Achtzehn Jahre. Ist das nicht das perfekte Alter? Die meisten Menschen würden auf die Frage wie alt sie gerne für den Rest ihres Lebens sein würden sich eine Zahl von achtzehn bis zweiundzwanzig antworten und wahrscheinlich hätte auch ich noch vor einem Jahr so geantwortet, doch ist achtzehn auch das perfekte Alter zum Sterben? Eigentlich sollte mein Leben schon in diesem Alter enden, doch das tat es nicht. Ich sah für mich nie eine Zukunft und als ich die Diagnose bekam, dass ich Krebs habe, war ich sogar ein wenig froh darüber. Ich hasse mein Leben. Immer war ich die Uncoole und Unbeliebte in meiner Klasse. Auch mit dem Alter wurde das nicht besser, da ich einfach nicht zu den Anderen passte. Ich war eine Außenseiterin. Ich kann es nicht genau erklären, doch mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, dass mein Leben jeder Zeit zu Ende sein könnte. Einfach loslassen und nie wieder etwas spüren. Nie wieder von den Anderen gehänselt werden. Und nun? Nun habe ich die Operation bei der der Krebs, der mich eigentlich hätte umbringen sollen, herausoperiert wurde, heile überstanden.
Ich sitze auf meinem Krankenhausbett und beobachte die Leute um mich herum. Sie wirken glücklich und sind in Feierlaune. Meine Mom verteilt an Jeden im Raum bunte Kuchenstücke. Sogar meine Ärzte sind hier und essen ebenfalls Kuchen. Dad hat mir erzählt, dass sie dafür eine ganze Nacht in der Küche gestanden und gebacken hat. Es ist nicht so, dass ich keinen Kuchen mag, ich kann mich nur einfach nicht freuen. Nachdem ich im letzten Jahr die Diagnose erhalten hatte, habe ich mein Leben darauf ausgerichtet, dass ich sowieso bald sterbe und Dinge getan, an die ich sonst nie gedacht hätte. Auch meiner Familie und meinen Freunden habe ich gesagt, was ich von ihnen denke. Das hat nicht sonderlich lange gedauert, da ich nicht besonders viele Freunde habe. Eigentlich nur eineinhalb. Wieso eineinhalb? Ich weiß eben nicht, ob ich mit einem von ihnen wirklich befreundet bin. Wir verhalten uns zwar wie gute Freunde, doch wirklich darüber gesprochen haben wir nie. Sein Name ist Alec Evergreen und ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind.
Es war ein warmer Sommertag, der sich bereist dem Abend zu neigte. Ich glaube an diesem Tag trug ich ein weiß und hellblau gepunktetes Kleid. Mein Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es war der Tag, an dem ich meine Diagnose bekommen hatte. Ich hatte meine Mutter möglichst freundlich gebeten mir ein wenig Zeit für mich zu geben und so hatte ich mich nach dem Besuch beim Arzt auf einen Spaziergang durch die Straßen unserer Kleinstadt in West Virginia begeben. An diesem Tag besuchte ich auch zum ersten Mal das kleine Café gegenüber von unserer Wohnung, in das ich zuvor nie einen Fuß gesetzt habe. Schon merkwürdig, dass ich genau an diesem Tag dorthin gegangen bin und ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, warum ich es getan habe, doch das wohl eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe.
Im Café roch es nach frischen Kaffeebohnen und auch ein wenig nach süßer Schokolade. Niedergeschlagen lief ich zur Bar und ließ mich auf einen Hocker sinken. Dort wartete ich auf den freundlich dreinschauenden Kellner, um es etwas zu bestellen. Schon damals machte er einen total glücklichen und lebensfrohen Eindruck. Tja, er ist halt einfach etwas Besonderes. Er kehrte mit einem über und über beladenen Tablett zur Bar, an der ich saß, zurück und nahm meine Bestellung auf. Als der Kakao, den ich bestellt hatte, fertig war, setze er sich zum mir, da er gerade anscheinend nicht so viel zu tun hatte und begann eine Unterhaltung. "Was ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte er freundlich und ließ sich auf den braunen Barhocker links neben mir fallen. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und blieb deshalb still. Ich bin nicht besonders gut in diesem Konversationsdings. Als auch er zu bemerken schien, dass ich nicht mehr antworten würde, fuhr er einfach fort: "Ich bin Alec. Meine Eltern haben all ihre Kinder nach dem Alphabet benannt. Meine Schwester heißt Betty und mein kleiner Bruder trägt den Namen Chris. Wie heißt du?" Er streckte mir seine Hand hin. Ich bemerkte, dass er versuchte ein Gespräch zu beginnen und mein Vertrauen zu gewinnen, damit ich ihm vielleicht auch etwas über mich erzähle. Wieso er das versucht, war mir zwar ziemlich schleierhaft, doch nach wenigen Sekunden der Stille gebe ich nach und antworte auf seine Frage: "Ich bin Raven." Eigentlich bin ich kein Mensch, der einfach Jedem von sich erzählt, doch in diesem Moment schien es passend. Ein schiefes Lächeln huschte über seine Lippen: "Der Name passt perfekt." Da hatte er Recht. Er spielte nämlich auf mein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar an. Nun ergab ich mich und lachte ebenfalls:"Stimmt. Diese schwarzen Haare hatte ich schon als Baby, also fanden sie es passend." "Deine Eltern machen auf mich einen ziemlich coolen Eindruck." Ich zucke mit den Schultern: "Eigentlich sind sie auch ziemlich cool und sind nicht wütend auf mich, wenn ich einen Fehler mache." Nein Raven, sie sind enttäuscht und das ist einhundert Mal schlimmer.
Noch am selben Tag lud er mich auf einen Kaffee ein und ich sagte zu. Normalerweise tue ich auch so etwas nicht, doch er war mir von Anfang an sympathisch und betitelte meine Probleme, im Gegensatz zu meiner Freundin Caroline, nie als unwichtig oder uninteressant. Ich erzählte ihm von mir und meinen Problemen, während er einfach nur ruhig da saß und zuhörte. Es war ein erfüllendes Gefühl, jemanden zu haben, der einfach nur zuhörte und weder Fragen stellt, noch einen Kommentar zu jedem zweiten Sätze abgab.
Irgendwann war ich auch dann bereit ihm von meinem Krebsproblem zu erzählen. Zu meinem Erstaunen versuchte er sich nicht bei mir einzuschleimen oder mir zu sagen, dass ich das nicht verdient hatte, sondern fragte mich, wie ich mich fühle und ob ich Lust hätte am nächsten Tag mit ihm ins Kino zu gehen. Er akzeptiere es und verändere sich mir gegenüber nicht, nachdem er von dem Krebs erfahren hatte. Von diesem Tag an, besuchte ich ihn jeden Tag im Café gegenüber von meiner Wohnung, in das ich davor noch nie einen Fuß gesetzt hatte.
Meine Freundin Caroline war da ganz anders. Wir kennen uns seit ich ihr im Kindergarten mal geholfen hatte von einem Baum herunterzuklettern, nachdem sie darauf geklettert war und sich nicht mehr alleine heruntertraute. An dem Tag entschlossen wir uns Freundinnen zu sein. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sie gefragt hatte: "Danke, dass du mir geholfen hast. Das hat vorher noch nie jemand für mich getan. Möchtest du mit mir befreundet sein?" Auch an meine Antwort kann ich mich noch erinnern: "Natürlich möchte ich deine Freundin sein. Mein Name ist Raven." "Ich heiße Caroline. Möchtest du mit mir eine Sandburg bauen gehen?" "Klar!"
Als wir in die elfte Klasse kamen, veränderte sie sich mir gegenüber jedoch total. Schon vorher hatte ich Anzeichen wahr genommen, diese aber nicht wirklich beachtet. Sie hatte eine Styleveränderung durchgemacht, um zu den Coolen zu gehören und mich damit ausgestoßen. Ich wollte nie zu den „Coolen" gehören, wenn ich mich dafür verändern musste und das wusste sie. Von da an stritten wir uns fast nur noch. Als ich sie dann aber anrief und ihr von meiner Diagnose erzählte, tat sie so, als würde sie es verstehen und sprach ihr Mitleid aus, doch ich wusste, dass es nicht ernst gemeint war. Sie hatte nur versucht sich bei mir einzuschleimen, um nicht die Freundin zu sein, mit der ich mich kurz vor meinem Tod nur gestritten habe. Sie hat es gesagt, um sich selbst gut zu fühlen. Ich wollte ihr Mitleid nie. Von Alec erzählte ich ihr nie und habe es bis heute nie getan. Sie ist zwar meine Freundin, doch alles muss sie nicht wissen.
Wenige Stunden bevor ich Alec zum ersten Mal traf, saß ich auf einem Stuhl im Krankenhaus und wartete auf die Testergebnisse. Ich drehe mich um, als mein Arzt hereinkam. Er war noch ziemlich jung. Und heiß! Er hatte braune Haare, die ihm in die Augen hingen und markante Wangenknochen, an denen man sich hätte schneiden können. Er setze sich zu mir und erklärte mir, dass ich Krebs habe. Es war ein riesiger Schock für mich und meine Mutter bekam fast eine Panikattacke. Der Arzt versuchte uns zu beruhigen, doch das klappte nicht so ganz. Wäre er kein Arzt hätte ich mit ihm ziemlich gerne Doktor gespielt.
Eigentlich lasse ich solche Gedanken nicht zu, doch im letzten Jahr habe ich mich verändert. Ich habe angefangen zu trinken und nachts in Club zu gehen. Dort habe ich dann den nächst besten Typen angemacht und bin am nächsten Morgen in seinen Armen aufgewacht. Ich habe eben immer gedacht, dass ich bald sterben werde. Schließlich hat alles darauf hingedeutet. Und jetzt muss ich weiter leben. Was soll ich nun tun? Ich kann so doch sicher nicht weiter machen, oder?
"Raven? Raven?", meine Mutter reist mich aus meinen Gedanken: "Möchtest du auch ein Stück Kuchen?" Ich blinzele kurz. "Äh, Kuchen? Nein danke", lehne ich freundlich ab. "Ach komm schon, Ray", drängt Caroline, die auch auf der hier ist. Ich habe keine Lust auf diese blöde Feier. Am liebsten würde ich mich einfach ins Bett legen und weiter schlafen. Meine Eltern haben Caroline und meine Zimmernachbarin hier im Krankenhaus eingeladen. Sie ist ziemlich nett, aber Freunde sind wir trotzdem nicht. Ihr Name ist Jessica und sie hat sich ihr Bein gebrochen. Alec wollten sie nicht einladen. Meine Eltern kennen ihn zwar, haben aber noch keine einzige Unterhaltung mit ihm geführt.
Ich sinke wieder in die Kissen und beobachte die Anderen. Alle von ihnen essen Kuchen und sind fröhlich. Wie können die das nur?
Ich ziehe mit der Hilfe meiner Mutter eine blaue Strickjacke an, nachdem wir am Morgen die Information bekommen haben, dass ich nun wieder nach Hause darf. Schonen muss mich zwar noch und soll auch keinen Sport machen, aber ich darf nach Hause und in meinem eigenen Bett schlafen. Ich liebe mein Bett! Wäre es ein Mensch, würde ich es sofort heiraten. Ich hatte eigentlich nie erwartet nochmal dort schlafen zu können, doch jetzt darf ich das wieder tun.
Da ich ja jetzt auch nicht mehr zur Schule muss, weiß ich nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll. Irgendeine Beschäftigung finde ich sicherlich, aber später muss ich dann eine langfristige Lösung finden. Das ist schwerer als erwartet.
Ächzend erhebe ich mich von meinem Bett und halte mich an den Armen meiner Mom fest damit ich nicht hinfalle. Kann ich nicht einfach hier bleiben. Ich habe keine Lust nach Hause zu fahren, nur damit meine ganzen Verwandten bei uns anrufen, um mich zu bemitleiden. Das muss ich mir echt nicht geben.
Meine Mutter stützt mich und hilft mir so aus dem Zimmer, über den Flur und in den Aufzug hinein. Jeder Schritt ist eine Anstrengung. Eigentlich sollte sowas ja kein Problem sein, doch das ist es, da ich mich als ich noch Krebs hatte, nicht sehr oft aus dem Bett bewegt hatte. Ich hatte Angst einfach zusammen zu brechen oder einfach irgendwo hin zu kotzen. Beides ist mir einmal passiert und von da an, habe ich mir geschworen, dass sowas nie wieder passiert. Ich will nicht wieder so gedemütigt werden. Zwar waren um mich herum nur Ärzte und andere krebskranke, doch es war mir trotzdem peinlich.
Es gibt, aber zwei Dinge, auf die ich mich freue. Die erste Sache ist Kakao mit Marshmallows. Ich weiß nicht wieso, aber aus irgendeinem merkwürdigen Grund haben mich die Krankenschwestern sowas nie trinken lassen. Das Einzige, was ich bekommen hatte, wenn ich danach fragte, war kalter Kaffee. Ich freue mich darauf abends vorm Fernseher zu sitzen, Indiana Jones zu schauen und einen Kakao mit bunten Marshmallows zu schlürfen. Allein der Gedanke daran zaubert mir ein leichtes Lächeln auf die sonst so starren Lippen, die meinen Miesepeterlook perfekt ergänzen.
Die zweite Sache, auf die ich mich freue, ist keine Sache, sondern eine Person und diese Person ist Alec. Denn zu meinem Bedauern habe ich es gestern versäumt ihm die große Neuigkeit mitzuteilen, obwohl ich eigentlich am liebsten zu ihm gelaufen wäre und ihm alles erzählt hätte, doch meine Eltern haben mich dazu gezwungen bei ihnen zu bleiben und mit ihnen zu feiern, dass ich nicht tot bin. Ich hoffe, dass er nicht sauer ist. Wenn doch, kann ich mir das nie verzeihen. Momentan ist er einfach der wichtigste Mensch in meinem Leben. Er hat mich wieder aufgebaut, als ich am Boden war und dafür bin ich ihm total dankbar.
In letzter Zeit ist mir jedoch aufgefallen, dass ich jedes Mal, wenn ich an ihn denke, ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Bauch verspüre, welches erst nachlässt, wenn ich aufhöre an ihn zu denken. Ist das nicht komisch? Sowas hatte ich vorher noch nie? Sind das etwa noch Nachwirkungen vom Krebs? Ich bin total verwirrt.
Da stehe ich also nun. Im Krankenhausaufzug mit meiner Mutter ohne wenigstens ein Wort mit ihr zu wechseln und denk über den Jungen nach, den ich im Café gegenüber von meiner Wohnung, welches ich vor meinem Krebs noch nie betreten habe, kennen lernte. Wenn das mal nicht ein toller Lauf der Ereignisse ist. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hatte der Krebs wenigstens eine gute Sache. Alec! Allein schon bei seinem Namen schmelze ich ein wenig dahin. Natürlich würde ich das aber nie vor anderen Leuten zugeben.
Plötzlich steigt mir ein widerlicher Geruch in die Nase und ich schaue mich im Aufzug um, um die Quelle zu finden. Auch Mom scheint es bemerkt zu haben. Erst jetzt betrachte ich den Aufzug, in dem wir uns befinden und der stetig hinab fährt genauer. Er ist aus grauem Metall und es gibt keinen Ausgang abgesehen von der fest verschlossenen Tür vor mir. Für meinen Menschen mit Platzangst wäre das hier der blanke Horror. Zum Glück mag ich enge Räume ziemlich gerne. Ob es für Leute wie mich, die gerne in engen Räumen sind, wohl auch einen Begriff gibt? Sind wir vielleicht die Engraumenthusiastiker? Okay, ich merke es selbst. Meine Gedanken driften ein wenig ab. Ich wollte doch die Quelle dieses Gestankes finden. Mit den Augen suche ich weiter. Dann springt mir plötzlich etwas ins Auge. Dort in einer Ecke liegt eine Windel. Ich gehe ein wenig näher ran und bereue es sofort, da ich nun sehen kann, dass sie voll ist. Schnell nehme ich Abstand und wenige Sekunden später springt die Aufzugtür mich einem laufen "Ping" auf.
Schnellen Schrittes verlasse ich den Aufzug und hole tief Luft. Endlich wieder richtige Luft! Es kommt mir so vor, als hätte die Fahrt mit dem Aufzug länger dauert, als wenn man einfach die Treppen genommen hätte. Diesen Verdacht hatte ich auch vorher schon, als ich früher mal runter in die Cafeteria gefahren bin. Das ist eigentlich aber ziemlich ungünstig, wenn man bedenkt, dass die Ärzte mit ihren Notfallpatienten immer diese Aufzüge nehmen, um schnell in den OP zu gelangen. Das sollte sich echt mal ein Handwerker anschauen.
Plötzlich packt mich meine Mutter am Handgelenk und zieht mich mit sich. Ich bin total überrumpelt und muss mich beeilen, um hinter ihr herzukommen. Sie scheint es wohl ziemlich eilig zu haben dieses Krankenhaus zu verlassen. Wieso nur?
Wenige Schritte später erkenne ich, warum meine Mutter es plötzlich so eilig hatte. Dort auf einem Parkplatz steht das Auto meines Vaters. Dieser sitzt lässt darin und liest Zeitung.
Am Auto angekommen, klopft meine Mutter an die Scheibe, sodass Dad uns bemerkt und die Türen öffnet. Als er die Türen geöffnet hat, steigen wir ein. Ich schnalle mich auf dem Rücksitz an und lehne meinen Kopf an das Fenster an. Bye Bye Krankenhaus und hallo Leben. Ich freue mich immer noch nicht richtig und bin nicht bemächtigt meine Gefühle zu verstecken. Es lohnt sich ja sowieso nicht. Der einzige Lichtblick ist, dass ich Alec damit überraschen werde, dass ich noch lebe. Ich hatte ihm zwar gesagt, wann meine OP ist, ihn aber gebeten weder zu kommen, noch meine Eltern anzurufen, um nach dem Ergebnis zu fragen. Ich hatte ja erwartet, dass ich sterbe und wollte es den Menschen, die ich gerne habe, nicht noch schwerer machen als es schon ist. Meine Sorge war aber anscheinend unbegründet. Na ja, das Weiterleben wird sicher nicht so schlimm.
Habe ich gesagt, dass das weiterleben nicht so schlimm wird? Dann habe ich mich auf jeden Fall getäuscht. Meine Eltern sorgen schon dafür. Sie haben mich weder die Wohnung verlassen, noch Freunde einladen lassen, weshalb ich immer noch nicht mit Alec reden konnte. Stattdessen muss ich nun schon seit drei Tagen im Bett herum liegen und mich ausruhen. Am liebsten würde ich einfach aufstehen, meinen Eltern sagen, dass ich schon achtzehn bin und sie mir nichts mehr zu sagen haben und einfach für ein paar Stunden verschwinden, doch das kann ich nicht. Es würde ihnen das Herz brechen. Erst hatte es mich gewundert, dass es mir wichtig war, ob ich ihnen das Herz breche oder nicht, doch dann bin ich einfach zu dem Schluss gekommen, dass es mir etwas ausmacht, weil sie meine Eltern sind und weil sie nur Angst haben, dass ich doch sterbe, was ich eigentlich gar nicht so schlimm fände. Es ist alles nicht so einfach.
Plötzlich öffnet sich meine Zimmertür und ich öffne die Augen, die ich bis gerade noch geschlossen hatte. Im Türrahmen steht meine Mutter. Ich frage mich, was sie wohl will. Eigentlich wollte sie doch, dass ich mich ausruhe und ein weiterhin schlafe. "Hey Mom. Was ist los?" Sie kommt weiterhin komplett still zu mir herüber und setzt sich neben mich auf das Bett. "Dein Vater und ich haben uns ausgesprochen und haben uns dazu entschieden dich hier nicht weiter einzusperren. Du bist schließlich nicht mehr in Gefahr und wir wollen dir einfach die Möglichkeit geben dein früheres Leben weiterzuleben", sagt Mom scheinheilig. Oh Gott, was geht hier ab? Irgendwie verhält sie sich total merkwürdig. "Komm zum Punkt", bitte ich ungeduldig. Sie nickt und fragt dann: "Ich wollte fragen, ob du vielleicht mit mir in die Stadt zum shoppen und Eis essen gehen willst. Ich weiß, dass du das eigentlich nicht …" Ich unterbreche sie flink und stimme zu: "Schon gut! Mit dir gehe ich gerne in die Stadt." Eigentlich hasse ich es shoppen zu gehen, doch heute mache ich mal eine Ausnahme. Sie hat so nett gefragt und ich habe Krebs überlebt. Wieso sollte ich dann nicht mal was Neues ausprobieren und aus mir heraus kommen? "Echt?", fragt meine Mutter sichtlich überrascht. Ich nicke zustimmend: "Ja, echt. Ich will mal etwas Neues ausprobieren." Meine Mutter scheint über meine Antwort so glücklich zu sein, dass sie vom Bett auf steht und mich sanft aus dem Bett zieht und es scheint so, als wolle sie sofort mit mir losgehen, doch ich halte sie auf: "Mom entspann dich bitte. Ich muss mir erst mal was Richtiges anziehen." "Oh Entschuldigung, Schatz", sagt sie ein wenig peinlich berührt: "Dann lass dir mal Zeit und zieh dich entspannt an. Ich ziehe mich dann auch nochmal um." Sie wartet gar nicht auf meine Antwort, sondern verschwindet einfach. Was ist denn heute mit meiner Mutter los? Sie ist doch sonst nicht so energiegeladen und übermütig. Dieses Verhalten ist zwar untypisch, doch irgendwie gefällt es mir und vielleicht wird es ja ganz lustig.
Als ich zu meinem Schrank gehe und die Tür öffne, spüre ich Glück. Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich wieder meine eigene Kleidung trage. Was soll ich anziehen? Ich durchwühle meinen Kleiderschrank langsam. Das ist so eine schwere Entscheidung. Eigentlich brauche ich nie lange, um zu entscheiden, welche Kleidung ich trage, doch heute ist es irgendwie schwerer als sonst. Nach einiger Zeit entscheide ich mich für das weiß und hellblau gepunktete Kleid, welches ich auch getragen habe, als ich Alec zum ersten Mal begegnet bin. Alec! Wieso kann ich nicht aufhören an ihn zu denken? Er ist so perfekt. Vielleicht treffen wir uns ja heute irgendwann noch. Das wäre auf jeden Fall schön. Ich nehme weiße Flop Flops aus einer Schublade und ziehe sie an. Zum Glück habe ich meine Beine rasiert. Das tue ich oft, obwohl es gar nicht immer nötig ist. Ich mag es einfach nicht Haare an meinen Beinen zu haben."Raven?", meine Mom klopft an die Tür: "Bist du fertig?" "Ja fast. Gibt mir noch eine Minute", bitte ich. "Okay", ruft sie und ich kann an der Lautstärke erkennen, dass sie nicht mehr vor meiner Tür steht und wieder weggegangen ist. Ich binde meine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz und schlüpfe aus meinem Zimmer, um endlich mit meiner Mutter loszuziehen.
Mit Einkaufstüten beladen laufen wir durch die Straßen unserer Kleinstadt. Der Shoppingtrip war wirklich schön und hat auch mehr Spaß gemacht als erwartet. Meine Mutter war total locker und hat mich beraten. Leider ist mir aber auch aufgefallen, dass ich ziemlich viel Gewicht verloren habe, weshalb ich meine neue Kleidung nun in kleineren Größen kaufen musste. Mir ist aber auch schon vorher aufgefallen, dass mir manche der Kleidungsstücke, die ich im Krankenhaus getragen habe, ein wenig zu groß sind und dass ich in letzter Zeit immer weniger esse. Das muss ich unbedingt wieder ändern.
Als wir fast zu Hause sind, schaue ich zu dem Café und entdecke Alec, der gerade am Arbeiten ist. Ich bleibe mitten auf der Straße stehen und kann meinen Blick nicht abwenden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie meine Mutter einfach weiter läuft. Sie scheint vollkommen in Gedanken versunken und gar nicht zu bemerken, dass ich stehen geblieben bin. Als sie bemerkt, dass ich nicht mehr neben ihr bin, schaut sie sich um und dreht sich dann zu mir um: "Was ist? Wieso bist du stehen geblieben?" Ich wende ihr nun wieder meinen Blick zu: "Du Mom geh bitte schon mal nach Hause. Ich muss noch eben was erledigen. Ist das okay für dich?" Meine Mutter schmollt erst leicht, doch dann gibt sie mir ihr okay und nimmt mir die Tüten ab. Ich nehme sie kurz in den Arm und gebe ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange: "Danke, ich beeile mich auch."
Als meine Mutter endgültig verschwunden ist, gehe ich in das Café. Alec bemerkt mich anfangs nicht. Er serviert einfach weiter und macht seinen Job. Was habe ich auch erwartet? Dass er für mich sofort alles stehen und liegen lässt? Im Café riecht es wie immer nach frischen Kaffeebohnen und man hört die Stimmen der Besucher, die sich unterhalten und Spaß haben. Ich fühle mich irgendwie ein wenig Unwohl. Ich bin kein großer Mensch von großen Menschenmengen. Am liebsten bin ich allein und tue etwas, was mich glücklich macht. Ich schlurfe zum Tresen und lasse mich auf einen Hocker sinken. Hoffentlich bemerkt er mich bald. Ich halte es mit den ganzen Menschen in diesem kleinen Café nicht mehr so lange aus, wie ich es gerne hätte.
Nachdem ich einige Minuten gewartet habe, höre ich plötzlich, wie jemand hinter mir meinen Namen ruft. Ich erkenne die Stimme sofort, weshalb ich mich umdrehe und von meinem Stuhl aufstehe, nachdem ich ihn erkannt habe. Es ist Alec. MEIN Alec. Er schaut mich fragend an, doch ich ignoriere seinen Blick und laufe auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Bei ihm angekommen, schließt er mich in seine Arme und hebt mich einige Zentimeter hoch. In diesem Moment überwältigen mich meine Gefühle. Es ist wie eine Gefühlsexplosion. Wieso reagiert mein Körper so? Sanft lege ich meinen Kopf in die Kühle zwischen seinem eigenen Kopf und seiner Schulter. Diese Position fühlt sich so vertraut an, obwohl er mich zuvor noch nie so gehalten hat. Mit ihm fühlt sich alles so vertraut an. Alec fährt mit einer seiner Hände beruhigend über meine Seite. Unter seiner Berührung schmelze ich dahin. Seine Hände sind so weich wie die eines Gottes.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen wir uns voneinander. Er schaut mich einfach nur an und legt seine Hände an mein Gesicht. In seinen Augen lese ich Freude, Überraschung und Schock. Er hat mich echt nicht erwartet. Dachte er etwas, dass ich tot sei? "Du lebst", bringt er nach einer Zeit, in der wir uns nur ansehen, heraus. Ich bin von seinen Händen an meinen Wangen immer noch ziemlich überwältigt. Sie sind so weich. Ich zwinge mich dazu mich auf seine Worte zu konzentrieren: "Ja, denkst du etwa, dass ich einfach so den Löffel abgebe? So schnell wirst du mich nicht los."
Er grinst und wenige Sekunden später spüre ich seine Lippen auf meinen. Wie ist das denn passiert? Anfangs bin ich total überrascht und traue mich nicht seinen Kuss zu erwidern, doch dann tue ich es doch. Insgeheim habe ich mir das doch immer gewünscht und nun ist mein Wunsch endlich wahr geworden. Heißt das, dass er mich liebt? In meinem Bauch fliegen eintausend Schmetterlinge umher und verursachen ein Chaos der Gefühle, welches sich auf meinen ganzen Körper ausbreitet. Der Kuss ist so heiß, dass man sich verbrennen könnte. Nicht viele Leute wissen es und ich würde es auch nicht vor Jedem zugeben, aber das ist mein erster Kuss. Liebe ich ihn? Darauf kenne ich die Antwort aber leider nicht. Ich war noch nie richtig verliebt und es hat mich auch noch nie ein Junge richtig geliebt. Jedenfalls hatte ich bisher nur einen Freund, der mich nicht wirklich liebt hat, sondern einfach nur mit mir gespielt hat. Als wir uns erneut voneinander lösen, schauen wir uns wieder in die Augen. Keiner von uns muss etwas sagen. Wir beide wissen, dass es uns gefallen hat und dass wir es gerne wiederholen wollen, doch ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und sage: "Tut mir leid Alec, aber ich muss nach Hause. Mom macht sonst Theater." Er schmollt kurz, doch dann nickt er: "Na gut. Was sein muss, muss sein. Komm mich aber bald mal wieder besuchen." Ich hebe meine Hand zum Schwur: "Ich verspreche es."
Total fröhlich und beschwingt verlasse ich das kleine Café und gehe nach Hause. Hoffentlich stellen meine Eltern mir keine Fragen. Obwohl Alec nicht mehr bei mir ist, wollen sich die Schmetterlinge einfach nicht mehr beruhigen.
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2018
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