Diese Buch widme ich jedem hier auf der Welt, der irgendwie das Gefühl hat noch nicht richtig auf dieser Welt angekommen zu sein, jedem, der sich anders fühlt, jedem, der einen geliebten Menschen verloren hat und jedem, der an sich selbst zweifelt.
Denn ihr seid die stärksten Menschen auf dieser Welt.
Carter
Unruhig wälze ich mich, noch vorm Klingen des Weckers, in meinen Laken hin und her. Wie so oft in der Nacht, wenn ich mit der Dunkelheit und mir selbst alleine bin, halten mich meine Gedanken wach. Mein Körper ist eisig, obwohl ich mich in eine warme Decke gehüllt habe. Fast so als würde diese Kälte nicht von außen kommen, sondern aus meinem Inneren.
Als das kleine Gerät auf meinem Nachttisch dann zu bimmeln beginnt, bin ich alles andere als bereit aufzustehen. Stattdessen versuche ich das beißende Geräusch einfach zu ignorieren und darauf zu warten, bis es verklingt. Leider beginnen zu dieser Zeit auch die Wecker meiner Mitbewohner zu lärmen, was mich dazu bringt den Kopf in den Nacken zu legen und deprimiert zu seufzen. Kann man mich nicht wenigstens einmal schlafen lassen? Schließlich habe ich nicht sowieso keinen Grund aufzustehen.
Ohne mich zu bewegen, lausche ich dem Geräusch, der sich öffnenden Türen in der ganzen Wohnung. Für mich ist das das Zeichen, dass alle anderen nun wach sind und mich wahrscheinlich in wenigen Minuten zum Aufstehen zwingen werden. Das Einzige, was dieses Mal allerdings anders ist, ist die Tatsache, dass es so klingt, als wären alle anderen sofort aufgestanden. Sonst dauert es fast immer noch einige Minuten, bis die anderen wach sind und sich aus dem Bett steigen. Eine Ausnahme in diesem Rhythmus machen sie sonst nur, wenn …, ich schlage mir die Hand vor den Kopf.
Mal wieder hat mir keiner gesagt, dass diese Frau vom Jugendamt kommt. Angeblich soll sie uns nur im alltäglichen Leben unterstützen, doch wenn sie uns besucht, verstellen sich alle so sehr, dass fast nichts mehr von unserem normalen Leben zu sehen ist. Deshalb ist das Ganze einfach nur lächerlich. Sie hilft uns keineswegs. Stattdessen tut sie so, als wären all unsere Probleme keine große Sache. So als könnte man sie einfach mit ein paar netten Worten wieder wie von Zauberhand verschwinden lassen und dann ist die Welt wieder in Ordnung.
In diesem Moment wird die Tür ohne Vorwarnung geräuschvoll aufgerissen. Das gleißende Sonnenlicht blendet mich und sorgt dafür, dass ich mehrmals blinzeln muss, bevor sich meine Augen daran gewöhnen.
Im Türrahmen steht eine meiner Mitbewohnerinnen. Die eine von ihnen hat dünnes, schulterlanges Haar, welches so hell blond ist, dass die verwaschene, pinke Farbe, mit der sie es vor einigen Monaten gefärbt hat, nicht mehr heraus zu gehen scheint. Mittlerweile ist es allerdings nur noch ein Durcheinander aus verblasstem Pink auf hellem Blond. Doch zusammen mit ihren braunen Augen passt es irgendwie. Ihre tiefrosanen Lippen formen sich zu einem Lächeln, als sie mein verschlafenes Selbst erblickt, während sich ihre dunkelbraunen Augenbrauen skeptisch heben: “Du weißt, dass ich dich auf keinen Fall hier liegen lassen kann, oder?“
Auf ihre Frage antworte ich nur mit einem Brummen, dessen Bedeutung mir selbst nicht klar ist. “War das ein ‘Ja‘?“, sie verschränkt die Arme vor der Brust und verzieht das cremefarbenen Gesicht. Still schüttele ich den Kopf und drücke mir das Kissen, in der Hoffnung doch wieder einzuschlafen, aufs Gesicht.
“Und? Will sie wieder nicht aufstehen?“, Kylies Stimme erkenne ich selbst mit einem Beutel aus Stoff über meinen Ohren. Was wäre ich denn schon für ein Mensch, wenn ich die Stimme meiner besten Freundin nicht mit geschlossenen Augen erkennen würde. “Nein, will sie nicht“, murmele ich. Innerlich kann ich mir das Grinsen der Mädchen schon vorstellen, doch trotzdem will ich nicht aufstehen. Egal wie gut sie mir zu reden. Zum Aufstehen können sie mich nicht bringen.
Mit viel Kraft zieht Kylie das Kissen von meinem Gesicht hinunter, ist dabei aber trotzdem liebevoll, während das andere Mädchen, Abby, die Jalousien zu öffnen beginnt.
Ein wenig trotzig starre ich meiner besten Freundin in die tiefbraunen Augen, die wild vor meinem Gesicht herumwedelt: “Unsere Betreuerin ist da. Du weißt, dass wir uns da gut geben müssen und wenn du nicht aufstehst, glaubt die uns nie, dass alles gut ist.“ “Du hast ja recht“, abwehrend hebe ich die Hände: “Dann lasst mich aber wenigstens ein paar Minuten alleine, um wach zu werden.“ “Na gut, du kriegst zwei Minuten. Wenn du dann nicht auf dem Weg in die Küche bist, kommen wir wieder“, warnt mich Abby. Obwohl ich weiß, dass sie es nicht böse meint, demotivieren mich ihre Worte. Es fällt mir schon schwer genug immer so zu tun, als wäre mit mir alles okay, wenn diese Frau da ist, aber dass meine Freundinnen von mir verlangen, dass ich mich verstelle, fühlt sich irgendwie wie Verrat an. Schließlich will ich auch nicht, dass sie ihre Krankheiten verstecken, obwohl sie das schon von alleine tun, wenn irgendwelche wichtigen Leute da sind. Das tun wir alle.
Als ich endlich wieder alleine bin, wirkt der plötzlich so still. Allerdings finde ich das gar nicht schlecht. Anstatt allerdings wieder die Augen zu schließen, starre ich lediglich an die weiße Decke über mir. Dort befindet sich nichts Interessantes, doch irgendwie kann ich nicht aufhören hoch zu starren. Was soll ich in meinem Leben schon besseres machen! Schließlich bin ich kaputt. Nicht mal am Morgen kann ich von selbst aufstehen.
In der Erwartung, dass sie in wenigen Minuten die anderen wieder reinkommen, meldet sich meine Vernunft, die mich dazu zwingt doch aufzustehen. Mit nackten Füßen schlurfe ich über den Holzboden zu meinem Spiegel und lasse den Blick über meinen Körper wandern. Wie immer deprimierend. Warum tue ich mir das nur immer wieder an? Wahrscheinlich weil der Gedanke, dass ich morgens aufwache und endlich keine Depression habe, einfach zu schön ist.
Schnell wende ich meinen Blick ab und starre stattdessen aus dem Fenster. Die Wellen schlagen hart auf dem Sand des kleinen Standstückes, an dem wir wohnen, auf, während die Möwen einigen Passanten ihr Essen zu stibitzen versuchen. Dieses Bild wirkt so perfekt und in sich stimmig, dass es mir erneut klar macht, wie unstimmig ich selbst bin. Zwar wurde ich mit einer hohen Intelligenz geboren, habe dafür aber ein mieses Leben, das von ewiger Traurigkeit begleitet zu werden scheint. Doch das ist noch gar nicht das Schlimmste. Das Schrecklichste ist wohl diese Leere, die mich nicht loslassen.
Carter
Kurz bevor ich in die Küchentür öffne, atme ich mehrmals tief durch. Es kostet mich eine Menge an Überwindung hineinzugehen, denn die Tirade, die ich mir antun muss, ist eine Qual. Ich hasse es mich für andere zu verstellen. Das habe ich schon oft genug getan, als ich noch am Anfang meiner Krankheit stand. Damals habe ich so sehr versucht es zu verstecken, dass ich fast vergessen habe, wer ich bin.
Um mich von meinen Geistern der Vergangenheit abzulenken, öffne ich die Tür und trete in den gefliesten Raum hinein. “Guten Morgen, Carter“, vernehme ich die helle Stimme der Frau vom Jugendamt: “Wie ist dein Morgen bisher?“ Ich verdrehe die Augen: “Wie immer.“ “Was heißt ‘wie immer‘?“, harkt sie nach und zieht den Stuhl, auf dem ich sonst sitze, ein Stück zurück, damit ich mich zu den anderen an den Tisch setze. “Mies“, brummele ich und lasse mich auf das Holz sinken.
Als ich meinen Blick durch die Runde schweifen lasse, fällt mir auf, dass noch nicht alle anwesend sind. Dies hebt meine Laune nicht gerade. Schließlich wurde ich aus dem Bett gescheucht, während die anderen einfach getrost liegen bleiben können. Gelangweilt starre ich auf die dunkelgelbe Brühe in der Tasse, die unsere Besucherin vor mir auf die Tischplatte gestellt hat: “Danke.“ “Hast du heute schon dein Antidepressiva genommen?“, kontrolliert sie mich. Ich hebe die Tasse mit der linken Hand an die Lippen und nehme einen Schluck: “Nein, habe ich noch nicht.“ “Hier“, die Frau legt die Verpackung des Medikaments vor mich: “Nimm es am besten sofort.“ Ich nicke still, lasse die Verpackung aber unter dem Tisch verschwinden, sobald sich umgedreht hat.
Um mich schnell mit etwas anderem zu beschäftigen, starre ich Isabelle an. Das Mädchen mit der bleichen haut und den langen, hellbraunen Haaren, starrt starr geradeaus. Sie blinzelt nicht einmal. Gerade denke ich, dass sie versucht sich tot zustellen oder sowas, da beginnt sie plötzlich nervös mit den Augen zu zucken und am Henkel ihrer Tasse herumzuspielen. Sowas passiert oft. Besonders, wenn viele Leute um sie herum sind.
Als mein Blick auf ihre weiße Kleidung fällt, die der im Krankenhaus so sehr ähnelt, fällt mir auf, wie wenig ich eigentlich von ihr weiß. Wenn ich genauer darüber nachdenke, weiß ich von keinem hier im Raum wirklich die ganze Lebensgeschichte. Höchstens von Kylie, doch selbst von ihr weiß ich noch lange nicht alles. Diese plötzliche Erkenntnis ist irgendwie erschreckend. Manchmal würde ich wirklich gerne etwas aus dem Leben der anderen wissen. Schließlich leben wir zusammen in einem Haus, kennen die Vergangenheit der anderen aber gar nicht.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, öffnet sich die Tür ein zweites Mal und Evie tritt in den Raum hinein. Ihr Antlitz würde jemanden schockieren, der noch nie bei uns war, aber für mich ist ihr Anblick, zwar nicht schön mit anzusehen, aber dafür unbekannt. Anstelle eines Schlafanzuges oder Ähnlichem trägt sie nasse Straßenkleidung, die an ihrem Körper klebt. Unter ihren eisblauen Augen haben sich lilane Augenringe gebildet, die durch ihre, heute auffallend bleiche, Haut besonders stark auffallen. Ihre Pupillen sind vergrößert und ihre Lippen sind leicht aufgesprungen.
“Oh Gott, Evie. Was ist denn mit dir passiert?“, die Stimme unserer Betreuerin ist mehr als nur geschockt. “Ich bin in einen Regenschauer geraten“, sagt sie und schaut ihn fragend an. “Es hat heute aber doch gar nicht geregnet“, stellt diese Frau fest. “Dann sollte ich mir wohl mal was anderes anziehen“, sagt sie schnell und huscht dann ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Ein wenig verwundert starre alle ihr hinterher.
Während die anderen sich komisch anzusehen beginnen, zieht Abby nun ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nervös schiebt sie ihr Brot auf dem hölzernen Brettchen von der einen Seite zur anderen. Sofort ist mir klar, dass sie das Essen verschwinden lassen wird, wenn die Betreuerin nicht hinsieht. Das tut sie schließlich jedes Mal, obwohl sie genau weiß, dass es für ihren Körper nicht gut ist. Aber ich selbst bin da auch nicht besser. “Kannst du…?“, sie braucht die Frage gar nicht erst zu aussprechen. Ich weiß auch so, was sie fragen will. Sobald ich zugestimmt habe, schiebt sie mir, in einem unbeobachteten Augenblick, eine Hälfte ihres Brotes zu, sodass es aussieht, als hätte sie bereits einiges gegessen. Früher hätte ich sie bei sowas nie unterstützt, aber mittlerweile haben sich ihre Essgewohnheiten sich wenigstens wieder ein bisschen eingespielt. Jetzt isst sie wenigstens Sachen, die Evie und sie selbst zusammen gekocht haben. Diese Methode klappt relativ gut, wenn man bedenkt, dass sie früher immer wieder Sachen aus dem Essensplan herausgestrichen hat, der für die ganze WG besteht.
In diesem Moment beginnt Isabelle irgendwas zu flüstern. Ungewöhnlich ist das für ihre Krankheit wahrscheinlich nicht, doch manchmal bringt es mich ein wenig aus der Fassung. Zwar versuche ich dann einfach so zu tun, als wäre nichts, doch manchmal vergesse auch ich das. Also versuche ich weiterhin in meine Tasse zu starren, lausche dabei aber ihren leisen Worten. Sie murmelt irgendwas von wegen “beobachtet werden“ und “Kameras“. Sowas habe ich schonmal von ihr vernommen. Das hat mich damals so sehr verunsichert, dass ich die ganze Wohnung nach Kameras abgesucht habe. Gefunden habe ich allerdings nichts. Als ich gerade zu denken beginne, dass sie jetzt wieder weiter isst, springt sie regelrecht von ihrem Stuhl auf, greift mit zitternden Händen nach dem Teller und stürmt aus dem Zimmer. Alle sehen einander verwirrt an. Sowas kam bisher nur selten vor. “Ich gehe ihr wohl besser mal nach“, verkündet die Betreuerin schnell und verlässt den Raum dann ebenfalls zügig.
Mir fällt regelrecht ein Stein vom Herzen. Endlich kann ich wieder sein, wer ich wirklich bin. Mit dem Daumen beginne ich über den Henkel meiner Tasse zu fahren, während ich Pläne für den Tag mache. Am besten warte ich, bis diese Frau wieder weg ist und lege mich dann wieder ins Bett. Zum Glück bleibt sie fast immer nur bis die zwei, die zur Schule gehen, das Haus verlassen haben, und sich die anderen an ihre Laptops gesetzt haben, um zu lernen.
Denn aufgrund der Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, wurde entschieden, dass es nicht gut für sie wäre, auf eine richtige Schule zu gehen. Diese Entscheidung halte auch ich für die Richtige. Auch ich musste, vor meinem Schulabschluss vor einigen Monaten, Mobbing ertragen, was mir mit meiner Depression nicht gerade weiter geholfen hat. Eigentlich sollte man von Schulen ja Akzeptanz erwarten, aber das ist wohl Wunschdenken. Teenager können ziemlich gemein sein.
Nach einigen Minuten erhebt Abby, die das Haus gleich mit Evie verlassen wird, um sich für die Schule fertig zu machen, während Gwen und Kylie anfangen den Tisch abzuräumen und sich dann ins Wohnzimmer begeben. Das alles läuft jeden Morgen so gleich ab, dass es mich mittlerweile zu langweilen beginnt.
Als ich endlich alleine in der Küche bin, fühlt sich plötzlich alles so leer an. In diesem Moment gleicht der Raum meinem Inneren, das sich ebenso leer anfühlt. Als hätte ich keinerlei Emotionen und wenn ich doch einmal etwas spüre, dann ist es in den meisten Fällen Trauer.
Um dieser Offenbarung, die sich mir jetzt bietet, zu entfliehen, stehe ich ebenfalls auf, stelle mein Geschirr in die Spüle und trete auf den Flur hinaus. Ohne lange zu überlegen, laufe ich auf mein Zimmer zu. Bevor ich die Tür allerdings öffnen kann, legt mir jemand eine Hand auf die Schulter.
Es ist Evie. Mittlerweile sieht sie wieder ein wenig besser auf und auch die Kleidung, die sie trägt, ist trocken, doch die Augenringe und die unnormal blasse Gesichtsfarbe. “Hey, Carter“, sie schenkt mir ein Lächeln, welches es aber nicht schafft bis in ihre Augen vorzudringen: “Versprich mir bitte, dass du jetzt nicht sofort wieder ins Bett gehst und dort für den Rest des Tages im Dunkeln liegen bleibst. Das machst du so oft und ich mach mir echt Sorgen um dich. Ich will ja nicht, dass du irgendwann zum Vampir mutierst.“ Ihr Grinsen wird breiter und auch ich kann mich dazu zwingen die Mundwinkel ein kleines Stück zu heben: “Was soll ich dann deiner Meinung nach, dagegen tun?“ “Weil du doch jetzt eh schon wach bist, kannst du den Tag auch für etwas Sinnvolles nutzen. Hilf den anderen zum Beispiel bei ihren Aufgaben“, ihr Blick wird sanft: “Du weißt, dass sie sonst sowieso wieder kommen, um dich irgendwas zu fragen. Und wenn es heute mal anders sein sollte, holst du dir einfach ein Buch und liest ein bisschen.“
Ich muss mir eingestehen, dass sie tatsächlich recht hat. Einfach einschlafen, werde ich jetzt wohl kaum können und wenn doch, werden mich die anderen doch wieder wecken. “Na gut, aber dann musst du mir auch etwas versprechen“, fordere ich. Sie legt den Kopf ein wenig schief und sieht mich erwartungsvoll an: “In Ordnung, was willst du?“ “Da ich weiß, dass du es nicht aushalten wurdest, wenn ich dich zwinge für eine Woche keine Drogen zu nehmen, deshalb bitte ich dich, nichts zu nehmen, um einschlafen zu können“, erwartungsvoll blicke ich sie an.
Evie hat nämlich, seit sie hier ist, Schlafprobleme und bekämpft diese mit unzähligen verschiedenen Drogen, die ich nicht aufzuzählen im Stand bin. Dass ich ihr nicht verbieten kann, sie über einen gewissen Zeitraum zu nehmen, weiß ich, weil es dann nur schwerer für das Mädchen wird sich davon fernzuhalten. Schließlich schafft sie es mittlerweile sehr gut alleine, sich tagsüber von ihren Mittelchen fernzuhalten. Solange sie sich jedenfalls nicht mit ihren ‘Freunden‘ trifft. Warum sie so schlecht schläft, weiß ich zwar nicht, aber es ist eine Tatsache, dass sie nicht selten von Albträumen geplagt wird.
Sie seufzt nachdenklich, gibt dann aber nach: “Okay, der Deal steht.“ In diesem Moment öffnet sich Abbys Zimmertür und Evie dreht sich zu ihr um: “Können wir los?“ “Ja, gib mir noch eine Sekunde“, ohne Vorwarnung schließt mich die Schwarzhaarige in ihre Arme, bevor sie sich ihrer Klassenkameradin anschließt und sich mit ihr auf den Weg in die Schule macht. Ich selbst bleibe im Flur alleine zurück.
Plötzlich ertönt ein lautes ‘Ping‘ aus meinem Zimmer. Erschrocken zucke ich zusammen, erkenne das Geräusch dann aber und betrete mein Schlafzimmer, um mein Handy zu holen. Normalerweise bekomme ich niemals Nachrichten. Verwirrt werfe ich einen Blick auf das Display und werde augenblicklich kreidebleich.
Abby
Meinen Blick habe ich aus dem Fenster auf die Landschaft gerichtet, an der der Bus vorbeirast, der mich zur Schule bringt. Fast könnte ich besessen von diesem Bild wirken und so fühle ich mich auch. Allerdings geht es mir nur so, weil ich nicht stark genug bin, um mich den hartnäckigen Blicken der anderen, die auf mir liegen, zu stellen. Anfangs habe ich es getan und genau gemerkt, dass kaum jemand mich nicht so angesehen hat, als wäre ich irgendein Alien. Ihr hämisches Tuscheln ist mir dabei leider auch nicht entgangen. Aber irgendwie haben sie auch recht. Ich bin ein Weirdo und das ist für jeden Menschen, der noch sein volles Augenlicht hat, mehr als nur ersichtlich. Manchmal wünsche ich mir echt, dass man mir meine Krankheit nicht so sehr ansehen würde, einfach mehr wie Gwen oder Kylie sein. Viel normaler. Jedenfalls nach außen hin.
Neben mir atmet Evie unregelmäßig, was mich dazu bringt, sie anzusehen. Sie starrt wie gebannt auf die Lehne des Sitzes vor ihr. Sie hat normalerweise nichts dagegen angestarrt zu werden und macht hin und wieder auch Leute doof an, die über uns tuscheln, also muss sie heute irgendwas anderes bedrücken. “Was ist los, Ev?“, frage ich interessiert und sehe sie vorsichtig an. Seit heute Morgen sieht sie schon ziemlich verwahrlost aus, wofür wahrscheinlich wieder die Drogen verantwortlich sind. Ob sie in der Nacht auf einer Drogentour war oder einfach nur schlecht geschlafen hat, kann ich nicht sagen. Zwar sind wir ziemlich gut befreundet, aber über genau dieses Thema redet sie mit Carter lieber.
“Nichts Besonderes“, antwortet sie, schaut mir allerdings nicht in die Augen. “Sieh mich mal an“, ich lege zwei Finger unter ihr Kinn und drehe ihr Gesicht so zu mir. Ihre Augenringe sind wirklich schlimm und wenn ein Lehrer das sieht, ruft er Doktor Sullivan mit Sicherheit an. Sowas können wir echt nicht gebrauchen.
Also ziehe ich ein wenig Make-up aus meinem Rucksack und decke damit vorsichtig die Ringe unter ihren Augen ab: “So, ist es besser.“ “Danke“, ein kaum merkliches Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus: “Aber es fehlt noch etwas.“ Fragend lege ich den Kopf schief. Was hat sie jetzt schon wieder vor?
Nun beginnt auch sie selbst in ihrem Rucksack herumzukramen, bis sie etwas gefunden hat. Interessiert sehe ich ihr zu und warte darauf, was sie nun hervorzaubert. Nachdem sie einige Sekunden gesucht hat, reicht er mir ein kleines Paket aus Alufolie. Dieses drückt sie mir in die Hand.
Verwundert starre ich den Gegenstand an: “Was ist das?“ “Mach es auf und die findest es heraus“, sie zuckt mit den Schultern: “Ich werde es dir nicht aufzwingen, aber es wäre schön, wenn du es nicht sofort in die nächste Mülltonne wirfst, sondern erst genau darüber nachdenkst, ob du es nicht doch willst. Das wäre einfach nett.“ Nun ist mir die Freude auf die Überraschung vergangen. Schließlich hat sie mir schon verraten, dass es wahrscheinlich etwas ist, was ich nicht mögen werde. Mit zusammen gekniffenen Augen falte ich die Folie auseinander und schaue auf das Sandwich, das darin befindet. Bei dem Anblick der Mahlzeit muss ich schlucken und spüre, wie sich in meiner Kehle das Gefühl der Übelkeit zusammenbraut. Das ist immer meine erste Reaktion, wenn ich etwas zu Essen sehe. Fast so, als wäre es mittlerweile zu einem Instinkt geworden.
Ich zwinge mich mit festem Blick auf die hellen Brotscheiben zu starren: “H-Hast du es selbst gemacht?“ “Natürlich“, wissend lächelt sie mich an. Dankbarkeit macht sich in meinem Inneren bemerkbar. Glücklicherweise weiß sie, dass ich nur Essen mag, dass entweder Evie oder ich gemacht haben. Deshalb kochen wir auch oft das Abendessen für die anderen Mitbewohner. Wenn ich nämlich selbst koche, weiß ich was drinnen ist und dass ich es auch mögen werde. Das macht es mir, um einiges leichter das Zubereitete dann auch wirklich zu essen und es nicht einfach wieder wegzuwerfen.
“Danke“, sage ich, darauf wartend, dass mein Anflug von Übelkeit nachlässt. Als es endlich soweit ist, führe ich das Sandwich an meine Lippen und beiße hinein. Der Salat zwischen den Scheiben knackt und tatsächlich schmeckt es gut. Aber was hätte ich auch sonst von Evie erwartet. Sie ist eine begnadete Köchin und bringt mir immer wieder etwas Neues bei.
Gerade als ich fast den letzten Bissen genommen habe, spüre ich, wie sich der Verband an meinem linken Unterarm verrutscht. Zwar habe ich ihn heute extra neu befestigt, doch dass er verrutscht, kann ich nicht völlig verhindern.
Angst schießt durch meine Knochen und ich versuche mit leicht zitternden Händen das Tuch, welches meine Namen verbirgt, wieder sicher zu befestigen. Was mich dazu getrieben hat mich zum ersten Mal absichtlich zu schneiden, weiß ich nicht mehr genau, doch mittlerweile ist es wie eine Sucht.
Dieses ominöse Gefühl der Freiheit, wenn die Haut, der Rasierklinge folgend, aufreißt, lässt all den psychischen Schmerz, von mir abfallen. Fast so, als würde den meine Probleme mit meinem eigenen Blut aus meinem Körper heraus gespült werden. Dieser Prozess bringt mich jedes Mal dazu mehr zu wollen, alles meinen Schmerz abklingen lassen zu wollen. Einfach gar nichts mehr zu fühlen.
In den Momenten, in denen ich denke, das ich nicht mehr aufhören kann, mich zu schneiden, denke ich daran, dass dann allerdings auch die guten Gefühle, die ich verspüre, wenn ich Zeit mit meinen Freunden verbringe, verloren gehen. Und genau das ist es, woran ich mich im Leben so fest zu klammern versuche. Meine Freunde, die mir ein Gefühl von Sicherheit geben, die mir das Gefühl geben, so sein zu dürfen, wie ich wirklich bin. Besonders für Evie und Harvey, meine Ersatzfamilie, nachdem meine richtigen Verwandten mich verstoßen haben.
Und auch für mein Hobby, meine Passion, lohnt es sich zu leben. Denn das Surfen lässt mich ebenfalls alles vergessen. Zwar fühle ich mich dann genauso frei, wie wenn ich mich schneide, doch das Surfen ist viel gesünder. Außerdem beruhigt mich die Kombination aus dem Rauschen der Wellen, dem Kreischen der Möwen und der heißen Sonne Kaliforniens, die es mir einfach angetan hat, auf ihre eigene sanfte Art.
Abby
Sobald ich nur einen Fuß in die Cafeteria gesetzt habe, schlägt mir eine starke Lärmwelle entgegen. Einige Leute drehen sich zu mir herum, schenken mir argwöhnische und abschätzige Blicke.
Sofort dreht sich mir der Magen um und meine Hände, die das Tablett halten, beginnen zu zittern. Fast fühlt es sich so an, als wären Scheinwerfer auf mich gerichtet, die dafür sorgen, dass jeder mich anstarrt, obwohl es sicher nur wenige sind.
Mein Blick wandert zu Evie, während ich versuche die anderen zu ignorieren. Das Herz sinkt mir in die Hose. Wie so oft sitzt sie mit ihren Freunden am Tisch und unterhält sich überschwänglich. Von dem Mädchen, das ich kenne, ist fast nichts mehr übrig. Sie wirklich regelrecht wie ein neuer, normaler Mensch.
Ob sie etwas dagegen hätte, wenn ich dazu setzen würde, weiß ich nicht. Vielleicht würden ihre Freunde erst nicht sonderlich zufrieden sein, doch Evie würde ihnen sagen, dass sie so nicht mit mir umgehen dürfen. So ist beim ersten Mal abgelaufen, als ich mich ebenfalls an ihren Tisch gesetzt habe.
Doch obwohl ich sicher weiß, dass sie es mir nicht übelnehmen würde, will ich mich nicht zu ihr sitzen. Nicht, weil ich etwas dagegen habe, in der Schule mit ihr gesehen zu haben oder so etwas. Ganz im Gegenteil. Allerdings sind ihre Freunde nicht die Art von Menschen, mit denen ich meine Zeit gerne verbringen würde. Denn ich weiß genau woher meine Freundin sie kennt. Einen von ihnen hat sie während einer nächtlichen Drogentour gefunden und so alle anderen kennengelernt. Ich habe wirklich versucht keine Vorurteile zu haben und ihnen mit Freundlichkeit zu begegnen, doch zu meinem Bedauern, waren sie genauso wie man es erwartet hätte. Die Hälfte von ihnen war schon zu dieser frühen Stunde völlig high, während die andere entweder da gehockt und kein Wort gesagt oder so viel gesprochen hat, dass man sich fragt, ob sie es überhaupt schaffen in der Pause irgendwas zu essen.
Ohne nur darüber nachzudenken einen weiteren Schritt zu machen, drehe ich mich um und stürmt regelrecht aus dem riesigen Raum herum. Irgendwann habe ich angefangen mich in Menschenmengen unwohl zu fühlen. Wahrscheinlich hat das etwa dann angefangen, als meine Krankheit sichtbar wurde. Langsam hat man angefangen meine Rippen zu sehen, wenn ich mich im Sport umgezogen habe und auch meine Kraft hat nachgelassen, weil mir die nötige Nahrung gefehlt hat. Doch was sollte ich machen. Damals war es einfach schon zu spät und habe mich nur noch geschämt. Nachgelassen hat das bisher leider aber immer noch nicht. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass jeder nur meine Krankheit in mir sieht und für die Person, die ich in Wirklichkeit bin, völlig verblendet ist.
Fast renne ich über den Flur, auf der Suche nach einem geeigneten Platz für mich. Zwar sind die Gänge fast leer, doch ich brauche einen bestimmten Ort. Einen, an dem ich mich wohlfühle.
Letztendlich lasse ich mich irgendwo zwischen den Toiletten und der Bibliothek an der Wand runterrutschen. Das Tablett stelle ich mit skeptischem Blick auf meine Oberschenkel. Prüfend schiebe ich den gelben Kartoffelbrei auf meinem Teller hin und her. Die meisten Schulen haben das Problem, dass das Essen fast wie Wasser auseinander läuft. Hier ist es allerdings das Gegenteil und der Brei ist fast hart wie Stein.
Nach einer Weile, in der ich meine Nahrung nicht angerührt habe, ist plötzlich eine Stimme neben mir zu vernehmen: "Pass lieber auf, sonst wird deinem Essen schwindelig, wenn du es immer wieder hin und her schiebst." Zwar erkenne ich die Stimme sofort, doch trotzdem erscheint auf meinem Gesicht ein verwirrter Ausdruck. "Warum bist du nicht in der Mensa und isst mit deinen Freunden?", frage ich verwundert. "Weil meine beste Freundin neben den Toiletten sitzt und ihr Essen mobbt", sie lässt sich ebenfalls an der Wand hinuntergleiten: "Warum hast du dich nicht zu mir gesetzt?" "Ich wollte mich dir nicht aufzwingen", zerknirscht beiße ich mir auf die Unterlippe. Der Schmerz ist angenehm erfrischend: "Ich hätte mich außerdem ziemlich fehl am Platz gefühlt." "Hey, Abby. Du kannst dich immer zu mir setzen, wenn du das möchtest", sie legt ihre Hand vorsichtig auf meine und nimmt sie dann in ihre: "Hätte ich gesehen, dass du alleine in der Cafeteria rumstehst, hätte ich dich auch gefragt, ob du dich zu mir setzen willst. Du könntest dich mir niemals aufzwingen. Dafür habe ich dich viel zu gerne um mich, verstanden?"
"Verstanden", mir fällt ein Stein vom Herzen. Evie ist einfach die beste Freundin auf der Welt und ich könnte mir niemals selbst verzeihen, wenn ich sie verlieren würde.
Dann starrt sie auf meinen Teller und ich weiß, dass jemand anderen im nächsten Moment etwas Tadelndes zu meinem Verhalten sagen würde. Aber sie ist anders. Sie öffnet nicht einmal den Mund, um etwas zu sagen. Stattdessen hebt sie mein Tablett hoch und reicht mir dafür ihres: "So ist es besser. Das Kartoffelpüree sieht nämlich nicht sonderlich lecker aus."
Fragend schaue ich auf das Tablett, welches sie mir hingehalten hat. Warum nimmt sie denn dann mein Essen, wenn es so schrecklich schmeckt?
"Glaub mir, du wirst es mögen", sie streckt mir eine saubere Gabel hin und beginnt dann, sich das Essen, was vorher noch mir gehört hat, in den Mund zu schieben. Ein wenig perplex schaue ich die Dose an, die sich auf meinem Tablett befindet. Was darin ist, kann ich durch das verschmierte Plastik nicht erkennen.
Kurz rollt Evie mit den Augen, bevor sie den Deckel von der Dose zieht und mir dadurch den Blick auf mehrere rote Früchte ermöglicht. Erdbeeren sind echt das Einzige, was ich immer essen kann.
Mit einem dankbaren Grinsen auf meinen Lippen stecke ich die Gabel in die Behälter und ziehe einen der roten Leckerbissen heraus. Der fruchtig-süße Geruch steigt mir in die Nase und tatsächlich wird mir dieses Mal nicht schlecht. Zwar verspüre ich auch keinen richtigen Appetit, doch wenigstens ist es kein schlechtes Gefühl. Erdbeeren habe ich schließlich schon als Kind geliebt.
“Gehst du heute wieder surfen?“, fragt Evie als ich mir gerade die letzte Erdbeere in den Mund schiebe. “Klar“, nuschele ich mit vollem Mund.
Der Gedanke endlich an den Strand zu können, lässt die Lebensfreude in mir aufleben und beinahe kann ich das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen hören.
Das Surfen ist meine Leidenschaft. Wenn ich auf dem Board liege und die Wellen reite, ist es mir möglich endlich all meine Probleme zu vergessen und mich nur dem Moment hinzugeben. Eintauschen würde ich das für nichts auf der Welt.
Kylie
“Carter?“, als ich es anspreche, hebt das Mädchen ihren Kopf: “Was ist die Wurzel auf 157?“ Sie legt das Buch, das sie gerade im Rekordtempo liest, kurz auf ihrem Knie ab. “12, 5299640861“, antwortet sie nur knapp. Dankbar grinse ich sie an. Eine Freundin mit eidetischem Gedächtnis zu haben, ist echt klasse.
“Man, Kylie“, dringen Gwens Beschwerden vom anderen Sofa herüber, an meine Ohren: “Du sollst deine Aufgaben selbst machen.“ “Dann hätte ich aber meinen Taschenrechner suchen müssen und wenn ich Carter frage, geht es viel schneller“, ein wenig ertappt blicke ich auf den Boden und versuche mich heraus zu reden. Ich beginne zu spüren, wie ich leicht zu schwitzen beginne. So geht es mir meistens, wenn ich in Bedrängnis gerate. Besonders bei Gwen. Ihre Stimmungen schwanken so schnell, dass man sich nie sicher sein kann, wie sie reagieren wird, wenn man etwas sagt.
Ihre Stimmungen schwanken sogar mehr als die von allen anderen, fast so als wäre sie eine Mischung aus all ihren Mitbewohnerinnen. So fühlt ständig zwischen zwei Gedanken gefangen sein. Entweder verhält sie sich, als wäre sie völlig high oder würde im nächsten Moment sterben wollen.
Sofort beginne ich nervös zu werden. Besonders unter Druck meldet sich meine Krankheit viel stärker als sonst. Ich merke wie meine Finger an dem Kissen herumzuspielen beginnen, dass ich in meinen Nacken gelegt habe, kann aber nichts dagegen tun, obwohl es mir völlig unangenehm ist. Mein Blick zuckt, auf der Suche nach meinem Stressball, hin und her. Wenn ich den kleinen Gegenstand drücke, hilft es mir wieder runter zu kommen und mein ADHS wieder ein wenig unter Kontrolle zu bringen, doch wirklich verschwinden tut es nie.
Zwar helfen mir geregelte Tagesabläufe dabei meine Probleme ziemlich gut unter Kontrolle bringen, doch trotzdem brauche ich viel Bewegung und auch meine Konzentration währt nicht lange. Deshalb ist es für mich auch eine Erleichterung keine richtige Schule besuchen zu müssen. Schließlich weiß ich selbst, dass ich meinen Mitschülern und Lehrern nur zur Last fallen und beim Lernen stören würde. Außerdem habe ich so viel mehr Zeit für mein eigenes Leben. Nur für meine Abschlussprüfungen müsste ich in ein richtiges Schulgebäude, während ich mich momentan von zu Hause aus auf mein Abitur vorbereitet. Glücklicherweise steht Carter, meine beste Freundin, mir mit Rat und Tat zur Seite. Hätte ich meine Mitbewohner nicht, wäre mein Leben wahrscheinlich um einiges schwerer, doch die Akzeptanz meiner Freunde gibt mir Flügel und lässt mein Leben heller erstrahlen, als jemals zuvor.
Immer stärker merke ich, wie meine Konzentration abdriftet, weshalb ich den Laptop regelrecht zu schlage und ihn auf dem Wohnzimmertisch ablege. Bei dem Geräusch zucken die anderen kurz zusammen und sie unterbrechen ihr Gespräch. Dass sie über die Schule gesprochen haben, ist mir gar nicht aufgefallen. Mal wieder bin ich mit meinen Gedanken zu sehr abgedriftet.
Mit der Schule bin in ich für heute wirklich fertig. Stattdessen könnte ich in den Baumarkt gehen neue Pflanzen für unser Beet kaufen, nachdem die Alten im Winter eingegangen sind. Bisher hat sich nämlich noch keiner die Mühe gemacht diese Aufgabe zu übernehmen, weshalb ich das vielleicht zu meiner Aufgabe machen könnte. Schon als wir hier eingezogen sind, habe ich gepflanzt. Irgendwie gibt mir der Prozess des Einpflanzens eine besondere Ruhe und der Gedanke, dass die Pflanzen nun zu unserem Haus gehören, gefällt mir irgendwie. Meine Mitbewohner sagen oft, dass ich etwas sehr Kindliches an mir habe und manchmal kann ich dem nur zustimmen. Selbst ich merke, dass ich noch fähig bin über viele Sachen zu staunen und mich für mehr Dinge zu begeistern, als meine Umgebung.
Allerdings verwerfe ich den Gedanken schnell wieder, als mir ein neuer Gedanken in den Kopf kommt und mich an meine Verantwortung erinnert. Schließlich ist das Pferd, welches ich teilweise mit pflege, zählt auf mich.
Erst war ich von der Idee auf so ein großes Geschöpf aufzupassen wirklich nicht begeistert, doch Doktor Sullivan, unsere Psychologin, hielt es für einen ausgezeichneten Vorschlag. Meine Bedenken begründeten sich zum großen Teil auf meiner Vergangenheit und zum anderen auf der gigantischen Verantwortung, die mir erst riesige Angst gemacht hat. Mittlerweile sind diese Zweifel verschwunden und Ikaros und ich sind ein Herz eine Seele. Ein Leben ohne den Hengst wäre für mich mittlerweile nicht einmal mehr vorstellbar. Besonders aus dem Grund, dass das Reiten mich mit meiner texanischen Vergangenheit verbringt, liebe ich es.
Nach diesem langen Gedankengang stehe ich beschwingt vom Sofa auf und spaziere aus dem Raum. Carters fragendes Brummen und Gwens Widersprüche, überhöre ich einfach, zu beflügelt bin ich, um mich von der dauerhaft schlechten Stimmung runterziehen zu lassen.
Fast enthusiastisch stoße ich die Tür der Kammer auf, die ich als mein Zimmer bezeichne, auf und stolpere hinein. Schnell streife ich meine Jeans mit einem freudigen Lächeln ab und ersetze sie durch eine Reiterhose. Der Tag verspricht jetzt schon großartig zu werden.
Meine Reitstiefel befinden sich ebenfalls in dem Raum, weil sich die anderen über den Geruch beschwert haben, der das ganze Haus erfüllt hat, nachdem ich zum wiederholten Male in einen Pferdeapfel getreten bin. Das Letzte, was ich aus dem Schrank krame, ist mein alter Cowboyhut. Seit ich hier in Kalifornien bin, habe ich ihn nicht mehr getragen, obwohl er in meiner Kindheit fast zu meiner Grundausstattung gehört hat. Erneut wird mir wieder bewusst wie sehr sich mein Leben verändert hat, aber sowas passiert wohl, wenn man einen so großen Fehler macht, wie ich es getan habe.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2018
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