundlichste zu sein scheint: "War das falsch?" Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich bei dem Gedanken, das Belle hier alleine herumlungert und vielleicht wirklich vorhin hinter mir gestanden hat, als ich so zusammen geschreckt bin, gar nicht wohlfühle, als ich ihr antworte: "Nein, alles gut. Hast du deine Karte noch?" Sie nickt und ich will ihr gerade meine Sachen in die Hand drücken, um mich auf die Suche nach Belle zu machen, da taucht besagtes Mädchen auch schon direkt hinter uns auf und winkt Annabelle zu, während sie auf uns zu geschlendert kommt.
Bei uns angekommen, stellt sie sich einfach zu uns und lugt immer wieder interessiert zu dem, in einen dunkelgrünen Umschlag eingebundenen, Buch. Instinktiv halte ich es hinter meinen Rücken, um ihr die Sicht auf den taschenbuchgroßen Gegenstand zu versperren. Sofort nehme ich ein unheimliches Funkeln in den goldenen Sprenkeln ihrer braunen Augen wahr und spüre, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Kurz presst sie ihre schmalen, blassrosanen Lippen fest zusammen, nur um den Mund wenige Sekunden darauf wieder zu öffnen. Bevor die ersten Töne ihren Mund jedoch verlassen können, gehe ich dazwischen: "Und Belle? Hast du auch das Buch gefunden, dass du gesucht hast?" Ihre gerade gezupften Augenbrauen wandern ratlos in die Höhe und in ihren Gesichtszügen zeichnet sich Unsicherheit ab, die ich vorher bei ihr noch nicht bemerken konnte: "W-Was meinst du?" Ich sehe, dass Ana zu einer Erklärung ansetzen will, bringe sie aber mit einem einfachen Blick und einer kaum merklichen Kopfbewegung augenblicklich zum Schweigen. Stattdessen antworte ich: "Ach, da habe ich mich wohl vertan. Tut mir leid!" Sowohl Ana als auch ich selbst wissen jedoch genau im selben Moment, dass das gerade eine Lüge vom allerfeinsten war, denn Ana hat selbst gesagt, dass Belle nach einem Buch sehen will und ihr Gedächtnis ist erstklassig. Sie weiß sogar noch, was sie an ihrem ersten Schultag gegessen hat und ob sie es mochte oder nicht! Dass Belle sich nicht mehr daran erinnert, was sie zu meiner Schwester gesagt hat, zeigt also, dass sie heute mindestens einmal nicht ehrlich zu uns war. Doch was hat sie wirklich gemacht, wenn sie schon nicht nach Büchern gesehen hat? Diese Frage beruhigt mich und verstärkt mein Misstrauen gegen meine neue Klassenkameradin nur noch mehr.
Evie
Erschöpft stütze ich meinen Kopf in die Hände. Das unter meinen Ellenbogen fühlt sich hart an, doch ich ignoriere das Gefühl einfach und starre aus dem Fenster. Beinahe kann ich sehen, wie die Hitze über den Dächern der Stadt flimmert, obwohl es bereits dämmert. Zwischen meinen Armen habe ich mein Mathematikheft drapiert. Schon vor einer halben Stunde habe ich meine Aufgaben beendet und werde nun von Langeweile geplagt.
Meine Eltern sind mittlerweile wieder da und nachdem Belle endlich verschwunden ist, hat Annabelle sich auf das Sofa gepflanzt, nach der Fernbedienung gegriffen und angefangen einige Cartoons im Fernsehen anzusehen und hat bisher noch nicht damit aufgehört. Doch obwohl sie nur ein Stockwerk unter mir sitzt, fühle ich mich total einsam, denn nicht Ana ist diejenige, mit der ich gerade Zeit verbringen will, sondern jemand ganz anders.
Wie automatisch erhebe ich mich von meinem Drehstuhl und lasse mich aufs Bett fallen, nachdem ich die Vorhänge vor meinem Fenster zugezogen habe. Mein Rücken gräbt sich in die weiche, weiße Matratze ein und sorgt dafür, dass ich mich sofort viel wohler fühle, doch trotzdem fühlt es sich nach wie vor so an, als würde mir etwas fehlen. Ein wichtiger Teil meines Lebens, ohne den ich nicht auskommen kann. Nachdenklich streiche ich mit den Fingern über den dunkelgrünen Einband des Buches und lasse meine Fingerkuppen über die Ränder der Seiten gleiten.
Als mir aber bewusst wird, was ich hier gerade mache, löse ich mich von dem kleinen Buch und lasse es zurück neben den Wecker auf meinem Nachttischchen fallen. Erst wenn die anderen Mitglieder meiner Familie im Bett sind, will ich mich dem Objekt zuwenden, da ich mir wirklich keine neugierigen Fragen meiner Familie leisten kann.
Deshalb bewege ich mich kurz hin und her, um den perfekten Platz für mich zu finden, und ziehe die Decke über meinen Körper. Ich trage bereits meinen Schlafanzug, weshalb mich plötzlich eine Welle der Gemütlichkeit überrollt und dafür sorgt, dass ich mein Bett am liebsten nie wieder verlassen würde. Ein leiser Seufzer verlässt meine Kehle, als ich nach meinem Handy greife.
Sobald ich auf den “On“-Knopf drücke, erscheint ein Bild auf dem Display, das mir einen festen Stich versetzt. Es ist ein Bild von Reese und mir, das an dem Tag entstand, als wir mit der Klasse in einem der Freizeitparks in der Nähe waren. Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich muss an den lauwarmen Frühlingstag zurückdenken, den wir miteinander verbracht haben. Meine beste Freundin und ich.
Schnell lasse ich meinen Finger über das Bild gleiten und öffne meinen Messengerdienst, um nicht zu weinen. Mit den Fingerspitzen der linken Hand wische ich mir schnell über die Augen und tippe dann mit einem Finger auf den Chat, den ich mit Reese betreibe.
Automatisch öffnet sich unter Verlauf, der Anfang nur aus lachenden Smileys und kurzen Nachrichten bestand, sich dann aber in ein Meer aus Absagen und Entschuldigungen verwandelt hat. Heute wird wohl eine neue dazu kommen müssen! Meine Finger fliegen über die digitale Tastatur und fassen die Gedanken, die sich in meinem Kopf aufgestaut haben, in Worte.
Als ich letztendlich auf den grünen “Senden“-Button drücke, fühle ich mich viel befreiter, doch trotzdem fehlt mir meine beste Freundin. Oder mittlerweile eher meine frühere beste Freundin, denn ob wir noch befreundet sind, weiß ich seit unserem letzten Gespräch nicht mehr so genau. Denn obwohl meine Entschuldigung echt ist und aus tiefstem Herzen kommt, weiß ich nicht, ob Reese meine Worte dieses Mal überhaupt ernst nimmt. Schließlich habe ich ihr schon so oft weh getan, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie mir dieses Mal nicht verzeiht. Obwohl ich ihr verhalten allerdings verstehen könnte, verursachen diese Gedanken in meinem Herzen Schnitte, die mit jedem Gedanken tiefer werden.
Meine Augen wandern von den Buchstaben “online“, die unter ihrem Namen prangen, zu der Stelle, an der neue Nachrichten erscheinen. Innerlich hoffe ich darauf, dass Reese mir antwortet, doch gerade wirkt es nicht so, als würde sie das planen.
Ohne groß darüber nachzudenken, schreibe ich immer und immer wieder kurz Nachrichten, bitte Reese mir zu antworten, doch nichts geschieht. Keine Nachricht kommt zurück. Nur die blauen Harken, die mir zeigen, dass sie es gelesen hat.
Erneut sammeln sich Tränen in ihren Augen, doch dieses Mal wische ich sie nicht weg. Stattdessen lasse ich sie einfach laufen und gebe mich meiner Trauer hin.
Erst sind es nur einige winzige und unscheinbare Tränen, die im Licht der untergehenden Sonne vor sich hin glitzern, doch als die Meldung “Sie können mir diesem Nutzer nicht kommunizieren“ auftaucht, werden sie immer zahlreicher und ähneln fast einem Wasserfall. Meine Knochen sind wie eingefroren, unmöglich zu bewegen, während mein Blut in meinen Adern sein Tempo zu erhöhen scheint. Die Luft in meinen Fingern fühlt sich plötzlich so an, als würde sie wie hunderte von Rasierklingen in mein Fleisch schneiden und dem Schmerz einen Weg in meinen Körper bahnen. Der Hals tut mir von weinen bereits weh, doch ich kann nicht aufhören, nicht aufhören zu schluchzen und nicht aufhören mich meinen Gefühlen hinzugeben. Innerlich zerreißt es mich, denn genau just in dieser Sekunde wird es mir bewusst. Sie hat den Kontakt mit mir unterbrochen und schon wieder habe ich eine beste Freundin verloren.
Doch dieses Mal ist es noch viel schlimmer als vorher. Denn ich habe nicht nur eine Freundin verloren, sondern einen Menschen, den ich tatsächlich geliebt habe und der sich unabsichtlich einen Platz in meinem Herzen erkämpft hat. Nun fühlt es sich so an, als würde dieser Teil, den sie in mir aufgebaut hat und der mich zu einem anderen Menschen gemacht hat, fehlen.
Ich will einfach nur zu ihr rennen und ihr alles erzählen. Das, was ich mich niemals trauen würde einem Menschen zu sagen. Und würde sie mir das alles überhaupt glauben? Schließlich klingt es einfach nur absurd und sie würde es mit Sicherheit als eine weitere meiner Ausreden ansehen. Ich selbst würde an ihrer Stelle ja auch nicht anders reagieren.
Doch ich kann das nicht tun. Ich kann nicht zu ihr gehen, kann ihr nicht verraten, wer ich bin. Unter keinen Umständen werde ich zulassen, dass sie in die bescheuerte Fehde zwischen den Zirkeln in London hinein ziehen. Diese Bürde kann und will ich ihr nicht auferlegen, obwohl ich sie dann verliere.
Der Gedanke, dass ich mich entscheiden zwischen ihrer Freundschaft und ihrer Sicherheit entscheiden muss, trifft mich unverhofft und hart. So hart, dass mir für eine viel zu lange Zeit die Luft wegbleibt. Regelrecht sehe ich meinen entsetzen und verletzten Ausdruck vor meinem inneren Auge.
Eigentlich sollte mir diese Entscheidung als eine gute Freundin doch leicht fallen, oder? Ich sollte mich einfach dafür entscheiden sie ihr sicheres Leben weiter leben zu lassen, doch ich will sie nicht verlieren. Reese ist für mich einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und die Welle der Gefühle, die mich übermannt, reißt mich wie eine Flut mit sich.
Evie
Das Leuten der Schulklingel dröhnt über den ganzen Schulhof, als die letzte Stunde nun amtlich zu Ende geht. Glücklicherweise hat unser Lehrer die Stunde heute früher beendet, denn gerade jetzt habe ich wenig Lust darauf mich durch die Massen von Schülern zum Ausgang zu quetschen und dabei am besten noch überrannt zu werden.
Ich will einfach nur hier raus, weg von der Schule, denn dieser Tag was mit Abstand einer der Schlimmsten. Reese hat kein Wort mit mir gesprochen und war nicht mal bereit mir einen Blick zu schenken. Doch ich bin ja auch selbst schuld. Schließlich habe ich sie immer wieder vertröstet, bis sie es nicht mehr aushält. Bei dem Gedanken an gestern steigen mir fast schon wieder die Tränen in die Augen. Ich hab den ganzen Tag nur noch damit verbracht meiner besten Freundin hinterher zu trauen und bin nur aus dem Bett gestiegen, um auf die Toilette zu gehen und mir ein neues Eis zu holen.
Draußen angekommen ziehe ich die Kapuze über den Kopf, obwohl es weder richtig windig ist, noch regnet. Gerade will ich einfach mit gar keinem reden. Außer Reese natürlich. Nicht mal ein Tag ist vergangen und schon habe ich schreckliche Sehnsucht nach ihr. Manchmal frage ich mich echt, warum ich unbedingt als Hexe geboren werden musste. Während sich andere Teenager in meinem Alter mit Jungs und ihren Eltern herumschlagen müssen, versuche ich schon seit langem die richtige Balance zwischen meinem Leben als Mensch und dem als Hexe zu finden. Bereits bei Avery hatte ich meine Mom darum gebeten ihr von meinen Kräften erzählen zu dürfen, doch sie hatte es mir verboten und mir eingetrichtert wie wichtig es ist, mein Geheimnis zu verbergen.
In diesem Moment ertönt eine laute, kreischende Stimme hinter mir: “Hey Evie, warte mal kurz.“ Erschrocken zucke ich zusammen und bleibe stehen, bereue es aber augenblicklich, als mir klar wird, wem die Stimme gehört. Da es aber für eine Flucht schon zu spät ist, drehe ich mich zu der Schwarzhaarigen herum, die am steinernen Treppengeländer lehnt. “Was willst du, Belle?“, ich klingt genervter, als ich wirklich bin. “Kann es sein, dass du heute irgendwie schlechte Laune hast?“, sie stößt sich von der Mauer ab und kommt, mit schwingenden Hüften, auf mich zu. “Ja, schon möglich“, ich kneife die Augen zusammen und lasse meine Hände in die Taschen meines Mantels gleiten: “Jetzt komm endlich auf den Punkt oder ich geh weiter.“ “Oh, tut mir leid“, sagt sie schnell und bleibt vor mir stehen.
“Ich wollte dich nur fragen, ob du heute Zeit hast“, ich sehe zu wie sie Arme siegessicher vor der Brust verschränkt: “Schließlich hast du ja jetzt, wo Reese dich ignoriert, keine Freunde mehr, mit denen du irgendwas machen könntest.“
In den Taschen balle ich meine Hände so fest zu Fäusten, dass ich fast spüren kann wie sich meine Fingernägel feste in das weiche Fleisch meiner Handflächen graben. “Hör auf, Belle“, zischt der Junge neben ihr, den ich erst jetzt wahrzunehmen beginne. Scheinbar steht er schon die ganze Zeit dort, doch erst jetzt nehme ich ihn tatsächlich war. Zu sehr war ich in den vorherigen Sekunden in meiner Welt gefangen.
Belle zieht einen Flunsch. Sofort schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie wirklich eine besondere Beziehung zu ihm haben muss, wenn Belle sich von ihm den Mund verbieten lässt. “Ich muss mich wirklich für Belle entschuldigen“, lächelt er mir freundlich entgegen: “Sie weiß einfach nicht, wann sie die Klappe halten muss.“
Ich versuche ein Grinsen zu unterdrücken, während ich den jungen interessiert mustere. Die Ähnlichkeit zu Belle ist verblüffend. Zwar ist seine Haut lange nicht so hell wie ihre, sondern eher Cappuccino-farbend und sein Körper ist viel breiter, doch beide haben eine, vor Selbstbewusstsein sprühende, Art und dieselben braunen Augen. Seine Augenbrauen sind genauso dunkel wie sein Haar und wuchern ebenso ungestüm hervor, wie das Haar auf seinem Kopf, dass fast so schwarz ist wie mein Eigenes. Die kaum erkennbaren Bartstoppeln und die runde Stupsnase lassen ihn männlich und beschützerisch wirken.
Sofort finde ich sein Auftreten, im Gegensatz zu dem von Belle, sympathisch. “Das habe ich schon gemerkt“, erwidere ich und schaue zu meiner neuen Mitschülerin zurück: “Selbst wenn Reese momentan nicht mit mir spricht, heißt das nicht, dass ich Zeit für dich habe, Belle.“ Zwar ist mir bewusst, wie unfreundlich und hart ich gerade klingen muss, doch seitdem sie einfach bei mir zu Hause aufgetaucht ist, ist sie mir echt nicht geheuer, und auch die Andeutungen, die sie gemacht hat, machen sie mir nicht sympathischer. Irgendwie war sie mir schon von Anfang an suspekt und mit der Zeit hat sie diesen Eindruck selbst nur noch weiter gestärkt. “Dann vielleicht ein andern Mal“, mein Gegenüber beißt sich auf die Lippe: “Aber da ist noch was?“
Dieses Mal muss ich wirklich stark mit mir ringen, um ein angestrengtes Seufzen zu unterdrücken: “Was denn?“ “Ich würde dir gerne meinen Cousin vorstellen“, kumpelhaft klopft sie dem Jungen neben sich auf den Rücken. Ihr Cousin also! Da hatte ich ja doch recht. Sie haben wirklich eine besondere Beziehung zueinander, und zwar eine familiäre. Daher auch die Ähnlichkeit zwischen ihnen.
“Mein Name ist Elijah“, er reicht mir seine Hand. Erst will ich diese Tatsache einfach ignoriere und mich verabschieden, obwohl er eigentlich echt nett zu sein scheint, doch dann fällt mir ein besonderes Detail auf, dass mich augenblicklich umstimmt. “Schön dich zu treffen“, ich schüttele seine Hand: “Ich bin Evie.“ “Evie, wer?“, fragt er weiter.
Erst verstehe ich nicht, was er von mir will, weil ich so fokussiert auf das Objekt an seinem Finger ist, doch dann schaffe ich es doch irgendwie zu antworten: “Evie Grey.“
Meine Finger pressen sich fest an seine, als er meine Hand fest schüttelt. Dabei gleitet meine Hand immer wieder über das kalte Metall des Ringes, mit dem blutroten Stein daran, der mich so interessiert. Genau diesen habe ich schon einmal in meinem Leben gesehen. Und zwar genau gestern in der Bücherei!
“Bist du neu in der Stadt oder lebst du schon lange hier?“, frage ich interessiert weiter, um seine Hand weiter umklammern zu können. Jeden Zentimeter des Ringes will ich berühren und mir die Form ganz genau einprägen, während sich in meinem Kopf eine Frage festigt. War er derjenige, der mir in der Bibliothek das Buch hat zukommen lassen? So ein Schmuckstück habe ich nämlich vorher noch nie am Finger einer anderen Person gesehen, woraus ich schließe, dass er im letzten Sommer wohl kaum bei Primark im Angebot war.
“Nein, ich lebe mit meiner Familie schon mein ganzes Leben in London. Zum Glück musste ich, im Gegensatz zu meiner lieben Cousine, auf kein langweiliges Internat, sondern besuche eine bürgerliche Schule“, erklärt er mir kurz. “Das heißt, es wäre unnötig dir einen Rundgang durch die Stadt anzubieten“, gespielt zerknirscht beiße ich mir auf die Unterlippe und versuche verloren zu wirken, was mir mehr oder weniger gut zu gelingen scheint, denn sofort springt er für mich in die Bresche.
“Ja, das ist richtig“, stimmt er zu: “Du könntest mir aber eine Führung durch dein Lieblings Café anbieten.“ Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen auf. Das läuft ja besser als gedacht: “Gut, am Samstag hätte ich Zeit für dich.“
Mir ist klar, dass mein Plan mehr als niederträchtig ist, doch ich brauche dieses Treffen unbedingt. Nur so kann ich herausfinden, was es mit dem Ring, den er am Zeigefinger trägt, auf sich hat. Innerlich bin ich mir nämlich vollkommen sicher, dass er nicht unbedeutend sein kann. Bei dem Gedanken, dass er derjenige ist, der mir gestern so sehr geholfen hat, beginnt mein Herz schneller zu schlagen, während meine Gedanken Achterbahn zu fahren scheinen. Warum sollte ausgerechnet er mir helfen? Schließlich scheint seine Cousine doch genauso scharf auf das Buch zu sein, wie ich.
“Dann sehen wir uns am Samstag“, ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen auf und spiegelt genau das wider, was ich tief in meinem Inneren spüre.
Evie
Unsicher tänzele ich auf der Stelle herum und lasse meinen Blick über die Tische wandern, doch zu meiner Enttäuschung ist der dunkle Schopf von Elijah nirgends zu sehen. Mein Blick wandert wie automatisch zu der Uhr über dem Tresen, an dem man bestellen kann. Zu spät ist er jedenfalls noch nicht. Ich bin um ehrlich zu sein, viel zu früh gekommen, um uns den besten Platz im gemütlichen, nach Kakaobohnen duftenden, Cafe auszusuchen. Dieses Treffen will ich einfach nicht vermasseln, denn es kann meinen Verstand endlich wieder aufklaren lassen. Dieser Ring hat mich in den vergangenen Tagen, seit unserer Begegnung, total verrückt gemacht, sodass ich dieses Treffen regelrecht herbeigesehnt habe. Vielleicht liegt das aber auch nicht nur daran, dass ich scharf darauf bin das Geheimnis zu lösen. Unterumständen hat da auch noch mein persönliches Interesse die Finger im Spiel, doch selbst, wenn es so ist, werde ich nie zulassen, dass es diese Verabredung dominiert.
Langsam schlurfe ich über die schwarz-weißen Fliesen hinweg zu einem freien Tisch, der wie für mich gemacht zu sein scheint, und lasse mich auf einen der beiden Stühle fallen.
Mit einem Handzeichen rufe ich die Kellnerin still zu mir. Auf meine Bitte hin hetzt sie vollkommen gestresst auf mich zu und zückt ihren weißen Block blitzschnell. Das Leben als Kellnerin muss wirklich anstrengend sein, denn mir als Gast fällt, wenn ich ein Restaurant betrete, gar nicht immer sofort auf wie viel Arbeit es für die Angestellten gerade zu geben scheint.
“Was darf ich Ihnen bringen?“, fragt die Blondine in ihrer schwarz- weißen Uniform trotzdem vollkommen freundlich. Überrascht davon, dass sie trotz des ganzen Stresses noch so nett sein kann, stammele ich: “Ein Kakao, bitte.“ “Kommt sofort“, das leise Kratzen des Stiftes auf dem Papier verrät, dass sie es sich notiert hat, bevor sie in der nächsten Sekunde schon wieder verschwunden ist.
Erneut werfe ich einen Blick auf die Uhr. Nicht mal fünf Minuten sind vergangen. Niemals hätte ich gedacht, dass warten so anstrengend sein kann.
Zwei Packungen Zucker und eine Rechnung später, spüre ich den Luftzug erneut, der von der Tür her herbei weht und meine Beine umspielt. Gerade bin ich dabei ein neues Zuckerpäckchen zu öffnen, da räuspert sich jemand direkt vor meiner Nase.
Überrascht hebe ich den Kopf und lasse fast die ganze Packung, samt Papier, in das heiße, braune Getränk fallen. “Mach so weiter und du kriegst noch einen Zuckerschock“, er klingt ein wenig besorgt und vorwurfsvoll zugleich. “Hallo erst mal“, ich klinge amüsiert und rühre mit dem metallenen Löffel in der Brühe vor mir herum. “Hey“, erwidert er meine Begrüßung: “Wirklich schön dich zu sehen.“
Beinahe kann ich spüren, wie mir die Röte in die Wangen steigt: “Die Freude ist ganz meinerseits.“ Langsam schließen sich meine Finger um den Henkel der Tasse, als ich diese zu meinem Mund zu heben beginne: “Also, auf welche Schule gehst du, wenn nicht auf meine und warum ist Belle nicht auch einfach auf deine Schule gegangen?“ “Ich wohne in einem anderen Teil der Stadt und gehe deshalb dort zur Schule. Belle ist nicht auf meine Schule gekommen, weil es für uns beide unangenehm wäre.“
“Warum unangenehm?“, bohre ich weiter. Er trommelt mit den Fingern auf dem Tisch herum: “Wir haben uns nicht immer so gut verstanden, wie jetzt. Früher haben wir uns ziemlich oft gezofft, weil wir einfach unterschiedlich sind. Sie sprüht vor Selbstbewusstsein und weiß oft wirklich nicht wann sie die Klappe halten soll, während ich zwar auch ein mehr oder weniger gutes Selbstbewusstsein habe, dabei aber auf die Gefühle anderer achte und weiß, wann ich etwas lieber für mich behalten sollte.“ “Ja, da muss ich dir recht geben“, stimmt ich zu und beiße mir auf die Lippe: “Tut mir leid.“
“Da brauchst du dich nicht zu entschuldigen“, grinst er freudig: “Du hast recht. Meine Cousine ist anstrengend. Das hast du ja scheinbar schon am eigenen Leib erlebt.“
Also bin ich nicht die Einzige, die kein richtiger Fan von Belle ist. Sie ist mir einfach nicht geheuert, was sie mit Sicherheit hätte schnell ändern können, hätte sie nicht sofort so komische Andeutungen gemacht, sondern gefragt, ob wir mal zusammen lernen oder einen Kaffee trinken wollen. Irgendwas normales wäre zur Abwechslung einfach mal schön gewesen.
“Und du? Hast du irgendwelche Verwandten hier in London vor deren Geburtstagspartys du dich jedes Jahr wieder zu drücken versucht?“ Ich werfe ihm einen tadelnden Blick zu: “Du drückst dich wirklich vor den Geburtstagen deiner Verwandten?“ “Ja, manchmal“, gibt er offen zu und fügt dann etwas hinzu, was mich völlig aus dem Konzept bringt: “Weißt du wie wunderschön dein Lächeln ist?“
Ich selbst habe nicht einmal bemerkt, dass ich zu grinsen begonnen habe. Ein wenig ertappt starre ich auf die braune Masse in meiner Tasse hinunter: “Danke.“ Er streckt seine Hand weiter auf den Tisch und wirkt dabei fast so, als würde er nach meiner zu greifen versuchen.
Genau in diesem Moment ergreife ich meine Chance: “Was hat das eigentlich mit dem Ring auf sich? So ein schönes Schmuckstück habe ich noch nie gesehen.“ Innerlich triumphiere ich bereits und fühle wie ich mich meinem Ziel, das Geheimnis dieses Ringes zu lüften, näher komme.
Kurz hält er inne und sieht mich einfach nur durchdringend an, öffnet den Mund, schließt ihn wieder und lässt ihn aufklappen: “E-Er ist ein Erbstück, dass schon seit langem in unserer Familie weitergegeben wird.“ “Ein Erbstück?“, frage ich interessiert weiter: “Hat jeder in deiner Familie so einen oder nur du?“ “Warum willst du das so genau wissen?“, stellt er die Gegenfrage. “Reines Interesse“, meine Stimme ist vollkommen scheinheilig, obwohl ich das ganz und gar nicht bin. Ich muss unbedingt herausfinden, was der Ring mit dem Buch zu tun hat, sonst werde ich noch verrückt.
Kurz rollt er mit den Augen, antwortet dann aber einfach, anstatt um den heißen Brei herumzureden: “Ja, ich bin der Einzige.“
Schnell lenke ich das Gespräch wieder in eine andere Richtung und versuche mir nichts anmerken zu lassen, doch innerlich fühlt es sich so an, als würde ich jede Sekunde vor Freude platzen. Mein Herz macht einen Satz und fast verschlucke ich mich an dem heißen Getränk. Das ist es. Dieser Junge muss es gewesen sein, der mir den, vielleicht entscheidenden, Hinweis gegeben hat. Ich spüre wie sich das Blut in meinen Adern beschleunigt und mir, gefolgt von einem Kribbeln im Bauch, das Gefühl verleiht genau in diesem Moment alles zu haben, was ich brauche. Jedenfalls fast alles!
Evie
Meine Finger gleiten über das dicke, harte Material des Einbands, als ich das Buch aufklappe und jede der zerbrechlich wirkenden Seiten einzeln umschlage. Das erste Kapitel habe ich ja bereits überflogen, doch trotzdem fühlen es sich falsch diese Seiten zu überspringen. Irgendwie fühlt es sich schon so an, als wäre es von einer besonderen Aura bedeckt, die mich dazu verleitet es zu schätzen und darauf aufzupassen. Sobald man es einmal berührt, hat man das Gefühl, dass es wichtig ist und beschützt werden muss.
In Kapitel zwei sind immer noch keine Zeichen zusehen, doch dafür zieht etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich.
Erst sehe ich nur dunkle Buchstaben auf dem weißen Papier, doch als ich eine Seite weiter schlage, ist dort eine Zeichnung zu sehen, die mich dazu bringt doch etwas genauer hinzusehen.
Die Zeichnung zeigt mir eine graue Spitze, die einem kleinen Pfahl ähnelt. Dieses Bild zieht mein Interesse auf sich und bringt mich dazu doch wieder an die erste Seite des neuen Kapitels zu blättern.
Dort steht eine weitere Legende geschrieben. Im vorherigen Kapitel habe ich bereits etwas über die Entstehung und die Geschichte der Runen herausgefunden, doch das, was hier steht, schafft in meinem Kopf nur noch mehr Chaos.
Während ich mit den Augen über jeden einzelnen Buchstaben fahre, wird die Geschichte immer klarer. Es geht darum wie die Runen gezeichnet und somit reproduziert werden können.
So einfach ist das aber leider wirklich nicht. Eine sehr verbreitete Mythe soll besagen, dass man die volle Wirkung der Runen nur entfalten kann, wenn man dafür ein besonderes Werkzeug besitzt. Natürlich soll man sie auch mit irgendeinem Stift oder Kreide malen können, doch die Wirkung, die die Originale haben, wird nur freigesetzt, wenn man es richtig macht.
Früher sollen die schottischen Hexen die Splitter eines besonderen Metalls verwendet, um sie in alle möglichen Materialien zu ritzen. Laut genau dieser Legende soll die Magie der Person durch das Mineral fließen und das Zeichen so für jede Zaubererfamilie anders machen.
Dieser glänzende Stoff wurde tief in einem Bergwerk in Schottland abgebaut worden. Dies wurde aber im achtzehnten bis neunzehnten Jahrhundert eingestellt, nachdem das Bergwerk eingestürzt war. Deshalb soll es auf der Welt nur noch die geben, die damals hergestellt wurden.
Welche Macht die Zeichen haben sollen, steht dort, zu meiner Enttäuschung, allerdings nicht. Niedergeschlagen seufze ich. Schnell versuche ich mir bewusst zu machen, dass ich gerade vielleicht auf einen wichtigen Hinweis gestoßen bin, doch das freut mich nur dürftig. Schließlich ist es mehrere tausend Jahre her, dass diese sagenumwobenen Spitzen hergestellt wurden. Gibt es überhaupt noch welche oder wurden sie irgendwann zerstört? Und warum habe ich noch nie etwas Magisches, abgesehen von dem Leuchten und diesen komischen Visionen, an den Symbolen erkennen können?
Natürlich weiß ich, dass diese Visionen nicht normal sind, doch soll das schon die Wirkung sein, die sie haben?
Da kommt mir eine Idee. Ich muss mich am nächsten Tag unbedingt zu dem Zeichen begeben, dass ich bereits relativ früh in der Nähe unseres Hauses gefunden habe. Dann werde ich versuchen so viel wie möglich darüber herauszufinden und nicht aufhören, bis irgendwas Besonderes passiert.
In einer Kurzschlussreaktion reiße ich die oberste Schreibtischschublade ruckartig auf und ziehe eine freie Karte heraus. Sie ist zwar ungenau, zeigt aber sowohl das jetzige London, als auch Schottland. Nur mit diesem Zauber kann ich herausfinden, ob es überhaupt noch einen Splitter gibt und wo er sich befinden könnte, wenn noch mindestens einer existiert.
Vorsichtig falte ich das riesige Papier auseinander und versuch es daraufhin völlig glatt auf dem Tisch auszubreiten, schaffe es aber nicht alle Knicke zu vermeiden.
Mit geschlossenen Augen lege ich meine Hände irgendwo auf die Karte. Dieses Mal werde ich einen anderen Spruch benutzen, der bisher immer funktioniert hat. Ich möchte dieses Mal nämlich nicht wieder enttäuscht werden, in dem ich einen aus dem Grimoir nutze.
Leise beginne ich meinen Spruch zu sprechen: “Pyrkagiá kai págo! Krýo kai zestó! Poú eínai o stócho mou?“ Regelrecht spüre ich wie sich die Flamme meiner Kerze bei dem ersten Laut, den ich ausstoße, automatisch entzündet. Ein Zischen ertönt und Hitze strömt in meine Richtung, während ich meine Finger langsam über das Papier bewege.
Eine unangenehme Kälte ist unter meiner Haut zu vernehmen, was mich dazu verleitet weiter über die Fläche zu fahren. Bei diesem Zauber geht es darum der Temperatur zu folgen, die sich unter meiner Handfläche ansammelt. Dort wo es am wärmsten ist, befindet sich normalerweise das Objekt. Ich fahre immer weiter darüber und merke, wie es Stück für Stück wärmer wird.
Nach wenigen Minuten beginne ich in der Nähe eine Hitze spüren, die mich zu einem zufriedenen Grinsen veranlasst. Dort muss mein Ziel sein! Nun werde ich schneller, um den Ort möglichst schnell zu erreichen, doch bevor meine Fingerkuppen auf die Stelle auf der Karte treffen können, fühlt es sich an, als würde ich feste gegen eine unsichtbare Wand stoßen.
Erschrocken zucke ich zusammen und schlage die Augen auf. Als ich sehe, dass es augenscheinlich keine besondere Barriere zu geben scheint, ist mir klar, dass ich gerade auf einen Schutzzauber gestoßen bin.
Augenblicklich schließe ich den Mund, woraufhin die Flamme mit einem leisen Geräusch erlischt. Instinktiv greife ich mit Recht nach einem Stift und mache einen Kreis um die Stelle, an der ich auf den unsichtbaren Schutz gefunden habe.
Wenn jemand sich extra die Mühe macht und einen Zauber ausarbeitet, bei dem es sich fast so anfühlt, als wäre man gegen eine Glasscheibe gelaufen, muss sich dort ein unersetzliches Objekt befinden. Zwar bin ich schonmal auf so einen Zauber gestoßen, doch niemals war er so stark. Die meisten von ihnen haben nämlich irgendeinen Hintereingang, den man ausnutzen kann, doch hier scheint es auf den ersten Blick vollkommen anders zu sein. Kein Fehler, keine Lücke, kein Hintereingang.
Gleichzeitig niedergeschlagen und interessiert stöhne ich auf. Nachdem treffen mit Elijah scheint heute gar nichts mehr so zu laufen, wie es sollte. Ziemlich frustrierend!
Bei dem Gedanken an Elijah, taucht direkt das Bild seines Ringes in meinem Kopf auf. Er hatte mir gesagt, dass nur er einen besitzt und dass es ein Erbstück ist. Aber zu welcher Familie gehört er denn?
Schließlich muss die Familie über viele Generationen reichen, wenn es ein richtiges Erbstück sein soll. Laut Elijah heißen beide mit Nachnamen “Gellar“, doch Belles Anspielungen an ihrem ersten Schultag haben mich daran zweifeln lassen. Ich persönlich habe noch nie von einer großen Zaubererfamilie mit dem Namen “Gellar“ gehört. Besonders nicht, wenn sie, wie er sagt, aus London kommen. Hier gibt es nämlich nur zwei richtig große Familie. Die Blakemores und die Hollingsworths.
Weiterhin meinen Instinkten vertrauend, springe ich nahezu auf und wirke dabei ungewohnt beschwingt. Irgendwie macht es mir ja doch Spaß ein wenig herum zu forschen. Wie soll ich sonst jemals die Wahrheit herausfinden? Diese Zeichen haben mich dazu gebracht an dem zu zweifeln, an das ich früher geglaubt habe, doch mittlerweile bin ich mir sogar relativ sicher, dass es noch viel mehr gibt, was ich nicht weiß. Das hat mir spätestens Belle gezeigt, denn in ihrer Lebensgeschichte tun sich für mich einige Ungereimtheiten auf, die ich unbedingt ausräumen muss.
Leise drücke ich meine Türklinke hinunter und strecke meinen Kopf aus dem Raum, um herauszufinden, ob jemand auf dem Flur ist. Glücklicherweise ist dem nicht so!
Ich schleiche regelrecht auf das Bücherregal, das gegenüber von meiner Zimmertür an der Wand steht, zu. Darin bewahrt die ganze Familie ihre Bücher auf. Wenn wir also das Buch besitzen, was ich suche, kann ich es am ehesten hier finden.
Da ich von Ana und mir selbst weiß, dass keine von uns ein Buch mit irgendwelchen magischen Artefakten besitzt, begebe ich mich absichtlich an die Stelle, an der sich die Bücher von Mom und Dad befinden.
Langsam lasse ich meinen Blick konzentriert über die Buchrücken gleiten, da ertönt die laute Stimme meines Vaters von unten: “Evie? Bist du oben?“ Ertappt beiße ich mir auf die Lippe und überlege, was ich machen soll. Wenn ich ihm antworte, besteht die Chance, dass er mich ausfragt, aber wenn ich es nicht mache, kommt er vielleicht noch hoch und das wäre viel dramatischer, also erhebe ich die Stimme: “Ja, Dad. Ich bin oben.“ “Was willst du heute zum Abendessen haben?“, brüllt er nach oben. Manchmal frage ich mich wirklich, ob er mich für taub hält.
Weitersuchend, antworte ich ihm genauso laut: “Keine Ahnung. Hast du Annabelle auch schon gefragt?“ Als ein “Nein“ von ihm folgt, muss ich mir ein freudiges Jauchzen verkneifen, denn ich habe es gefunden. “Ich hätte mal wieder Lust auf Spaghetti“, antworte ich ihm auf die anfängliche Frage: “Ana würde das wahrscheinlich auch gefallen.“
Mit dem Zeigefinger ziehe ich am Buchrücken und befreie es so aus dem Regal. Das Buch ist dick und dadurch unangenehm schwer, woraufhin ich es in einer umständlichen Haltung in mein Zimmer zu tragen versuche. Bevor ich verschwunden und vor in meinem Raum vor der Tür auf dem Boden gesunken bin, rufe ich meinem Vater allerdings noch ein “Ich bin in meinem Zimmer“ zu.
Der Boden unter meinem Gesäß ist hart, doch ich ignoriere es und wende mich ganz dem Buch zu, das ich auf meine Knie gestützt habe, nachdem ich mich im Schneidersitz niedergelassen habe.
Das Inhaltsverzeichnis besteht aus mehreren Seiten und beinhaltet mehr Objekte, als mir jemals hätte vorstellen können. Mit dem Finger folge ich den Worten, bleibe bei dem Thema “Schmuck“ jedoch stecken. In den Unterthemen suche ich weiter im Unterthema “Europäische Ringe“, bis ich letztendlich auf “Großbritannien“ stoße.
Vorsichtig schlage ich die erste Seite auf, die englische Ringe zeigen soll, doch als mein Blick über die Überschriften stellt, stutze ich. Links stehen irische Ringe aufgeführt, während rechts die aus Wales zu finden sind, obwohl sich mir eigentlich genau hier der Blick auf die britischen Fingerschmuckstücke bieten sollte. Verwundert rufe ich mir die Seitenzahlen ins Gedächtnis und starre dann auf die Zahlen am unteren Ende der Papiere.
Entgeistert starre ich auf die Seitenzahl. Exakt die beiden Seiten, die sich mit meinem Heimatland beschäftigen sollten, fehlen. Verwundert drehe und wende ich das Buch, um etwas zu entdecken. Zwar wurden die fehlenden Objekte fast kaum merklich herausgetrennt, doch wenn man ganz genau hinsieht, kann man die feinen Reste erblicken, die nach dem Heraustrennen zurückgeblieben sind.
Diese Erkenntnis bringt mich völlig aus dem Konzept, denn soweit ich weiß ist das Buch schon seit meiner Geburt im Besitz der Familie, was mich zu dem Ergebnis bringt, dass es jemand gewesen sein muss, der hier im Haus lebt. Wer kann es also gewesen sein und warum?
Evie
Fast geräuschlos stoße ich die Tür zum Zimmer meiner Eltern auf und husche, mit einem letzten Blick auf den Flur, genauso leise hinein. Glücklicherweise ist es leer.
Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass meine Schwester wohl kaum auf die Idee kommen würde Seiten aus einem Buch zu reißen. Schließlich vergöttert sie das Lesen regelrecht und würde es niemals übers Herz etwas raus zu reißen. Außerdem habe ich auch keine blassen Schimmer, was sie damit machen sollte. Papierflieger basteln sicher nicht.
Also bin ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass es entweder Mom oder Dad sein müssen. Hier leben schließlich nur wir und es wird hier wohl kaum einer eingebrochen sein, um zwei Seiten raus zu reißen. Aber warum sollten es meine Eltern getan haben?
Schnell tapse ich zum Schreibtisch herüber. Dort stapeln sich Unmengen von Akten, die sowohl meinem Vater als auch meiner Mutter zu Eigen sind. Beide arbeiten sehr viel.
Zu meiner Verwunderung sogar in der Menschenwelt, obwohl sie von uns erwarten, dass wir einen Weg in die magische Welt eingeschlagen. Für mich ist das kein Problem, da ich selbst auch einen Beruf machen möchte, der meine Magie einbindet, doch für Annabelle ist das ein riesiges Problem. Sie steht nämlich mit beiden Füßen in der Welt der Menschen und träumt von einem kreativen Beruf.
Vorsichtig, um nichts zu verknicken, blättere ich die Papiere durch und gehe so Akte für Akte durch. Finden tue ich allerdings nicht.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich dafür bereits viel zu lange gebraucht habe, während die Stimme meines Vaters, die von unten an meine Ohren dringt, mir mitteilt, dass das Essen bald fertig ist.
Dadurch zur Panik verleitet, beginne ich mich nun schnell, und um einiges lauter, durch den Raum auf den Papierkorb zuzubewegen. Flink arbeite ich mich grob durch die zusammengeknüllten Papierfetzen im Papierkorb, kann allerdings nichts finden, was sich so glatt anfühlt und so eng bedruckt ist, wie die Seiten, die ich suche. Auch meine Suche im Schrank und unterm Bett bleibt aber erfolglos.
Nun höre ich auch schon Ana, wie sie über den Flur zur Treppe watschelt und fühle mich nur noch gestresster. Selbst Anas zarte Schritte sind auf dem Boden zu hören.
Als einen letzten Versuch lasse ich meinen Blick durch den Raum wandern und hoffe etwas zu finden, was einen Blick wert wäre. Fast will ich aufgeben, da bleibe ich an der obersten Schreibtischschublade hängen. Sofort gerate ich ins Stutzen.
Der Schlüssel, der sonst immer in dem antiken, schwarzen Schloss steckt, fehlt. Mom und Dad würden niemals einfach einen Schlüssel wegtun, weil sie Angst haben ihn zu verlieren. Schließlich ist so auch mein Zimmerschlüssel verloren gegangen.
Das heißt, sie würden ihn nur entfernen, wenn sie nicht wollen, dass…! Ich entscheide mich den Gedanken lieber nicht zu Ende zu bringen und knie mich vor den Schreibtisch. Mit einer Hand ziehe ich am Griff, doch das hölzerne Kästchen bewegt sich keinen Zentimeter. Es ist tatsächlich abgeschlossen!
Bevor ich mich jedoch auf die Suche nach dem kleinen Schlüssel machen kann, höre ich erneut die, bereits leicht aufgebrachte, Stimme meines Vaters gepaart mit dem Ächzen der Stufen.
Vor Schreck beiße ich mir so fest auf die Lippe, dass es weh tut. Mist, er darf mich unter keinen Umständen, hier herumstöbernd, erwischen.
“Ich brauche noch eine Minute“, rufe ich deshalb laut in der Hoffnung, dass Dad vielleicht umdreht. Um allerdings wirklich auf Nummer sicher zu gehen, husche ich, mit wild hämmerndem Herzen, aus dem Zimmer.
Ohne lange zu überlegen, schiebe ich mich ins Badezimmer hinein und verbarrikadiere mich sicherheitshalber.
“Wo bist du denn, Schatz?“, fragt Dad, neugierig wie er ist, weiter. Erst in diesem Moment realisiere ich, wie knapp das gerade eigentlich war, denn genau jetzt vernehme ich, wie Dad die Treppe verlässt und sich auf den Flur begibt. Nur eine Sekunde später und er hätte gesehen wie ich sein Zimmer verlasse. Der Schreck jagt mir durch die Glieder.
Plötzlich fühle ich mich völlig ertappt, obwohl ich gar nicht erwischt wurde, doch die Schuld, dass ich gerade in die Privatsphären meiner Eltern eingedrungen bin, wirkt erdrückend. Dieses Gefühl macht mich betreten und überrascht mich zu gleich, während sich in meinem Kopf diese eine Frage immer wieder abspielt. Was verbergen meine Eltern vor mir? Denn, dass sie das tun, weiß ich genau. Ich weiß nicht, welcher von beiden es ist oder ob es beide sind, doch ich bin mir sicher, dass in letzter Zeit irgendwas nicht stimmt und ich will wissen, was es ist.
“Ich bin im Badezimmer“, antworte ich und versuche meine Stimme möglichste scheinheilig klingen zu lassen. “Geht es dir gut?“, folgt Dad’s Frage. “Ja, klar“, antworte ich und lehne meinen Kopf gegen die geflieste Wand hinter mir: “Ich komme sofort.“ “Okay, ich geh dann wieder runter“, informiert er mich: “Beeil dich bitte.“
Ich murmele nur noch ein leises “Mach ich“, bin in Gedanken aber wieder bei der Schublade, obwohl ich weiß, dass es nicht gut ist einfach in das Zimmer meiner Eltern einzudringen. Eins steht für mich aber fest, egal ob moralisch richtig oder falsch, ich brauche einen Plan, und zwar schnell.
Ja, ich melde mich auch mal wieder zurück. Zufrieden bin ich mit dem Kapitel allerdings nicht. Es ist alles irgendiwe total durcheinander und viel zu hektisch.
Evie
“Wie war eigentlich das Date mit dem Jungen?“, fragt Ana mich interessiert. Ihre Augen sprühen beinahe Funken vor Aufregung und Interesse.
Fast lasse ich meine Gabel auf den Porzellanteller fallen. Meine Schwester muss auch immer in den unpassendsten Momenten die unangenehmsten Fragen stellen.
Zwar war das Treffen mit Elijah wunderbar und er hat mir das Gefühl von Sicherheit gegeben, nachdem ich schon lange gesucht habe, aber trotzdem will ich meinen Eltern davon nichts erzählen. Ich bin mittlerweile schon so sehr zwischen den Welten, in denen ich lebe, zerrissen, dass es sich einfach nur gut angefühlt hat, endlich mal etwas Normalität zu erfahren. Jedenfalls ist ein Treffen in einem Café, das durch keinen Streit der Zirkel unterbrochen wird, meiner Ansicht nach mehr als normal.
Wer ist schließlich scharf darauf seinen Eltern von einem Jungen zu erzählen und sich, deren Fragen beugen zu müssen.
“Ganz gut“, antworte ich deshalb nur knapp und nehme meine Gabel wieder richtig in die Hand. Schließlich muss mir ja nicht jeder sofort ansehen, dass ich wenig Lust habe aus dem Nähkästchen zu plaudern. Alle Teile meiner Familie sind nämlich mehr als nur neugierig und lieben es mir Löcher in den Bauch zu fragen.
“Sag mal, wie heißt er eigentlich?“, fragt mein Vater nun ebenfalls interessiert weiter und faltet seine Zeitung zusammen, um mir seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich muss mich wirklich beherrschen, um die Augen nicht zu verdrehen, antworte dann aber doch, weil ich genau weiß, was passiert, wenn ich meinen Eltern keine Informationen gebe: “Er heißt Elijah und ist der Cousin von dem Mädchen, das Annabelle und mich letztens in die Bücherei begleitet hat.“ “Echt? Er ist mit Belle verwandt?“, die Augen meiner Schwester beginnen regelrecht zu leuchten. Ich hab wirklich keine Ahnung, was mit ihr los ist, aber irgendwie scheint die Schwarzhaarige sie gänzlich von sich überzeugt zu haben.
Nun hebt auch meine Mutter ihren Blick vom Teller: “Elijah?“ Der Name klingt auf ihren Lippen fast so geheimnisvoll wie ein Rätsel. Ihre Augen verengen sich langsam zu schlitzen und ich registriere wie sich ihre Finger fester um das Metall ihres Bestecks krampfen. Aus irgendeinem Grund wirkt sie plötzlich völlig verkrampft und steif.
“Ja, Elijah Gellar“, füge ich nun auch seinen Nachnamen hinzu, um ihre Reaktion sehen zu können.
“Hast du zufällig ein Bild von ihm?“, meine Mutter fragt unverblümt weiter und wirkt dabei fast analysierend. Unsicher zucke ich mit den Schultern: “Keine Ahnung, vielleicht sein Profilbild. Warum willst du das wissen?“ “Kannst du bitte nachsehen, ob du ein Bild hast?“, fragt sie beharrlich weiter. Am liebsten würde ich ‘nein‘ sagen und sie fragen, was eigentlich mit ihr los ist, doch irgendwie interessiert es mich auch, wie sie reagieren wird, wenn ich ihr tatsächlich ein Bild zeige.
Also ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und suche in meinem Messengerdienst nach dem Bild, welches sein Profil ausschmückt. Glücklicherweise finde ich es relativ zügig und stelle zu meiner Freude fest, dass er tatsächlich ein Bild von sich selbst ausgewählt hat. Mit einem Finger vergrößere ich es und drehe das Display so, dass meine Familie das Bild gut betrachten kann.
Mein Vater zwar wieder seiner Zeitung zugewannt, da ‘Mädchengespräche‘ wirklich nicht seins sind, aber meine Schwester stützt sich auf die Platte des Tisches und klettert beinahe hinauf, um ihre Nase fast direkt vor dem Display zu positionieren. “Der ist ja süß“, kommentiert sie.
Mom sitzt ihrerseits aber einfach nur still da und starrt wie gebannt auf das Bild des Jungen. Ihre Augen huschen über den Bildschirm und versuchen jedes Detail einzufangen: “Wie war sein Nachname noch gleich?“ “Gellar!“, antworte ich verwirrt.
“Warum? Was ist los?“, frage ich verwundert und lege den Kopf ein wenig schief. “Ach nichts“, versucht sie zwar abzulenken, doch ich bemerke ganz klar, dass sie feste auf die Tischplatte starrt und mit den Kiefern mahlt.
Zwar glaube ich es ihr nicht, sondern misstraue ihr in diesem Moment eher, doch was soll ich schon machen. Meine Mutter scheint mir nicht sagen zu wollen, was los ist, also habe ich nur eine andere Möglichkeit.
Es wirkt nämlich so, als würde sie ihn kennen, doch wenn ich aus ihr nichts herausbekomme, muss ich mich wohl an Elijah wenden und ihn vorsichtig ausfragen. Das momentane Verhalten meiner Mutter ist nämlich echt nicht mehr normal.
Sorry, dass ich in letzter Zeit nicht so viel geschrieben habe. Deshalb gibt es jetzt dieses neue Kapitel und ich werde von jetzt an auch mehr schreiben. Ich bin sowieso momentan motivierter, weil bald (in Kapitel 24 oder 25) das erste große Geheimnis aufgedeckt wird.
Evie
Das laute Schnattern der Schwäne gepaart mit dem Rauschen der saftigen, grünen Blätter, wenn der Wind hindurchweht, hebt mich auf eine Ebene der Entspannung. Die kleinen, grauen Kiesel unter meinen Füßen, als ich neben Elijah über den Hauptweg im Park schlendere.
Schon vor einigen Tagen habe ich mich für heute unauffällig mit ihm verabredet. Ein Grund für dieses Treffen ist nämlich, dass ich ihm ein paar Informationen entlocken will. Schließlich kann es sein, dass er meine Mutter, genauso wie sie ihn, kennt. Andererseits wollte ich ihn aber nur einfach gerne wieder sehen. Irgendwie fühlt es sich so an, als könnte sich aus dieser Bekanntschaft sogar eine Freundschaft entwickeln, was mir in meiner momentanen Situation wirklich guttun würde.
Nach einigen Sekunden der friedlichen Stille hält er mir seine Hand hin. Verwirrt sehe ich ihn an. Sofort bemerkt er meinen Blick und erklärt seine Absicht: “Nimm meine Hand.“ “Warum?“, frage ich immer noch verwirrt. Er grinst und rollt leicht mit den Augen: “Weil ich mir vorgenommen habe heute mal ein Gentleman zu sein.“ Ich muss mich wirklich beherrschen, um nicht zu lachen. Bisher war er wirklich immer sehr nett zu mir, aber um als richtiger englischer Gentleman bezeichnet werden zu können, fehlt noch ein wenig. “Das freut mich“, lächelnd greife ich nach seine Hand und lasse mich von ihm zu seiner Bank geleiten.
Sie steht direkt am Ufer des Sees und erlaubt mir einen wunderschönen Blick über das, durch den seichten Wind, leichte Wellen zu schlagen beginnt. Von dem Ausblick betört, wende ich mich grinsend Elijah zu und versuche seinen Gesichtsausdruck zu lesen. “Warum wolltest du hierherkommen?“, frage ich interessiert. “Die Umgebung ist hier so wunderschön, dass ich am liebsten meine ganze Freizeit hier verbringen würde“, erklärt er und richtet seinen Blick auf die, sich nebeneinander windenden Bäume auf der anderen Seite des Gewässers. “Kommst du in deiner Freizeit denn oft her?“
Niedergeschlagen senkt er den Blick: “Nicht wirklich, obwohl ich es wirklich gerne tun würde, aber meine Familie lebt nicht direkt in London, weshalb ich nicht einfach aus der Tür gehen und zum Park schlendern kann. Meistens komme ich nur in die Stadt, wenn meine Eltern sowieso hierher fahren müssen oder wenn gerade ein Zug fährt.“ “Das wusste ich gar nicht. In welcher Stadt wohnst du denn?“, ich ziehe die dunklen Augenbrauen zusammen. “Es ist eine ganz kleine Stadt nur ein paar Kilometer entfernt. Sie ist so klein, dass dir der Name sowieso nichts sagen würde“, beendet er das Thema ein wenig überstürzt und fährt sich mit einer Hand durch das dunkle Haar.
Ich schlucke unsicher. Warum will er mir nicht sagen, in welcher Stadt er wohnt? Ist es ihm vielleicht peinlich? Ich wüsste aber nicht, warum es so sein sollte. Schließlich habe ich mir auch schon das ein oder andere Mal gewünscht in einer kleineren Stadt zu wohnen. Der Londoner Trubel kann einem manchmal echt auf die Nerven gehen.
“Aber ich dachte, dass du hier in der Stadt zur Schule gehst?“, frage ich verwirrt, weil er mir doch schon erzählt hat, dass er hier eine ganz normale Schule besucht. Kurz blinzelt er mehrmals:“Äh, … ja. Ich werde morgens von meinen Eltern mit Belle hierher gefahren und nach der Schule, wenn Mom freihat, holt sie uns wieder ab.“ “Das klingt ja total kompliziert“, mitleidig schaue ich ihn an. Mir würde es wirklich keinen Spaß machen, wenn ich, immer wenn ich meine Freunde sehen wollen würde, meine Eltern erst fragen müssen, ob sie mich fahren können. “Belle lebt doch auch bei dir, richtig?“, frage ich interessiert weiter. Sein Leben klingt einfach so viel interessanter als mein eigenes. “Richtig“, bestätigt er mir grinsend und die Berührung seiner Hand an meinem Rücken jagt mir einen Schauer über den Rücken, der meinen ganzen Körper zum Kribbeln bringt. “Ist das nicht ein wenig anstrengend?“, frage ich ehrlich.
“Mehr als nur das“, er prustet fast los: “Wir sehen uns zwar ähnlich, doch unser Charakter weist keinerlei Gemeinsamkeiten auf. Wir sind so verschieden wie … Salz und Zucker.“ Dieser Vergleich zaubert mir ein breites Grinsen auf die Lippen, welches ich nicht zu verbergen im Stand bin. “Das stimmt wohl“, stimme ich ihm zu: “Eure äußerliche Ähnlichkeit ist mir sofort aufgefallen, aber als ich dich besser kennengelernt habe, ist mir klar geworden, wie unterschiedlich ihr eigentlich seid.“
“In unserer Familie ist es eher umgekehrt. Meine Schwester und ich sehen uns kaum ähnlich. Sie hat rotes Haar, während ich fast Schwarzes habe und auch unsere Augenfarben sind nicht gleich. Trotzdem verstehen wir uns gut und sind gar nicht so unterschiedlich, wie man anhand unseres Aussehens eigentlich denken könnte“, erkläre ich langgezogen und kann es nicht vermeiden an meine Familie und ihre Reaktionen auf Elijahs Bild zu denken. Besonders der Blick meiner Mutter ist mir im Kopf geblieben und schleicht sich nun wieder vor mein Auge.
“Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber kennst du eine Scarlett Grey?“, frage ich unverblümt und starre ihn interessiert und mit festem Blick an.
Genau wie meine Mutter, schluckt Elijah und scheint sich augenblicklich zu verkrampfen. Die Tonlage verändert sich von Grund auf, als er zu sprechen beginnt, und scheint einige Oktaven höher geworden zu sein: “Grey? Nein, du bist die einzige Person mit dem Namen ‘Grey‘, die ich kenne. Warum?“ “Meine Familie wollte letztens ein Bild von dir sehen und Mom hat darauf total komisch reagiert. Deshalb habe ich mich gefragt, ob du vielleicht irgendwas wissen könntest“, erklärt ich nun völlig verwirrt. Wenn er meine Mutter nicht kennt, frage ich mich, warum sie so komisch reagiert hat. Entweder hat sie aus einem Grund, der über mein Vorstellungsvermögen hinaus geht, so reagiert oder mein Gegenüber hat mich gerade angelogen, was bei der unbewussten Reaktion, die er gezeigt hat, nicht unmöglich zu sein scheint. Sein ganzer Körper hat sich nämlich bei meiner Frage sofort verkrampft und auch der Fokus des Jungen hat sich von mir weg, auf den Boden, wo ein alter Kaugummi liegt, verschoben.
Langsam baut sich eine Mischung aus Wut und Verzweiflung in mir aus. Was wird mir hier verschwiegen und warum?
Evie
Die Stimmen der Menschen um mich herum, dringen an meine Ohren, doch die Informationen gelangen nicht zu meinem Gehirn. Viel zu sehr bin ich auf mein Ziel konzentriert. Der Wind zehrt an der Kapuze meines schwarzen Pullovers, die ich mir tief ins Gesicht gezogen habe, um unerkannt zu bleiben. Das Schlimmste, was mir gerade nämlich passieren könnte, wäre, dass ich auf eine Person treffe, die mich kennt und meine Mission unterbricht.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die Sonne bereits langsam hinter den hohen Dächern der Häuser versinkt. Bevor ich gehen konnte, musste ich meiner Mutter versprechen, dass ich wieder da sein werde, bevor es völlig dunkel geworden ist. Sonst verlangt sie das nie von mir, sondern lässt mich raus gehen, selbst wenn es dunkel ist. Deshalb war ich erst ziemlich irritiert, werde mich aber an unsere Abmachung halten. Ich erhöhe mein Tempo und renne fast über durch die Straßen der Stadt.
Bei meinem Ziel angekommen, bleibe ich stehen und starre auf das Gebäude vor mir. Es befindet sich nur wenige Meter von meinem Zuhause und ist ebenfalls mit einem Zeichen markiert. Es ist nicht das Erste, das ich gefunden habe, aber dafür das, was sich am nächsten an meinem Haus befindet. Genau deshalb werde ich genau dieses nutzen, um meine Experimente durchzuführen.
Schließlich stand in dem Buch etwas von irgendwelchen besonderen Kräften, die die Runen haben sollen und wie kann man diese besser erforschen als direkt am Zeichen selbst.
Mit den Händen in den Taschen sehe ich mich um und schaue, ob mich irgendwer beobachtet, bevor ich mich auf das Gebäude vor mir zu bewegen. Allerdings steige ich nicht die ganzen Treppenstufen hinauf, sondern bleibe etwa in der Mitte stehen und stelle fest, dass alle um mich herum glücklicherweise mit sich selbst beschäftigt sind. Ich lasse mich auf eine Stufe, die etwa in der Mitte liegt, fallen und ziehe mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, bevor ich meine rechte Hand gegen die steinerne Wand drücke, die die Treppe auf beiden Seiten umrahmt.
Es dauert einige Sekunden, bis das Licht unter meinen Fingern zu leuchten beginnt. Erst erscheint das blutrote Licht nur zögerlich, doch dann wird es immer heller und nach einer Zeit könnte man bald denken, dass das Licht hell genug wäre, um die Dienste einer Straßenlaterne zu übernehmen. Dass ich die Einzige bin, die es sehen kann, wundert mich mittlerweile jedoch nicht mehr. Stattdessen finde ich mich einfach damit ab und betrachte die schlangenähnliche Form.
Das war der leichte Part. Wie ich den Schweren lösen soll, ist für mich ein beinahe unlösbares Rätsel. Warum muss ausgerechnet ich die Einzige sein, die dieses Leuchten sieht? Es fühlt sich an, als hätte man mir einfach die Verantwortung dafür übertragen, herauszufinden, was es damit auf sich hat, obwohl ich keine Ahnung davon habe was zu tun ist.
Probeweise lege ich auch meine andere Hand auf den Stein und hoffe darauf, dass etwas passiert, doch scheinbar hält das Schicksal das mal wieder für viel zu leicht, und nichts geschieht.
Gedankenverloren fahre ich mit einer Hand das Muster nach, welches sich unter meiner Haut erstreckt und zucke plötzlich erschrocken zusammen. Ein leises Zischen ertönt plötzlich und wird zu einem Flüstern. Es dauert wenige Sekunden, bis ich verstehe, dass ich erneut die Einzige bin, die dafür empfänglich ist und es fühlt sich fast so an, als würden diese Töne vom Symbol selbst ausgehen.
Das Flüstern wird lauter und verwandelt sich bald in klare Wörter, die allerdings nicht Englisch sind. Stattdessen scheinen sie in derselben Sprach wie die meisten Zaubersprüche zu sein.
Es dauert einige Sekunden, da macht es in meinem Kopf klick. Es muss tatsächlich ein Zauberspruch sein, der immer wieder wiederholt wird. Wie aus einem tiefen Instinkt heraus, beginne ich die Worte kaum hörbar mitzusprechen. Mit der Zeit wird meine Stimme immer lauter und hat bald die gleiche Tonlage, wie die der Rune. Immer wieder rattere ich die Wörter wie ein Gebet hinunter und halte meine Augen geschlossen. Meine Knochen fühlen sich wie vereist an und als ich bemerke, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, spüre ich, wie ich leicht panisch werde. Unerwartet beginnen sich meine Finger zusammen zu krampfen und Angst macht sich in mir bemerkbar, denn es fühlt sich so an, als wäre es nicht mein Körper der sich da bewegt, sondern eine fremde Kraft, die mich wie eine Puppe nach ihrem Willen lenkt. Immer wieder fahren meine Finger wie automatisch die Form des Zeichens nach, während ich immer weiter spreche.
Auf einmal scheint es so, als würde alles um mich herum verschwinden und ich versuche meine Augen zu öffnen, doch es fühlt sich so an, als hätte man meine Lider zu geschweißt. Ein starkes Schwindelgefühl macht sich in mir breit und die Treppe unter meinem Gesäß scheint plötzlich verschwunden zu sein. Das Einzige, was ich noch spüren kann, sind die Wand und die Hitze, die auf einmal vom Zeichen ausgeht. Wie durch einen Sog werde ich aus der Realität hinausgerissen.
Unter all diese Empfindungen mischt sich allerdings noch etwas anderes und vor meinem inneren Auge erscheint ein Wort in derselben Farbe wie das Zeichen selbst. Mehrmals zucken meine Augen unter den Lidern hin und her, bis ich es schaffe mich zu konzentrieren und das Wort ‘Herrschaft‘ zu entziffern. Es brennt sich in meinen Kopf ein, bevor alles vor mir wieder schwarz wird. Dieses Mal verschwinden auch die Wand und das Zeichen unter meine Hand. Sobald alles, was mich noch gehalten hat, verschwunden ist, versinke ich in der Ohnmacht.
Plötzlich nehme ich wahr wie jemand meinen Arm berührt und mit mir, wie aus weiter Ferne, spricht. Während ich langsam aus meiner Ohnmacht erwache, wird die Stimme immer lauter und das Gefühl in meinen Gelenken kehrt zurück. Ich nehme einen stechenden Schmerz in meiner linken Schulter wahr, das immer fester wird. Vorsichtig öffne ich meine Augen und starre auf den, bereits verdunkelten, Himmel über mir. Total verwirrt fasse ich mir an den Kopf, der rhythmisch pocht. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Treppe, auf der ich doch eigentlich sitzen sollte, und registriere, dass ich auf dem Boden am Fuße der Treppe liege.
“Geht es dir gut?“, das Gesicht eines blonden Mädchens schiebt sich in mein Blickfeld. “Ich glaube schon“, erwidere ich und versuche mich auf meine Ellenbogen zu stützen. Mit einem freundlichen Lächeln streckt sie mir ihre Hand hin und hilft mir so auf die Füße. Ich klopfe den Dreck von meiner Kleidung und brachte das Mädchen.
Ihr hellblondes Haar reicht ihr bis zu den Schulterblättern und bringt ihre smaragdgrünen Augen zum Leuchten. Sie ist etwas größer als ich und möglicherweise ein Jahr älter. “Was ist passiert?“, frage ich verwundert und starre zwischen der Treppe und der Stelle, an der ich gelegen habe, hin und her.
“Du saßt dort mit geschlossenen Augen“, sie deutet auf die Stelle, an der ich mich befunden haben muss, bevor ich ohnmächtig geworden bin: “Dann bist du plötzlich einfach die Treppe heruntergefallen und ohnmächtig hier unten liegen geblieben. Ich hab es gesehen und versucht dich wieder wach zu bekommen, um zu schauen, ob es dir gut geht. Schließlich bist du einfach ungebremst gefallen.“ Ich schlucke schwer und versuche zu realisieren, was mir da gerade berichtet wurde: “Danke, für deine Hilfe.“ “Man hilft doch gerne“, lächelt sie und lässt ihre Hände in den Taschen ihrer schwarzen Lederjacke verschwinden.
Auch ich kann mich zu einem Lächeln durchringen, obwohl mir dazu gerade gar nicht zumute ist. Dann wandert mein Blick auf den Himmel, der sich noch weiter verdunkelt hat. “Ich muss jetzt auch los“, ich sehe sie entschuldigend an: “Tut mir wirklich leid.“ “Schon gut“, gibt sie zurück.
Ich bedanke mich ein letztes Mal, drehe mich dann um und mache mich, schnellen Schrittes, auf den Weg zurück nach Hause. In meinem Kopf tummeln sich die Fragen. Wie konnte ich einfach so die Treppe hinunterfallen, ohne es zu merken? Und was hat es mit diesem ominösen Wort auf sich?
Evie
Gerade will ich mir einen weiteren Löffel voller Kartoffelpüree in den Mund schieben, da läutet es an der Tür. Verwundert hebe ich den Kopf und bewege mich so auf meinem Stuhl hin und her, dass ich die Tür perfekt beobachten kann. Wer kann das um diese Zeit noch sein? Schließlich essen die meisten Familien um diese Zeit ebenfalls zu Abend. "Wer kann das nur sein?", spricht mein Vater nun das aus, was ich denke. "Ich geh eben nachschauen", meine Mutter ist bereits dabei ihren Stuhl nach hinten zu schieben, da steht mein Vater selbst auf. "Schon gut, Schatz", er schenkt ihr ein warmherziges Lächeln und gibt ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn: "Bleib sitzen und iss einfach mit den Kindern weiter. Dauert sicher nicht lange."
Auch meine Mutter lächelt, doch die Freude, die sich auf ihren Lippen zeigt, ist nicht, wie sonst immer, in ihren Augen zu sehen: "Ach, Schatz. Das kann ich doch auch machen." "Nein, keine Widerrede", widerspricht mein Vater und schlendert zur Tür herüber.
Die plötzliche Versteifung meiner Mutter scheine allerdings nur ich zu bemerken. Meine Schwester schaufelt stattdessen einfach weiter Püree in sich hinein. Auch ich versuche weiter zu essen und mir nichts anmerken zu lassen. Trotzdem folge ich meinem Vater mit meinen Blicken interessiert.
Das Klicken des Schlosses dringt an meine Ohren, als Dad die Tür öffnet. "Äh ... guten Tag?", erst klingt er unsicher, doch dann wird seine Stimme fester: "Ach du bist es." Zu meinem Leidwesen kann ich keinen Blick auf die Unbekannte erhaschen, sondern nur ihre weiche, weibliche Stimme vernehmen. Aus seiner letzten Äußerung schließe ich, dass mein Vater die Besucherin zu kennen scheinen.
"Ist Scarlett da?", fragt die Frau in einem interessierten und durchaus freundlichen Ton weiter. Bei der Erwähnung ihres Namens, hebt meine Mutter den Kopf. Innerhalb weniger Sekunden hat sich ihr Gesichtsausdruck von angespannt zu freudig verändert. Zu meiner Verwunderung verlässt nun auch sie den Tisch und läuft durch den Flur zur Tür. "Ja, ich bin da", den Blick meiner Mutter kann ich nicht sehen, aber an der Umarmung, die die beiden Frauen austauschen, erkenne ich, dass sie wohl engere Vertraute zu sein scheinen.
"Annabelle?", flüstere ich ihr zu: "Ich geh mal schauen werde da ist, okay?" Die Angesprochene zuckt nur mit den Schultern und ist weiter. Zwar hätte ich gerne eine Antwort bekommen, aber eine nonverbale Reaktion ist immer noch besser als eine Diskussion mit ihr.
Ich schiebe meinen Stuhl knarrend zurück und mache mich auf den Weg zum Rest der Familie. Je näher ich komme, desto besser wird mein Blick auf die Frau, die just in diesem Moment mit meinen Eltern plaudert.
Das dunkelbraune Haar, das dieselbe Farbe wie ihre freundlichen Augen hat, fällt ihr in seichten Locken lang über die Schultern. Ihr Alter kann ich zwar nur schwer einschätzen, aber sie dürfte etwa so alt wie meine Mutter sein. Die Brünette ist dunkle Sachen gekleidet, macht allerdings keinen zwielichtigen Eindruck. Stattdessen wirkt sie sympathisch und auch mysteriös zugleich.
Anas roter Haarschopf schiebt sich in mein Sichtfeld. War ja klar, dass sie nicht alleine am Esstisch sitzen bleibt! Schließlich hätte ich das an ihrer Stelle auch nicht gemacht.
"Mom? Dad?", frage ich und sehe zwischen den beiden hin und her, die sich nun wieder ihren Kindern zu wenden: "Warum flüstert ihr?" Der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter vor wenigen Sekunden, hat es so wirken lassen, als hätte sie den Besuch bereits erwartet. "Tun wir doch gar nicht", gibt mein Vater zurück und wendet sich nun uns beiden wieder zu, während meine Mutter weiter mit der Fremden redet. "Doch tut ihr", widerspreche ich und verschränke die Arme vor der Brust.
"Evie", nun dreht meine Mutter sich wieder zu mir und lächelt mich freudig an: "Das ist eine alte Freundin der Familie." "Eine alte Freundin? Warum habe ich denn noch nie etwas von ihr gehört?", prüfe ich nach. Anstatt meine Frage zu beantworten, blickt mich die Frau nur an. Fast wirkt es so, als würde sie mich durchleuchten und gleichzeitig sich versuchen jeden Millimeter meines Körpers einzuprägen.
"Du bist also Evie", ein liebevolles, fast familiäres Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen, während ihr Gesicht weiche Züge annimmt: "Wie groß du geworden bist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben." Ich will fragen, was sie meint und woher sie mich kennt, doch Mom sieht die Frau, die mir nun gegenüber steht, entschuldigend an: "Es tut mir leid, dass ihr euch noch nicht eher begegnet seid." "Schon gut", die Unbekannte nimmt Moms Hände in ihre Eigenen: "Ich kann deine Gründe doch verstehen. Schließlich gab es keinen anderen Weg und das hier war doch sowieso meine Idee."
"Mom, wer ist das?", frage ich dieses Mal mit Nachdruck und sehe die Erwachsenen mit festem Blick an. "Stimmt", sie lacht leicht: "Ich habe mich ja noch gar nicht vorstellt. Tut mir leid." Erwartungsvoll blicke ich sie an. "Ich bin Molly Gilbert und war schon vor deiner Geburt mit Scarlett befreundet", erklärt sie mir: "Seitdem hat sich viel geändert."
Evie
“Mom, wovon redet sie?“, Ana sieht meine Mutter fragend an und spricht genau das aus, was ich denke. “Das würde mich auch mal interessieren“, sanft lege ich meiner Schwester die Hände auf die Schultern und versuche ihr somit ein wenig Schutz und Stabilität zu geben.
Schließlich bin ich selbst gerade mehr als verwirrt und für Annabelle muss das wohl viel noch schlimmer sein. Meine Mutter sieht mich bittend an und kniet sich vor meine kleine Schwester, um sich auf ihre Augenhöhe zu begeben: “Ich verspreche, dass ich es euch erklären werde, aber jetzt bitte ich euch einfach das zu tun, was wir euch, als eure Eltern, sagen.“ “Aber ... “, versuche ich zu protestieren und drückt Ana sanft an mich, um ihr zu zeigen, dass ich bei ihr bin. “Nein, kein aber“, widerspricht mir meine Mutter: “Sei jetzt bitte mein großes Mädchen und unterstützt mich ein bisschen, Evie.“ “Dann sag mir doch erst mal wobei du überhaupt meine Unterstützung brauchst“, bitte ich mit Nachdruck.
Während unserer Diskussion steht mein Vater nur daneben und sieht uns zu, was mich fast verrückt macht. Wieso interessiert es ihn nicht, was meine Mutter vorhat? Weiß er es etwa?
“Ich verspreche, dass ich euch später all eure Fragen beantworten werde, aber jetzt ist es ganz wichtig, dass ihr beide nach oben geht und eure wichtigsten Sachen einpackt“, erläutert mir meine Mutter. Der Schock fährt mir tief in die Knochen, als sie vom Sachen packen zu sprechen beginnt. Wir verreisen doch nicht einfach. Was hat meine Mutter, also vor?
“Na gut“, ich muss mehrmals schlucken, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden: “Aber eine Frage will ich jetzt sofort beantwortet haben.“ Meine Mutter seufzt angespannt, stimmt meiner Bedingung dann aber zu: “Okay, was willst du wissen?“
“Wo fahren wir hin?“, meine Stimme ist rau und knickt am Ende des Satzes fast völlig ein. Diese ganze Situation sorgt dafür, dass ich mich vollkommen unwohl zu fühlen beginne. Alles wirkt so surreal und erzeugt in meinem Kopf unzählige Rätsel. Ich kann nicht aufhören mir selbst sämtliche Fragen zu stellen ohne die Antwort zu kennen.
Ein unangenehmes Prickeln scheint sich im ganzen Raum ausgebreitet zu haben. Nach einiger Zeit zerreißt die Stimme meiner Mutter die unangenehme Stille: “Wir verlassen London.“
Dieses Mal trifft mich diese Information wie fester Schlag ins Gesicht: “Was? Wir können London doch nicht verlassen.“ “Technisch gesehen tut ihr das ja auch nicht“, schaltet sich mein Vater nun auch ein:“Es soll für die Außenwelt nur so scheinen, als wären wir gegangen. Insgeheim bleibt ihr natürlich hier, dürft das aber keinem sagen.“
Ein Versteckspiel also! Aber warum das Ganze? Und vor wem verstecken wir uns überhaupt? Ich versuche mich allerdings zu beherrschen und mir diese Fragen weiter aufzusparen. Schließlich habe ich mit meiner Mutter nur eine Information aushandeln können, also werde ich mich jetzt wohl daran halten müssen.
Kurz schließe ich die Augen und atme mehrmals tief durch, um meine Fassung wieder zu bekommen und mich davon abzulenken, was meine Eltern mir gerade erzählt haben. Mom hat recht. Genau jetzt muss ich ihre große Tochter sein und meine Eltern unterstützen.
“Hey, Ana“, ich drehe sich vorsichtig zu mir herum: “Wollen wir vielleicht zusammen nach oben gehen und schauen, ob dein Lieblings T-Shirt schon sauber und gebügelt ist? Dann können wir das schonmal einpacken und überlegen, was du noch mitnehmen willst.“ “Aber ich will nicht gehen“, sie sieht mich niedergeschlagen an. “Du bist eines der klügsten und reifsten Mädchen, das ich kenne, weshalb du mich jetzt unterstützen musst“, sanft streiche ich ihr über das rote Haar und nehme ihre Hand in meine freie: “Ich finde das hier auch nicht schön und verstehe es noch nicht einmal richtig, aber Mom und Dad würden doch nie etwas tun, was nicht gut für uns wäre, oder? Sie haben uns lieb und wollen uns nur beschützen.“
Ihr Blick wandert zu Boden, bevor sie mir vorsichtig in die Augen sieht: “Ja, sie haben uns lieb.“ “Und ich hab dich auch lieb“, ich muss mich beherrschen, um sie nicht fest zu umarmen: “Deshalb gehen wir jetzt auch zusammen hoch und packen ein paar Sachen zusammen, okay?“ “In Ordnung“, auf ihre Lippen schleicht sich ein schüchternes Lächeln. “Danke“, erwidere ich, schaue dabei aber, über ihren Kopf hinweg, zu meiner Mutter hinüber, deren Blick völlig undurchsichtig für mich ist.
Evie
“Evie“, die Stimme meiner Mutter dringt an meine Ohren: “Hey, Evie. Wach auf!“ Angestrengt versuche ich ihre Stimme zu ignorieren und einfach weiter zu schlafen, doch nach wenigen Sekunden akzeptiere ich, dass ich es wohl kaum wieder schaffen werde in die Welt der Träume zurückzugelangen. Also öffne ich die Augen und reibe mir die Augen.
Meine Mutter hat sich bereits vollkommen angezogen und sieht mich nun erwartungsvoll an: “Mach dich schnell fertig. Wir wollen möglichst schnell los.“
Ich fasse mir an den, leicht brummenden Kopf, und sehe sie fragend an. Für diese Nacht hatte meine Mutter uns noch hier bleiben lassen, aber trotzdem darauf bestanden, dass wir am nächsten Morgen sofort losfahren. Dass sie allerdings um fast fünf Uhr morgens loswill, hat sie keinem von uns mitgeteilt.
“Ja, ich beeil mich doch“, immer noch völlig müde, kuschele ich mich noch ein letztes Mal für einige Sekunden in meine warme Decke, klettere dann aber aus dem Bett, um mich fertig zu machen. Sofort beginne ich wieder zu frieren und verfluche meine Mutter innerlich dafür, dass sie mich um diese Zeit weckt. Vielleicht könnte ich sie besser verstehen, wenn sie mir endlich sagen würde, was genau los ist, aber so habe ich wenig Verständnis für sie.
Erst taucht hier diese Molly, eine alte Freundin meiner Mutter, auf und dann verkündet meine Mutter, dass wir unsere Sachen packen sollen, um zu verschwinden, ohne uns mitzuteilen warum. Auch wohin wir gehen hat sie nicht verraten.
“Zieh das hier über deine Kleidung“, sie wirft mir eine schwarze Kapuzenjacke entgegen. Ungeschickt fange ich sie auf und werfe einen Blick auf das dunkle Kleidungsstück: “Rauben wir eine Bank aus?“
Sofort sieht mich Mom vorwurfsvollen und gleichzeitig analysierend an: “Nein, natürlich nicht. Bleib bitte ernst. Die Situation ist nämlich echt nicht lustig. “Jaja“, ich bin immer noch viel zu müde, um Informationen aus ihr heraus zu kitzeln. “Gut, dann zieh dich jetzt an und komm dann mit deinem Koffer nach unten“, bittet sie mich und verlässt mein Zimmer daraufhin. Dabei entgeht mir nicht, dass sie wieder so angespannt wirkt gestern. So als würde sie sich beobachtet fühlen.
Als ich mich, wenige Minuten später, angezogen habe und samt Rucksack und Koffer im Flur steht, um die Treppe hinunterzusteigen, habe ich plötzlich das Gefühl etwas vergessen zu haben. Mit einem komischen Ziehen im Magen klopfe ich meine Tasche ab, um zu sehen, ob ich alles habe.
Es dauert nicht lange, da weiß ich plötzlich, was mir fehlt. Schnell husche ich in mein Zimmer zurück und lasse meinen Blick umherwandern. Wo habe ich ihn nur hinverfrachtet?
Meine Suche endet am Schreibtisch, der direkt vor meinem Fenster positioniert ist. Flink, aber trotzdem vorsichtig, greife ich nach dem kleinen Gegenstand und stoße ihn in die rechte Tasche der dünnen Jacke, die mir meine Mutter hat zukommen lassen. Dann eile ich zu meinem Koffer zurück, um die Rufe meiner Eltern zu stoppen, die nun an meine Ohren dringen. Warum drängeln beide so? Eigentlich ist Dad doch immer die Ruhe in Person.
Im Hausflur, wo sich bereits alle anderen Familienmitglieder und die Freundin meiner Mutter eingefunden haben, angekommen, stelle ich den Koffer auf dem Boden ab. Langsam wird er, dank der Sachen, die ich eingepackt habe, nämlich echt schwer.
Sofort fängt Annabelle meine Aufmerksamkeit ein. Sie trägt eine ähnliche Jacke wie ich, die ihr aber einige Nummern zu groß sein muss und wirkt, ebenfalls noch völlig verschlafen.
“Sagt ihr uns jetzt endlich wo wir hinfahren?“, frage ich erneut. Der Ton in meiner Stimme wird jedes Mal, wenn ich diese Frage stelle und keine Antwort bekomme, nur noch beharrlicher und ungeduldiger. “Das werdet ihr sehen, wenn wir da sind. Jetzt müssen wir uns erst mal beeilen“, werde ich erneut von meiner Mutter vertröstet, während mein Vater mich nur entschuldigend ansieht.
Seine Körperhaltung verrät mir deutlich, dass er mir nur zu gerne alles erklären würde. Doch er scheint sich, seiner Ehefrau zuliebe, zurückzuhalten und darauf zu vertrauen, dass sie weiß, was sie tut.
“Gebt mir doch schon mal eure Koffer, Mädchen“, sagt er schnell, um eine Diskussion zwischen den Mitgliedern seiner Familie zu verhindern, und streckt uns seine Hände entgegen. Wir Kinder reichen ihm unsere Koffer und sehen zu, wie er die Haustür geschickt öffnet und nach draußen tritt. Molly, Ana und meine Mom folgen ihm, sodass ich alleine zurückbleibe.
Der kalte Wind gelangt zu uns in den, sonst so warmen, Flur und lässt mich frösteln. “Kommst du, Evie?“, fragt mich Ana, doch ich sehe sie gar nicht richtig an und murmele nur: “Gib mir noch eine Sekunde.“
Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick durch das, mir nur allzu bekannte, untere Stockwerk des Hauses wandern. Hier liegen so viele Erinnerungen verborgen, die nur ich kenne und sonst kein anderer. Deshalb fühlt es sich auch fast so an, als würde ich einem Teil von mir entsagen, wenn ich dieses Haus, dieses Zuhause, nun verlasse.
Wie durch eine unsichtbare Kraft geleitet, wandert meine Hand in die Tasche meiner Jacke und berührt den Gegenstand darin sanft. Auch dieser ruft in meinem Inneren das Gefühl eines weiteren Endes hervor. Das Ende von etwas anderem, was mir wichtig war und immer noch ist. Doch nun muss ich es loslassen, obwohl ich dazu noch gar nicht bereit bin. So viele Sachen werden ungeklärt und unerklärt zurückbleiben.
Reese
Gerade will ich die Tür öffnen, da drehe ich mich noch ein letztes Mal im Flur herum und schaue, ob ich wirklich alles habe, da ich in letzter Zeit immer denke, dass ich etwas vergessen habe. Mein Blick wandert durch den kargen Flur des blechernen Wohnwagens. Allerdings erblicke ich nichts, was mir fehlen könnte.
Trotzdem bleibt dieses Gefühl auch, als ich noch einmal in meine Taschen greife und nachprüfe, ob ich auch meinen Schlüssel dort verstaut habe. Schon seit einigen Tagen ist es so. “Ich bin dann weg“, rufe ich meinem Vater zu, bevor ich die Tür schwungvoll aufreiße.
Auf eine Antwort warte ich gar nicht erst, weil ich weiß, dass sowieso keine kommen wird. Wahrscheinlich liegt er sowieso noch im Bett, obwohl ich ihn schon vor einer halben Stunde zu wecken versucht habe. Selbst die Jalousien habe ich geöffnet, sodass ihn das Licht vielleicht wach macht, aber an den Tagen vorher hat das auch nicht funktioniert.
Schnell trete ich aus der Tür und springe augenblicklich in den braunen Matsch, der sich vor dem Eingang unserer alten Bruchbude angesammelt hat. Bevor ich mich allerdings schnell auf den Weg zur Schule machen kann, gehe ich meiner morgendlichen Routine nach und öffne unseren zerknautschten Postkasten. Da ich aus eigener Erfahrung weiß, dass im Schloss sowieso noch der Rest des abgebrochenen Schlüssels steckt, versuche ich erst gar nicht dieses zu betätigen. Stattdessen nutze ich meine Hände und die Kraft, die in mir steckt, um den kleinen Kasten geschickt aufzubrechen. Allerdings zerstöre ich ihn nicht völlig, sondern hebele nur eine Seite heraus, stopfe die Post in meine Schultasche und befestige das herausgenommene Teil wieder am Rest des Gebildes.
Als ich die Tortur endlich beendet habe, werfe ich einen Blick auf meine Uhr. Schon fünf vor acht. Das Zuspätkommen muss mir irgendwie in den Genen liegen.
Nun ziemlich gehetzt, mache ich mich auf den Weg zur Schule. Die Post in meinem Rucksack erleichtert mir den Weg jedoch nicht wirklich. Eins wundert mich aber! Dieses Mal war es viel mehr als das. Normalerweise sind es nur Rechnungen und einige Zeitschriften, doch heute scheint es etwas mehr zu sein. Ich meine sogar meinen Namen auf dem der Umschläge gelesen zu haben.
Etwa auf der Hälfte des Schulwegs siegt meine Neugierde und die Schule gerät in den Hintergrund. Zu spät bin ich ja sowieso schon. Also stelle ich meine Tasche einfach kurz auf einer niedrigen Mauer ab und krame mich durch die Papiere im Inneren. Als ich gerade zu denken anfange, dass ich mich doch getäuscht habe, finde ich den Umschlag, nachdem ich gesucht habe.
Tatsächlich steht mein Name darauf. Normalerweise bekomme ich doch nie Post. Mehrmals drehe ich das Kuvert herum, um nach einem Absender zu suchen, doch zu meiner Verwunderung ist keiner zu finden. Ein wenig verwirrt reiße ich den Brief schnell auf und ziehe das darin verstaute Papier heraus. Wer sollte mir etwas schicken und warum?
Um es nicht kaputt zu machen, falte ich das Papier vorsichtig auseinander und starre auf die blaue Tinte, mit der das ganze Blatt geziert ist.
Ohne mich lange aufzuhalten, lasse ich mich konzentriert neben meinem Rucksack auf die kniehohe Mauer fallen und beginne zu lesen.
Liebe Reese,
ich muss London verlassen. Dafür gibt es viele Gründe, die ich dir allerdings hier leider nicht mitteilen kann, da sie mir selbst noch zum Teil im Verborgenen liegen. Etwas ist geschehen und ich konnte unmöglich bleiben. Wenn alles vorbei ist, werde wieder kommen, aber im Moment ist es besser für uns beide uns voneinander fernzuhalten.
Hoffentlich wartest du auf mich, doch wenn du es nicht tun solltest, werde ich deine Entscheidung akzeptieren und aufhören dich zu belästigen, wenn du das willst. Trotzdem komme ich jedoch nicht darum herum dir zu sagen, dass deine Freundschaft das Beste war, was mir im Leben jemals passieren konnte und es tut mir leid, dass es so viele Dinge gibt, die ich dir verschweigen musste und es wohl immer noch tun muss.
Wenn ich aber zurückkehre, werde ich dir alles erklären. Das verspreche ich hoch und heilig! Dich zu verlassen ist die härteste Entscheidung, die ich jemals treffen musste, aber wenn ich es nicht getan hätte, würde es meine Familie und mich in Gefahr bringen.
Wenn das das Ende unserer Freundschaft sein sollte, will ich noch sagen, dass ich hoffe, dass du eines Tages einen Partner findet, der dir die Liebe gibt, die du verdienst, und einen Freund, der so für dich da ist, wie du es für mich warst.
Ich liebe dich und du wirst für den Rest meines Lebens einen Platz in meinem Herzen haben,
Evie
Am unteren Ende des Blattes sind mehrere runde, nasse Stellen zu erkennen. Diese Erkenntnis treibt mir, ebenso wie Evie als sie den Brief geschrieben hat, die Tränen in die Augen, doch ich versuche mich zu beherrschen, um in der Öffentlichkeit nicht plötzlich zu weinen anzufangen. Evie ist weg! Aber warum nur? Weil ich sie ignoriert habe? Das würde sie doch niemals tun. So ist sie nicht. Noch ein weiteres Mal überfliege ich die Zeilen.
Sie schreibt etwas davon, dass sie und ihre Familie in Gefahr sind und dass dort etwas ist, was sie mir verschwiegen hat. Also hatte ich immer recht! Da ist etwas, was sie mir verschwiegen hat. Doch warum? Ihr Geheimnis kann doch niemals so schlimm sein, dass ich mich von ihr abwenden würde. Schließlich war sie meine beste Freundin. Oder eher ist. Für mich hat unsere Freundschaft nie aufgehört. Zwar habe ich sie in den letzten Tagen absichtlich abblitzen lassen, aber trotzdem hatte ich immer vor mich mit ihr wieder zu vertragen und wieder mit ihr befreundet zu sein. Ich habe doch niemals vorgehabt sie zu verlieren, egal ob sie mir alles aus ihrem Leben erzählt oder nicht.
Als ich die letzten Zeilen erneut lese, treten mir erneut Tränen in die Augen und dieses Mal halte ich sie nicht zurück. Ich lasse die salzige Flüssigkeit einfach meine Wangen hinunterlaufen, während der Schmerz in meinem Herz immer stärker wird. Sie hat mich wirklich verlassen!
Evie
Der Motor unseres Autos gerät ins Stottern und stirbt dann ab, als mein Vater das Gefährt anhält. Verwundert sehe ich ihn an: “Warum fahren wir nicht weiter?“ Dad dreht sich zu mir herum: “Wir sind schon da.“
Skeptisch werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Das Einzige, was ich dort draußen erblicken kann, ist ein riesiges Haus. Ein hoher, schwarzer Zaun umrahmt das Gebäude, welches man bald schon als Villa bezeichnen könnte. Etwas Dunkles und Bedrohliches umgibt diesen Ort: “Wem gehört dieses Haus?“
Ich bekomme keine Antwort. Aber was habe ich auch erwartet? Schließlich erklären mir meine Eltern mir ja in letzter Zeit gar nichts mehr. “Setzt bitte eure Kapuze auf, Kinder“, bittet mich meine Mutter stattdessen und setzt sich, genauso wie Molly, ihre eigene Kapuze auf. Erst überlege ich das nicht zu tun, bis ich eine Antwort bekommen habe, doch dann denke ich daran, wie verkrampft meine Mutter in den letzten Tagen war. Wenn ich ihren Bitten jetzt nachgehe, wird sie sich mit Sicherheit entspannen und mir meine Fragen auch beantworten. Also mache ich, was sie sagt und setze auch meiner kleinen Schwester die schwarze Mütze auf.
Ohne ein weiteres Wort öffnen Molly und Scarlett die Türen, um aus dem Auto auszusteigen. Wir folgen ihnen zögerlich. Irgendwie habe ich gar kein gutes Gefühl dabei. Instinktiv greife ich nach der Hand meiner kleinen Schwester. Allerdings nicht, um sie zu leiten oder um ihr Schutz zu bieten. Eher versuche ich mir selbst etwas Halt zu geben, während die Frauen unser Gepäck aus dem Kofferraum holen. “Kommt“, flüstert meine Mutter uns zu und legt ihre Hand auf meinen Rücken, um mich zum Laufen zu bewegen.
Verwundert davon, dass Dad nicht hinter uns ist, drehe ich mich um und kann gerade noch sehen, wie er den Motor wieder startet und weiter fährt. Warum fährt Dad denn weiter und steigt nicht mit uns aus? “Mom? Wohin fährt Dad?“, frage ich mit leicht zitternder Stimme. “Das ist jetzt nicht so wichtig, Schatz. Geh bitte einfach weiter“, sie klingt harsch. Dass sie mir schon wieder nicht antwortet, tut mir weh. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich würde mittlerweile verstehen, was los ist, wenn sie es mir endlich sagen würde, aber das tut sie ja nicht. Stattdessen verheimlicht sie mir was. Zwar versuche ich für sie ihren Bitten nachzugehen, um später antworten zu erhalten, doch sie beantwortet mir ja gar keine Fragen. Nicht mal die, die vielleicht nichts mit unserem plötzlichen Aufbruch zu tun haben. Mit Sicherheit würde sie mir nicht mal sagen, was wir heute zu Abend essen, wenn ich sie danach fragen würde.
“Kannst du dich ein wenig beeilen, Molly“, bittet meine Mutter ihre alte Freundin. Fast wirkt sie wie ein gehetztes Tier, dass vor dem Tod zu fliehen versucht. “Das geht nicht“, Molly unterbricht ihre momentane Aktion: “Und das müsstest du eigentlich auch wissen. Schließlich hattest du damit früher genau die gleichen Probleme wie ich.“ Meine Mutter seufzt und schaut der Brünetten weiter zu, wie sie mit den Fingern über die Zaunpfeiler streicht.
Nach wenigen Sekunden lässt sei ihre rechte Hand auf einem der Zaunpfeiler ruhen und ihre Linke auf einem anderen. Dann drückt sie beide hinunter und das Tor, welches den einzigen Durchgang durch den hohen Zaun bietet, öffnet sich wie von Zauberhand. Aus diesem Ritual schließe ich, dass nur die Leute, die diesen Code kennen, passieren können.
Staunend sehe ich zu wie das Tor sich immer weiter bewegt, bis es bald völlig offen ist. Ohne weiter geführt zu werden, passiere ich von selbst die Lücke und husche über den Pfad, der durch den Vorgarten zum Eingang des Hauses führt.
An der großen Eingangstür angekommen, zieht Molly einen kleinen, gebogenen Gegenstand aus ihrer Manteltasche. Es dauert einige Augenblicke, bis ich erkennen kann, dass es ein Schlüssel ist. Die Frau steckt den Schlüssel in das Türschloss und dreht ihn herum. Dann stößt sie das massive Holzstück auf und lässt uns eintreten.
Im Inneren angekommen, stellen beide Frauen die Koffer auf dem schwarzen Boden mit dem langen, roten Teppich ab. Sobald sich die Haustür hinter Annabelle geschlossen hat, atmet meine Mutter entspannt durch und lässt sich lehnt sich gegen die dunkel gestrichene Wand.
“Ich will wirklich nicht unhöflich sein, Mom, aber bitte antworte mir jetzt endlich mal auf meine Fragen“, bestehe ich nun beharrlich darauf endlich Antworten zu bekommen: “Und entweder du sagst mir jetzt endlich mal, was los ist oder ich gehe.“ Meine Worte scheinen sie zu verletzten: “Na gut, was möchtest du wissen?“ “Ich möchte erst mal wissen, wessen Haus, das hier ist“, beharrlich verschränke ich die Arme vor der Brust. Kurz werfen meine Mutter und Molly sich einen Blick zu, bevor meine Mutter sich auf meine Höhe begibt und ihre Hände auf meine Schultern legt: “Willkommen im Haus der Blakemores, Evie!“
Evie
“Nein, das glaube ich dir nicht“, wie wild schüttele ich den Kopf: “Warum sollten wir ausgerechnet zu den Blakemores gehen, wenn wir, wie du sagst, in Gefahr sind?“ Meine Stimme zittert unsicher, obwohl ich versuche, möglichst sicher und stark zu wirken. Immer noch halte ich Annabelles Hand und bin nicht bereit dazu sie zu loszulassen. In diesem Moment ist sie meine Sicherheit, meine Stütze, die was mich erdet und davor schützt nicht durchzudrehen. In meinem Kopf haben sich unzählige Fragezeichen gebildet, die mich fast zerreißen. Ich brauche so dringend Antworten!
“Sag mir, dass das nur ein Scherz ist, Mom“, in der Mitte des Satzes bricht meine Stimme kurz, wird dann aber glücklicherweise wieder stärker. Ich verstehe nicht, was hier los ist.
Erst taucht da diese neue Schülerin auf, die mir schon von Anfang an komisch vorkommt, dann reagiert meine Mutter völlig komisch, nachdem ich ihr ein Foto des Cousins besagter Schülerin zeige und dann taucht auch noch eine alte Freundin meiner Mutter auf. Diese Freundin scheint die letzte Komponente zu sein scheinen, die meinen Eltern gefehlt hat, um mich uns das Haus zu verlassen. Und nun stehen wir scheinbar im Haus der Regenten des Hexenzirkels, zu dem wir gehören. Das kann doch nur ein böser Traum sein!
“Nein, Schatz“, vorsichtig begibt sich meine Mutter auf Augenhöhe mit mir: “Das ist leider kein Scherz. Ich würde euch das wirklich gerne ersparen, aber momentan haben wir keine andere Chance, als hier zu bleiben. Die Familie ist in Gefahr.“ Mir bleibt kurz die Spucke weg: “In Gefahr? Wie meinst du das?“
Kurz schließt meine Mutter ihre Augen und holt tief Luft. Hat sie etwa wirklich vor mir nun die Wahrheit zu sagen? Hoffnungsvoll blicke ich sie an und warte darauf, dass endlich die erhofften Worte aus ihrem Mund sprudeln.
“Scarlett, sowas erklärt man doch nicht einfach so zwischen Tür und Angel. Kommt doch erst mal richtig an“, eine weibliche Stimme, die mir völlig unbekannt ist, ertönt leise hinter meiner Mutter. Sie klingt freundlich und weich, doch trotzdem verärgert sie mich in diesem Moment. Es kann doch nicht sein, dass jemand meine Mom gerade dann unterbricht, wenn sie mir die Wahrheit sagen will.
Die schwarze Augenbraue der Angesprochenen, die einen starken Kontrast zu ihrem langen, blonden Haar bildet, hebt sich. Scheinbar ist auch sie verwundert über die Unterbrechung und vielleicht auch ein wenig überrascht davon ausgerechnet diese Stimme zu hören.
Ein Grinsen macht sich auf ihrem Gesicht breit, bevor sie sich umdreht und die Frau hinter ihr anstrahlt. Nun auch interessiert, mache ich einen Schritt zur Seite, um mir ebenfalls einen Blick auf die unbekannte Person zu verschaffen.
Dort steht eine alte Frau. Eine ihrer Hände liegt auf ihrem gebeugten Rücken, während sie die andere meiner Mutter entgegenstreckt: “Hallo, meine Liebe.“ “Hallo“, erwidert meine Mutter und nimmt die Hand vorsichtig. Die Hand der Alten zittert ebenso wie die meiner Mutter, als sich die beiden in die Arme schließen. Diese merkwürdige Vertrautheit zwischen den beiden verwirrt mich nur noch mehr. “Endlich bist du da“, sanft streicht ihr die unbekannte Frau über den Rücken, während meine Mutter sich an sie klammert. Fast hat es den Anschein, dass sie gleich zu weinen beginnen würde.
Als sie sich wieder voneinander lösen, schiebt sich die Ältere ihre roten gefärbten Haare aus den blauen Augen, die meinen so ähnlich sind. Unsicher betrachte ich das Szenario.
Nach wenigen Momenten schaut die Frau an meiner Mutter vorbei und sieht meine Schwester und mich an: “Welche von ihnen ist es?“ Es? Was meint sie? Mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen deutet meine Mutter auf mich. Fast bekomme ich einen Schock, als sich der Finger meiner Mom auf mein Gesicht richtet. “Das ist Evie?“, fragt die Frau noch einmal nach. Doch bevor meine Mom den Mund wieder öffnen kann, antworte ich auch diese Frage: “Ja, die bin ich.“
Ächzend hockt sich die Frau vor mir auf den Boden und legt mir die Hände auf die Schultern. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich die Berührung dieser Fremden merkwürdig anfühlen würde oder dass ich mich dabei unwohl fühlen würde, doch irgendwie überkommt mich plötzlich ein ganz anderes Gefühl. Zum ersten Mal seit langem fühle ich mich geborgen. “Schön dich endlich kennenzulernen, Evie“, ein liebevolles Lächeln macht sich auf ihren schmalen, gesprungenen Lippen bemerkbar: “Ich hätte niemals gedacht, dass ich dich jemals zu Gesicht bekommen würde. Schade, dass die Umstände so unschön sind.“
Ich will ihr antworten, sie fragen, was sie mit ‘unschönen Umständen‘ meint, doch kein Wort kommt aus meiner Kehle. Mein Mund ist einfach staubtrocken. “Sie hat so große Ähnlichkeit zu ihm“, spricht sie nun weiter, wendet sich dabei aber eher an meine Mutter als an mich: “Es ist so traurig, was ihm geschehen ist.“
Ich schaue an der Frau vorbei zu meiner Mutter. Sie hält den Blick gesenkt, doch trotzdem kann ich ihre Augen sehen, die von Trauer verhüllt zu sein scheinen. Ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass irgendwas hier nicht stimmt, und mir platzt der Kragen. “Ich will jetzt endlich Antworten haben, sonst explodiert mein Gehirn. Mit wem habe ich Ähnlichkeit und wer sind sie überhaupt?“, frage ich die Frau und klinge dabei um einiges gereizter, als beabsichtigt. Diese ganze Geheimniskrämerei mache ich langsam euch nicht mehr mit.
“Hast du ihr etwa gar nichts erzählt?“, wendet sich die Frau erneut an meine Mutter, verweigert mir dadurch aber weiterhin die Wahrheit. Betroffen sieht meine Mutter die Frau an, mit der sie so vertraut zu sein scheint und schüttelt dann den Kopf: “Ich konnte es nicht. Sie sollte doch abseits von all dem Aufwachsen.“ “Das kann ich verstehen, Schatz, aber sie sollte doch trotzdem von ihrer Familie wissen“, ihre Stimme ist zwar liebevoll, doch wenn am genau hinhört, ist ein Anflug von Enttäuschung und Missbilligung darin zu vernehmen. Ihr Blick ist allerdings mitleidig. “Schatz? Familie?“, wiederhole ich Schlagwörter, die durch den Schleier der Verwirrung zu mir hindurch dringen.
Die Unbekannte holt tief Luft und blickt mir dann tief in die Augen: “Evie, ich bin Addison Blakemore und ich deine Großmutter.“ Es dauert einige Sekunden bis die, gerade empfangenen, Informationen in mein Gehirn vordringen, doch als ich endlich registriere, was da gesagt wurde, verschlucke ich mich fast. Großmutter? Ich hatte noch nie eine Großmutter. Meine Eltern haben immer gesagt, dass ich keine anderen Verwandten mehr habe. “N-Nein, d-das kann doch nicht wahr sein“, stottere ich. “Doch, es ist wahr“, sie schenkt mir ein sanftes Lächeln: “Und du hast auch einen Großvater und zwei entfernte Cousinen, in deinem Alter. Ich weiß, dass das viel auf einmal sein muss, aber ich finde, dass du das endlich wissen solltest.“
“Addi, stresse das arme Mädchen doch nicht so sehr“, nun ertönt auch eine tiefe, männliche Stimme, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dort steht ein Mann, der etwa im selben Alter wie besagte Frau zu sein scheint. “Das tu ich doch gar nicht, aber sie muss endlich die Wahrheit kennen, Sebastian“, erwidert sie mit, vor der Brust verschränkten, Armen.
Für einen Moment trifft der Blick des Mannes auf meinen und er sieht mich freundlich an, doch als er meine Mutter ansieht, verhärtet sich mein Blick wieder: “Ist das geschehen, wovor ich dich schon vor siebzehn Jahren gewarnt habe.“
Erst scheint es so, als würde sie nicht reagieren, doch dann beißt sie sich erst auf die Lippe und nickt dann: “Tut mir leid, Dad. Ich hatte so gehofft sie beschützen zu können.“ “Hey, Leute. Benehmt euch und besprecht das gefälligst später. Die Kinder müssen euren Streit nicht mitbekommen“, mahnt meine Großmutter: “Scarlett, du bringst deine andere Tochter jetzt besser nach oben, während ich Evie alles zu erklären versuche.“
Die Worte der anderen dringen gar nicht mehr wirklich an meine Ohren. Stattdessen ist mir einfach nur schlecht und das Gefühl, dass ich mich jeden Moment übergeben muss, wird immer größer. Das ganze Geschehen ist viel zu viel für mich.
Evie
Die, bereits etwas in die Jahre gekommene, Frau führt mich durch so viele Gänge, dass ich mich langsam zu fragen beginne, ob hier Magie im Spiel ist. Wahrscheinlich würde ich den Ausgang nie wieder finden, wenn Addison mich nicht durchs Haus lotsen würde.
Letztendlich bleiben wir allerdings vor einer Doppeltür aus dunklem Holz stehen. “Evie?“, sie mustert mich: “Bist du bereit noch mehr aus der Vergangenheit zu erfahren?“ Ich öffne den Mund, um ihm zu antworten, doch irgendwie kommen keine Worte heraus. Fast so, als wäre ich plötzlich stumm geworden. Deshalb nicke ich einfach nur wortlos und sehe die ältere Frau teils erwartungsvoll und, teils ängstlich an. Bin ich wirklich bereit noch mehr über mich selbst zu erfahren?
Das ist alles so viel auf einmal. Plötzlich habe ich entfernte Cousinen, Großeltern, sowie noch weitere Verwandte, mit denen ich noch nie in Berührung gekommen bin. Und meine neue Oma will mir jetzt auf einmal noch mehr erzählen, was mir noch verschleiert ist.
Auf meine zögerliche Zustimmung hin öffnet Addison die Tür. Mir eröffnet sich der Blick auf einen Raum voll mit Regalen. Mit einer Handbewegung bedeutet meine Großmutter einzutreten. Zögerlich folge ich ihrer Aufforderung und trete ein. Nun fällt es mir leicht zu erkennen, dass sich in den Regalen unzählige Bücher befinden. Zwar kann ich nur die Buchrücken erkennen, doch trotzdem ist zu erkennen, dass einige von ihnen ziemlich alt zu sein scheinen.
“I-Ist das eine Bibliothek?“, frage ich ein wenig verunsichert. “So ist es. Schon seit Generationen sammelt diese Familie Bücher und irgendwann hat der Platz nicht mehr gereicht, weshalb sich unsere Vorfahren entschieden haben, diesen Raum zu erbauen“, sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln: “Viele dieser Dokumente sind sogar Erstausgaben.“ “Wow“, ist das Einzige, was ich dazu antworten kann. Ich bin einfach viel zu fasziniert von den hölzernen Regalen, die bis zur Decke reichen. Interessiert versuche ich einige der Titel zu lesen, doch aus der Entfernung gestaltet sich das leider relativ schwer.
Addison scheint mein Interesse zu bemerkt haben: “Du kannst dich ruhig kurz umsehen.“ “Echt?“, frage ich und versuche herauszufinden, ob es nur ein Scherz war. Diese Frau wird mir echt immer sympathischer. “Natürlich, das, was ich dir zu sagen habe, läuft ja nicht weg, wenn ich ein wenig damit warte“, sie lächelt mir aufmunternd zu: “Schließlich wurde schon sechzehn Jahre mit der Wahrheit gewartet. Da können ein Paar weitere Minuten auch nicht schaden.“
Erst glaube ich nicht, dass sie das gerade gesagt hat, doch dann wende ich mich den Regalen zu. Sie bilden im Raum ein regelrechtes Labyrinth und verwehren mir so den Blick durch die komplette Bibliothek. Die Bücher sind so unterschiedlich, dass man sich gar nicht satt sehen kann.
Für einige Minuten wandere ich durch den Raum und schaue mich um, bevor ich zu der rothaarigen Frau zurückkehre. Diese hat unentwegt ein freudiges Lächeln auf den Lippen. Diese kleine Geste gibt mir erneut ein familiäres Gefühl und ich beginne mich zu fragen, warum meine Mutter mich nicht vorher der Familie vorgestellt hat. Das hätte mir vielleicht bei so vielem in meinem Leben geholfen. Vielleicht hätte ich einfach mal eine erfahrene Oma gebraucht, die mir erklärt, wie sie das Leben in der Menschen- und Hexenwelt gemeistert hat.
“Es ist so klasse hier“, kommentiere ich, als ich mich zu ihr geselle. “Schön, dass es dir gefällt. Wenn du das möchtest, kannst du jederzeit gerne wieder herkommen“, schlägt sie mir vor: “Schließlich gehörst du nun auch zur Familie und dadurch ist das hier auch sowas wie dein Erbe.“ Immer wieder zu hören, dass ich nun zu einer komplett neuen Familie gehöre, ist zwar irritierend und immer noch ziemlich komisch, aber irgendwie fühlt es sich gut an. Zwar hatte ich früher keine sonderlich gute Meinung von den Hollingsworths und den Blakemores, doch jetzt, wo ich die Blakemores genauer kennengelernt habe, kann sich meine Meinung vielleicht ändern. Von den Hollingsworths werde ich aber wahrscheinlich immer schlecht denken. “Aber jetzt komm am besten mit“, sie macht sich auf den Weg durch den Raum. Ich folge ihr.
Vor einer Wand bleiben wir gemeinsam stehen. Dort hängt ein bunter Stofffetzen. Ich schaue genauer hin und erkenne, dass es ein Teppich ist. “Warum hängt ein Teppich an der Wand?“, frage ich skeptisch, während meine rechte Augenbraue in die Höhe wandert. “Schau genau hin“, bittet sie mich und tippt auf eine bestimmte Stelle. Ich starre auf den Fleck, den sie mir zeigt, verstehe aber immer noch nicht, was damit sein soll: “Ich verstehe immer noch nicht, was das sein soll. Ich sehe weiterhin nur einen viereckigen Teppich.
“Das ist der aufgestickte Stammbaum unserer Familie“, sie deutet auf einen anderen Punkt, der sich im unteren Drittel des Stoffteils befindet: “Hier bin zum Beispiel ich.“ Es gibt einen Stammbaum der Familie? Verwundert von dieser Erkenntnis bücke ich mich leicht, um genau hinschauen zu können. Tatsächlich steht dort ‘Addison Blakemore‘. “Wo bin ich?“, frage ich mit einem gemischten Gefühl im Bauch. Es ist schon komisch zu wissen, dass jeder hier gewusst zu haben scheint, dass ich existiere, während ich keine Ahnung hatte, dass ich eigentlich ‘Evie Grey-Blakemore‘ heißen müsste. Plötzlich komme ich mir ziemlich belogen vor. “Du bist genau …“, sie fährt mit dem Finger an einem bestimmten Zweig hinunter und bleibt dann an einer Stelle stehen: “… hier.“
Tatsächlich steht dort mein Name, doch das ‘Grey‘ in meinem Nachnamen fehlt. Stattdessen ist nur ein ‘Evie Blakemore‘ zu finden. Fast so, als würde mein Vater gar nicht existieren.
Ich folge den Zweigen weiter und finde sofort den Namen ‘Annabelle Grey-Blakemore‘. Warum steht bei ihr auch der Nachname meines Vaters. Das sorgt in meinem Hirn für einen Gedankenstopp. Warum scheint es hier so, als wären wir gar nicht komplett verwandt, sondern nur halb. Deshalb suche ich nach meiner Mom, die dort als ‘Scarlett Blakemore‘ betitelt wird, doch mein Dad ist nicht zu finden. Stattdessen ist dort, wo sein Name stehen könnte, nur leere Fläche. Allerdings befindet sich rechts davon ein schwarzer Fleck, der aussieht, als hätte jemand den Namen, der vorher dort stand, verbrannt. Von dort aus geht eine Verbindung zu meinem eigenen Namen. “Wer war dort?“, frage ich einfach unverblümt nach.
Sofort nehme ich wahr wie Addison nervös schluckt, bevor sie mir tief in die Augen sieht und mir dann die Hände auf die Schultern legt: “Darüber wollte ich mit dir reden, Evie!“
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2018
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