Der Regen plätschert hart gegen das Glas meines Fensters. Ich öffne es und blicke hinaus. Ich liebe Regen. Das Geräusch das entsteht, wenn die Tropfen auf den Boden treffen ist herrlich und die Berührung der Nässe auf meiner Haut ist berauschend. Irgendwie scheint mich dieses Wetter auch zu mögen. Jedes Mal, wenn ich traurig bin, beginnt es zu regnen und die belebenden Tropfen geben mir wieder Energie für das was mir bevor steht.
Ich setze mich auf die Fensterbank und strecke meine Hand nach draußen. Meinen Kopf stütze ich auf meinen Knien ab. Das ist der einzige Ort im Heim, an dem ich gerne bin. Hier bin ich nicht so unerwünscht wie an anderen Orten und kann endlich abschalten.
Das Leben im Waisenhaus ist nicht einfach und erst Recht kein Zuckerschlecken. Ich bin nur hier gelandet, weil keiner mich haben wollte. Nicht mal meine Familie und genauso die fremden Menschen. Immer muss ich zu sehen, wie meine Freundinnen adoptiert werden, während ich schon lange hier bin.
Schon seit dem meine Eltern tot sind, bin ich hier. Meine Eltern wurden kaltblütig vor meinen Augen ermordet und keiner aus meiner Familie wollte mich haben. Nicht einmal, nachdem sie erfahren haben, was mit meinen Eltern geschehen ist. Keiner von ihnen hat sich für mich interessiert. Sie haben mich hier mit vier Jahren alleine vor die Tür gesetzt und geklingelt. Dann sind sie einfach verschwunden. Sie haben nicht einmal gewartet bis Jemand kommt. Sie haben einfach geklingelt und sind dann wieder abgehauen. Der Gedanke daran treibt die Tränen in die Augen, die ich aber schnell zu unterdrücken versuche. Ich versuche schon seit langem nicht mehr der Vergangenheit nachzuweinen, doch heute ist es viel schwerer als sonst.
Hier im Waisenhaus wurde mein Leben aber auch nicht besser. Die Erwachsenen hier behandeln mich wie Dreck und geben mir das Gefühl auch nichts anderes zu sein. Sie behalten mich nur hier, weil sie dafür Geld von der Stadt bekommen. Pro Kind bekommen sie nämlich Geld. Wenn sie wenige Kinder im Heim haben, bekommen sie auch weniger Steuern, um es sich gut gehen zu lassen.
Auch der heutige Tag hat sich kaum von den anderen unterschieben, obwohl er eigentlich anders sein sollte. Heute ist nämlich ein Ball im Tanzsaal des Heimes und es gab sogar einen Jungen, der mit mir dahin gehen würde, doch er hat mich einfach sitzen lassen, was die anderen natürlich merkten. Sie hatten alle eine Begleitperson, nur ich war wie immer alleine. Somit wurde ich wie immer von jedem gemobbt. So ist es jeden einzelnen Tag in meinem Leben. Anfangs habe ich immer versucht ihre Worte nicht an mich herankommen zu lassen, doch mit der Zeit wurde auch das immer schwieriger.
Vielleicht sollte ich einfach meine Sachen packen und verschwinden, sodass es keiner merkt und mich keiner finden kann. Im Verstecken war ich schließlich schon immer gut. Wieso tue ich das denn nicht einfach? Schließlich habe ich schon oft darüber nachgedacht! Ich könnte einfach aus dem Fenster klettern. Keiner würde irgendwas bemerken und der Regen würde meine Spuren verwischen und selbst wenn ich irgendwann gefunden werden würde, hatte ich wenigstens einige Tage für mich alleine. Ja, so mache ich das. Ich habe zwar Angst, dass mich irgendwer findet, aber ich muss jetzt stärker als meine Angst sein.
Ich klettere von der Fensterbank herunter und sehe mich im Raum um. Was kann ich benutzen, um aus dem Fenster zu klettern? Mein Blick fällt auf das Laken meines Bettes. Auch die anderen Betten haben weiße Laken. Ich könnte sie zusammen binden und als Seil benutzen. Ja, die Idee klingt gut.
Schnell laufe ich zu meinem Schrank und nehme meinen langen Kapuzenmantel heraus, den ich mir mit den anderen Kindern im Zimmer teile. Der Stoff ist glücklicherweise schwarz, sodass ich nicht sofort auffallen werde, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Ich werfe das Kleidungsstück über meine Schultern und gehe als Erstes zu meinem eigenen Bett. Ich reiße das Laken hinunter und werfe es in Richtung Fensters. Das tue ich auch bei den anderen Betten.
Als ich fertig bin, nehme ich die weißen Stoffe und knote sie fest aneinander. Ich hoffe, dass sie mein Gewicht aushalten werden. Ich richte meinen Blick gen Himmel. Mittlerweile hat es auch angefangen zu Gewittern und hin und wieder erleuchten blaue Blitze den Himmel.
Schnell werfe ich das eine Ende des Lakenseils aus dem Fenster, während ich das andere an einem Fuß meines Bettes fest knote. Hoffentlich öffnet sich der Knoten nicht oder eines der Laken reist. Dann bin ich mausetot.
Bevor ich es mir doch anderes überlege, steige ich auf die Fensterbank und blicke hinab. Verdammt! Das ist höher als gedacht! Das Seil aus Laken reicht nicht einmal ganz bis auf den Boden, das heißt, dass ich den letzten Rest springen muss. Wenn das Glück dabei auf meiner Seite ist, schaffe ich es mir nicht alle Knochen zu brechen. Wahrscheinlich würde selbst dann nicht mal jemand kommen, um nachzusehen, ob es mir gut geht.
Ich setze mich auf die Fensterbank und lege meine Hände um das selbstgemachte Seil. Ein letztes Mal atme ich tief durch und stoße mich dann vom Fenstersims.
Schnell schlinge ich meine zitternden Hände fester um das Laken, sodass ich nicht ungehindert in die Tiefe stürze und mir das Genick breche. Etwa auf der Hälfte der Strecke, also etwa im ersten Stock, bleibe ich, an das Laken geklammert, in der Luft hängen. Die ganze Zeit über versuche ich nicht nach unten zu blicken. Das Blut rauscht in meinen Adern und ich kann mein Herz laut schlagen hören. Eigentlich bin ich kein ängstlicher Mensch, aber die Höhe ist nicht so meins.
Schnell drücke ich meine Füße gegen die Steinfassade des Hauses und klettere mithilfe des Lakens die Wand hinunter, bis das notdürftig hergestellte Seil zu Ende ist. Noch etwa ein Meter trennt mich jetzt nur noch vom Boden.
Ich lasse das Seil los und springe hinab. Das war einfacher als erwartet. Endlich spüre ich wieder festen Boden unter meinen Füßen. Der Geruch das nassen Grases steigt mir in die Nase. Das Leben im Waisenhaus beinhaltet nicht gerade viel Freizeit in der Natur. Eigentlich gar keine.
Der Regen durchnässt meine Kleidung in Sekundenschnelle und das laute Geräusch eines Blitzes, der irgendwo in der Nähe einschlägt, sensibilisiert meine Ohren. Schnell setze ich die Kapuze auf und schaue mich um.
Ich bin von Bäumen umgeben. Ich weiß, dass es eigentlich nicht viele sein können, doch jetzt in der Nacht, in der ich sowieso nicht so gut sehen kann wie am Tag, wirken sie viel größer und bedrohlicher. Wo soll ich jetzt hin? Ich sollte mich vielleicht in Richtung Stadt bewegen. Dort bin ich wenigstens vor Entführungen sicherer.
Früher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, dass ich entführt werden könnte, doch in letzter Zeit häufen sich Entführungen von Jugendlichen in meinem Alter erheblich und von der Regierung wird davor gewarnt die Jugendlichen nachts alleine draußen herum laufen zu lassen. Eigentlich höre ich auf sowas nicht, da man mich ja nicht zu entführen braucht, wenn man mich wollen würde. Man könnte einfach ins Waisenhaus spazieren und mich abholen. Dieser Gedanke jagt mir einen Schauer über den Rücken. Was wenn einer der Entführer einen meiner Freundinnen aus dem Waisenhaus einfach mitgenommen hat? Ich sollte lieber aufhören darüber nachzudenken, sonst mache ich mir nur unnötige Sorgen.
Ohne weiter zu überlegen, hebe ich mein blaues Ballkleid vorne ein wenig hoch und renne in den Wald. Ich will ja nicht, dass mich jemand bemerkt. Die Abdrücke, die meine nackten Füße hinterlassen, verwischt der Regen sofort. Dafür bin ich dem Regen heute ziemlich dankbar.
Ich laufe immer weiter in den Wald hinein, zwischen den dunklen und bedrohlichen Bäumen her. Mein Atem geht schnell, während meine Füße, in immer den gleichen Abständen, auf dem Boden trappeln. Meine Kleidung ist in Sekundenschnelle durchnässt. Mir ist zwar ziemlich flau im Magen, aber weiter muss ich trotzdem, sonst war alles umsonst.
Dass mich meine Flucht in riesige Schwierigkeiten bringen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht wissen.
Die Seiten der Zeitung flattern im Wind und das Papier raschelt unter meiner Berührung. Ich ziehe meinen Mantel enger um mich und meine Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Wind ist heute echt kalt und ich möchte nicht, dass er mir die Kapuze vom Kopf bläst. Ich blättere schnell weiter und lese den Artikel auf der nächsten Seite.
Darauf ist ein Bild von einem jungen Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und ozeanblauen Augen zu sehen. Sie sieht weder richtig glücklich noch richtig traurig aus. Sie blickt einfach neutral in die Kamera, doch ihr Lächeln wirkt aufgesetzt. Sie trägt ein hellblaues Top und eine weiße Shorts. Im Hintergrund ist ein kleines Wäldchen zu erkennen. Das Mädchen selbst steht steif auf der Wiese. Aus diesen Komponenten lässt sich erschließen, dass das Foto irgendwann im Sommer aufgenommen wurde. Es scheint als wäre sie gezwungen worden das Foto zu machen.
Mein Blick wandert weiter zum dick gedruckten Titel des Artikels unter dem Bild und lese ihn in Gedanken:"Mädchen aus Waisenhaus verschwunden!" 'Wow, wie Nichts sagend' ist der erste Gedanke, der mir kommt. Sie haben den Namen...des Mädchens...erwähnt. Jeder normale Bewohner würde den Artikel einfach überspringen. Es scheint als wollten sie das Mädchen gar nicht wirklich finden.
"Hallo gute Frau", sagt plötzlich jemand vor mir. Ich hebe den Kopf und schirme meine Augen der Hand von der Sonne ab, um den Sprecher erkennen zu können. Es ist eine Frau in eleganter Kleidung. Ihr Haar hat sich vornehm nach oben gesteckt. In den Händen hält sie einen kleinen Weidenkorb. Ich brauche die Münzen darin gar nicht zu sehen, um zu wissen, was sie von mir will. Sofort wir mein Blick kalt und gefühllos:"Was sollten sie?" Sie blinzelt kurz, verwundert über meinen Tonfall:"Ich wollte sie um eine kleine Spende für die..." Ich lasse sie gar nicht aussprechen:"Nein! Können sie jetzt bitte verschwinden? Sie stehen mir im Licht." Der Frau fällt die Kinnlade herunter, doch sie verschwindet nicht:"Was sind das denn für Manieren mein Kind. So verhält sich doch keine Lady." "Da bin ich ja froh, dass ich gar nicht erst versuche eine Lady zu sein. Könnten sie jetzt bitte die Biege machen? Ich will echt nicht für ihren Vollidiotenverein spenden!" Sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich streng an. Ich verdrehe die Augen. Ich hasse ihres Gleichen und da bin ich nicht die Einzige. Sie sind auf fast dem ganzen Planeten verfasste Weggefährten und so gut wie Jeder ist froh sie los zu sein, nachdem sie einem über den Weg gelaufen sind. "Vollidiotenverein? Da muss ich mich wohl verhört haben", gibt sie zurück. Wieso gibt sie es nicht einfach auf und geht? "Nein, ihre Ohren funktionieren bestens und jetzt verziehen sie sich", ich nehme einen Stein, der neben mir auf dem Boden liegt, hebe ihn auf und werfe ihn fest auf sie. Sie schreit erschrocken auf und stöckelt auf ihren hohen Schuhen weg. Eigentlich tue ich sowas nicht und ich weiß auch, dass man sowas nicht tut, doch anders wird man diese verdammten Wisper einfach nicht los.
Sie nerven Jeden egal, ob er nun beschäftigt aussieht oder nicht. Sie sammeln Spenden, um sie dann für Opfergaben an die Elementarier zu verschwenden. Die Wisper sind eine Gruppe von Seraphinen, die als Einzige noch an die alten Legenden unseres Planeten glauben. Sie sind fest davon überzeugt, dass die Legenden stimmen und dass sie die nächsten Auserwählten der 'großen Welterschaffer' sind, wenn sie spenden für diese Sammeln und Dinge opfern.
Für Leute, die sich nicht so gut mit der Kultur Secraritys auskennen, muss dieses ganze Elementarier-Seraphinen-Wisper-Dings ziemlich merkwürdig und verwirrend sein. Ich würde es so jemandem so erklären:' Laut den Legenden unserer Vorfahren ist unsere Zivilisation vor mehreren tausenden von Jahren entstanden, weil die Elementarier Kinder mit den Menschen gezeugt haben. Die Gemeinde der Menschen wollte, aber solche Kinder nicht in ihre Gesellschaft aufnehmen, weshalb die Elementarier einen neuen Planeten für ihre Kinder erschaffen haben, damit sie dort behütet und sicher leben können. Da ihre Kinder halb Mensch und halb Elementarier waren, gaben sie ihrer Gemeinschaft den Namen Seraphinen. Den Planeten nannten sie Secrarity.' Wie man auf so einen Namen kommt, weiß ich ehrlich gesagt nicht.
'Er wurde nach dem Vorbild der Erde erschaffen, weshalb es viele Dinge gibt, die hier wie auf der Erde sind. Im Gegensatz zu den Menschen achten wir jedoch mehr auf die Natur und unseren Planeten, damit wir nicht in die gleichen Schwierigkeiten geraten wie die Menschen. Dadurch ist unsere Technologie jedoch auch ein wenig unterentwickelter und wir legen mehr Wert auf ein einfaches Leben.' Obwohl unser Planet weit von der Erde entfernt liegt, wissen wir von den Problemen auf der Erde und versuchen es besser zu machen.
Mittlerweile sind jedoch die Einzigen, die an diese Legenden glauben aber nur noch die Wisper. Im Großen und Ganzen sind sie auch einfach nur Seraphinen, denen wir einen anderen Namen gegeben haben, damit wir nicht eingestehen müssen, dass sie zur selben Art gehören wie wir. Das wissen wohl auch die Wisper, weshalb sie den Namen auch nicht wirklich akzeptieren. Sie verabscheuen uns und wir verabscheuen sie. So läuft das halt auf diesem Planeten. Es wundert mich aber echt, dass noch kein Krieg zwischen uns ausgebrochen ist. Wahrscheinlich weil die Wisper Angst haben einen "Auserwählten" umzubringen.
Die Sache mit den "Auserwählten" ist nebenbei gesagt genauso lächerlich wie der Rest der Legenden. Es gibt nämlich noch eine Legende, die besagt, dass die Elementarier ihre Kräfte immer an die Neugeborenen der nächsten Generation weiter geben, damit die Kräfte nicht verloren gehen. Damit die Kinder weiterhin das Gleichgewicht auf dem Planeten waren können. Die Elementarier hatten nämlich die Kräfte, die wichtig sind, um unseren Planeten zusammen zu halten.
Genau so würde ich es erklären. Kein normaler Bewohner dieses Planeten glaubt an die alten Legenden. Sie sind einfach viel zu skurril. Allein die Vorstellung, dass Kinder die Macht haben sollen den Planeten zu beherrschen ist lächerlich.
Selbst wenn es solche Kinder geben würde, wären sie sicher abgehoben und würden sich einen Dreck um die Seraphinen scheren. Und wann wir soll ein Kind dann dafür ausgesucht werden. Vielleicht wenn es ein besonderes Muttermal am Fuß hat oder wenn das Kind als Kleinkind schon eine perfekte Sonne malen konnte?
Das ist so albern. Ich erhebe mich von den kalten Pflastersteinen auf denen ich gesessen habe. Mein Po tut schon weh so lange habe ich gesessen. Ich muss mir unbedingt die Beide vertreten. Langsam hebe ich die Zeitung auf und lauf durch die Gasse.
Die Zeitung werfe ich einem kleinen etwa zehn Jahre alten Jungen zu, der mich fragend ansieht. Ach stimmt ja, zehn-jährige Lesen keine Zeitung. Ich ziehe einen Beutel auf meiner Manteltasche und spiele damit herum. Die Wisper am Ende der Gasse starrt gierig darauf. Ich muss lachen. Das ist so armselig.
Ich lasse meinen Blick durch die Gasse wandern. Es schmiegen sich Häuser aus dunklem Stein eng aneinander und verleihen der Gasse ein leichtes Gruselflair. Auch der Boden ist aus dunklem Stein. Vielleicht ja sogar aus dem Gleichen. An den Hauswänden, an denen keine spielenden Kinder oder armen Frauen und Männer sitzen, stehen, ebenfalls aus dunklem Material gemachte, schmale Verkaufsstände an denen Nahrungsmittel und Andenken verkauft werden.
Ich bin irgendwie gerne hier. Hier fühle ich mich wenigstens nicht so fehl am Platz wie in den anderen Gegenden der Stadt. Leider habe ich hier nie gewohnt. Ich lasse meinen Blick über die Stände und die Menschen wandern. Mir fällt ein kleiner Junge auf, der gerade einen Apfel von einem Verkaufstisch nimmt und in seine Manteltasche steckt. Ich sollte etwas dazu sagen, tue es aber nicht. Ich habe keine Ahnung von seinem Leben und will es ehrlich gesagt auch nicht. Es könnte ja sein, dass er zuhause nicht genug zu essen bekommt oder dass er schon in seinem Alter die Familie ernähren muss. Ich habe keine Ahnung, also lasse ich ihn einfach machen und gehe weiter. Schließlich habe ich ein Ziel.
Ich erblicke mein Ziel schon von Weitem. Die ältere Frau steht neben ihrem kleinen Gemüsestand und verkauft gerade einen großen braunen Sack voll mit saftigen, roten Äpfeln. Das passt echt gut zu ihr. Sie lebt für ihren Job. Bei ihrem Anblick wird mein Leben direkt immer ein bisschen Farbenfroher.
Die braunen Haare, die von grauen Strähnen durchzogen sind, hat sie zu einem strengen Knoten gebunden und ihre nussbraunen Augen verbirgt sie hinter einer großen Nickelbrille, die ihr so eine freundliche Aura verleiht. Sie trägt ebenfalls einen warmen Mantel und darunter zerrissene schmutzige Lumpen. Die ältere Frau ist zwar nicht obdachlos, doch ihr Einkommen reicht nicht, um sich Kleidung für jeden Tag in der Woche zu kaufen. Die Frau hat mir schon so oft geholfen, dass wir richtige Freundinnen geworden sind. Mittlerweile kann ich mir ein Leben ohne sie beinahe auch nicht mehr vorstellen.
"Hallo Hilley", begrüße ich die nette Frau. Sie hebt den Blick, den sie vorher auf den Verkaufstresen gerichtet hatte. Sofort zaubert meine Anwesenheit ein Lächeln auf ihre gesprungenen roten Lippen. Auch auf meinen eher rosigen Lippen erscheint ein glückliches Lächeln.
Ich gehe schnellen Schrittes, fast schon rennend, auf sie zu. Manchmal kann ich mich einfach nicht mehr zurückhalten. Sie breitet ihre Arme ein Stück aus und zieht mich in eine herzliche Umarmung, die ich sofort freudig erwidere. Das fühlt sich so gut an und erwärmt mein sonst so kaltes Herz sofort. Endlich mal wieder eine richtige Umarmung. Endlich Jemand, der mich seine Liebe und Freundschaft spüren lässt.
Das mag ich an Hilley so gerne. Sie ist so herzlich und gibt jedem schlechten Tag ein wenig Sonnenschein. Sie ist wie eine Mutter oder eher gesagt wie eine Oma für mich.
"Was tust du denn hier, mein Kind?", fragt sie gütig. Ich löse mich wieder von ihr und deute auf einen grünen und einen roten Apfel: "Äpfel kaufen!" Sie grinst freundlich und nimmt einen braunen Sack, in den sie mehrere Äpfel packt. Ich reiche der älteren Frau einen, mit Münzen auf Cobald und Nickel gefüllten, Lederbeutel. Sie winkt jedoch ab: "Nein, mein Kind. Das ist nicht notwendig. Ich weiß ja, dass du selbst nicht genug hast." "Ach komm schon Hilley. Nimm es. Du gibst mir Äpfel und ich gebe dir Geld. So läuft fairer Handel", erkläre ich streng, schenke ihr aber ein gutherziges Grinsen. Sie weiß ja, dass ich es nur gut meine.
Hilley rollt mit den Augen, nimmt dann aber den Beutel. Sie überreicht mir dafür den Sack mit den Äpfeln darin. Diese müssen für eine Woche reichen. Ich habe schließlich nicht genug Geld, um mir jeden Tag etwas Neues zu Essen zu kaufen. Ich schaue sie dankbar an.
Dann verabschiede ich mich von ihr und nehme einen saftigen Apfel aus dem Beutel, den ich sofort in den Mund schiebe und zu essen beginne. Ich will gerade an Hilleys Stand vorbeigehen, da packt mich Jemand am Arm.
Ich umklammere mit meiner Hand den Arm der Person und drehe mich ruckartig um. Das habe ich mir so angewöhnt, was mich vor Dieben schützt.
Es ist Hilley, die mich aufhält. Ich schaue sie fragend an: "Ist noch was, Hilley?"
Sie winkt mich an die Seite. Ich folge ihr und sehe sie fragend an. Hinter dem Stand bleiben wir stehen.
Mein Blick fällt auf die Zeitung in ihrer Hand: "Ist das die Zeitung von heute?" Sie nickt still und schlägt die Seite auf, die auch ich zuvor durchgelesen habe. Dann tippt sie auf das Foto: "Das bist doch du! Das bist du Stella! Wieso bist du in der Zeitung?" Ich deute auf den Titel darunter. "Du bist abgehauen?", fragt sie fassungslos. Ich zucke mit den Schultern: "Ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten, Hilley. Ich war an einem Punkt, an dem es nicht mehr ging, Hilley!" Sie schaut mich wehmütig an: "Aber Stella. Dort waren Leute, die sich um dich kümmern und für dich Sorgen. Du hattest du es dort sehr gut."
Ihre Ansprache entlockt meinen Lippen ein lautes Lachen: "Um mich kümmern? Für mich Sorgen? Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Sie haben mich dort wie den letzten Dreck behandelt, Hilley. Sie wollten nur Geld, welches sie dann ungehindert für sich selbst nutzen können." "Oh, das wusste ich nicht", sie legt einen ihrer dünnen Arme um meine Schulter: "Dann kann ich deine Entscheidung doch verstehen. Merk dir aber, dass du jeder Zeit zu mir kommen kannst, wenn du Hilfe oder etwas zu Essen brauchst." Ich lächele zwar, schüttele aber den Kopf.
Ich will Hilley nicht belasten. Sie ist schon alt und kann alles Geld, was sie verdient genauso gut gebrauchen wie ich. Im Gegensatz zu ihr bin ich es aber gewöhnt alleine zu sein und mich nur um mich zu kümmern. Sie hat noch zwei Kinder und einen Hund, um die sie sich kümmern muss. Ihre Kinder wollen immer wieder Geld von ihr und der Hund frisst ihr die Haare vom Kopf.
"Ich gehe jetzt aber auch mal lieber weiter", erkläre ich: "Ich will ja nicht entdeckt werden." Sie nickt verstehend und tätschelt meine Schulter ratlos: "Gut mach das! Lass dich aber bald mal wieder hier blicken. Ich will sicher sein, dass es dir gut geht."
Sie ist so fürsorglich, wofür ich auch echt dankbar bin. Ich hatte noch nie eine echte Freundin, doch ich denke, dass die Beziehung von Hilley und mir einer guten Freundschaft von sehr ähnlich ist. Sie sorgt sich um mich und ist für mich, da wenn ich mal nicht weiter weiß oder Hilfe brauche.
"Ja klar. Das mache ich bei der nächsten Gelegenheit", verspreche ich dankbar für ihre Fürsorge.
Dann trete ich hinter dem Stand hervor und schaue mich um. Wohin jetzt? Nach wenigen Sekunden entscheide ich mich dazu in eine kleine Gasse, in die das Sonnenlicht kaum hinein scheint, da mich dort sicher niemand entdecken wird. Ich setze meine Kapuze wieder auf und laufe mit schnellen Schritten in die Gasse hinüber. Dort werde ich mich ein über kurz oder lang verstecken, bis man nicht mehr in den Nachrichten nach mir sucht. Ich will einfach kein Risiko eingehen.
In der Gasse angekommen sehe ich mich erst mal um. Es ist echt dunkel, da die Sonne hier nicht wirklich hereinscheint. Ich schiebe die Kapuze ein wenig hoch, damit ich durch die ganze Gasse blicken kann. Sie ist komplett leer. Wie merkwürdig. Normalerweise ist hier doch immer irgendwas los und so gut wie alle Straßen sind mit wenigstens ein paar Menschen gefüllt, während andere eng wie Sardinenbüchsen sind. Langsam überkommt mich die Vermutung, dass hier irgendwas faul ist. Das war echt eine total miese Idee. Ich hätte nicht in diese Gasse gehen sollen. Es hätte mir vorher schon Spanisch vorkommen sollen. Hinter mir vernehme ich ein Geräusch und lasse den Sack mit den Äpfeln fallen.
Plötzlich packt mich jemand an den Armen und jemand anderes hält mir den Mund zu. Was ist denn hier los? Ich versuche zu sprechen und zu fragen, wer das ist, doch die Person presst mir die Hand nur noch fester auf den Mund. Hektisch versuche ich so schreien, doch auch dieser Versuch schlägt fehlt. Innerhalb von wenigen Sekunden überkommt mich Panik und meine Starre löst sich auf. Ich beginnen um mich zu schlagen und mich zu wären, doch die Personen umklammern mich nur noch fester. Einer von ihnen hält mir den Mund zu, während der Andere meine Arme fest hält.
Als sie auch zu bemerken scheinen, dass ich mich zu wehren beginne, tritt einer von ihnen wie wild gegen mein Schienbein, während der Andere mir seine Faust in den Bauch rammt.
Mir bleibt die Luft weg, doch ich höre nicht auf. Meine Knochen weigern sich aufzugeben. Ich will nicht aufhören. Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass jemand mich entführt, obwohl mir die Angst tief in den Knochen sitzt.
Ich wehre mich weiter, doch es scheint hoffnungslos. Was wollen diese Leute von mir?
Eine Hand schließt sich um meine Kehle und schnürt mir die Luft ab. Ich beginne nach Luft zu schnappen und die Hand von meinem Hals zu entfernen, doch der Griff ist zu feste. Jede Sekunde ohne Luft ist eine Qual. Langsam wird alles um mich herum schwarz und ich schließe meine Augen.
Ich schlage ruckartig die Augen auf. Meine Hände wandern zu meiner Kehle. Sie ist frei von irgendwelchen fremden Händen und ich bekomme endlich wieder genügend Luft. Ich versuche mich schnell umzudrehen, doch das ist nach wie vor nicht möglich, da jemand meine Arme umklammert hält.
Ich versuche mir wieder Klarheit zu beschaffen und drehe meinen Kopf zu der Person, die meine Arme umklammert hält. Es ist eine Frau.
Ihr Anblick jagt mir einen Schauer über den Rücken. Die rechte Hälfte ihres Gesichts ist verbrannt und die Haut ist zerfleischt. Ihre linke Hand weißt ebenfalls Brandspuren auf, während auf ihrer linken Hand eine große Wunde klafft. Ich erschaudere, kann meinen Blick aber auch nicht von ihr abwenden. Sie macht mir Angst und meine Panik wächst ins Unermessliche.
Schneller als ich gucken kann, schließen sich plötzlich zwei Hände um den Kopf der Frau und brechen ihr mit einer einzigen Handbewegung nach rechts das Genick.
Ich zucke zusammen und schreie laut auf. Was geschieht hier denn nur? Ist da etwa noch jemand, der mich entführen will?Schnell ziehe ich meine Hände aus der Umklammerung der Frau und mache einige Schritte zur Seite.
Fast stolpere ich über etwas. Mit einer Hand schaffe ich es gerade noch mich an, einer der dunklen Wände in der Gasse, abzustützen. Meine Augenbraue wandert in die Höhe und ich suche nach der Stolperfalle.
Als ich sie entdecke, bekomme ich fast einen Herzinfarkt. Ich weiche zurück und drücke mich an die Wand. Der Schweiß läuft mir die Stirn herunter. Das kann doch nicht wahr sein. Ich sinke zu Boden.
Auf dem Boden liegt ein Mann oder eher gesagt sein Körper. Er trägt genau wie die Frau, die mich festgehalten hat, eine rote Robe mit einer großen Kapuze. Auch die Hände dieses Entführers sind verbrannt. Ich werfe erneut einen Blick auf die Kapuze, wende meinen Blick dann aber sofort wieder ab. Der Leiche fehlt ihr Kopf.
Bei dem Anblick wird mir schlecht. Wer hat das getan? Ich weiß, dass diese Leute mich entführen wollten und dass sie es vielleicht auch verdient haben, doch ich wünsche keinem so zu sterben.
Mein Blick wandert weiter zu der Leiche der Frau. Ihr Kopf hängt schief auf ihrer Schulter. Mein Retter muss ihr das Genick gebrochen haben. Die Augen meiner Entführerin blicken leer in die Luft und ihr Körper ist, genau wie der des Mannes, blutleer.
Plötzlich höre ich Schritte hinter mir und drehe mich um. Dort steht Hilley. Ich schaue sie erst fragend an, doch dann verstehe ich ihre Rolle in dem ganzen Geschehen hier. Ich weiche vor ihr zurück: "Du? Du hast sie getötet?"
Diese Frage erübrigt sich, als mein Blick weiter zu ihren Händen wandert. Sie sind blutüberströmt. Das Blut glitzert frisch und tropft langsam hinunter auf die Steine und bildet dort zwei kleine Pfützen.
Ich erschaudere bei dem Gedanken daran, dass diese alte Frau gerade zwei Menschen umgebracht hat.
Sie bemerkt meinen Blick zwar, geht aber nicht näher darauf ein, sondern sagt nur: "Ich weiß wie das jetzt alles auf dich wirken mag, aber du musst jetzt sofort mit mir mitkommen, Stella. Es ist hier zu gefährlich für dich." Ich schüttele den Kopf: "Wieso sollte ich das tun?" "Weil wir Freunde sind und ich nur das Beste für dich will." "Wie kann ich mir wirklich sicher sein, dass du mich nicht auch entführen willst?", frage ich misstrauisch, bewege mich aber nicht weiter von ihr weg.
Sie seufzt und legt ihre Hände an ihren Ansatz. Dann greift sie sich in die Haare und zieht sie sich plötzlich vom Kopf. Ich schnappe nach Luft. Unter den grau-braunen Haaren, die offensichtlich eine Perücke sind, kommen lange braune Haare zum Vorschein. Ich runzele die Stirn und betrachte die Frau, von der ich immer gedacht hatte, dass ich sie gut kenne. Diese Vermutung ist aber scheinbar falsch.
Als Nächstes setzt sie die Nickelbrille auf ihrer Nase ab und steckt sie in die Tasche ihres Mantels.
Dann legt die Finger an ihre Ohren und zieht sich plötzlich die Haut ab. Ich schreie leise auf und wende den Blick ab. Was tut sie denn jetzt?
Mein Blick fällt auf die Haut, die zu Boden fällt und dort liegen bleibt. Sofort erkenne ich erleichtert, dass es eine Maske ist.
Ich schaue wieder zu Hilley hinauf. Sie sieht nun gar nicht mehr wie die Hilley aus, die ich kenne.
Ihre Gesichtszüge sind jung und ihre Augen leuchten energetisch. Über ihre Schulter fallen ihre langen hellbraunen Haare in großen Locken. Ohne die Brille wirkt sie auch nicht mehr wie eine alte Dame, sondern eher wie eine junge Frau. Sie scheint etwa dreißig zu sein und wirkt in dieser dunklen Gasse total fehl am Platz.
Ich bin sprachlos. Wie konnte sie das nur so lange vor mir geheimhalten und noch wichtiger ist die Frage, wieso sie mir überhaupt vorgegaukelt hat, eine alte Frau zu sein! Was hat sie für einen Grund dazu? Das ist für mich total unfassbar.
"Das kannst du nicht. Ich weiß nicht, wieso du mir vertrauen solltest", erklärt sie. Wenigstens ist sie ehrlich. Doch sie scheint noch nicht fertig zu sein und fährt fort: "Ich denke, dass du einfach auf den Herz hören musst. Es wird dir sagen, was du tun sollst."
Ich blicke sie verwundert an. Oh nein, ich soll auf mein Herz hören? Darin bin ich total schlecht. Lieber vertraue ich meinem Kopf. Er weiß, was zu tun ist. Mein Herz ist töricht und unterliegt den Gefühlen. Doch soll ich ihm in diesem Fall vertrauen? Was geschieht, wenn ich mich dazu entscheide ihr zu vertrauen und was wenn nicht?
Hilley streckt ihre Hand erneut nach mir aus. Ich hadere kurz mit mir, doch dann strecke ich meine Hand ebenfalls aus und lege sie in ihre. Das Blut tropft nach wie vor hinab, doch das stört mich nicht. Diese Frau hat mir geholfen. Sie hat mich vor einer Entführung gerettet und vermutlich hat sie mir auch das Leben gerettet. Ich konnte ihr ja auch vorher schon vertrauen und sie hat mir auch schon so oft geholfen. Da muss ich ihr auch mal vertrauen und mir helfen lassen. Ich kann ja nicht für den Rest meines Lebens weglaufen.
Die junge Frau zieht mich vom Boden hoch und richtet meinen Mantel schnell. Dann zieht sie ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche und wischt das Blut an ihren Händen davon ab.
Als sie damit fertig ist, steckt sie es in ihre Tasche zurück und hebt sowohl die Perücke, als auch die Maske vom Boden auf und umschließt mit ihrer freien Hand meine. Mit einem Blick bedeutet sie mir, dass ich ihr einfach folgen soll und ich tue, was sie von mir verlangt.
Ich folge ihr durch die Gasse hinaus auf einen Platz, in dessen Zentrum eine große Engelsstatue steht. An der Straße, die sich um die Statue herum schlängelt, bleiben wir stehen. Hilley blickt erst nach rechts und dann nach links. Wonach sie wohl Ausschau hält?
Diese Frage beantwortet sie mir in der nächsten Sekunde, als sie eine Kutsche mit einer Handbewegung zu uns heranwinkt. Der Kutscher lenkt das Pferd zu uns und nickt Hilley zu. Sie lächelt ihn freundlich an und lässt dann meine Hand los, um ihm einen klappernden Beutel zu geben. Darin scheint sich als Geld zu befinden. Er nimmt ihn schnell und lässt ihn dann in seiner Tasche verschwinden.
Hilley wendet sich nun wieder mir zu: "Steig bitte schon mal ein und warte dort auf mich." Ich schaue misstrauisch von Hilley zum Kutscher und dann wieder zurück, doch dann komme ich ihrer Bitte nach und steige ein. Vielleicht hätte ich ihr ja doch nicht vertrauen sollen.
Durch die hölzernen Wände der Kutsche ist die Stimme des Kutschers zu hören: "Steht der Plan noch, Miss Jackson?" Miss Jackson? Das muss wohl Hilleys Nachname sein. Es gibt so Vieles, was ich von ihr nicht weiß.
"Ja Taylor. Bringen Sie mich bitte zu dem Ort, den wir abgemacht hatten", flüstert Hilley. "In Ordnung, Miss Jackson. Steigen Sie bitte ein", fordert er. Ich vernehme Hilleys Schritte auf den Asphalt und setze mich richtig hin.
Wenige Sekunden später öffnet sich die Holztür und die junge Frau steigt ein.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, setzt sie sich auf den Platz gegenüber von mir und blickt still zu Boden. Sie scheint auf Etwas zu warten. Doch worauf?
Die Kutsche fährt an und sie hebt den Kopf. In ihrem Blick ist die Erleichterung ganz klar zu erkennen. Ich sehe sie fragend an. Sie lächelt freundlich.
Ich breche das Schweigen: "Wohin fahren wir?" Sie holt tief Luft: "An einen Ort an dem du sicher vor solchen Seraphinen, wie denen in der Gasse bist." "Und wo genau ist dieser Ort?", frage ich beharrlich weiter. "Das wirst du noch früh genug erfahren", sagt sie geheimnisvoll und schaut wieder zu Boden. Mit dieser Geste macht sie mir deutlich, dass ich keine weiteren Fragen zu stellen brauche, da sie diese sowieso nicht beantworten wird.
Ich kuschle mich fester in die Decke hinein. In diesem Zimmer ist es eiskalt. Leider brennt das Feuer am Kamin auch nicht und ich weiß auch nicht wo die Streichhölzer zum Anzünden liegen.
Vor Erschöpfung fallen meine Augen immer wieder zu und ich kämpfe jedoch gegen die immer stärker werdende Müdigkeit an. Der heutige Tag war einfach viel zu anstrengend und verwunderlich für mich. Ich bin total erschöpft, doch schlafen möchte ich noch nicht. Ich möchte nur ein bisschen über den Tag nachdenken und mir über ein paar Sachen klar werden. Eher kann ich nicht ruhig schlafen.
Das ist eines meiner Probleme. Wenn ich meine Gedanken noch nicht zu Ende gedacht habe, kann ich auch nicht ruhig schlafen. Das ist total nervig, doch so ist es.
Ich drehe mich auch auf den Rücken und starre an die weiße Decke. Im Zimmer riecht es nach Zitrone und es ist kein Geräusch, abgesehen von dem, das entsteht, wenn ich ausatme, zu hören. Diese Stille beruhigt mich. Ich hasse laute Geräusche und viele Leute auf einem Haufen.
Dieser Tag war einfach zu viel für mich. Erst diese Vermisstenanzeige in der Zeit, dann die fehlgeschlagene Entführung und Hilley, die sich vor meinen Augen in jemand Anderen verwandelt und zwei Menschen tötet. Und dann noch unsere Ankunft hier.
Hier in diesem großen Haus weit weg von der Stadt mitten im Nirgendwo. Um das Haus herum sprießen Hunderte von Bäumen aus dem Boden. Große und kleine. Viele mit grünen und wenige mit orangenen Blättern. Ich freue mich schon darauf bald mal durch den Wald zu streifen und ein paar Stunden in der Natur zu verbringen. Das wäre eine schöne Abwechslung und würde mich auch von den Ereignissen dieses Tages ablenken. Denn auch, nachdem wir hier angekommen waren, hörten die Überraschungen nach auf.
Nachdem die Kutsche angehalten hatte, waren wir ausgestiegen und Hilley hatte sich erneut bei dem Kutscher, Taylor, für seine Hilfe bedankt. Unterdessen hatte ich mich ein wenig umgesehen. Einige Meter von uns entfernt befand sich ein großes Haus, dessen Fassade mit weißer Farbe bepinselt worden war. Die Haustür war aus dunklem Eichenholz und an der Außenfassade befanden sich mehrere große Fenster, durch die man im Inneren des Hauses wahrscheinlich einen wunderschönen Ausblick auf die Wiesen hat, die das wunderschöne Haus umgeben.
Rechts neben dem Haus stand ein großer Kirschbaum mit rosanen Blütenblättern. Aus der Baumkrone hat man wahrscheinlich eine wunderschöne Aussicht. Ich schnupperte in die Richtung des Baumes und mir stieg der Geruch von Kirschen in die Nase. Mhm, Lecker!
Ich wäre am liebsten sofort losgelaufen und hätte mich auf dem ganzen Grundstück umgesehen, doch das wäre in diesem Moment wahrscheinlich unangebracht gewesen, weshalb ich einfach stehen geblieben bin und auf Hilley gewartet habe.
Sie hatte sich neben mich gestellt und auf das Haus gedeutet: ″Das ist mein Haus, Stella. Ich würde mir wünschen, dass du hier mit mir wohnst.″ Ich runzelte die Stirn und betrachtete sie ratlos: ″Wieso das denn?″ ″Das werde ich dir später erklären. Versprochen″, sie hob die Hand zum Schwur. Ich begann auf meiner Lippe herumzukauen: ″Ich weiß ja nicht so recht.″ ″Bitte, Stella. Alles wird Sinn ergeben. Das verspreche ich dir, aber jetzt musst du mir vertrauen.″ Ich nicke daraufhin zustimmend. Sie klang ehrlich und es schien ihr wirklich wichtig zu sein. Sie schloss mich erneut ihre Arme und drückte mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
Es schien einfach so, als wäre es ihr total wichtig gewesen, doch mittlerweile bereue ich es zugestimmt zu haben. Ich hätte einfach wieder zurück in die Stadt gehen und alleine weiterleben sollen. Ich habe keine Ahnung, was Hilley von mir will und kann einfach nicht mehr aufhören darüber nachzudenken, warum sie mich so gerne bei sich behalten will.
Vielleicht sollte ich einfach in der Nacht verschwinden und die Stadt verlassen. Sie würde mich nicht finden. Ich bin gut darin mich zu verstecken und sie würde sicher irgendwann aufhören nach mir zu suchen. So wichtig bin ich ja nicht.
Ich schiebe die Decke zur Seite und klettere leise aus dem Bett. Im Zimmer stehen nur mein Bett, welches mit blauer Bettwäsche bezogen ist, ein dunkler Schrank und ein Schreibtisch in der gleichen Farbe. Es ist einfach gehalten, aber trotzdem ziemlich gemütlich. Jedenfalls gemütlicher als mein Zimmer im Waisenhaus, das ich mir mit anderen Jungendlichen teilen musste.
Aus dem Schrank nehme ich meine Sachen, die am Abend gegen Sachen, die Hilley mir gegeben hatte, eingetauscht. Schnell ziehe ich die fremden Kleidungsstücke aus und meine an. Dann streife ich auch meinen Mantel über. Es ist mein Einziger und gleichzeitig auch mein Liebster.
Auf Zehnspitzen schleiche ich zu meiner Zimmertür, die ich geräuschlos öffne. Ich möchte nicht, dass mich Jemand entdeckt. Hilley wäre sicher enttäuscht, wenn sie mich dabei erwischen würde, dass ich zu verschwinden versuche.
Als die Tür offen ist, schleiche ich geräuschlos zum Treppenabsatz und nehme jede der knarrenden Treppenstufen einzeln. Das hier ist wahrscheinlich keine gute Idee, doch diesen Gedanken verdränge ich einfach und konzentriere mich lieber darauf nicht allzu laut zu sein.
Am Ende der Treppe angekommen, sehe ich mich um. Hilley ist nirgends zu sehen. Zum Glück habe ich mir den Weg von der Haustür in mein Zimmer gemerkt.
Schnell eile ich zur Tür, um das Haus endlich zu verlassen. Ich habe den Türgriff bereits in der Hand, als Jemand hinter mir plötzlich die Stimme erhebt: ″Was hast du vor?″
Ich zucke vor Schreck zusammen und fahre zu der Person, der die Stimme gehört herum. Schon bei dem ersten Buchstaben, der aus ihrem Mund dran, wusste ich, dass es nicht Hilley sein kann. Außer sie hat ihre Stimme auch die ganze Zeit verstellt, aber das scheint fast unmöglich. Schließlich kann so gut wie keine Erwachsene Frau ihre Stimme so verstellen, dass sie wie die einer Sechzehnjährigen klingt.
Vor mir steht eine sechzehn-jährige Teenagerin. Sie trägt ein enges Top und eine kurze Schlafhose. Sie hat also bis gerade noch geschlafen. Mein Blick fällt auf ihre blonden Haare. Diese sitzen perfekt. Wie ist das möglich? Meine dunkelbraunen Haare sind immer ein richtiges Vogelnest, wenn ich morgens aufstehe und ich brauche total lange, um wenigstens die größten Knoten heraus zu kämmen. Mein Blick wandert weiter in ihr Gesicht. Ihre Wangen sind rosig und ihre bernsteinfarbenen Augen wirken so wach, als wäre sie schon seit Stunden wach und nicht gerade erst aufgestanden. Wie kann man aus dem Bett aufstehen und sofort so gut aussehen? Das macht mich total neidisch, doch ich habe jetzt keine Zeit, um sie zu fragen, wie sie das macht.
″Das geht dich gar nichts an″, gebe ich zurück und ergreife wieder den Türgriff. ″Ach nein? Willst du etwa, dass ich Hilley hole, damit sie dich fragt, was los ist?″ Ich schüttele ruckartig den Kopf: ″Wenn du das tust...″ Sie unterbricht mich sofort: ″Dann was? Petzt du, dann?″ Ich versuche mich zu beruhigen: ″Nein, dann breche ich dir den Arm.″ Sie lacht herausfordernd: ″Das würdest du nicht wagen.″
Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe, wie sie bei der Bewegung zusammen zuckt. Anscheinend glaubt sie wirklich, dass ich das tun würde. Ich beschließe dieses Detail für mich zu nutzen. Ich bewege mich schnell auf sie zu und drücke sie mit meinem Ellenbogen an die Wand. Sie ist total überrascht und auch ängstlich: ″Hilley! Komm schnell runter. Sie will mir den Arm brechen.″ Ich nehme den Ellenbogen schnell wieder weg und werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
Wenige Sekunden nachdem das Mädchen gerufen hat, kommt Hilley schon die Treppe runter gelaufen und schaut zwischen uns beiden hin und her: ″Was ist denn hier los?″ ″Sie hat gedroht mir den Arm zu brechen und versucht abzuhaben″, petzt das Mädchen sofort. Ich werfe dem Mädchen einen wütenden Blick zu und schaue dann schuldbewusst zu Hilley. ″Du willst einfach so verschwinden?″, fragt sie enttäuscht.
Ich kaue auf meiner Lippe herum und wage es nicht ihr in die Augen zu blicken. Sie ist enttäuscht. Das weiß ich auch ohne sie anzusehen. ″Ja″, antworte ich leise. ″Wieso?″ ″Weil ich nicht verstehe, wieso ich bleiben soll″, gebe ich ehrlich zu. ″Du sollst bleiben, weil du total wichtig für uns bist″, sagt sie: ″Genau wie Ruby hier.″ Sie deutet auf das Mädchen neben mir. Sie heißt also Ruby?! Der Name passt irgendwie zu ihr. ″Und wieso bin ich wichtig?″, frage ich weiter.
Sie seufzt und nimmt meine Hand. Dann zieht sie mich ins Wohnzimmer. Sie deutet mit der Hand auf das Sofa: ″Bitte setz dich.″ Ich tue wie mir geheißen. Hilley setzt sich neben mich und legt meine Hände in ihre: ″Ich werde dir jetzt alles erklären.″
Ich bin gespannt, was sie mir zu erzählen. Hoffentlich beantwortet sie mir alle wichtigen Fragen, die mir schon den ganzen Tag auf der Zunge brennen. Wieso wollten diese Leute mich entführen? Wieso bin ich wichtig? Was macht mich denn wichtig? Wofür braucht Hilley mich so dringend und ist Ruby aus dem gleichen Grund wie ich hier?
Hilley schluckt schwer und schaut zu Boden. ″Hilley! Bitte fang an", bitte ich nachdrücklich. Sie hebt den Kopf und schaut mir in die Augen. Ihre Augen glitzern weißlich. Das ist ja merkwürdig. Sowas habe ich vorher noch nicht gesehen. Es scheint, als würden sie von ihnen heraus leuchten.
"Na gut. Dann fang ich mal an", beginnt sie:"Du kennst doch diese Legenden oder?" "Meinst du die von den Elementariern?" Sie nickt: "Ja genau die. In den Legenden wird ja davon erzählt, dass jeder alte Elementarier seine Kräfte kurz vor seinem Tod an ein Neugeborenes weitergibt. Hast du davon schon mal gehört?"
Aus einer Kurzschlussreaktion heraus breche ich in lautes Gelächter aus: "Du glaubst daran? Das ist doch totaler Quatsch!"
Hilley scheint es aber nicht so witzig zu finden, was ich an ihrer Reaktion merke. Sie blickt mich entgeistert an.
Ich höre wie das neue Mädchen, welches jetzt also Ruby heißt, hinter mir laut schnaubt.
Schnell drehe ich mich zu ihr um und werfe ihr einen bösen Blick zu. Was ist das denn für eine Zicke?
"Beherrsche dich, Ruby", ermahnt Hilley das fremde Mädchen laut.
Nun wendet sie sich wieder mir zu: "Nun zu dir, Stella! Das ist kein Quatsch. Es ist die Wahrheit. Du hast dich entschieden mir zu vertrauen, also kannst du mir jetzt auch bei dem hier vertrauen. Die Legenden sind wahr."
Ich springe lachend auf: "Du überraschst mich immer wieder. Ich habe viel von dir erwartet, aber nicht, dass du einer dieser widerwärtigen Wisper bist. Das hätte ich echt nicht von dir erwartet."
Langsam schlurfe ich zur Tür, doch Ruby stellt sich mir in den Weg. Ich verdrehe die Augen: "Lass mich vorbei. Dieses Theater halte ich nicht mehr länger aus."
"Lass mich bitte ausreden, Stella", bittet Hilley, doch ich ignoriere sie einfach und versuche mich an Ruby vorbei zu bewegen. Ruby lässt das jedoch nicht zu und schubst mich zurück ins Wohnzimmer.
Überrascht von ihrer plötzlichen Stärke, betrachte ich sie genau. Ihre bernsteinfarbenen Augen beginnen auf einmal von ihnen heraus rot-orange zu leuchten und es wirkt, als würden Flammen in ihren Pupillen lodern. Einerseits ist das ziemlich beeindrucken und, andererseits macht sie mir gerade auch ein wenig Angst. Ich weiche ein Stück zurück.
"Ruby. Beruhig dich. Auf der Stelle", ruft Hilley hinter ihr und stellt sich zwischen mich und das Mädchen. Was ist denn jetzt los?
Hilley dreht mir kurz den Kopf zu und bittet mich: "Lauf los, Stella. Lauf nach draußen und warte dort auf mich." Ich starre sie fragen dann bemerke ich aber ihren eindringlichen Blick, der mir sagt, wie ernst es mir ist. Schnell fasse ich den Entschluss zu tun, worum sie mich gebeten hat und nicke ihr zu. Daraufhin dreht Hilley sich um und packt Ruby an den Händen. Ich stürme an ihr vorbei und reiße die Tür auf.
So schnell ich kann, renne ich nach draußen und über den sandigen Weg, der von Haus zur Straße führt. Draußen ist es bereits dunkel und ich kann die Hand kaum vor Augen sehen, doch ich weiß, dass der Weg da ist.
Plötzlich stolpere ich über einen Ast und stürze zu Boden. Scheiße. Ich drehe mich zum Haus um. Durchs Fenster sehe ich, wie Hilley Ruby festhält und wenige Sekunden später flackert etwas auf. Leider kann ich aber nicht erkennen was. Ich kann jedoch Hilleys laute Stimme hören. Es ist zu hören wie Ruby und Hilley sich streiten. Ruby schreit Hilley an und plötzlich poltert es. Was war das denn? Langsam bekomme ich richtige Panik. Was geschieht dort?
Ich setze mich auf und starre weiter durchs Fenster. Ruby ist weg. Nur Hilley steht noch da und rauft sich die Haare.
Ich richte den Blick gen Boden. Es tut mir leid, dass sie nur meinet wegen solche Probleme hat.
Plötzlich steht sie vor mir und hält mir die Hand hin. Ich zucke zusammen. Wie konnte sie so schnell sein? Langsam wird das ganz hier immer seltsamer und mich beschleicht das Gefühl, dass Hilley nicht unbedingt verrückt sein muss. Vielleicht hat sie ja sogar recht. Vielleicht gibt es die Elementarier wirklich und sie geben ihre Kräfte an irgendwelche Kinder weiter. Das wäre eine gute Erklärung dafür, dass sie plötzlich vor mir steht. Vielleicht kann sie ja durch die Zeit reisen oder so. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass ich ihr vielleicht doch zuhören sollte.
Meine Hand zittert, als ich sie in ihre lege. "Ich vertraue dir", sage ich: "Erzähl mir alles."
Ich sitze auf den weinroten Sofa im Wohnzimmer und halte eine mit Tee gefüllte Tasse in der Hand. Hilley hat mir eine Decke um die Schultern gelegt und das Kaminholz entzündet.
Die junge Frau sitzt mir gegenüber und hat ebenfalls einen Tee in der Hand. Ich warte darauf, dass sie anfängt. Dies scheint sie zu bemerken: "Ich fang dann mal lieber an." Es scheint, als würde sie es mehr zu sich selbst, als zu mir sagen.
Ich nehme noch einen Schluck aus meiner Tasse.
Sie schluckt noch einmal schwer und rückt dann mit der Sprache heraus: "Was ich vorhin gesagt habe, ist wahr. Es gibt die Elementarier und sie haben ihre Kräfte bereits vor sechzehn Jahren entschieden, welche sechs Neugeborenen ihre Kräfte erben sollen." Es wird also vor der Geburt der Kinder entschieden?! Das heißt die Elementarier wissen vorher nicht wie sich die Kinder entwickeln. Was geschieht, wenn eines der Kinder sich falsch entscheidet und die Kräfte missbraucht? "Sechs Kinder? Wer? Welche Kinder? Wie sind ihre Namen?", frage ich interessiert. Ich bin mir nicht sicher, wieso mich das interessiert, aber ich will es irgendwie wissen. Vielleicht bin ich einem dieser Kinder ja schon mal begegnet.
Hilley muss lächeln: "Ich kenne noch nicht alle von ihnen. Ich weiß nur von der Existenz von dreien von ihnen." Ich ziehe eine Augenbraue hoch: "Echt? Wie heißen sie? Du musst es mir sagen." Sie nickt und schiebt mir einen Zettel über den Tisch hinweg zu. Ich schaue sie fragend an, doch sie nickt mit dem Kopf in Richtung des Zettels. Mit dieser Geste weißt sie mich an das Papier zu lesen.
Ich nehme es von der Tischplatte herunter. Es ist bereits vergilbt und dreimal gefaltet. Mit Fingern, die vor Aufregung und Anspannung zittern, falte ich das Blatt aufeinander.
Darauf steht, geschrieben mit blauer Tinte, eine Reihe von Namen. Neben einige von ihnen wurden mit einem Bleistift Notizen gekritzelt, während einzelne von ihnen mit roter Tinte geschrieben wurden.
Ich hebe meinen Blick wieder vom Papier und schaue Hilley fragend an: "Welche davon sind die drei?" "Die in rot", sagt sie leise.
Mein Blick richtet sich wieder auf das Papier. Der erste Name in Rot lautet "Ruby Smith". "Ist das die Ruby von vorhin?", frage ich überrascht. Sie nickt. "Dann ist sie also eine Auserwählte?", frage ich überrascht. Sie nickt erneut zustimmend. "Welche Kräfte hat sie?", frage ich weiter. Ich muss ja wissen mit wem ich es zu tun hat. "Das musst du sie bei Gelegenheit selbst fragen", bittet sie.
Ich richte meinen Blick wieder auf das Blatt und murmele: "Na gut." Der nächste Name lautet "Katherine Peters" und ich will gerade fragen, wer das ist, doch da lese ich die Bleistiftnotiz daneben. "Nicht sicher", steht dort in Klammern geschrieben. Das heißt Hilley weiß gar nicht, ob dieses Mädchen die Kräfte der Elementarier geerbt hat. Merkwürdig. Wie kann man sowas überhaupt feststellen? Vielleicht sollte ich sie mal fragen. "Wie kannst du feststellen, wer die Kräfte geerbt hat?" "Das kann ich dir gleich zeigen. Lies aber bitte erst weiter", bittet sie geheimnisvoll.
Ich tue wie mir geheißen und lese den letzten in Rot geschriebenen Namen. Vor Schreck erstarre ich sofort zu einer Eissäule. Der Name, der dort steht, lautet Stella Valerios. Und es ist nicht nur irgendein Name, nein, es ist mein Name. "Wieso ist mein Name dort aufgeführt?", frage ich erschrocken. Die Angst ist mir an der Stimme anzuhören. "Weil du mit ziemlicher Sicherheit eines der auserwählten Kinder bist", erklärt sie so, als müsste ich eigentlich wissen, dass sie mich nur deshalb gerettet hat. Wenn sie es nur aus diesem Grund getan haben sollte, bin ich echt beleidigt.
"Mit ziemlicher Sicherheit? Wie kann sicher gehen?", harke ich interessiert nach.
Hilley greif in ihre Tasche und zieht etwas heraus. Es ist ein kleiner blauer Kristall an einem dunklen Lederband. "Bitte leg sie um", Hilley überreicht mir die Kette. Ich nehme sie vorsichtig. Sie scheint sehr wertvoll für Hilley zu sein.
Weil sie mich darum gebeten hat, lege ich die Kette um meinen Hals und schließe den Verschluss hinten.
Als der Kristall meine Haut berührt, leuchtet er plötzlich von innen heraus. Im selben Moment erscheint das Bild eines Sees in meinem Kopf.
Wenige Sekunden später ist der Moment jedoch wieder vorbei und ich blinzele mehrmals, bis ich zurück im Wohnzimmer von Hilleys Haus sitze. Das war ja merkwürdig. Sowas ist mir noch nie passiert.
Ich bemerke Hilleys interessierten Blick: "Und? Was ist passiert? Was hast du gesehen?" "Einen See", antworte ich noch völlig neben der Spur. Dieses merkwürdige Bild hat mich total aus der Bahn geworfen.
Mein Blick wandert zu dem blauen Kristall. Er leuchtet nur noch schwach. Ich nehme ihn in die Hand.
Als einer meiner Finger ihn berühren, zucke ich zurück. Ich habe mich an einer spitzen Kante geschnitten, doch komischerweise blute ich nicht. Es läuft nur ein bisschen Wasser auf der Wunde. Ich ziehe verwundert die Augenbrauen hoch.
Dann blicke ich Hilley an. Sie hat keine Sekunde den Blick von mir abgewendet. Ich sehe sie fragend an: "Und?" "Du bist es", sagt sie fast mechanisch.
Ich schließe meine Hand um den Kristall und starre Hilley an. "Ich bin es", wiederhole ich: "Was bin ich?" "Du bist eine Elementarierin, Stella. Du hast Kräfte, die sich keine andere Person auf dieser Welt je vorstellen kann." "Und was für Kräfte habe ich genau?", frage ich ängstlich weiter.
Sie deutet auf den Stein: "Das ist der Wasserstein, also gehe ich davon aus, dass du die Kräfte des Elements Wasser vererbt bekommen hast." Ich schlucke. Das Wasser also. Das erklärt also auch wieso mir das Wasser so gut und warum ich den Regen so liebe.
Am nächsten Morgen steige ich erneut die Treppe hinunter. Noch am gestrigen Abend hat Hilley mich darum gebeten es zu versuchen. Sie will versuchen mir zu zeigen wie ich die Kräfte, die tief in mir schlummern, nutzen kann, ohne eine Gefahr für die anderen Seraphinen zu sein.
Ich habe in dieser Nacht, jedoch nicht besonders gut geschlafen. Ich habe mich die ganze Nacht in meinem Bett herumgewälzt und habe es irgendwie nicht geschafft zur Ruhe zu kommen.
Im Hausflur angekommen, schaue ich mich um.
"Was suchst du?", fragt plötzlich jemand hinter mich. Ich drehe mich erschrocken um.
Auf einem Barhocker in der Küche sitzt Ruby. Sie hat ihre Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und trägt einen weinroten Mantel. Es scheint, als wäre sie schon seit Stunden wach. Ich werfe einen Blick auf die Uhr über der Spüle. Es ist gerade einmal neun Uhr. Wann ist sie denn dann aufgestanden?
"Nichts", winke ich ab: "Wo ist Hilley?" "Ich bin hier", sagt Hilley hinter mir. Ich drehe mich zu ihr um. Es scheint, als wäre sie auch schon fertig. Wieso bin ich die Einzige, die noch nicht fertig ist?
Hilley öffnet einen Schrank im Flur. Er ist aus weißem Holz und hat zwei Schranktüren. Es scheint ein Kleiderschrank zu sein, denn Hilley holt einen blauen Mantel heraus. Sie reicht ihn mir und ich lege ihn um meine Schultern. Ich weiß nicht, wieso sie will, dass wir uns immer in so warme Kleidung hüllen sollen. Wahrscheinlich geht es ihr auch gar nicht darum, dass mir warm ist, sondern dass man mich nicht erkennt. Schließlich hatte jeder Mantel, den sie mir bisher gegeben hat, eine Kapuze. Sie will wahrscheinlich einfach nicht, dass sowas in der Gasse nochmal passiert. Sowas will ich echt nicht nochmal erleben. In diesem Moment hatte ich echt Angst vor ihr.
Sie nimmt einen zweiten Mantel aus dem Schrank. Er ist weiß. Weiß? Ist das ihr Ernst? Wenn sie einen weißen Mantel trägt, fällt sie in einer Menschenmenge ja auf wie ein bunter Hund. "Kommt jetzt Mädels. Wir sollten losgehen", verkündet sie und läuft einfach los.
Ruby folgt ihr. Ich tue es ihr gleich. "Wohin gehen wir denn?", frage ich im Gehen. "An einen See. Dort könnt ihr beide eure Kräfte ausreichend trainieren", erklärt sie. Wo ist denn hier ein See?
Ich schaue Ruby fragend an. Sie zuckt aber auch nur mit den Schultern. Sie war also auch noch nie dort.
Mein Blick fällt auf Rubys Hals oder eher gesagt auf die Kette, die sie um ihren Hals gelegt hat. Sie sieht genauso aus wie meine. Der einzige Unterschied ist der Kristall, der daran befestigt wurde. Er ist rot und leuchtet, genau wie mein eigener, von Inneren heraus leicht rötlich. Rot? Wenn sie auch eine elementare Kraft hat, hat sie wahrscheinlich die Feuerkraft. Das würde gut zu ihr passen. Außerdem sind wir beide so unterschiedlich wie unsere Elemente. Wie Feuer und Wasser. Diese beiden Elemente können sich gegenseitig zerstören. Ob Ruby und ich irgendwann gegeneinander kämpfen? Hoffentlich nicht. Schließlich wird immer eines der beiden Elemente zerstört.
Als wir am See ankommen, ist es bereits zehn Uhr. Wir alle bleiben stehen und staunen über das wunderschöne Bild, das sich uns hier bietet.
Die Sonne scheint auf die Wasseroberfläche des Sees und reflektiert das Licht und alle Richtungen. An einer Stelle hält ein Kirschenbaum seine Zweige, die mit pinkfarbenen Blütenblättern bestückt sind, ins Wasser. An einer anderen Stelle befinden sich mehrere dunkle Steine im Wasser. In den Spinnennetzen zwischen den Grashalmen glitzert der Tau. Meine Ohren nehmen das Geräusch von zirpenden Grillen wahr. Dieses wunderschöne Bild verleiht mir innere Ruhe. Hier könnte ich den ganzen Tag verbringen.
Hilley deutet auf einen der dunklen Steine: "Setz dich dahin." Ich schaue sie erst verwundert an, doch dann lege ich meinen Mantel ab und tue, worum sie mich gebeten hat. Ich lege den Mantel ins Gras und gehe auf den See zu. Am Ufer angekommen, knie ich mich hin, um meine Schuhe auszuziehen. Diese stelle ich ins Gras.
Als ich soweit fertig bin, halte ich meine Zehen ins Wasser um zu testen, wie kalt es ist, falls ich hereinfallen sollte, was ich nicht hoffe. Dann wären meinen Sachen, nämlich nass und kalt. Das ist ja eigentlich nicht so schlimm, aber leider werde ich total schnell krank und habe nicht schon wieder Lust auf unsere fette Erkältung.
Entgegen meiner Erwartungen ist das Wasser jedoch gar nicht so kalt. Es hat eine relativ angenehme Temperatur, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Sonne den ganzen Tag darauf scheint.
Ich wate durchs Wasser, bis ich an dem Stein, auf den Hilley gedeutet hat, ankomme. Mit aller Kraft ziehe ich mich hinauf.
Oben angekommen sehe ich mich um. Der Stein befindet sich etwa drei Meter vom sicheren Ufer weg.
"Jetzt leg deine Hände bitte ins Wasser", ruft Hilley mir zu. Ich runzele die Stirn, tue dann aber wie mir geheißen. Sie scheint mit ihren Befehlen aber noch nicht fertig zu sein: "Super! Jetzt konzentriere dich auf das Wasser. Fühle das Wasser. Sei das Wasser."
Ich werfe ihr einen verwirrten Blick zu: "Wie soll ich denn das Wasser sei?" "Wasser kann sich verformen und in passt in jede Form, in die man es zwängen will. Sie genau so verformbar", erklärt sie. Ich seufze verzweifelt: "Und wie mache ich das?" "Entspanne dich und konzentriere dich auf das Wasser unter dir. Dann wird es dir sagen, was du tun sollst." Ich verdrehe die Augen. "Und wann hat das Wasser sprechen gelernt", murmele ich leise, sodass nur ich es hören kann. "Was hast du gesagt?", fragt Hilley aufgeweckt. "Nichts!", streite ich schnell an.
Nun schließe ich meine Augen und halte meine Hände tiefer ins Wasser. Das wird wohl schwieriger als erwartet. Ich versuche es ja wirklich, aber Rubys Blick brennt auf meiner Haut und macht mich wahnsinnig.
Genervt öffne ich meine Augen nochmal und werfe Ruby einen wütenden Blick zu: "Kannst du aufhören mich anzustarren." "Tut mir leid. Ich kann nicht dagegen tun. Ich muss Leute, die zu dumm sind, einfache Aufgaben zu erledigen, anstarren. Das mache ich automatisch", lacht sie böse. "Na gut, dann zeig du mir doch mal wie gut du das mit den Kräften hinbekommst", fordere ich. Wahrscheinlich ist das aber nicht meine beste Idee, was mir das böse Lächeln zeigt, das auf meine Aufforderung folgt.
Ruby hebt ihre rechte Hand in die Höhe und schließt die Augen. Sie muss sich also auch konzentrieren. Als nach etwa einer Minute immer noch nichts passiert ist, sage ich zufrieden: "Guck, du kannst es genauso wenig wie ich." Von Ruby ist nur ein wütendes Knurren zu vernehmen und sie öffnet ihre Augen. Darin ist wieder dieses seltsame Flackern zu erkennen.
Es wirkt, als würde die Zeit langsamer laufen, als der Boden um Ruby wie aus heiterem Himmel zu brennen beginnt. Hilley scheint genauso verwundert darüber zu sein wie ich und stolpert zurück. Mist, was ist denn jetzt los?
Wie in Zeitlupe bildet sich plötzlich ein glühender Feuerball in Rubys rechter Hand, der wild lodert. Ich nehme nur noch wahr, wie sie aufholt und den Ball in meine Richtung wirft.
Der rot-orange glühende Ball rast schnell auf mich zu, doch ich bin nicht befähigt mich einen Zentimeter zu rühren. Ich bin einfach zu geschockt. Als der Ball nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt ist, hebe ich blitzschnell meine Arme. Sobald sie oben sind, bildet sich eine Wasserwand vor meinen Händen.
Der Feuerball löst sich an der Wasserwand auf und ist in der nächsten Sekunde verpufft. Meine Angst löst sich sofort auf und macht der Erleichterung Platz. Ich nehme die Hände wieder runter und versuche meinen Atem wieder gleichmäßiger werden zu lassen.
Auch Hilley scheint sich wieder gefangen zu haben und ist total in Rage: "Ruby! Das ist doch nicht dein Ernst. Krieg deine Probleme unter Kontrolle und zügle deine Wut oder ich muss dich wieder weg schicken."
Der Feuerkreis um das blonde Mädchen erlischt und sie schaut wütend zu Hilley. "Das war doch nicht meine Schuld. Sie hat mich provoziert", gibt sie wütend und gleichzeitig vollkommen verzweifelt zurück. "Selbst wenn sie das getan haben sollte, ist das nicht wichtig. Du kannst sie nicht einfach angreifen, Ruby. Du stellst eine Gefahr für jeden hier da", ruft Hilley aufgebracht.
Ruby scheint nicht mehr mit ihr diskutieren zu wollen, weshalb sie sich einfach umdreht und durch den Wald davon läuft. "Ruby! Bleib sofort stehen", ruft Hilley ihr nach, doch Ruby stapft immer weiter durchs Unterholz auf Hilleys Haus zu.
Hilley dreht sich zu mir um und fragt mich: "Ich muss ihr hinterhergehen, Stella. Findest du den Weg zum Haus alleine wieder?" "Ja, das schaffe ich schon irgendwie", sagt ich, bin mir aber in Wirklichkeit gar nicht so sicher.
Bevor sie durch den Wald verschwindet, wirft Hilley mir noch einen dankbaren Blick zu. Dann ist sie weg und ich bin zum ersten Mal an diesem Tag alleine. Endlich einmal Zeit für mich.
Ich versuche mich zu entspannen und atme durch, was aber schwerer zu sein scheint, als ich dachte. Meine Hände zittern auch noch leicht. Ruby hat mich einfach unerwartet getroffen und ich war froh, dass das mit der Wasserwand so zufällig passiert ist. Oder ist es gar nicht zufällig passiert? Vielleicht sollte ich es, jetzt wo ich ganz alleine bin, nochmal versuchen.
Kurzer Hand halte ich meine Hände ins Wasser. Was wohl dieses Mal geschieht?
Das Wasser ist kalt an meinen Händen. Schnell schließe ich meine Augen und entspanne meine Muskeln. Dieses Mal bin ich viel konzentrierter und offener für das, was gleich passiert, obwohl ich auch Angst habe, schließlich weiß ich nicht, was passieren.
Freudig bemerke ich, dass meine anderen Sinne jetzt, mit geschlossenen Augen, viel stärker sind. Ich höre das Plätschern des Wassers und spüre die sanften Bewegungen des Wassers an meinen Fingern. Zur gleichen Zeit nehme ich auch noch das leise Rascheln der Blätter und den Geruch des saftigen Grases war. Der Wind pustet sanft Luft in mein Gesicht und wirbelt meine dunkelbraunen Haare durcheinander. Das ist ein wunderbares Gefühl. Dieser Ort ist wunderbar. Einerseits lässt er mich so ruhig werden wie schon lange nicht mehr und, andererseits vereint er so viel Kraft in sich. Die Kraft des Wassers, die Kraft der Erde und die Kraft des Windes. Nur für das Feuer ist hier merkwürdigerweise kein Platz, aber davon lasse ich mich stören. Hier geht es um mich und nicht um Ruby und ihre Kräfte. Schnell konzentriere ich mich wieder auf meine Hände und das Wasser.
Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Hände gar nicht nass sind. Ich spüre zwar das Wasser, doch nass sind weder meine Finger noch meine Handflächen. Hat das etwas mit meinen Kräften zu tun? Wenn ja, ist das einerseits beeindruckend, andererseits aber auch echt gruselig. So wie eigentlich alles, was mit meinen Kräften zu tun hat.
Plötzlich nehme ich wahr, wie sich das Wasser um meine Arme herum schlängelt und diese fest umklammert. Was ist denn jetzt los? Ich schlage die Augen ruckartig auf und versuche nicht in Panik zu geraten. Um meine Arme haben sich zwei lange Tentakel aus in der Sonne glitzerndem Wasser geschlungen. Wie ist das möglich? Sowas ist mir noch nie zuvor passiert. In meiner Kehle bildet sich ein Kloß und es fällt mir schwer nicht in Panik zu verfallen.
Ich versuche meine Arme davon zu befreien und wieder aus dem Wasser heraus zu ziehen, doch das geht nicht. Ich ziehe und zerre, doch die Tentakel lassen sich keinen Zentimeter bewegen.
Dann gibt es einen Ruck und die Tentakel ziehen mich mit sich ins Wasser zurück. Ich schreie laut auf, doch meine Schreie ersterben, als ich unter der Wasseroberfläche verschwinde.
Als ich komplett unter der Wasseroberfläche verschwunden bin, beginne ich mit den Beiden zu strampeln und versuche zurück an die Wasseroberfläche zurückzuschwimmen, doch das gelingt mir nicht. Ich schaffe es die Luft eine kurze Zeit anzuhalten, aber dann geht es nicht mehr länger und ich muss aus atmen.
Zu meiner Verwunderung ertrinke ich jedoch nicht sofort, sondern kann wieder ganz normal Luft holen. Kann ich jetzt etwa auch noch unter Wasser atmen? Diese Fähigkeit finde ich gar nicht so schrecklich wie die Anderen, obwohl ich auch ohne leben könnte.
Auf dem Grund des Sees angekommen, schaue ich mich um. Aus dem Boden sprießen mehrere Wasserblumen und Korallen, die mich in ihren Bann ziehen. Das hier ist ja noch schöner als die Lichtung an der Oberfläche des Sees.
Nach wie vor von den Tentakel fest gehalten, strecke ich die Hand nach einer pinkfarbenen Koralle aus, doch bevor ich sie berühren kann, wird mir schwarz vor Augen.
Ich erblicke eine Reihe von Seraphinen. Ihre Hände sind mit Eisenketten aneinander gekettet. Sie laufen in einer Reihe hinter einander her und halten ihre Köpfe gesenkt. Der Gang, durch den sie ist dunkel und wird nur von dem schwachen Licht einiger Fackeln erleuchtet. Das gesamte Bild wirkt trostlos und unheimlich. Ich bin froh, dass ich nicht an diesem Ort bin.
Ich mustere die Seraphinen genauer. Ihre Kleidung ist zerrissen und sie wirken ungepflegt. Sie scheinen in meinem Alter zu sein, was mich sehr verwundert. Wieso sind diese Kinder dort und wie sind sie in diese Situation geraten?
Ein Mädchen ist unter ihnen, welches besonders heraussticht. In ihren Augen sehe ich ein ganz besonderes Leuchten. Sie wirkt so ungezähmt und voll mit Mut und Wut. Die dunklen Haare hängen ihr strähnig vom Kopf hinunter und die Kleidung, die sie trägt, ist ihr viel zu groß, doch trotzdem wirkt sie stark und sticht aus der Menge heraus.
Als der Gang breiter wird, verlässt sie plötzlich die Reihe und versucht wegzulaufen, doch einer der schwarz gekleideten Männer, die die Teenager in der Reihe bewachen, packt sie feste und schubst sie zu Boden. Sie landet auf ihrer Schulter und ein lautes Knacken ist zu hören, doch davon lässt sie sich nicht abhalten.
Das Mädchen richtet sich wieder auf und ein starker Wind bläst durch den Gang. Ihre Haare werden vom Wind aufgewirbelt. Die Männer bauen sich vor ihr auf, was das Mädchen jedoch nicht zu stören scheint.
Sie richtet ihre Hände auf die Männer, woraufhin diese beiden wie von Zauberhand in die Luft gehoben werden. Ihn den Augen der Teenagerin lodert plötzlich schreckliche Wut.
Die Leute, die zuvor in der Reihe gestanden haben, schwärmen sich auf. Einige von ihnen ergreifen die Flucht, während andere sich hinter dem Mädchen postieren, um sie vermutlich mental zu unterstützen, als sie ihre Handgelenke um neunzig Grad dreht. Auf diese Bewegung hin rollen die Köpfe der Männer zur Seite und bleiben leblos liegen. Als die Genicke der beiden Männer brechen, schreien einige der Seraphinen auf, während andere laut klatschen.
Hat sie gerade eben ernsthaft zwei muskelbepackten Erwachsenen mit einer einzigen Handbewegung das Genick gebrochen?
Als sie die Hände sinken lässt, fallen die leblosen Körper mit einem lauten Krachen auf den Boden und bleiben dort einfach liegen.
Ein Junge nimmt einen Stein, der irgendwo auf dem Boden herum gelegen hat und schlägt damit auf die metallenen Fesseln des Mädchens ein, bis diese mit einem lauten Knacken zerbrechen.
Sie lächelt ihn glücklich an. Er schließt sie in seine Arme und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Es wirkt wie ein Abschied. Der Junge sagt noch etwas zu ihr, doch zu meinem Bedauern kann ich nicht verstehen, was er zu ihr gesagt hat. Schade! Ich hätte es sehr gerne gehört.
Als sie sich wieder voneinander lösen, schaut sie sich kurz um und läuft dann durch den Gang davon.
Plötzlich wechselt das Bild, doch auch dieses Mal ist das Mädchen wieder da. Sie ist von mehreren schwarz gekleideten Leuten umkreist, die ihr anscheinend große Angst machen. Sie kauert sich auf dem Boden zusammen. Ihr ganzer Mut ist verschwunden.
Ich muss tatenlos zusehen wie die Leute dem Mädchen erneut die Hände fesseln und sie dann mit sich neben. Bevor das Bild jedoch verblasst, versuche ich mir den Ort einzuprägen, an dem sie sich befindet.
Sie scheint sich in einem Gebäude aus Stein zu befinden. Der Gang aus dem vorherigen Traum scheint auch ein Teil des Gebäudes zu sein. Diese Szene spielt jedoch in einem großen Saal und im Hintergrund ist ein metallener Thron zu sehen, auf dem auch jemand sitzt, doch leider bleibt mir der Blick auf diese Person verwehrt.
Vom einen auf den anderen Moment verändert sich wieder alles und es ist ein kleiner Wasserfall zu sehen. Es lässt sich leicht durch den Wasserfall blicken, wodurch man Blick auf einen See erhält, durch dessen Wasseroberfläche man merkwürdigerweise auch sehen kann. Ich kann einen Blick auf mehrere lila-blaue Wasserblumen erkennen. In einer von ihnen leuchtet etwas Blaues. Als ich genauer hinschaue, erkenne ich einen Kristall. Er scheint, als wäre es derselbe Kristall, wie der den ich an meiner Kette trage. An einer Seite des Kristalls fehlt ein Stück. Ist der Kristall etwa ein Splitterstück dieses Kristalls?
Bevor ich mich jedoch weiter umsehen kann, wird mir wieder schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir komme, befinde ich mich immer noch am Grund des Sees, doch die Tentakel scheinen verschwunden zu sein. Langsam bewege ich meine Gelenke probeweise, um zu sehen, ob ich doch noch irgendwo festgehalten werde. Das scheint aber auch nicht der Fall zu sein.
Ich stelle meine Füße auf den Boden und stoße mich, dann so feste ich kann ab. Durch diese Bewegung bekomme ich den nötigen Antrieb, um an die Wasseroberfläche zurückzugelangen.
Mein Kopf durchstößt die Oberfläche und endlich spüre ich wieder die Luft auf meiner Haut. Ich atme tief ein und aus und genieße das Gefühl, wenn die Luft den Weg meine Kehle hinab und in meine Lungen findet. Endlich kann ich wieder richtige Luft atmen.
Schnell schwimme ich zu dem dunkeln Stein, auf dem ich kurz zuvor noch gesessen habe. Dort angekommen klammere ich mich so fest ich kann an den Ecken und Kanten des Steines fest, um mich hinauf zu ziehen. Zum Glück sind meine Hände nicht nass, sonst wäre das ein so gut wie unmögliches Unterfangen.
Als ich es endlich geschafft habe mich mit all meiner Kraft hinauf zu ziehen, lassen meine Kräfte mich im Stich und ich sinke schwer atmend auf dem Stein zusammen.
Ich weiß nicht, warum ich mich so kraftlos fühlte, doch so ist es. Mein Atem geht immer noch schnell, obwohl ich mich schon wieder ein bisschen beruhigt habe.
Langsam beginnt mein Gehirn nun auch die neuen Informationen zu verarbeiten. Ich schließe meine Augen und lasse alle Geschehnisse nochmal Revue passieren.
Ich wurde von zwei Wassertentakeln auf den Boden des Sees gezogen und bin dann ohnmächtig geworden. Oder war ich gar nicht ohnmächtig? Wäre ich ohnmächtig gewesen, wäre ich ertrunken, da ich dann doch nicht mehr weiter geatmet hätte, oder?
Vielleicht war ich ja auch in so einer Art Trance. Das kann ich mir zwar einerseits nicht richtig vorstellen, aber andererseits sind in den letzten Tagen so viele Dinge passiert, die ich mir vorher nicht wirklich vorstellen konnte. Sagen wir einfach, dass es durchaus möglich ist.
Und als mir dann schwarz vor Augen wurde, hatte ich einen Traum. Oder eine Vision? Was ist da eigentlich der Unterschied?
Auf jeden Fall habe ich eine Reihe von Seraphinen gesehen. Unter ihnen war ein Mädchen, welches sich gegen ihre Bewacher gewährt und ihnen die Genicke gebrochen hat. Ich weiß nicht, wo sich die Szene abgespielt hat, aber irgendwie habe ich das Bedürfnis verspürt ihr zu helfen. Besonders nachdem sie ganz alleine von weiteren Menschen umzingelt, auf den Boden zusammen gekauert da saß und große Angst zu haben schien. Ich wünsche niemandem in so eine Situation zu geraten. Es schien, als würden die Bewacher im ersten Traum zu denen im Zweiten gehören und als würden sich die beiden Träume auch in demselben Gemäuer abspielen.
Den Ort, der mir danach gezeigt wurde, kann ich leider auch nicht einordnen. Es war ein See genau wie dieser hier. Die einzigen Unterschiede waren, dass es hier weder einen Wasserfall, noch diese merkwürdigen lila-blauen Wasserblumen gibt.
Ich öffne meine Augen wieder und richte mich wieder auf. Meine Energie ist wieder zurückgekehrt und ich beschließe ich, so schnell es geht wieder zum Haus zurückzulaufen.
Ich springe vom Stein runter ins Wasser. Dann wate ich durchs Wasser aufs Ufer zu. Dort angekommen hebe ich schnell meine Schuhe auf und streife meinen Mantel über. Als meinen Mantel und meine Schuhe angezogen habe, mache ich mich wieder auf den Weg nach Hause zurück. Es ist zwar schade, dass ich jetzt gehen muss, aber Hilley muss auf jeden Fall davon erfahren.
Als Hilley mich herannahen sieht, kommt sie aus dem Haus und stellt sich auf die Veranda. Anscheinend sagt ihr mein Anblick, dass irgendwas geschehen sein muss. Und das, obwohl ich nicht einmal nass bin. Wahrscheinlich sagt mein Blick sowieso schon alles.
"Was ist passiert?", fragt sie sofort. Ich laufe einfach weiter auf sie zu, bis ich an der Veranda ankommen. Als ich dort angekommen bin, lasse ich mich auf die kleine weiße Bank neben der Haustür fallen und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
Ich höre, wie Hilley sich neben mich setzt. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter: "Erzähl mir bitte, was passiert ist, Stella." Ich hebe den Kopf wieder: "Als ich allein war, habe ich es erneut versucht." "Was hast du erneut versucht?", fragt sie ein wenig durcheinander. "Ich habe versucht meine Kräfte zu benutzen", erkläre ich. Sie schaut mich überrascht an: "Und? Hat es geklappt?" Ich zucke mit den Schultern: "Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Plötzlich sind Wassertentakel aus dem See geschossen und haben mich mit sich runter gezogen. Dann bin ich irgendwie ohnmächtig geworden oder bin in eine Trance gefallen."
Hilley starrt mich geschockt an, doch ich bin noch nicht fertig: "In Trance hatte ich dann einen merkwürdigen Traum von einem kämpfenden Mädchen und danach ein Bild von einem See." "Ein kämpfendes Mädchen? Kannst du sie bitte genauer beschreiben?", fragt sie aufgeregt.
Ich überlege kurz und nicke dann: "Sie hatte ungewaschenes braunes Haar und graue Augen glaube ich. In ihren Augen war so ein wilder Ausdruck." Sie legt den Kopf schief. Anscheinend analysiert sie alles, was ich jetzt gerade von mir gebe: "Sie wird irgendwo gefangen gehalten, hat es aber geschafft sich von ihren Bewachern zu befreien. Im zweiten Teil der Vision wurde sie dann aber wieder gefangen genommen." "Konntest du erkennen wo?" "Nicht richtig. Ich konnte nur erkennen, dass es in irgendeinem alten Gemäuer war. Mehr nicht" "Ein altes Gemäuer? Ich weiß vielleicht, wo sie sich aufhält", teilt sie mir nachdenklich mit. "Weißt du auch, wer diese schwarz gekleideten Leute waren, vor denen sie im zweiten Teil meines Traumes so viel Angst hatte?", frage ich weiter. Nun wurde auch mein Interesse geweckt. Ich bemerke, wie sie nachdenklich auf ihrer Lippe herum kaut: "Ich habe eine Befürchtung, die aber lieber nicht wahr sein sollte." "Welche?" "Es könnten die Nexus gewesen sein", flüstert sie so, als solle niemand hören, dass sie diesen Namen gerade wirklich gesagt hat. "Was sind die Nexus?", frage ich verwundert.
Von den Nexus habe ich ja noch nie gehört. Dieser Name ist für mich komplett neu.
"Böse Seraphinen. Es gibt sie schon seit Jahrhunderten. Sie suchen fieberhaft nach den Erben, um ihnen die Kräfte wegzunehmen und sie auf sich selbst zu übertragen", sagt sie und blickt zu Boden.
Irgendwie wirkt sie schuldbewusst. Wieso? Hat sie etwa Schuld? Hat sie etwas damit zu tun? Wenn ja, ist sie auch ein Nexus und sammelt und hier nur, um uns dann auszuliefern?
Plötzlich geht die Tür neben uns auf und Ruby tritt heraus. Ihre Augen sind rot. Hat sie etwa geweint?
Schnell wende ich den Blick von ihr ab, damit sie mich nicht wieder doof anmachen kann.
Hilley wendet sich Ruby zu: "Was ist los, Ruby?" Sie kaut auf ihrer Lippe herum. "Ich habe euch belauscht", gibt sie zu: "Und ich wollte auch was dazu sagen." Hilley und ich runzeln gleichzeitig die Stirn: "Was ist passiert?" Sie wendet sich an mich: "Ich hatte genauso einen Traum wie du Stella." "Echt?", frage ich geschockt: "Was genau hast du gesehen?" "Erst auch dieses Mädchen, aber dann war ich plötzlich im Inneren eines Vulkans und dort lang ein roter Stein. Es war genauso ein Kristall wie der an meiner Kette und um ihn herum befand sich schwarze Kohle."
Hilley saugt scharf die Luft ein und steht dann auf. Als sie vor mir steht, zieht sie Ruby zur Bank und bittet sie mit einem Blick sich hinzusetzen. Ruby ich sehen uns verwirrt an. Oh Gott, was kommt denn jetzt? Es wirkt, als wolle sie uns nun eine Ansprache halten. "Diese Sachen, die ihr gesehen habt, waren keine Träume. Es waren Visionen und das Mädchen, das ihr gesehen habt, ist wie ihr beide eine Erbin. Ihr könnt sie aber nur sehen, weil sie in Gefahr ist."
Sie ist also wirklich in Gefahr?! Sowas hatte ich mir schon gedacht, aber Hilley Bestätigung macht es offiziell. Hilley ist meine Vertrauensperson und wenn sie es mir bestätigt, vertraue ich ihn. Jedenfalls tue ich das mittlerweile. Anfangs war es aber etwas schwer. Jetzt fällt es mir viel leichter.
Hilley ist aber noch nicht fertig: "Und ich will, dass ihr morgen früh fertig im Flur auf mich wartet." Mit diesen Worten verschwindet sie ins Haus hinein.
Ruby und ich schauen uns fragend an. "Und welche Sehenswürdigkeit a la Elementarier besuchen wir dann morgen wieder?", fragt Ruby. Wow, sie hat ja richtige Stimmungsschwankungen. Ich schaue sie erst irritiert an, doch dann muss ich lachen. "Vielleicht gehen wir ja auf Rettungsmission", schlage ich spaßeshalber vor. Sie lacht ebenfalls. Dieses Geräusch hätte ich nie aus ihrem Mund erwartet. "Sicher", sagt sie sarkastisch. "Man kann ja nie wissen", grinse ich geheimnisvoll.
Auch an diesem Morgen warten Ruby und ich am Treppenabsatz wieder auf Hilley. Als sie die Treppe heruntergeschritten kommt, wende ich den Blick vom Boden meines Wasserglases ab und schaue sie an. Ruby tut es mir gleich.
"Gut, seid ihr fertig?" Wir beide nicken. "Perfekt! Lasst uns losgehen. Wir müssen uns beeilen, sonst schaffen wir die Sachen, die ich für heute geplant habe, nicht mehr", sie klatscht in die Hände und macht sich auf in Richtung Haustür. Ruby und ich sehen uns erst kurz an, doch dann springen wir gleichzeitig von unseren Stühlen auf, als uns klar wird, dass sie nicht wieder kommen und uns noch ein zweites Mal auffordern wird.
Als wir das Haus ebenfalls verlassen haben, steht Hilley schon an der Straße und winkt eine Nightingale heran. Der Kutscher kommt mir bekannt vor und als ich neben Ruby stehe, erkenne ich ihn. Es ist Taylor. Der Kutscher, der uns noch vor wenigen Tagen zu dem pompösen Grundstück hier gefahren hat.
Hilley hält uns die Tür auf und alle steigen ein. Es ist dieselbe Kutsche wie vorhin noch vor wenigen Tagen. Ledersessel, Holztische und Vorhänge vor den Fenstern. Eigentlich ziemlich gemütlich, aber trotzdem nicht so ganz mein Geschmack. Ich mag es lieber einfach und bin kein Fan von diesen Luxussachen.
Als die Kutsche anfährt, wirft Hilley jeder von uns einen Kleiderstapel zu. Ich mustere die Kleider und blicke fassungslos von Ruby zu Hilley. Ruby hat den gleichen Gesichtsausdruck aufgesetzt wie ich, was mir zeigt, dass sie weder eine Ahnung davon hat, wieso sie uns diese Sachen gibt, noch weiß was Hilley vorhat. "Und was sollen wir jetzt damit machen? Die Sachen der Altkleidersammlung spenden?", blafft Ruby und sofort ist die Ruby zurück, die ich am See kennen gelernt habe. Die Ruby, die mich am See mit einem Feuerball abwerfen wollte und die immer das von sich gibt, was gerade in ihrem Kopf herum spukt. Doch leider hat sie Recht. Auch ich weiß nicht, was wir damit anfangen sollen.
Die Kleider sind durchlöchert und an einigen Stellen sogar zerrissen. Sie sehen wie die Kleidungsstücke aus, die die Bettler auf den Straßen unserer Städte oft tragen. Doch leider kommt mir die Kleidung auch sehr bekannt vor.
"Nein, die sind für euch. Ihr werdet euch gleich in Schale schmeißen und dann tun, was ich euch sage", erklärt sie. Ruby und ich verstehen beide, was sie meint. "Es sind die Sachen, die auch das Mädchen im Traum getragen hat, oder?", frage ich nachdenklich. "Kein Traum! Eine Vision", berichtigt Hilley. "Ich werde das auf keinen Fall anziehen", ruft Ruby hysterisch aus. "Doch, genau das wirst du tun", sage ich streng. Sie runzelt die Stirn:"Wie kommst du darauf, dass ich irgendwas von den Dingen tue, die du von mir willst?" "Weil ich dich sonst nicht weiter unterweisen werde", sagt Hilley streng. "Was? Das kannst du nicht tun", ruft Ruby geschockt. Ich starre Hilley genauso überrascht an. Das hätte ich echt nicht erwartet. Das nervige Mädchen verdreht die Augen: "Na gut. Dann ziehe diese Obdachlosenverkleidung eben an." Ich trete sie unter dem Tisch gegen das Schienbein.
Wieso ich das tue weiß ich gar nicht so genau. Wahrscheinlich stört es mich einfach wie abfällig sie über die Leute, die auf der Straße leben müssen, äußert. Es stimmt zwar, dass einige von ihnen selbst daran schuld sind, weil sie alles, was sie haben irgendwie verwettet oder verspielt haben, aber es gibt auch viele, die daran nicht selbst schuld sind, zum Beispiel Kinder, die in diese Situation geraten, weil ihre Eltern gestorben sind oder ermordet wurden nun niemand anderen mehr haben. Kinder, die im Waisenheim nicht gut behandelt wurden und sich dort schon immer fehl am Platz gefühlt haben. Kinder wie ich.
Als die Nightingale anhält, steigen wir alles schnell aus. Während Hilley sich jedoch noch kurz mit Taylor unterhält, streiche die alten Kleider glatte. Sie erinnern mich an die Kleidung, die ich im Waisenheim oft getragen habe, weil die Betreuer kein Geld für mich ausgeben wollten und merkwürdigerweise haben sie etwas Vertrautes an sich.
"Da sollen wir rein?", fragt Ruby, die neben mir steht, mit zitternder Stimme. Ich hebe den Kopf und erstarre. Vor uns ragt ein großes dunkles Steingebäude auf. Es hat etwas von einem Schloss, aber nicht wie ein Schloss in den vielen Märchen von Rittern und Prinzessinnen, sondern wie eine Festung mit Folterkammern und Höllenhunden. Um das steinerne Gebäude herum schlängelt sich ein hoher schwarzer Zaun. Von einer der vielen messerscharfen Spitzen auf dem Zaun tropft etwas Blut. Dieser Anblick jagt mir einen Schauer der Angst über den Rücken. Am liebsten würde ich jetzt meine Beine in die Hand nehmen und so schnell es geht weglaufen, doch das ist leider unmöglich.
Langsam beginne ich mich echt zu fragen, wie ich es immer schaffe in solche scheiß Situationen zu geraten!
"Okay, lasst uns den Plan nochmal durch gehen", bittet Hilley nachdem sie ihre Unterhaltung mit Taylor beendet hat. "Also, Ruby und ich betreten das Gebäude und tun so als würden wir dazu gehören. Dort angekommen werden wir dann einen Kampf anfangen, damit-" "-alle Leute abgelenkt sind und Hilley das Mädchen da raus holen kann", beendet Ruby meinen Satz. Ich verdrehe die Augen. Ich kann auch selbst reden. "So, dann ist ja alles klar. Legt los", fordert sie auf: "Viel Glück!" Wir nicken dankbar.
Hilley gibt Taylor ein Zeichen, welcher die Kutsche daraufhin den Weg wieder hinunterlenkt. Sobald die Kutsche verschwunden ist, machen Ruby und ich uns auf den Weg zum hohen Zauntor.
Am Tor angekommen, setzen wir beide sofort unsere Kapuze auf, um nicht sofort erkannt zu werden. Scheinbar kennt sie den genauen Plan genauso gut wie ich. Das hoffe ich jedenfalls. Wenn nicht, kann alles schief gehen und wünscht sich sicher keiner von uns.
Hoffentlich hält sich auch Hilley an den Plan. Wenn das nicht der Fall sein sollte, kommen wir da nicht mehr raus. Ich vertraue ihr zwar, doch gestern Abend, nachdem ich ihr von der Vision berichtet habe, hat sie sich so eigenartig und komplett untypisch verhalten. Ich hätte gern gewusst, was in diesem Moment in ihrem Kopf vorging. Bei dem Gedanken, dass sie uns vielleicht verraten könnte, spüre ich ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch, was mir zu sagen versucht, dass ich es, obwohl ich Hilley vertraue, für möglich halte.
Schnell drehe ich mich noch mal zu der Stelle um, an der Hilley gestanden hat, als wir uns auf den Weg gemacht haben, aber dort ist sie nicht mehr. Ich runzele die Stirn. Wo ist sie hin? Ich suche die Umgebung mit meinem Blick ab, doch die junge Frau ist nirgends zu sehen. Ich bekomme langsam Bammel.
"Ruby? Ich habe da ein ganz mieses Gefühl", gebe ich zu bedenken. "Wieso was ist denn?", fragt sie verwirrt. "Hilley ist weg", sage ich. Nun dreht auch Ruby sich um, während ich mich wieder nach vorne drehe.
Als Ruby sich wieder zu mir umdreht, bemerke ich, dass sie die Stirn gerunzelt hat. Stimmt also wirklich etwas nicht? Ich fühle mich immer unbehaglicher. "Ich hatte Recht. Das kein gutes Zeichen, oder?", frage ich voller Besorgnis. "Ach, mach dir keine Sorgen. Das ist Teil des Plans!" Versucht sie mich gerade ernsthaft zu beruhigen? "Wir sollten uns einfach weiterhin an den Plan halten", weiß sie an. Ich schlucke schwer und nicke dann, doch überzeugt bin ich noch nicht.
Als wir das Tor passiert haben und an der großen Holztür, die den Eingang des Gebäudes bildet, angekommen sind. Treten plötzlich zwei schwarz gekleidete Männer aus den Schatten heraus und packen uns fest an den Armen.
Was ist denn jetzt los? Standen sie etwa die ganze Zeit hier? Haben sie gehört, worüber wir gesprochen haben? Kennen sie unseren Plan? Sind wir etwa aufgeflogen?
Ich blicke ängstlich zu Ruby herüber, welche mir mit einem Nicken Mut zu spricht, was mich aber nicht wirkliche beruhigt.
Wir werden durch die Flure der Festung gezerrt. Ich versuche mich, um zu blicken und mir so viele Bilder einzuprägen wie möglich, doch das ist schwieriger als erwartet. Die schwarz gekleideten Leute, ziehen und zerren so feste an uns, dass sich auf meiner Haut schon schmerzhafte blaue Flecken zu bilden beginnen. Sie schleppen uns so schnell durch das Gebäude, dass ich nicht einmal Zeit habe in die Räume zu sehen, deren Tür weit offen stehen.
Ich würde so gerne hineinsehen können. Das würde mir sicher irgendwann nützlich sein. Vielleicht finde ich ja irgendwas, was mir irgendwann noch ziemlich nützlich sein wird, doch leider bleibt mir die Chance verwehrt. Ich kann nicht hineinsehen und daran lässt sich leider auch nichts ändern.
In den Fluren riecht es nach Erde und Tod. Eine miese Mischung. Sowas habe ich noch nie in dieser Kombination gerochen und darüber war ich auch eigentlich sehr froh, aber nun weiß ich wie sehr diese beiden Gerüche zusammen stinken und dass ich keinen Bock darauf habe lange hier zu bleiben. Ich versuche nicht tief durch die Nase einzuatmen, sondern lieber den Mund zu nutzen, da sich mir die Nackenhaare aufstellen, wenn ich diesen Geruch noch länger ertragen muss.
Meine Ohren nehmen im Gegensatz zu meiner Nase nicht viel wahr. Wenige Geräusche. Nur vereinzelt schreie, aber sonst nicht viel. Was es wohl für Schreie sind? Schreie aus Angst? Aus Schmerz oder gar aus Verzweiflung? Es sollte mich wahrscheinlich nicht kümmern, doch das tut es. Es zerreißt mir fast das Herz keinem von ihnen wirklich helfen zu können, doch Ich bin ja nicht hier, um diese gequälten Seraphinen zu retten, sondern um dieses Mädchen aus meiner Vision hier raus zu holen. Vielleicht werde ich es an einem anderen Tag tun. Ich werde wieder kommen. Irgendwann werde ich jeden einzelnen hier retten.
Ich blicke wieder zu Ruby. Das tue ich, seit wir hier rein geschleift wurden etwa alle fünf Minuten. Ich will einfach sicher gehen, dass sie mich nicht hintergeht und den Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen, wenn wir in einen neuen Flur gebracht werden. So ist es unmöglich eine ihrer Reaktionen zu übersehen.
Plötzlich ist da eine schwarze Tür vor uns am Ende des Ganges. Ich nehme Rubys Reaktion aus dem Augenwinkel wahr. Sie zieht eine Augenbraue hoch. Anscheinend fragt sie sich genauso wie ich, was sich wohl hinter dieser Tür befindet. Mir fällt auch auf, dass sich an ihren Armen ebenfalls blaue Flecken bilden. Es sieht jedoch schmerzhafter aus, als es ist.
Wir bleiben stehen und einer meiner Bewacher stößt die Tür auf. Als wir hineingezogen werden, stockt mein Atem. Wir befinden uns in sowas wie einem Gefängnistrakt.
Ich stehe auf hartem Metall. An den Wänden des riesigen Raumes befinden sich gläserne Gefängnisse. In den meisten von ihnen befinden sich Seraphinen, doch einzelne sind noch frei. Sind sie etwa für Ruby und mich frei gehalten worden?
Wir werden über den Metallweg geführt. Mein Blick fällt auf ein großes Wasserbecken in der Mitte einige Meter von unter uns. Beim Blick nach unten wird mir schlecht und schwindelig zu gleich. Das ist ja total hoch. Wir befinden uns sicher zehn Meter über dem Boden. Wenn ich hier runter stürzen würde, wäre ich sofort mausetot. Rubys Blick verrät, dass es ihr nicht anders zu gehen scheint.
Unsere Bewacher ziehen uns zu den gläsernen Gefängnissen. Was ist denn jetzt los? Wollen sie uns etwa da rein stecken? Das können wir doch nicht zulassen. Wenn wir da einmal drinnen sind, kommen wir vielleicht nicht mehr raus. Das können wir also nicht zu lassen. Wir müssen so schnell es Chaos veranstalten.
Blitzschnell reagiere ich und ramme dem Mann rechts von mir meinen Ellenbogen zwischen die Rippen, um eine tatsächliche Gefangenschaft zu verhindern. So schnell es geht, will ich das alles hier hinter mich bringen. Ich habe Angst, doch es ist das Richtige. Dieses Mädchen verdient es gerettet zu werden. Wäre ich in ihrer Situation, würde ich mich auch freuen, wenn da jemand wäre, der sein Leben riskiert, um mich zu retten. Dieser Person würde ich vertrauen und ihm meine Dankbarkeit zeigen. Ich hätte jemanden, dem ich wichtig wäre und alleine würde mir schon reichen. Ich wäre seit meine Eltern weg sind jemandem wichtig und das wäre für mich mehr Wert als alles Geld der Welt.
Ruby scheint meine Attacke als Startschuss für das Ablenkungsmanöver zu verstehen, weshalb auch sie anfängt sich zu wehren. Ich drehe meinen Kopf blitzschnell zu ihr um und bekomme die Chance dabei zuzusehen, wie Ruby ihre Kräfte verwendest. Sie hat ihre rechte Hand auf das Gesicht einer der beiden Männer gelegt. Plötzlich beginnt ihre Hand zu brennen und der Man schreit laut auf. Nach wenigen Sekunden nimmt sie die Hand wieder von seinem Gesicht, sodass ich freie Einsicht darauf bekomme, was sie ihm angetan hat.
Das Gesicht des Mannes ist dort, wo ihr Hand gelegen hat, komplett verbrannt. Ihre Hand hat einen roten blutigen Abdruck hinterlassen. Selbst eines seiner Augen ist verbrannt.
Bei dem Anblick wird mir speiübel und ich würde meinen Blick gerne abwenden, doch ich kann nicht. Ich finde es einfach zu faszinierend, wie Ruby ihm nur mit einer einzigen Berührung und ihrem Willen das halbe Gesicht weggebrannt hat. Ich wünschte, sowas könnte ich auch. Im nächsten Moment bricht der Mann vor meinen Füßen zusammen.
Warte, sowas ich doch auch. Jedenfalls wenn ich mich stark genug konzentriere, schließlich habe ich meine Kräfte noch nie bewusst genutzt. Schließlich ist nie wirklich das passiert, was ich wollte. Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht nötig. Hilley meinte, dass ich wie das Wasser sein soll. Flexibel und in jede Form bring bar. Am See wusste ich nicht, wie Hilley das meinte, aber jetzt glaube ich es zu wissen. Ich darf meine Kräfte nicht erzwingen, sondern muss einfach auf sie vertrauen und mich ihnen anpassen. Dann werden sie dasselbe tun. Das klingt jetzt zwar merkwürdig, aber meine Kräfte und ich müssen ein Team sein. Wir müssen zusammen arbeiten. Doch was, wenn es nicht klappt? Dann stecke ich in riesigen Schwierigkeiten.
Plötzlich reißt mich ein lautes Knacken aus meinen Gedanken. Es kommt aus Rubys Richtung. Ich fahre zu ihr herum und starre sie geschockt an. Sofort erkenne ich, was los ist. Rubys letzter Bewacher hat sie in die Mangel genommen. Sein Gesicht hat er zu einer merkwürdigen Fratze verzogen. Doch das ist nicht das Erste, was ich sehe. Als Erstes sehe ich Rubys Arm, der schlaff im Gelenk hängt. Da ich wenigstens über das medizinische Grundwissen verfüge, weiß ich, erkenne ich sofort, dass das nicht normal ist und habe auch sofort eine Vermutung. Der Arm könnte ausgekugelt oder ist schlimmsten Fall sogar gebrochen sein.
Als Nächstes fällt mein Blick auf Rubys Gesicht, welches sie vor Schmerz verzogen hat. Wenige Sekunden darauf folgt auch schon ein ohrenbetäubender Schrei voller Schmerz.
Ob wohl wir uns nicht gut verstehen tut es mir weh sie so zu sehen. Sie tut mir leid und ich will nicht zu lassen, dass dieser Mann ihr weh tut. Ich kann es nicht zu lassen. Erst packt mich das Mitleid, was mich total verwundert, doch dann folgt sofort die Wut. Die Wut auf diese Menschen, die einfach Teenager gefangen nehmen und sie umbringen wollen, um sich deren eigenen Kräfte anzueignen. Auf die Menschen, die Ruby verletzten und sowas wohl auch mir antun würden.
Ich schaffe es, nach vielen Tritten und Schlägen, mich von meinen Bewachern loszureißen und einige Meter von ihnen weg zu kommen. Ich weiß nicht wie ich es geschafft habe frei zu kommen, aber ich habe es geschafft.
Aus einem Instinkt heraus lasse ich meinen Kopf nach hinten rollen und halte meine Hände links und rechts von meinem Körper waagerecht hin. Ich versuche meine Wut zu nutzen, um meine Kräfte herauf zu beschwören, doch irgendwie geschieht nichts.
Im nächsten Moment haben die Männer mich auch schon wieder geschnappt, doch als sich mich und Ruby fast in eine Zelle gezwängt haben, schießt ein Tentakel aus Wasser, der aussieht wie der, der der mich vor etwa einem Tag ins Wasser hinuntergezogen hat. Ich schreie erschrocken auf. Wieso passiert das nie, wenn ich es versuche, sondern erst später.
Schnell reagiere ich und ramme meinem letzten Bewacher die Faust ins Gesicht, woraufhin dieser zurücktaumelt. Wie von einer unsichtbaren Macht geleitet richte ich meine Hand gegen den Mann. Dieser bekommt plötzlich Angst. Vor mir? Weiß er etwa, dass ich diesen Tentakel erzeugt habe?
Ich balle meine zuvor noch geöffnete Hand langsam zu einer Faust zusammen, ohne genau zu wissen, was ich mir davon erhoffe. Es wirkt halt einfach richtig. Wie etwas, das ich jeden Tag tue und dessen Auswirkungen ich kenne, doch das tue ich nicht. Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes geschieht, weshalb mir das plötzliche Husten des Mannes auch die Angst in die Knochen jagt. War ich das? Wieso hustet er?
Wäre ich nicht so wütend, hätte ich wahrscheinlich Herz bewiesen und ihm einfach noch eine rein gehauen, aber ich bin wütend. Diese Wut treibt mich dazu weiter zu machen.
Plötzlich greift sich der Mann an die Kehle und hustet im nächsten Moment einen Schwall Wasser aus, doch das ist mir egal. Ich halte meine Faust weiterhin auf ihn gerichtet und beobachte die Folgen mit Angst und Wut zu gleich.
Wut auf diese Männer. Wut auf jeden, der Teenager aus ihren Familien entführt, um ihnen die Kräfte zu nehmen, die man ihnen im Vertrauen geschenkt hat. Es wurde Vertrauen in die Kinder gesetzt. In mich und ich habe nun die Aufgabe das hier zu tun. Ich muss die andere Erbin, wenn sie das tatsächlich ist, retten.
Und Angst! Angst vor mir selbst. Ja, ich habe Angst vor den Kräften, die ich unfreiwillig und ohne meine wissen geerbt habe, und auch vor mir selbst. Davor was ich gewillt bin zu tun. Noch vor ein paar Tagen wäre ich nicht hier "eingebrochen" und hätte auch keinen Kampf angezettelt. Das wäre einfach nichts gewesen, was meinem Wesen entspricht. Jedenfalls hatte ich das gedacht. Heute habe ich mir selbst aber das Gegenteil bewiesen.
Ich bin mir auch gar nicht richtig sicher, wieso ich es tue. Ich tue es einfach, ohne großartig darüber nachzudenken. Entwickle ich etwa noch eine schlechte Eigenschaft oder ist das zur Abwechslung mal was Gutes?
Meine Gedanken schweifen wieder zu dem Mann, der wenige Meter vor mir in die Knie gegangen ist, zurück. Er macht nun keine Geräusche mehr. Er liegt nur dort auf dem Boden und umklammert seine Kehle mit beiden Händen. Dann schließt er seine Augen plötzlich. Unter ihm hat sich eine große schillernde Wasserpfütze gebildet.
Ich lasse meine Hand langsam sinken. In den letzten Minuten habe ich alles um mich herum, abgesehen von meinem Bewacher vergessen. Doch nun bin ich nicht mehr allein.
Schnell drehe ich mich zu Ruby um, um ihr im Notfall zu helfen, doch das scheint nicht nötig zu sein. Sie steht einfach da und beobachtet mich. Ihr Fuß thront vollkommen entspannt und siegessicher auf der Leiche IHRES letzten Gefängniswärters.
Langsam beschleicht mich ein dumpfes Gefühl der Unbesiegbarkeit, obwohl es wahrscheinlich total unberechtigt ist. Ich weiß nicht wie lange wir gebraucht haben, um lediglich diese vier Männer zu besiegen, doch Hilley wäre sicher sofort mit ihnen fertig geworden.
Als ich meinen Blick wieder auf den Mann richte, trifft es mich wie der Schock. Ich habe gerade getötet. Ich habe gerade ein Mitglied unserer Gesellschaft getötet. Plötzlich ist mir egal, ob er nun gut oder böse war. Ich habe getötet und macht mich das nicht genauso schlecht wie ihn. In meiner Kehle bildet sich ein dicker Kloß und bringt mich dazu schwer zu schlucken. An das Geländer gelenkt, sinke ich zu Boden.
Ich strecke meine kalten, nassen Hände nach der Leiche aus, doch bevor ich den steifen Körper berühren kann, nehme ich wahr wie dieser von dem Stahlgerüst auf dem wir uns befinden herab, immer weiter der Erde entgegen, stürzt. Mein Blick wandert zu der Person, die an diesem Ereignis Schuld zu sein scheint.
Es ist Ruby. Wie sollte es auch anders sein? Hat sie es nur getan, damit nicht sofort auffällt, dass wir keine guten Absichten haben oder weil sie nicht will, dass ich mir sowas länger ansehen muss und um Jemand bösen trauere?
Wir blicken uns für einige Sekunden an. Ich versuche ihren Blick zu lesen, doch dieser Versuch scheitert kläglich. Eigentlich war ich immer relativ gut darin, doch der Ausdruck, der in diesem Moment in ihrem Gesicht zu sehen ist, ist für mich unergründlich.
Als urplötzlich laute Alarmglocken zu schrillen beginnen, schrecken wir beide aus unserer Starre hoch. Blitzschnell hält Ruby mir eine Hand hin, die ich genauso schnell ergreife, woraufhin sie mich wieder auf meine Füße zieht. Innerhalb von wenigen Sekunden ist es im Flur fast stockdunkel. Unsere Umgebung wird nur von einigen rot flackernden Notfallleuchten erhellt. "Was ist denn jetzt los?", frage ich Ruby. Die Verunsicherung ist mir anzuhören.
Dann ist es wieder gleißend hell und der große Saal ist licht durchströmt. Auf einmal sind auch wieder Geräusche zu vernehmen, die mir echt gefehlt haben. Ich hatte schon Angst, dass ich irgendwas an den Ohren habe. Geräusche gehören für mich nämlich einfach dazu und wenn man keine Geräusche vernimmt, ist etwas nicht richtig.
Auf einmal höre ich Schritte hinter uns und im nächsten Augenblick befindet sich ein Messer nur wenige Zentimeter von meinem Hals entfernt.
Das schwarze Messer fühlt sich an meiner Kehle eisig an. Im Raum scheint die Temperatur um mehrere Grade gefallen zu sein. Meine Knochen sind stocksteif und meine Gelenke fühlen sich an wie gelähmt.
Durch das Messer werde ich daran gehindert mich, um zu drehen oder mich gar zu bewegen, weshalb mir auch der Blick auf die Personen hinter mir verwehrt. Woher ich weiß, dass es Mehrere sind? Ich habe gute Ohren und konnte so ihre Schritte wahrnehmen, doch ich hatte nicht gedacht, dass es so enden würde.
Ich hätte nicht erwartet, dass ich so enden würde. Eigentlich hatte ich den Plan würdevoll zu sterben und nicht wegen einer total irren Rettungsmission.
Mehrere Leute schließen ihre Hände um meine Arme, um mich unter Kontrolle zu bringen und irgendwohin zu schleifen. Leider kann ich nicht erkenne, wohin sie mich bringen, da sie mich hinter sich her ziehen und mein Blick so auf Ruby gerichtet bleibt, der es nicht anders geht. Sie wird genau wie ich von mehreren Leuten an den Armen davon geschleift.
Ihr ist jedoch der Schmerz, der von ihrem Arm ausgeht, in ihrem Gesicht anzusehen. Sie beißt die Zähne aufeinander und versucht wahrscheinlich weder vor Schmerzen laut zu schreien, noch loszuweinen. Es zerreißt mir fast das Herz sie so zu sehen, doch ich weiß, dass ich ihr nicht helfen kann. Dazu müsste ich mich losreißen und es irgendwie schaffen mit ihr von hier zu verschwinden, doch das geht nicht. Wir müssen auf das Zeichen von Hilley warten.
Als die Männer anhalten, drehe ich meinen Kopf zu ihnen um. Wieso halten sie mich an und wo bringen sie mich eigentlich hin? Ich habe Angst, versuche mir aber Nichts anmerken zu lassen. Leider kann ich keinen Blick auf die Ursache unseres Stopps erhaschen.
"Wir bringen dir eine Erbin, Miss Jackson", ruft einer der Männer laut. Seine Stimme ist kratzig. Mit wem redet er da? Ich habe Angst! Was wird jetzt mit mir geschehen? Werden sie mich umbringen und sich dann meine Kräfte aneignen? Das können sie doch nicht so einfach machen, oder?
"Welche?", fragt jemand mit einer eiskalten Stimme, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Ich bemerke, dass meine Gliedmaßen leicht zu zittern beginnen. Eigentlich bin ich ja kein ängstlicher Mensch, doch diese Situation fordert echt ihren Tribut. Es ist nicht leicht zu wissen, dass da Jemand ist, der meinen Tod will.
Auf einmal werde ich von mehreren starken Armen auf meine Füße gezogen und umgedreht. Erneut läuft mir ein Schauer über den Rücken und die Panik macht sich in mir breit. Wo bin ich hier nur gelandet?
Wir befinden uns in einem großen nur schwach beleuchteten Raum aus Marmor, der kein einziges Fenster hat. Das habe ich aber auch nicht erwartet. Schließlich sah das Gebäude von außen nicht gerade hell und freundlich aus. Wieso sollte es also von Innen so sein?
Das Einzige, was mich in diesem Raum verwundert, ist ein sehr kalt wirkender Thron aus Metall. Er passt zwar zur Atmosphäre, aber meiner Meinung nach ist der Thron voll Mittelalter und gehört nicht in die Neuzeit.
Als ich fertig damit bin den Thron zu begutachten, fällt mein Blick, auf die darauf sitzt. Ich erinnere mich daran, dass einer der Männer sie mit 'Ms. Jackson' angesprochen hat. Ihre langen schwarzen Haare fallen glatt über ihre Schultern und haben einen besonderen Glanz, aber in ihren fast schwarzen Augen brennt etwas abgrundtief Böses. Als unsere Blicke sich kreuzen, scheint es, als würde ich auf der Stelle fest frieren, fixiert durch ihren Mörderblick. Ich schlucke schwer.
Die schwarz gekleidete Frau, Ms Jackson, erhebt sich von ihrem Thron und läuft langsam auf mich zu. Sie wirkt wie eine Raubkatze auf der Jagd und ich bin ihre Beute.
Ich fühle mich ausgeliefert, wie ich dort auf den Knien vor ihr Knie. Es hat etwas von Untergebenheit, was mir gar nicht gefällt. Ich will mich aufrichten und mit ihr auf eine Stufe bringen, doch ich traue mich nicht. Mein Körper ist wie gelähmt und die Angst sitzt mir im Nacken.
Als sie bei mir angekommen ist, hebt sie mein Kinn ein Stück in die Höhe, sodass ich meinen Blick nicht von ihr Abwenden kann. "Verrätst du mir deinen Namen, kleine Erbin?", fragt sie freundlich, doch ihre Augen und ihr Auftreten sagen, dass sie kein "Nein" zu lassen wird.
Ich schlucke schwer. Okay, was soll ich jetzt tun? Die Wahrheit sagen? Nein, ich muss lügen. Ich habe keine andere Wahl. Es wäre nicht gut, wenn ich ihr alles über mich erzählen würde. Sie könnte mich aufspüren und das würde für uns alle nicht gut ausgehen. "I-Ich heiße...Lilly...Mendes", lüge ich schnell. Ich weiß wie einfallslos das ist, aber was Besseres ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen.
Sie schaut mich mit einem forschenden Blick an und es scheint, als würde sie mich durchleuchten. Ich versuche mich zu beruhigen und meinen Atem wieder langsamer werden zu lassen, doch leider klappt das nicht so gut wie erhofft.
Als ich es gerade geschafft habe ein wenig runter zu kommen, beginnen ihre Augen sich zu verdunkeln. Etwas Böses liegt in ihnen.
Ich spüre den Schmerz, bevor ich wirklich sehe, was geschehen ist. Dann checke ich es langsam. Sie hat mir eine gescheuert. "Lüge mich nicht an!", schreit sie wütend. Ich halte mir die Wange, wende meinen Blick aber nicht von ihr ab: "Ich lüge nicht!" "Doch, das tust du", ruft sie aufgebracht. Scheiße, was soll ich jetzt tun? "Nein ich lüge nicht", gebe ich verzweifelt zurück. Ich will unbedingt, dass sie mir glaubt. Sie muss mir glauben, sonst bin ich verloren.
Erneut jagt ein starker Schmerz durch meinen Körper, doch dieses Mal will er nicht aufhören. Er strömt von meinem Kopf zu meinen Füßen. Ich spüre wie mein Herz zu rasen und mein Atem sich zu beschleunigen beginnt. Was geschieht mit mir? Wer tut das und warum? Ich sinke zu Boden, schaffe es aber noch meinen Kopf erhoben zu halten. Da erkenne ich auch die Quelle meines Schmerzes.
Es ist diese verdammte Frau. Sie hat ihre Hände auf mich gerichtet und ich sehe zu wie aus ihren Fingern blaue Blitze zu strömen beginnen. Was tut sie mit mir? Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei entflieht meinen Lippen. Jemand soll dafür sorgen, dass es aufhört. Diese Schmerzen sind unerträglich. Am liebsten würde ich mir die Haut vom Körper reißen, um das alles nicht mehr spüren zu können. Es scheint, als würde das Blut, das durch meine Venen fließt, sich erwärmen und zu kochen beginnen. Meine Schreie werden immer lauter und schmerzerfüllter.
Bitte Elementarier, wenn ihr wirklich existiert, helft mir. Rettet mich aus dieser Situation und ich werde echt versuchen meine Kräfte sinnvoll einzusetzen, aber bitte rettet mich.
Als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, hört der Schmerz plötzlich auf und ich kann, muss meine Gedanken erst einmal ordnen. Mein Herz hört auf zu rasen und meine Atmung normalisiert sich langsam wieder. Auch mein Blut kühlt sich langsam wieder ab. Das Gefühl ist so berauschend und einfach nur wunderbar. Diese Schmerzen will ich nie wieder spüren.
Ich hebe meinen Kopf wieder und sehe, weshalb die ganz in Schwarz gekleidete von mir abgelassen hat. Sie hat sich zu ihrem Thron zurückgezogen und ihr ganzer Körper strahlt Angst aus. Doch wovor hat sie Angst? Ihr Blick ist auf etwas hinter mir gerichtet, weshalb ich hinter mich blicke.
Durch diese schnelle Reaktion kann ich gerade noch sehen wie das Mädchen aus meiner Vision sich vor den Männern, die mich hergebracht haben, aufbaut und ihre Hände ausstreckt. Diese wirken uninteressiert und nicht so als würde es ihnen etwas ausmachen, dass sie da ist, doch die Angst von Miss Jackson zeigt mir deutlich, dass sie lieber Angst haben sollten. Diese Vermutung wird mir bestätigt alt das braunhaarige Mädchen ihre Augen schließt und ihre Hände leicht schließt.
Noch bevor ich die Stirn runzeln kann, hält sie zwei vor Blut triefende Herzen in den Händen. Mir entfährt vor lauter Schreck ein leiser Schrei und ich bewege mich unter starken Schmerzen ein paar Zentimeter von ihr weg. Wessen Herzen sind das? Hat sie die Herzen irgendwie hergezaubert oder sie irgendwem mit ihren Kräften herausgerissen?
Als zwei der Männer wenige Sekunden später zusammen brechen, wird meine Frage beantwortet. Herausgerissen also! Hätte ich nicht gewusst, dass dieses Mädchen die Luft beherrscht, wäre ich wahrscheinlich auf der Stelle davon gelaufen, doch irgendwie tue ich es nicht. Sie ist wie ich, nur ein bisschen blutrünstiger. Auch sie hat Kräfte wie kein andere auf dieser Welt!
Nun geraten auch die Männer, wie Miss Jackson vor ihnen, in Panik und verstreuen sich im Raum, darauf bedacht so viel Abstand wie möglich von dem Mädchen zu nehmen.
Sie lässt die Herzen fallen und kommt auf mich zu. Ich weiche nicht zurück. Meine Angst ist wie weggefegt. Aus einem total unerklärlichen Grund vertraue ich ihr. Hilley meinte, dass sie in Gefahr ist und wenn sie mich umbringen wollen würde, hätte sie das schon längst getan. Ob sie weiß, dass ich auch eine Erbin bin?
Vor mir bleibt sie stehen und hält mir eine ihrer blutüberströmten Hände hin. Ich ergreife sie, ohne zu zögern. Von ihr geht eine unglaubliche Wärme aus, die mir die Stärke zurückgibt.
Aus dem Augenwinkel nehme ich jedoch plötzlich einen blauen Blitz war, der mit Lichtgeschwindigkeit auf mich zu zischt. Schnell kneife ich die Augen zusammen und mache mich auf den stechenden Schmerz gefasst, doch dieser bleibt mir verwehrt.
Schon bevor ich meine Augen öffne, weiß ich, was geschehen ist. Ein leichter Wind weht durch den Saal, der die Haare meiner Partnerin durcheinander wirbelt. Sie wirkt stark und ich sehe ihre Entschlossenheit. Nein, das ist keine Entschlossenheit. Es ist Wut. Ungezügelte und uneingeschränkte Wut.
Ich drehe mich um. Dort schwebt der Blitz wie eingefroren nur einige Zentimeter von mir entfernt. Oh Gott, das war total knapp! Sie hat mich also gerettet und will echt nicht, dass mir etwas geschieht.
Ihre freie Hand erhebt sie und lässt, mit einem Schrei, einen starken Wind durch den Saal fegen, der die Männer gegen die harten Steine und den Blitz auf die Frau schleudert. Darauf folgt ein lautes Knackkonzert brechen der Genicke, als die Männer gegen die Wände prallen und ein schmerzerfüllter Schrei der Frau, die mich töten wollte.
Ich will meinen Blick gerade durch den Saal voller Leichen schweifen lassen, da umklammert das Mädchen meine Hand fester und zieht mich mit sich. Ich weiß nicht, wohin sie will, doch ich vertraue ihr. Die im wahrsten Sinne des Wortes, zu einer Leichenhalle gewordene Halle, lassen wir so wie sie ist zurück.
Als wir endlich irgendwo stehen bleiben, vernehme ich eine vertraute Stimme, die meinen Namen ruft. Wir beide fahren sofort herum. Meine Miene hellt sich mit einem Schlag auf. Dort steht Hilley mit Ruby und einem weiteren unbekannten Mädchen im Schlepptau. Tränen steigen mir in die Augen und meine Emotionen scheinen mich zu beinahe zu überwältigen. Ich bin überglücklich sie endlich wieder zu sehen.
So schnell ich kann renne ich auf sie zu. Das Luftmädchen folgt mir schnellen Schrittes. Bei den Menschen, die in den letzten zwei bis drei Tagen zu meiner Familie geworden sind, angekommen, will ich Hilley und Ruby, ja auch Ruby, in die Arme nehmen, doch Hilley hält mich auf: "Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Stella. Wir müssen hier sofort raus, sonst kann ich nicht für eure Sicherheit garantieren!" Ich nicke schnell und reiße mich zusammen.
Das unbekannte Mädchen, welches Hilley bei sich hatte, streckt die Hände aus. Ich schaue fragend die Anderen an. "Fast euch an den Händen", Hilley ergreift die rechte Hand des Mädchens, während Ruby die Linke nimmt. Ich nehme Rubys und Hilley die des Luftmädchens. So machen wir weiter und bilden so einen kleinen Kreis. "Und jetzt?", frage ich. "Einfach nicht loslassen", befiehlt Hilley. Ich schließe meine Finger fester um die Hände der Anderen und dann sind wir plötzlich verschwunden.
Noch bevor ich darüber nachdenken kann, was gerade geschehen ist, landen wir allesamt auf dem harten Boden. Was ist gerade geschehen? Hat dieses Mädchen uns gerade echt weg teleportiert? Sind das ihre Kräfte?
Die Anderen richten sich auf, während ich mich nur erschöpft aufsetze. Der ganze Tag war ein totales Desaster. Ruby wurde der Arm gebrochen, das neue Mädchen hat die ganzen Leute im Saal mit einer Handbewegung umgebracht und ich wurde von dieser teuflisch bösen Frau regelrecht gefoltert. Ich bin echt froh darüber, dass wir da jetzt wieder raus sind.
Erst jetzt, nachdem ich mich langsam wieder beruhigt haben und meine Sinne wieder scharf geworden sind, betrachte ich meine neue Umgebung.
Wir befinden uns irgendwo auf einem kleinen Hügel im Nirgendwo. Unter mir sprießt saftiges, grünes Gras aus dem Boden, was total typisch für unseren Planeten ist.
Ruby hat sich einen grauen Felsen gesetzt und hält sich den Arm. Wahrscheinlich versucht sie einzuschätzen, ob der Knochen nur angebrochen oder doch ganz durchgebrochen ist.
Das habe ich immer nach einem Kampf getan. Zwar kamen diese Kämpfe nur selten vor, doch sie kamen vor. Besonders dann, wenn die Betreuer bereits in ihren Betten lagen. Es waren immer mehrere, die sich auf einen Einzelnen gestürzt haben. Meistens war ich in dem Fall die Einzelne. Die anderen Waisen im Heim haben einfach schnell bemerkt, dass ich anders war als sie. Ich habe mir aber auch nie wirklich Mühe gegeben das zu verstecken.
Hilley bricht das Schweigen, als sie sich an das Mädchen wendet, welches uns anscheinend heraus teleportiert hat: "Danke, Annabeth! Du hast uns das Leben gerettet!" Sie lacht: "Ich? Euch? Nein, das war andersherum. Du hast mich doch gerettet." Hilley schüttelt den Kopf: "Ohne dich wären wir da aber niemals raus gekommen." Annabeth gibt sich geschlagen:"Na gut, dann sind wir halt Quitt, okay?" "Okay", lacht Hilley und zieht das Mädchen in ihre Arme. Sie erwidert die herzliche, freundschaftliche Umarmung.
Nachdem sie sich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wieder voneinander gelöst haben, zieht Hilley etwas aus einer Tasche, die sie unter ihrem Mantel zu verborgen haben scheint.
Es ist ein kleines Bündel mit Sachen. Oben auf liegt ein kleines Stück Papier. Ich erkenne sofort, was es ist. Ein Personalausweis. Ich weiß, dass es eigentlich ein Menschendings ist, aber unsere Gesellschaft hat es einfach von ihnen übernommen, diese Ausweise ganz praktisch sind.
Annabeth nimmt das Bündel dankend an und knotet es auseinander. Den darin enthaltenen Mantel streift sie über, setzt die Kapuze, im Gegensatz zu Hilley, nicht auf. Dann wendet sie sich dem Personalausweis zu und liest den Namen vor, der darauf geschrieben steht: "Amy Cortez! Wie kreativ." Sie spricht genau das aus, was ich denke. Man hätte sich ja auch was Besseres überlegen können.
Den Rest des Bündels lässt sie unter dem Mantel verschwinden. Wieso hat ihr Mantel Taschen und meiner nicht?
Mit einem letzten Nicken in unsere Richtung verabschiedet sie sich von uns, bevor sie sich erhobenen Hauptes auf den Weg macht. Sie bewegt sich nach Norden, in die Richtung, in die ich mich noch nie bewegt habe. Ehrlich gesagt bin ich aber auch noch nicht so weit gegangen und habe meinen gewohnten Lebensraum nur selten verlassen, also sind so gut wie alle Wege für mich neu.
Ihr rot-blondes Haar leuchtet in der Sonne und ich kann noch einen kurzen Blick auf ihre Augen erhaschen, die genauso blau sind, wie meine eigenen es sind.
Hilley blickt ihr wehmütig nach. Woher kennen sie sich? Ich dachte, sie wären sich erst gerade begegnet. Ich könnte sie fragen, lasse es aber lieber, da ich ihr nicht zu nah treten möchte.
Als sie außer Sichtweite ist, hilft Hilley Ruby hoch und teilt uns mit: "Okay Ladys, wir sollten hier jetzt sofort verschwinden. Die Kutsche wartet dort vorn. Sie wird uns zurückbringen." Sie hat es echt mit Kutschen, oder?
Das neue Mädchen und ich laufen vor, während Hilley Ruby stützt. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob man wirklich Hilfe beim Laufen braucht, wenn man sich den Arm gebrochen hat, aber ich weiß ja auch nicht, was sie sonst noch mit ihr gemacht haben. Ich würde ja auch nicht in Ruhe gelassen, sondern mit Blitzen gefoltert, da will ich gar nicht wissen, was sie ihr angetan haben.
An der Kutsche angekommen, steigen wir alle samt ein. Wieder einmal hält Taylor die Zügel in der Hand. Ist der Hilleys persönlicher Kutsche oder so? Oder ist er vielleicht ihr fester Freund, der zufällig nebenbei noch als Kutscher arbeitet? Wenn ja, will ich auch so einen.
Das neue Mädchen setzt sich mir gegenüber hin. Ich würde sie so gerne besser kennen lernen. Sie ist interessant darüber lässt sich nicht streiten, aber aus irgendeinem merkwürdigen Grund habe ich das Gefühl, dass ich keine andere Wahl haben werde als sie kennen zu lernen und dass sie in meinem Leben auch weiterhin eine Rolle spielen wird.
Jetzt wo sie mit gegenüber sitzt, habe ich freie Sicht auf sie und kann sie endlich richtig begutachten. Ihre Haare sind braun, jedoch nicht so dunkel wie meine, sondern eher etwas heller. Ihre Augen sind grau, fast weiß und es wirkt, als würde ein ungebändigter Sturm in ihnen wüten und toben. Diesen Eindruck macht auch der Rest ihrer Erscheinung auf mich. Ihre Haltung scheint "Stärke" und "Wut" zu schreien.
Ich würde gerne wissen wie sie so geworden ist. Sie war in diesem Saal so rücksichtslos und kaltblütig. Sie hatte richtig Mörderambitionen. So wird doch niemand geboren, oder? Es muss erst etwas Schreckliches geschehen, damit man so wird. Damit habe ich ja auch schon Erfahrung. Auch mir ist etwas Schlimmes passiert, doch das scheint nicht schlimm genug gewesen zu sein, um so zu werden, wie sie es ist.
Meine Ohren nehmen gar nicht wirklich wahr, dass Ruby und Hilley neben mir Small Talk betreiben. Es wirkt, als wären alle Sinne nur auf die Person vor mir ausgerichtet und ihr scheint es nicht anders zu gehen. Sie starrt mich eindringlich an, doch ihr Blick ist nicht so wie der Blick der Frau im Saal. Der Blick der Frau wirkt, als würde sie durch mich hindurch blicken, während das Mädchen wirklich mich ansieht.
Dieser Tag hat so viele Fragen aufgeworfen, die mir irgendwer irgendwann mal auf jeden Fall beantworten muss, sonst explodiert mein Kopf. Wer ist diese Frau und wieso kam mir ihr Name so unheimlich bekannt vor? Es wirkt, als hätte ich ihn nur wenige Tage zuvor gehört. Und wie heißt das Mädchen vor mir? Was hat es mit ihr auf sich?
"Hilley?", frage ich vorsichtig. "Ja Stella?", fragt sie überrascht darüber, dass ich mit ihr rede und nicht mehr das Mädchen vor mir anstarre. Sie hatte wohl nicht erwartet, dass ich sie irgendwann heute nochmal ansprechen würde. "Ich wurde in einen großen Saal gebracht und dort auf einem Thron saß eine Frau. Sie würde von einem der Männer 'Miss Jackson' genannt und es kommt mir so vor, als hätte ich den Namen irgendwo schon mal gehört. Weiß du vielleicht wo?", frage ich vorsichtig. Sie schüttelt den Kopf, doch ihre Reaktion bei der Erwähnung des Namens sagt mir, dass sie ganz genau weiß von wem ich rede und woher ich den Namen kenne.
Erst am späten Abend kamen wir nach Hause. Anscheinend hatte Annabeth uns Meilen weit von der dunklen Festung wieder auftauchen lassen, sodass wir viele Stunden brauchten um wieder zu Hilleys Grundstück zurückzukehren. Zu Hause angekommen, wollten Hilley und Ruby sofort ins Bett, weshalb das neue Mädchen und ich nicht großartig wieder sprachen, doch wirklich müde waren wir beide nicht. Ich jedenfalls nicht. Für sie will ich hier nicht sprechen.
Ich folgte den Anderen einfach nach oben und begab mich in mein Bett. Dann habe ich mich irgendwie zugedeckt und liege nun immer noch schlaflos da. Sonst habe ich es doch nie so schwer einzuschlafen. Wahrscheinlich liegt das an den heutigen Erlebnissen. Ich habe sicherlich nur Angst vor dem Träumen. In meinen Träumen verarbeite ich die Dinge, die ich am Tag überlegt habe. Das ist etwas total Lästiges, was ich von den Menschen geerbt. Die meisten Seraphinen haben dieses Problem nicht mehr, aber einige, zu denen auch ich gehöre, leiden noch darunter und das Schlimmste ist, dass ich rein gar nichts gegen meine Gene tun kann.
Hell wach steige ich in meinem kurzen Schlafanzug aus dem Bett und schleiche zur Tür. Wieso ich schleiche weiß ich gar nicht, schließlich ist es ja nicht verboten sich ein wenig die Füße zu vertreten, bis die Müdigkeit irgendwann eintritt. Momentan spüre ich nämlich nicht mal einen Anflug davon.
Ich öffne leise meine knarrende Tür und spähe auf den Flur hinaus. Leer! Ich schlüpfe hinaus und schließe die Tür wieder hinter mir. Erneut macht sie ein lautes Geräusch. Die sollte man echt mal wieder ölen!
Ohne weiter nachzudenken, laufe ich die Treppe herunter. Unter meinen Füßen ist das Holz kalt und ich bereue es, dass sie ich keine Socken angezogen habe.
Am Fuß der Treppe angekommen, schaue ich mich um. Erst in die Küche oder erst ins Wohnzimmer? Ich entscheide mich ins Wohnzimmer zu gehen und mich dort vor den Kamin zu setzen.
Im Türrahmen bleibe ich jedoch stehen, denn im Wohnzimmer sitzt bereits jemand. Vollkommen still betrachte ich sie.
Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa und ihre volle Konzentration ist auf die Kerze unter ihrer Hand gerichtet. Ich frage mich, was sie da tut. Sie hält ihre Hand über die Flamme. Diese scheint unter ihrer Handfläche bedrohlich zu zittern. Macht sie das? Irgendwie sind ihre Kräfte voll cooler als die der Anderen. Ich würde Leuten auch gerne mit einer Handbewegung das Genick brechen können. Okay, das klingt komischer als erwartet. Wahrscheinlich kann ich das auch, weiß bisher aber einfach noch nicht wie das richtig geht. Sie scheint so viel mehr Erfahrung zu haben als ich.
Ich räuspere mich kurz. Das Mädchen erschrickt schrecklich und dreht sich zu mir um: "Äh, hallo.""Hallo", erwidere ich: "Darf ich mich zu dir setzen?" Sie nickt zögerlich. Anscheinend habe ich sie auf dem falschen Fuß erwischt, denn ihre Stärke scheint ganz plötzlich verschwunden zu sein.
Langsam komme ich auf sie zu und setze mich neben sie auf das Sofa. Sie macht mir sofort ein bisschen Platz. Ihren Blick hält sie dabei ständig auf den Boden gerichtet.
Nach langer Stille erhebe ich meine Stimme: "Wie heißt du eigentlich?""Aria Martin", gibt sie kurz angebunden zurück: "Du heißt Stella oder?""Ja, woher weißt du das?", frage ich verwundert. Ich habe ihr nie meinen Namen verraten und weiß auch nicht woher sie ihn wissen sollte. Vielleicht hat sie ihn ja irgendwo mal aufgeschnappt. "Ich habe Hilley gefragt", gibt sie zu. Ich lächele: "Das hätte ich auch gemacht." Sie grinst ebenfalls.
"Wie bist du in die Fänge der Nexus geraten?", frage ich weiter, erwarte aber keine Antwort. Entgegen meiner Erwartungen antwortet sie doch: "Ich rede nicht gerne über meine Vergangenheit." Ich kann verstehen, dass sie nicht darüber reden will. Das ist sicher eine persönliche Erfahrung, die ihr viel Schmerz zu gefügt haben muss. Sie wird es mir sicher irgendwann erzählen, wenn der richtige Moment gekommen ist und unsere Freundschaft, oder was auch immer das zwischen uns ist, gefestigt ist.
"Wie verlief dein Leben denn bisher?", fragt sie mich hingegen. "Auch nicht besonders gut. Meine Eltern wurden, als noch sehr jung war, vor meinen Augen ermordet. Daraufhin kam ich in ein Waisenhaus, wo ich dann auch den Rest meines bisherigen Lebens verbrachte, bis ich vor wenigen Tagen abgehauen bin", sage ich schulterzuckend.
"Waisenhaus? Hast du denn keine lebenden Verwandten?", fragt sie mich total verwundert. "Doch, aber sie wollten die Verantwortung für mich nicht übernehmen", sage ich. Der Schmerz ist in meiner Stimme zu hören. "Oh, das muss hart sein", sie wirkt sehr betroffen. Ich nicke, wende dann aber meinen Blick ab: "Können wir vielleicht über was anderes reden?"
Ihr entfährt ein leises Lachen. Das ist ein Geräusch, das ich noch gar nicht von ihr kenne. Ich würde sie so gerne besser kennen lernen. "Na gut, kannst du mir vielleicht mal deine Kräfte demonstrieren? Meine kennst du ja schon!", bittet sie freundlich. Ich nicke begeistert. "Ich kann sie aber noch nicht so gut kontrollieren", warne ich dann aber. "Nicht schlimm", grinst sie: "Mir ging es anfangs auch nicht anders. Mir der Zeit wird das aber.""Dann bin ich ja beruhigt", sage ich zufrieden und stehe dann vom Sofa auf, um in die Küche zu gehen: "Ich muss dafür aber eben was holen gehen!"
In der Küche angekommen, durchsuche ich die Schränke, bis ich einen Schüssel finde, in die eine meiner Hände locker rein passt. Dann mache ich den Wasserhahn an und fülle die Schüssel mit klarem Wasser. Ich will einfach lieber auf Nummer sicher gehen! Schließlich weiß ich nicht, ob ich meine Kräfte auch ohne Wasser in meiner unmittelbaren Umgebung funktionieren.
Als ich wieder komme, sitzt Aria immer noch dort und scheint auf mich gewartet zu haben. Ich setze mich vor dem Sofa auf den Teppich und stelle die, bis zum Rand gefüllte, Schüssel auf den gläsernen Tisch vor mir. Aria rutscht vom Sofa hinunter und landet neben mir. "Okay ich bin soweit", erkläre ich. Aria strahlt mich interessiert an.
Ich schließe meine Augen und versenke meine Hand komplett im Wasser. Wieder wird meine Hand gar nicht richtig nass. Das erste Mal war also keine Ausnahme. Das Wasser umspült mein Handgelenk angenehm und ich entspanne mich ungemein. Vollkommen auf das konzentriert, was ich tun will, entspannen sich all meine Gelenke, die den ganzen Tag über so angespannt waren und meine Sinne schärfen sich.
Als ich höre wie Aria überrascht die Luft aus ihren Lungen entweichen lässt, ist das für mich das Zeichen, dass ich meine Augen wieder öffnen kann. Meine Lider heben sich und meine Vermutung wird tatsächlich bestätigt. Über der Wasserschale schwebt eine kleine Kugel aus Wasser. Es hat tatsächlich funktioniert! Stolz und Glück überkommen mich. "Wow, das ist ja voll cool. Kannst du auch noch größere Kugeln machen?", fragt sie begeistert. Ich nicke stolz:"Ja, ich denke schon, aber dafür muss ich erst noch besser werden. Glücklicherweise habe ich wenigstens das hier geschafft. Meine Kräfte funktionieren normalerweise nämlich erst immer, wenn ich das nicht erwartet habe." Sie lacht: "Das kenne ich. Mir ging es erst auch nicht anders.""Da bin ich ja froh", sage ich und gähne leise. "Bist du müde?", fragt sie und gähnt ebenfalls theatralisch. Ich nicke: "Du auch?" Sie erwidert mein Nicken. "Wollen wir ins Bett gehen?", frage ich deshalb. "Das halte ich auch für angebracht", gibt sie zu und nimmt meine Hand.
Ich lasse die Schüssel einfach stehen und folge Aria, die mich die Treppe hinauf zieht, nach oben. Dort angekommen, schließt sie mich in eine schnelle Umarmung und verschwindet dann hinter einer Tür, die sich gegenüber von meiner Eigenen befindet. Das muss wohl ihr Zimmer sein.
Immer noch darüber verwundert, wie schnell sie plötzlich verschwunden ist, betrete ich mein eigenes Zimmer und falle sofort in mein Bett. Nun bin ich doch schon irgendwie müder als gedacht und irgendwie habe ich gar nicht mehr so viel Angst vorm Träumen! Vielleicht träume ich ja sogar von Aria. Sie wird mir echt immer sympathischer, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie noch tausend weitere Facetten hat, von denen ich noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung habe.
Langsam beginne ich zu realisieren, dass eine sehr lange Reise gerade erst angefangen hat und wohl auch nicht so bald zu Ende sein wird. Auch die Tatsache, dass wir erst drei von sechs Erbinnen sind, zeigt mir, dass es noch ein langer Weg bis zum Frieden sein wird!
Gemeinsam stapfen wir über die Wiese hinter Hilleys großem Haus. Das saftige Gras fühlt sich an meinen fast nackten Füßen herrlich erfrischend an. Ich liebe dieses wundervolle Kitzeln auf meiner Haut. Wieso ich nur Sandalen trage, weiß ich nicht so genau. Ich habe sie einfach schnell angezogen, als Hilley uns gesagt hat, dass wir in die Natur gehen, habe ich irgendwie sofort nach den Sandalen gegriffen. Zum Glück ist es nicht kalt.
Ganz im Gegenteil. Es ist angenehm warm und die Sonne steht im Zenit. Ihre Strahlen tanzen auf meiner Haut und erwärmen diese angenehm. Ich mag den Regen zwar lieber, doch dieses Wetter ist auch ganz angenehm, solange es nicht zu warm ist. Wenn es nämlich heiß draußen ist, lassen auch meine körperlichen Kräfte nach, was wahrscheinlich mit meinen Wasserkräften zusammen hängt. Anders kann ich mir das jedenfalls nicht erklären.
Als wir eine der Wiesen überquert haben, bleibt Hilley stehen. Ich bin jedoch so sehr in Gedanken versunken, dass ich beinahe in sie rein gelaufen wäre. Schnell blinzele ich und konzentriere mich wieder auf das Hier und Jetzt. Aus dem Augenwinkel nehme ich Rubys genervten Blick.
"Was machen wir hier?", frage ich interessiert. "Wir müssen trainieren", erklärt die Frau vor mir knapp: "Ihr müsst beim nächsten Kampf besser in Form sein." Ruby schnappt genervt.
War ja klar, dass sie sich für besser hält und denkt, dass sie ihre Kräfte schon perfekt beherrscht.
Mein Blick fällt auf ihren Arm. Sie hat ihn noch nicht geschient. Wieso sie es nicht getan hat, weiß ich nicht. Ich hätte das sofort getan, nachdem wir gestern Abend wieder hier angekommen sind. Wusste sie, dass wir heute trainieren werden und wollte ihre Chancen nicht schmälern? Das wäre etwas, was ich nur von ihr erwarten würde.
Ich kenne sie zwar noch nicht lange, doch in den vier Tagen, konnte ich mir ein sehr gutes Bild von ihr machen. Sie ist zickig, anstrengend und will immer die Beste sein. Außerdem will sie Rund um die Uhr gut aussehen, was mir die Situation in der Kutsche gezeigt hat. Ich weiß noch genau, dass sie die Sachen, die Hilley ihr gegeben hatte, nicht anziehen wollte, weil diese für sie wie Kleidung von Obdachlosen aussahen.
Meiner Meinung nach ist es total nervig, wenn sie sich ständig beschwert, aber ändern kann ich das auch nicht so einfach. Es dauert lange einen Menschen zu ändern und viele Leute schaffen das in ihrem ganzen Leben nie. Eine Persönlichkeit kann man nicht für immer verändern. Man wird damit geboren und ist von da an dazu verdammt damit zu leben, egal ob das einem nun Recht ist oder nicht. Tja, das Leben ist halt eine Bitch!
Hilley erhebt ihre Stimme erneut und deutet auf etwas Links von uns: "Das wird deine Aufgabe sein, Ruby. Ich will, dass du sie anzündest." Ich muss zweimal hinsehen, um zu erkennen, was genau sie jetzt anzünden will, doch dann ist da gar kein Zweifel mehr.
Es ist eine Strohpuppe in der Größe eines Menschen. Sie trägt sogar Kleidung und hat eine Perücke auf dem Kopf. Ist der Sinn dieser Übung etwa, dass Ruby weiß, wie man einen Menschen entzündet, wenn falls das mal nötig sein sollte. Hoffentlich nicht!
Ruby nickt und macht sich auf den Weg zu der Strohfrau. Sie tut es sofort, ohne irgendeine Frage zu stellen. Ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist, kann ich momentan noch nicht sagen.
"Aria", ruft Hilley auf, woraufhin das Mädchen sofort ihren Kopf hebt: "Siehst du den Felsen dort?" Sie deutet auf einen großen grauen Felsen, der einige Meter in den Himmel ragt. "Ja, ich sehe ihn", bestätigt Aria interessiert. "Klettere auf die Spitze", die dunkelhaarige Frau deutet auf den obersten Punkt des Felsens: "Und dann meditiere dort. Lasse dich auf den Wind ein und lasse dich von ihm tragen. Entspann dich einfach!"
Aria wirkt total überrumpelt und runzelt die Stirn: "Wieso soll ich meditieren? So trainiere ich meine Kräfte doch gar nicht." "Da hast du Recht. Du trainierst deine Kräfte nicht direkt, sondern eher indirekt", versucht Hilley das Mädchen zu beruhigen: "Bei euren Kräften sind Ruhe und Kontrolle sehr wichtig. Durch das, was dir schon in deinem kurzen Leben passiert ist, bist du emotional sehr instabil, was sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil sein kann."
Ich sehe Aria an, dass sie den Grund noch nicht richtig verstanden hat, aber trotzdem versucht ihrer Aufgabe nachzukommen, weshalb sie sich auf den Weg zu ihrem Felsen macht.
Zum Glück ist er nicht so hoch, sonst wäre sie wahrscheinlich niemals hinauf gekommen. Mir würde es da aber sicher auch nicht besser gehen. Ich bin nämlich eine echt miserable Kletterin. Das war schon immer so und hat sich bis heute auch nicht geändert. Wenigstens habe ich aber keine Höhenangst, was mich schon ziemlich aufbaut, da die Angst echt schlimmer ist, als nicht klettern zu können.
Nun bin nur noch ich nicht mehr übrig. Was wird wohl meine Aufgabe sein? Vielleicht eine Blase aus Wasser? "Nun zu dir, Stella", sagt Hilley und reicht mir seelenruhig eine kleine Wasserschüssel: "Ruby hat mir erzählt, was du bei den Nexus getan hast. Ich will, dass du das nochmal machst." "Und was genau soll ich machen? Es ist so viel passiert, dass ich gar nicht mehr genau weiß, was ich jetzt gemacht habe", gebe ich zu.
Sie schenkt mir ein herzliches Lächeln: "Du hast einen Tentakel aus Wasser erschaffen." "Oh", sage ich leise: "Und das soll ich nun nochmal tun?" Sie nickt wortlos und deutet mit ihrem Blick auf die mit Wasser gefüllte Schüssel, die sie mir in die Hände gedrückt hat. Ich zucke mit den Schultern und mache mich auf den Weg zu einem großen Baumstamm.
Dort angekommen, setze ich mich und stelle die Schüssel auf meine Beine. Dann lege ich meine Hände hinein ohne, dass diese nass werden. Das ist in dieser Situation echt praktisch, da ich keine Lust darauf habe, dass meine Hände kalt werden.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es schwieriger ist einen Tentakel, anstelle eines Wasserballes, zu erschaffen. Bisher hat das nämlich noch nicht gut funktioniert. Immer ist der gewünschte Effekt erst eingetreten, nachdem ich bereits aufgegeben hatte. Außerdem kann ich meine Kräfte bisher auch nicht verwenden, wenn kein Wasser in der Nähe ist, was mich total stört, da ich eigentlich können müsste. Ich hoffe einfach, dass ich mit der Zeit besser werde, doch leider stehen mir meine Gefühle und Ängste dabei im Weg. Langsam versuche ich mich zu entspannen und auf meine Aufgabe zu konzentrieren, was mir aber irgendwie nicht richtig gelingen will.
Als ich nach einiger Zeit einen lauten Freudenschrei wahrnehme, schlage ich die Augen, die ich geschlossen hatte, wieder auf. Das Geräusch kommt von Ruby, die wild herum hüpft. Wieso sie das tut, weiß ich erst nicht genau, doch dann erblicke ich den Grund. Die gelbe Strohpuppe brennt lichterloh. Die lange Perücke auf ihrem Kopf ist bereits fast bis auf das letzte Haar abgebrannt. Auch die Kleidung ist die bereits durchlöchert.
Wow, das ist total beeindruckend. Wie hat sie das so schnell geschafft? Ich wünschte, das könnte ich auch. Ein leichter Anflug von Leid ist zu spüren.
"Ausgezeichnet Ruby", lobt Hilley. Die Blonde grinst siegessicher. Dann wendet Hilley den Blick von der Puppe ab und schaut stattdessen zu Aria. Auch sie scheint ihre Kräfte gut zu beherrschen. Ich folgt Hilleys Blick in Arias Richtung und werde ganz blass.
Sie schwebt wenige Meter über dem Felsen. Das ist einfach nur beeindruckend. Wieso können die Anderen das alle so gut? Mein Neid wächst immer weiter. Eigentlich bin ich ja auch kein neidischer Mensch, aber irgendwie ärgert es mich echt, dass ich meine Kräfte nicht so gut unter Kontrolle habe. Ich fühle mich einfach so verdammt schwach und nutzlos.
Ruby ignoriert Aria aber einfach und schaut mich an: "Und was hast du bisher schon geschafft?" Als sie sieht, dass sich bisher noch Nichts geändert hat, lacht sie hämisch: "Ah, ich sehe schon. War ja klar, dass du komplett nutzlos bist. "Nutzlos? Was denkt sie sich dabei mich einfach als nutzlos zu bezeichnen? Dazu hat sie weder das Recht noch einen richtigen Grund. Ich weiß erst seit kurzem von meinen Kräften, wohingegen sie sicher schon viel länger dabei ist.
In mir entflammt ein Feuer der Wut. Wutentbrannt springe ich auf und mache mich ohne einen Blick zurück, auf den Weg zum Haus. Ich habe einfach keine Lust mehr auf den ganzen Streit.
Ich höre nur noch, wie die Schüssel auf der Erde zerspringt und wie Aria und Hilley mir hinterherrufen, doch das interessiert mich nicht. Es ist egal, was die Anderen jetzt von mir denken und ob es ihnen passt, was ich hier tue, aber ich will einfach weg. Ich will alles einfach hinter mir lassen und mir ein eigenes Leben aufbauen.
Diese ganze Erbensache war ein riesiger Fehler. Ich kann das nicht. Es ist einfach nicht meine Bestimmung. Egal wie sehr ich mich anstrenge, es wird immer wieder vergeblich sein.
Die Tränen beginnen mir über die Wangen zu laufen und mein Tempo erhöht sich. Ich will hier einfach so schnell ich kann wieder weg. Alleine schaffe ich das sicher auch irgendwie!
Wütend und mit einem Tränen überströmtem Gesicht stoße ich die Tür zu meinem Zimmer auf. Mein Herz hämmert wild und droht auf meiner Brust heraus zu springen, mein Atem geht schnell und mein Puls rast. Es fühlt sich an, als könnte ich das Rauschen meines Blutes in meinen Adern hören. Das ist ein merkwürdiges Gefühl, doch ich konzentriere mich weiterhin auf die Mission, die ich verfolge.
So schnell ich kann, sammele ich all meine Sachen vom Fußboden auf und stopfe sie in irgendeinen Sack in meinem Zimmer. Ich habe echt keine Lust darauf wieder von den Anderen aufgehalten zu werden.
Meine Entscheidung steht fest. Ich bin dafür nicht gut genug. Es ist einfach nicht meine Bestimmung die Rolle als Erbin zu übernehmen. Sie finden sicher jemand Anderen, der diese Aufgabe übernehmen kann. Sie können mir auch gerne die Kräfte wieder wegnehmen, da ich mich nicht dadurch definieren lasse.
Als ich alles Wichtig verstaut habe, nehme ich meinen Mantel aus dem Schrank und streife ihn über. Dann lege ich den Sack über meine Schulter, damit er nicht so schwer ist, und renne die Treppe hinunter.
Am Treppenabsatz angekommen, renne ich in den Flur und auf die Haustür zu, doch bevor ich hinausschlüpfen kann, baut sich plötzlich Hilley vor mir bedrohlich auf. Wie macht sie das immer? Das wird langsam echt so lästig!
Sie wirkt genauso wütend wie ich. Mit ihrem Körper versperrt sie mir den Durchgang, sodass ich meine Kräfte verwenden müsste, um einen freien Durchgang zu habe und das kann ich ja anscheinend nicht besonders gut.
"Stehen geblieben, junge Dame", ihre klingt bedrohlich und sorgt dafür, dass ich mich fast wie ein gehetztes Tier während einer Jagd führe. In meinem Bauch tut sich ein flaues Gefühl auf und droht mich zu verschlingen. Was soll ich nun tun?
Da ich keine Ahnung habe, was die beste Reaktion auf ihre Blockade ist, bitte ich ganz ruhig: "Lass mich bitte vorbei, Hilley! Ich möchte gerne gehen." "Das wirst du nicht tun", meine Ruhe scheint ihre Aufgebrachtheit nur noch weiter anzuheizen, was kein gutes Zeichen ist. Oh man, wie habe ich denn sonst mit Lehrern gesprochen, die ich vorher wütend gemacht habe?
Hilfe suchend blicke ich zu Aria und Ruby, die in wenigen Metern Abstand zu Hilley, auf der Veranda stehen und die Szene, die sich vor ihren Augen abspielt, gespannt mit verfolgen.
Als sie meinen Blick bemerken, sind ihre Reaktionen aber mehr als nur ernüchternd.
Ruby rümpft nur die Nase und wendet ihren Blick dann von mir ab. Sie hält die Arme streng vor ihrer Brust verschränkt und hat ihre langen blonden Haare über die einige Zentimeter hochgezogenen Schultern geworfen.
Welche andere Reaktion habe ich auch sonst von ihr erwartet? Vielleicht, dass sie Hilley bittet mich doch einfach in Ruhe zu lassen, weil es ja meine Entscheidung ist? Nein, das habe ich nicht wirklich von ihr erwartet.
Aber von Aria hatte ich auf jeden Fall etwas Anderes erwartet. Ich hätte erwartet, dass wir Freunde sind oder dass ich ihr wenigstens ein bisschen wichtig bin, obwohl wir uns noch nicht lange kennen, doch leider enttäuscht sie mich kläglich.
Zwar öffnet sie erst den Mund, um etwas zu sagen, doch dann lässt sie ihn wieder zu klappen und richtet ihren Blick zu Boden. Mit ihrem rechten Fuß scharrt sie nervös auf dem hellen Holz unter ihren Füßen, was so wunderbar nach Zitronen duftet, herum.
Na super, sie ist also auch nicht besser als die Zicke neben ihr. Wie man sich in Menschen täuschen kann!
Kopfschüttelnd wende ich meinen Blick wieder von den anderen Erbinnen ab und blicke zu der Frau, die sich wie eine unüberwindbar Hürde vor mir aufgebaut hat, zurück: "Du kannst mich hier nicht festhalten, Hilley. Ich bin nicht dein Kind und du hast auch nicht die Macht über mich, also lass mich verdammt nochmal einfach vorbei!" Die letzten Worte schreie ich regelrecht, als ich die Kontrolle verliere.
Geschockt starrt sie mich an, tritt jedoch immer noch nicht zur Seite. Ich packe meinen Sack und schiebe mich genervt an Hilley vorbei. Sie währt sich weder, noch hält sie mich auf, was mich doch sehr verwundert.
Als ich mich endlich an ihr vorbeiquetscht habe, laufe ich auch an Ruby und Aria vorbei ohne sie eines Blickes zu würdigen. Nach ihrer tollen Unterstützung heute schulde ich ihnen weder einen Blick noch irgendwas anderes.
Sobald ich meinen Fuß auf den harten kalten Boden stelle, beginnt es plötzlich zu regnen. Nicht im Ernst, oder? Mein Leben hast mich echt!
Ich laufe durch den Regen davon. Es ist mir scheiß egal, was die Anderen jetzt von mir denken. Schon oft habe ich Entscheidungen getroffen, dass sie immer richtig waren, kann ich nicht sagen, aber ich treffe sie und bereue mein Handeln nie. Selbst dann nicht, wenn sie fatalen Folgen haben. Ich stehe komplett hinter meinen Entscheidungen, was mich schon oft stark gemacht hat.
Meine Füße versinken im mittlerweile entstandenen Matsch, während ich weiterhin kontinuierlich auf Kurs bleibe.
Das kleine Brot in meinen Händen wärmt mich angenehm. Der wohlige Duft strömt mir in die Nase. Genüsslich beiße ich in den gebackenen Teig. Es fühlt sich so gut an endlich wieder etwas zu essen. Das hier ist das erste Mal seit drei Tagen, dass ich wieder richtige Nahrung zu mir nehme. Seit ich aus Hilleys Haus verschwunden bin, lebe ich nun wieder auf der Straße ohne zu wissen, was ich als Nächstes tun soll.
Ich schlendere langsam durch eine der dunklen Straßen der Stadt. Das Mondlicht spiegelt sich in den Pfützen, die sich zwischen den Steinen gebildet haben. Meine Ohren nehmen kein einziges Geräusch wahr. Weder das Atmen einer anderen Person, noch Schritte auf dem Asphalt sind zu hören.
Plötzlich fällt mein Blick auf den Mond, der über mir aufragt. Das Licht des Mondes scheint auf mein Gesicht. Wie ich die Nacht und den Mond liebe, doch in dieser Nacht ist etwas anders.
Der helle Lichtkegel ist nicht wie sonst strahlend weiß. In dieser Nacht ist es blau wie der Ozean.
Auf einmal beginnt die Kette an meinem Hals sich zu erwärmen und als ich meinen Blick auf sich richte, leuchtet sie in dem gleichen Licht wie der große Mond über mir. Was ist denn jetzt los?
Ich bin überrascht und habe gleichzeitig Angst. Wie kann das sein? Was hat es damit auf sich? Ist das normal? Es muss irgendwas mit meinen Kräften zu tun haben. Aber was? Wie soll ich jetzt vorgehen?
Das Licht wandert von meinem Gesicht auf den Boden und spiegelt sich in den Pfützen wider. Es wandert immer weiter über das Pflaster vor mir her. Als ich bemerke, dass es sich nach einer Zeit nicht mehr bewegt, laufe ich langsam darauf zu, doch als ich den ersten Schritt mache, bewegt es sich weiter weg, sodass ich ihm folge.
Irgendwie hat das schon was Merkwürdiges. Ich folge hier einem Lichtkegel, der mir anscheinend den Weg zu zeigen versucht. Wahrscheinlich muss ich jetzt einfach vertrauen habe, aber das ist doch so verdammt schwer. Wie soll man Vertrauen in etwas haben, was so gar nicht der eigenen Logik entspricht? Mondlicht kann mir doch eigentlich gar nicht den Weg zeigen. Es hat kein Gehirn und auch keinen Willen, aber aus irgendeinem seltsamen Grund tut es das unmögliche. Aber wurde ich in letzter Zeit nicht so oft mit Dingen konfrontiert, von denen ich gedacht habe, dass sie unmöglich sind? Und wurde mir nicht auch so gut jedes Mal bewiesen, dass es doch nicht unmöglich? Kann ich denn dann auch nicht jetzt einmal auf das Unmögliche vertrauen?
Schnell entscheide ich mich für die Antwort "Ja" auf all diese Fragen. Ich laufe den Weg, den der Mond mir vorgibt, ab und folge einfach meinem Herzen.
Als ich um die erste Ecke gebogen bin, bemerke ich, dass nun mehr Leute um mich herum sind, weshalb ich meine Kapuze aufsetze. Ich muss echt aufpassen, dass ich nicht erkannt werde, sonst ist das ganze schneller vorbei, als mir lieb ist.
Arias Sicht
Mit meinem Löffel stochere ich im Kartoffelbrei herum. Es duftet köstlich, doch der Hunger ist mir vergangen. Seit Stella weg ist, ist hier so Still geworden.
Auch die Tatsache, dass ich nun alleine mit Ruby bin, macht es nicht besser. Wieso ich alleine mit ihr bin? Hilley ist, seit Stella uns den Rücken gekehrt hat, in ihrem Zimmer verschwunden und ist nicht einmal herausgekommen. Ich habe keine Ahnung, wie sie sich ernährt, aber ich habe da so meine Theorien.
Wahrscheinlich schleicht sie sich nachts runter und isst dann den vom Vortag über gebliebenen Käse. Jedenfalls würde ich es so machen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das echt eklig. Wieso sollte sie ausgerechnet alten Käse essen?
Ach, was ich mir eigentlich vor? Diese verrückten Gedanken schaffen es nur sich in meinen Kopf einzuschleichen, weil ich nicht über Stella nachdenken möchte.
Stella! Bei diesem Namen beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Sie war die erste richtige Freundin, die ich je hatte, obwohl wir uns noch gar nicht lange kennen. Ehrlich gesagt ist unser erstes Treffen erst seit etwa vier Tagen, aber bevor wir uns im echten Leben gesehen haben, habe ich manchmal von ihr geträumt.
Das war in den wenigen Nächten, in denen ich endlich mal wieder zum Schlafen kam ohne schreien und Schweiß überströmt aufzuwachen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich kein Mensch, der gerne schläft. Im Schlaf und in unseren Träumen verarbeiten machen Seraphinen die erlebten Dinge und leider waren diese selten positiv. Da waren die Träume von ihr eine schöne Abwechslung. Am Morgen bin ich nach einem dieser Träume immer gut gelaunt aufgewacht. Auch das ist leider einen ziemliche Seltenheit.
Ich bin eher eine der Seraphinen, die eher pessimistisch veranlagt sind. Das war aber nicht immer so. Es gab eine Zeit, eine sehr kurze, in der ich eine von Freude getriebene, optimistische Person war. Mit der Zeit wurde mir diese Freude immer weiter geraubt.
Das fing aber nicht, wie es die Meisten vielleicht erwarten würden, an als ich zu den Nexus kam. Nein, es begann nach dem Vorfall mit meinen Eltern so wie alles, was darauf folgt. Alles begann ausweglos in dieser schrecklichen Nacht, die mich innerlich und mein ganzes folgendes Leben zerstörte.
Ehrlich gesagt versuche ich aber nicht oft darüber nachzudenken. Mit der Zeit habe ich vor mir einen Schutzwall erbaut, den kein einziges Gefühl durchdringt.
Stella hat es geschafft, in der Nacht in der wir zum ersten Mal gesprochen haben, diese Wall Stück für Stück einzureißen. Doch seit das dunkelhaarige Mädchen mit den azurblauen Augen verschwunden ist, spüre ich wieder diese schrecklich Leere und Gefühllosigkeit in mir.
Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, obwohl ich ihre Entscheidung sehr gut verstehe. Meine hingegen war vollkommen falsch. Anstatt ihr zu helfen, habe ich nur den Blick abgewendet. Wieso ich das getan habe, ist mir nicht ganz klar. Wahrscheinlich wollte ich Hilley einfach auch nicht in den Rücken fallen. Schließlich war der ganze Plan mich zu retten von ihr und ich habe ihr so viel zu verdanken. Außerdem hätte sie sowieso nicht auf mich gehört, wenn ich Hilley nur freundlich gebeten hätte Stella gehen zu lassen. Um zu erreichen, dass sie Stella vorbeilässt, hätte ich meine Kräfte benutzen müssen und genau das war, was ich nicht tun wollte. Ich kann meine Kräfte nicht gegen Freunde einsetzen, da ich dann immer Angst habe sie zu verletzen. Bei Fremden oder gar bösen Menschen ist mir das egal, doch bei den Menschen, die mir wichtig sind, würde ich es mir nie verzeihen sie verletzt zu haben. Nicht nachdem...
"Du solltest unbedingt etwas essen", sagst plötzlich jemand mit einer gebrochenen, zitternden hinter mir und reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich lasse sofort den Löffel fallen und fahre herum. Meine Hände habe ich auf die Person gerichtet, bereit dazu meine Kräfte jeder Zeit zu verwenden und den potenziellen Angreifer hinter mir umzubringen.
Als ich jedoch erkenne, wem die Stimme gehört, lasse ich meine Hände schnell sinken. Oh Gott, das war total knapp. Ich hätte ihr mit nur einer einzigen Handbewegung den Hals umdrehen können.
Nur wenige Meter von mir entfernt steht Hilley. Ihre Augen sind blutunterlaufen, ihre Schultern sind eingefallen und sie wirkt wie eine alte Frau oder eine Pflanze, die das Sonnenlicht schon lange nicht mehr gesehen hat. Die Arme baumeln kraftlos links und rechts von ihr hinab. Es wirkt, als wären sie noch dünner als sonst. Hilleys Haare sind ungewaschen und scheinen an ihrem Kopf zu kleben.
Bei ihrem Anblick kommt mir fast das Essen wieder hoch, doch ich unterdrücke schnell ein Würgen. Dieser Anblick ist doch echt nicht mehr normal, oder? Wie lange hat sie schon Nichts mehr gegessen? Sie sieht ja schon fast so schlimm aus wie ich, als ich noch bei den Nexus gefangen war. Vermutlich hängt ihr Zustand mit Stellas Verschwinden zusammen. Ob sie nur aus meiner Sicht heraus so aussieht oder ob sie auch auf andere einen komplett heruntergekommen Eindruck macht? Rubys Würgen hinter meine zweite Vermutung.
Schnell springe ich von meinem Stuhl auf und führe sie zum Tisch, wo sie sich auf den hölzernen Stuhl neben mir sinken lässt. Sobald ich sicher bin, dass sie sicher sitzt, schiebe ich ihr meinen Teller hin und gehe in die Küche, um ihr einen Kaffee zu kochen. Wenn es jemandem schlecht geht, habe ich als kleines Kind immer ein Getränk gemacht.
Nach kurzer Zeit komme ich mit einer heißen Kaffeetasse in der Hand wieder und stelle sie zum meinem Teller, der nun Hilley gehört: "Trink das! Es wird dir wieder ein wenig Kraft geben." Die Frau vor mir nicht und streckt ihre zitternde Hand nach dem Gefäß aus.
"So kann das nicht weiter gehen. Wir müssen Stella finden und sie davon überzeugen zurückzukommen, sonst wird es keinem von uns besser gehen", sage ich mehr zu mir selbst als zu den Anderen im Raum. "Also ich brauche sie nicht so dringend", gibt Ruby von der anderen Seite des Tisches zu bedenken: "Wie es mit dir steht, kann ich nicht sagen, Lovergirl!" Ich reagiere sofort: "Halt die Klappe, Ruby!" Sie kontert schnell auf ihre total anstrengende Art: "Wieso? Habe ich etwa Recht mit meiner Vermutung, dass du..." "Nein, weil du mich nervst", gebe ich in einem Ton zurück, der keinen Widerspruch zulassen, aber in meinem Innere bin ich mir gar nicht so sicher, ob sie mit ihrer Vermutung falsch liegt.
Stellas Sicht
Ich stolpere aus dem dichten Wald heraus. Meine Knochen schmerzen und ich fühle mich total ausgelaugt. Als ich der Lichtkegel auf eine Lichtung vor mir fällt, erhöhe ich jedoch trotz deiner Erschöpfung noch ein letztes Mal mein Tempo.
Vielleicht würden sich manche jetzt fragen, wieso ich so erschöpft bin, da man den Mond ja nur in der Nacht sehen kann, weshalb ich eigentlich Zeit gehabt haben sollte, mich am Tag auszuruhen, doch so einfach ist das leider nicht.
Die Städte, die ich auf meinem Weg durchquert habe, laden nämlich nicht sonderlich zum Entspannen ein. Das liegt nicht an den Städten selbst, sondern an einigen Leuten, die dort leben. Ich sage einfach mal, dass es so ist, dass man lieber aufpassen sollte, wie man sich in der Gegenwart von Verdächtigen befindet. Es gibt viele Leute, die stehlen, um überleben zu können. Leider sind darunter oft auch Kinder, die nichts dafür können, dass sie sich in so einer misslichen Lage befinden.
Als ich aus dem Wald auf dich Lichtung trete, erstarre ich vor Überraschung. Vor mir stürzt ein kleiner Wasserfall in die Tiefe. Am Fuß des Wasserfalles trifft die lebenswichtige Flüssigkeit auf die dunklen Steine und spritzt in weißer Gischt in alle Richtungen davon.
Das blaue Licht trifft genau auf den Teich, in den das Wasser des Falles hinein fließt. Irgendwas kommt mir an diesem Bild bekannt vor.
Ich schließe die Augen, sodass ich mich nicht nur auf meine Augen, sondern auch auf meine anderen Sinne verlassen kann. Meine Eltern haben mir immer gesagt, dass ich mich nicht nur auf meine Augen, sondern auch auf meine anderen Sinne verlassen soll.
Das Erste, was ich wahrnehme, ist das Geräusch des auf die Steine klatschenden Wassers. Als Nächstes höre ich das leise Zirpen einiger Grillen, die sich wohl einige Meter entfernt befinden müssen.
Als Nächstes steigt mir der saftige Geruch des feuchten Grases unter meinen Schuhen in die Nase und sofort erscheint das Bild eines warmen Sommertages, den man mit der ganzen Familie verbringt, in den Kopf. Die Kinder spielen Fangen, während die Eltern ein Stück entfernt auf einigen Baumstämmen sitzen und sich angeregt unterhalten.
Der Wind pustet sanft gegen mein Gesicht und wirbelt meine Haare durcheinander. Auch einige Wassertropfen treffen auf meine Haut und ziehen innerhalb von Sekunden in meine Haut ein. Mir ist zuvor noch nie aufgefallen, dass das so schnell geht. Oder hat das auch mit meinen Kräften zu tun?
Die Flüssigkeit gibt mir langsam die gewohnte Kraft zurück und wirkt wie Balsam für meinen Körper und meine Seele.
Als ich meine Augen wieder öffne, weiß ich plötzlich ganz genau, wieso dieser Ort mir so schrecklich bekannt vorkommt. Es ist der Platz, den ich als Zweites in meiner Vision gesehen habe. Ich hätte nicht erwartet, dass es diesen Ort wirklich gibt.
Schnell lege ich meinen Mantel ab, um beim Schwimmen nicht unnötig behindert zu werden. Auch meine Schuhe streife ich ab und lasse sie neben den Mantel ins Gras fallen.
Die Aufregung zerreißt mich fast. Wenn das hier mit meiner Vision identisch ist, finde ich vielleicht auch den blauen Stein im Inneren der Wasserblume. Ich erinnere mich, dass das kleine Splitterstück an meiner Kette ein Teil des Kristalls sein muss. Wenn ich also den Kristall finde, müsste er doch genau wie meine Kette, als ich sie zum ersten Mal umgelegt habe, leuchten, oder?
Ich steige in die Flut hinein und laufe langsam weiter bis alles, abgesehen von meinem Kopf, unter der Wasseroberfläche verschwunden ist. Mit einem weiteren Schritt bin ich unter der Oberfläche und beginne zu tauchen.
Immer weiter tauche ich zum Grund. Es fühlt sich so an, als wäre ich schwerelos. Meine Bewegungen sind langsam und entspannt. Erst versuche ich die Luft anzuhalten, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich ja unter Wasser atmen kann. Sofort lasse ich die Luft wieder auf meinen Lungenflügeln entweichen. Meine Atmung und meine Bewegungen sind nun ganz im Einklang.
Als ich jedoch am Grund angekommen bin, packt mich die Verzweiflung. Dort sind keine Wasserblumen wie in der Vision. Wo sind sie? Ich versuche am Boden zu bleiben und keine Panik zu bekommen. Deshalb tauche ich weiter und suche. Vielleicht finde ich ja noch irgendwo etwas.
Nach wenigen weiteren Bewegungen, spüre ich den Wasserfall, der über mir in die Tiefe stürzt.
Nachdem ich ihn hinter mich gebracht habe, sehe ich plötzlich doch etwas hinter einem Felsen aufleuchten. Schnell schwimme ich weiter und sehe tatsächlich etwas Unglaubliches. Ich halte mich am Felsen fest und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Vor mir sprießen zahlreiche Wasserpflanzen aus dem schlammigen Boden heraus. Die Freude übermannt mich. Wieso überkommen mich meinen Gefühle heute so wechselhaft?
Die Blumen sind noch schöner als in meiner Vision die Blütenblätter leuchten, während das Innere eher glitzert.
Eine von ihnen ist größer als die Anderen, weshalb ich ihr näher komme. Ihre Mitte ist so gebaut wie eine besondere Fassung, damit etwas darin festgehalten werden kann. Wie beispielsweise ein Korn, ein Samen oder sogar in Kristall und mit großer Sicherheit auch ein Blauer, doch wo ist er? Wo ist der Wasserkristall?
War etwa jemand anderes vor mir hier und hat ihn sich geschnappt oder gab es niemals einen? Hat Hilley mich angelogen? War meine Vision fehlerhaft?
Ich muss unbedingt zurück zu den Anderen und ihnen sagen, dass er weg ist. Hilley wird sicher wissen, was das es damit auf sich hat.
Als der Karren an der Straße hält, springe ich hinaus. Mit einem "Dankeschön" an den Bauern, der mich so schnell er konnte hergefahren hat, laufe ich im Schutz der Nacht über den unbefestigten Weg.
Den Bauern habe ich auf meinem Rückweg getroffen und ihn gebeten mich mitzunehmen. Glücklicherweise hat er ja gesagt, sonst hätte ich noch viel länger gebracht als generell schon. Das hätte auch schlimme Konsequenzen haben können, da ich ja keine Ahnung habe, wer genau den Wasserkristall hat. Was wenn die Nexus ihn sich geschnappt haben? Das wäre garantiert nicht gut! Ich komme meinem Ziel immer näher und mit jedem Schritt steigen meine Aufregung und meine Angst. Was wenn sie mir nicht zu hören wollen und mir die Tür einfach vor der Nase zu schlagen?
Auf der Veranda angekommen, blicke ich durch eines der großen Fenster ins Wohnzimmer hinein. Dort sitzen Aria und Hilley gemeinsam auf dem Sofa. Aria hält ein kleines vergilbtes Papier in der Hand, welches sie zu lesen scheint, Hilley deutet zwischendurch mit zitternden Fingern auf einige Stellen des Papiers. Als ich in Hilleys Gesicht blicke, erschrecke ich mich jedoch leicht.
Sie wirkt alt und schwach. Unter ihren Augen zeichnen sich dunkle Augenringe ab. Das Zittern ihrer Schulter bemerke ich sofort, obwohl sie eine weiche Decke darüber gelegt hat. Das Zittern wird also nicht durch Kälte, sondern durch Angst erzeugt. Doch wovor hat sie Angst? Macht sie sich vielleicht Sorgen um mich und denkt, dass ich in Schwierigkeiten sein könnte?
Nein, das ist kompletter Quatsch! Wieso sollte sie sich Sorgen um mich machen? Sie wollte mich doch sicher nur wegen meiner Kräfte!
Ich wende meinen Blick ab und trete vor die Tür. Langsam lasse ich erhebe ich meine Hand in die Luft und bilde eine Faust, um anzuklopfen, doch bevor meine Fingerknöchel das Holz der Tür berühren, lasse ich sie wieder sinken. Wieso sollte ich ihr davon erzählen? Das ist doch nicht mehr mein Problem? Der Zweifel wächst in mir heran wie ein junger Pflanzensetzling.
Ich nehme etwas Abstand und blicke nach Rat suchend in die Sterne hinauf. Genau in diesem Moment zischt eine blaue Sternschnuppe durch mein Sichtfeld. Dann ist er wieder verschwinden.
Die Sternschnuppe war blau genau wie das Licht des Mondes vor drei Tagen. Wenn das kein Zeichen ist.
Durch diese wunderschöne Erscheinung bestärkt nehme ich all meinen Mut zusammen und klopfe an die Tür. Das harte Holz ist kalt an meinen Fingerknöcheln. Erst geschieht nichts und ich bin schon im Begriff wieder um zu drehen und die Veranda zu verlassen, da öffnet jemand doch die Tür.
Überrascht drehe ich mich um. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie mir aufmachen würden. Schließlich hätte ich ja auch Nexus sein können oder sie hätten mich auch einfach nicht wieder sehen wollen. Beides sind durchaus plausible Möglichkeiten.
Dort vor mir steht Hilley. Sie klammert sich am Türrahmen fest und hat die Decke fester um sich geschlungen. Als sie mich jedoch erkennt, lässt sie diese fallen und kommt langsam auf mich. Auch der Ausdruck auf ihrem Gesicht verändert sich schlagartig, als unsere Blicke sich kreuzen. Der müde Ausdruck wandelt sich zu einem freudigen Lächeln.
Mein Name ist das erste Wort, was ihr über die Lippen kommt, bevor sie ihre Arme kurz um mich schlingt. Auch ich bin nun glücklich, da meine Befürchtungen abgewiesen wurden. Sie freut sich darüber mich zu sehen und das ist das aller schönste Gefühl auf der Welt. Ich erwidere ihre Geste und ziehe sie an mich.
"Schön, dass du wieder zurück bist", flüstert Hilley mir ins Ohr. Ich atme einmal tief ein und löse mich wieder von ihr: "Es gibt einen Grund dafür, dass ich hier bin."
Sofort fällt mir die Niedergeschlagenheit in ihrem Gesicht auf und die Schuld überkommt mich. Ich hasse es sie so zu sehen, doch nun muss ich ihr erst die Neuigkeiten erzählen.
"Können wir rein gehen?", frage ich und lasse meinen Blick durch die Landschaft um uns herum wandern, damit ich sicher sein kann, dass uns niemand beobachtet.
"Sicher", ich bemerke, dass sie versucht glücklich oder zumindest neutral zu klingen, doch all ihre Bemühungen sind um sonst. Sie schafft es nicht ihre Gefühle vor mir zu verstecken. Ich bemerke ganz klar, dass sie sich in ihrem Inneren gewünscht hat, dass ich gekommen bin, um zu fragen, ob ich wieder hier wohnen kann. Vielleicht bin ich das ja auch. Was das angeht, bin ich mir noch nicht sicher.
Drinnen angekommen rennt Aria sofort glücklich wie ein kleines Kind, das gerade zum ersten Mal einen Lutscher isst, auf mich zu und zieht mich in eine freudige Umarmung. Ich selbst kann ein Lachen nicht unterdrücken und erwidere die Umarmung nach einer kurzen Schockstarre. Sie scheint mich genauso sehr vermisst zu haben wie Hilley. Ich wusste ja gar nicht, dass ich ihnen allen so wichtig bin. "Aria", mahnt Hilley schnell: " Lass Stella mal bitte los! Sie scheint uns etwas Wichtiges sagen zu wollen."
Aria lässt mich verwundert an und wirft mir dann noch einen fragenden Blick zu, bevor sie sich aufs Sofa fallen lässt. Um ihr ein wenig entgegenzukommen, setze ich mich neben sie auf das weiche Polster. Hilley setzt sich gegenüber von uns hin. "Also? Was ist los?", fragen Aria und Hilley gleichzeitig. "Erinnerst du dich noch an meine Vision, Hilley?", frage ich.
In diesem Moment fällt mein Blick auf die Kette um Arias Hals. Sie ähnelt meiner stark. Der einzige Unterschied ist der Stein. Ihr Splitter ist weiß und wenn man genauer hinschaut, wirkt es als würde darin ein Sturm wüten und toben.
"Ja, wieso?", fragt Hilley überrascht und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke schnell zu Hilley zurück: " Sie bestand ja aus zwei Teilen. Im ersten Tag habe ich Aria gesehen und in der Zweiten ..." Ich stoppe, um zu testen, an wie viel sie sich noch erinnert.
Sie beendet prompt meinen Satz: " ...hast du den Ort gesehen an dem der Wasserkristall versteckt ist."
Bestätigend nicke ich: " Genau und vor etwa fünf Tagen habe ich ein Zeichen gesehen und bin diesem einige Tage gefolgt." "Was für ein Zeichen?", fragt die Frau mir gegenüber überrascht.
Schnell schüttele ich abwehrend den Kopf: " Das ist jetzt nicht wichtig!" Hilley scheint mit meiner Antwort nicht sonderlich zufrieden zu sein, lässt mich aber trotzdem weiter sprechen, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
"Dieses Zeichen hat mich zu einem See geführt, der sich nach genauerem Betrachten als der See aus meinem Traum identifizieren ließ." "Was?", fragt sie überrascht: " Ich hätte nicht gedacht, dass er real ist." "Echt? Wieso nicht?", frage ich überrascht. "Weil es bei vielen Erben so war, dass ihnen ein Ort gezeigt wurde, der nicht wirklich existiert, weil der Stein bereits zerstört wurde", erklärt sie geduldig. "Zerstört? Wer zerstört denn so einen wertvollen Stein?", ich bin total überrumpelt. Es sind einfach zu viele Informationen für meinen Kopf. "Teilweise die Nexus und teilweise die Erben", erzählt sie schulterzuckend. "Die Erben? Wieso sollten sie sowas tun?", frage ich weiter. "Sie haben einfach entschieden, dass es zu gefährlich ist ihren Stein weiterhin aufzubewahren", sagt sie und blickt auf ihre Finger hinab: " Das ist jedem Erben selbst überlassen."
Ich hätte sie gerne gefragt, was geschieht, wenn die falsche Person einen Stein in die Finger bekommt, doch in diesem Moment geht Aria dazwischen: " Kannst du jetzt bitte weiter erzählen?" Ich nicke schnell, verwundert über ihre Direktheit und erzähle weiter: " Jedenfalls bin ich dann, genau wie in meiner Vision, untergetaucht, um den Stein dort zu suchen, wo er auch in der Vision war. Als ich an der Stelle jedoch angekommen war, war der Stein weg." Hilley holt scharf Luft, was für mich eindeutig ein schlechtes Zeichen ist: " Bist du sicher, dass er dort überhaupt mal gewesen ist?" Sofort antworte ich entschlossen: " Ja, ich bin mir zu einhundert Prozent sicher."
Daraufhin beginnt Hilley sich die Haare zu raufen und vor sich hin zu fluchen: " Das ist schlecht! Das ist ganz schlecht, Stella." "Das werde ich dir später erklären. Jetzt ist mir erst mal wichtiger, dass du mir verspricht hier, wo du in Sicherheit bist, zu bleiben", bittet sie wehmütig: " Ich kannst Nachts sonst nicht ruhig schlafen."
Es bedeutet mir so viel, dass sie das sagt. Schon langem habe ich diese Worte schon nicht mehr gehört und es fühlt sich an wie Balsam für meine Seele, welches mein zerbrochenes Inneres Stück für Stück wieder zusammen baut. Als ich diese Menschen zum ersten Mal getroffen habe, hätte ich nicht gedacht, dass wir alle uns einmal so wichtig sein könnten. Und in dieses "wir" schließe ich auch Ruby ein, denn obwohl sie oft ziemlich fies ist und mich in den Wahnsinn treibt, würde ich nicht mit ansehen wollen wie den Löffel abgibt.
"Wenn es dir besser schlafen lässt mich in Sicherheit zu wissen, bleibe ich hier", auf meinen Lippen ist ein warmherziges Lächeln zu erkennen.
Sobald meine Worte ihre Ohren erreicht haben und von dort aus weiter in ihr Gehirn gewandert sind, erscheint ein Lächeln auf Hilley Lippen, was ihr ganzes Gesicht mit einbindet und ihre auch zufrieden funkeln lässt.
Mir verleiht dieser Anblick Ruhe. Er gibt mir das Gefühl die Menschen, um mich herum glücklich zu machen und wenn sie glücklich sind, versuche ich es ihnen gleich zu tun. Schließlich ist es nicht falsch im richtigen Moment glücklich zu sein und Gefühle zuzulassen.
Der Meinung scheint auch Aria zu sein, als sie meine Hand in ihre nimmt und mir ein liebevolles Lächeln schenkt, das ich genau liebevoll erwidere. Sie ist die Person, die ich hier am meisten vermisst habe.
Von einem lauten Geräusch werde ich aus dem Schlaf gerissen. Langsam öffne ich die vom Schlafen noch ganz verklebten Augen und versuche wach zu werden. Ich balle meine kleinen Hände zu Fäusten und reibe mir damit die Augen.
Nach kurzer Zeit bin ich dann halbwegs wach und erhebe mich langsam aus dem Bett. Mit einer Hand schlage ich die samtig weiche Decke zur Seite und steige mit den Füßen in meine Hausschuhe, da ich am Morgen echt ungern kalte Füße habe. Dann eile ich zum Schrank und schnappe mir einen Morgenmantel, den ich über mein flauschiges Nachthemd ziehe. Die ganzen Sachen gehören Hilley und ich bin ihr echt dankbar, dass sie mir diese leiht.
Nachdem ich mir also etwas Vernünftiges angezogen habe, öffne ich leise die Tür, da ich noch nicht weiß, ob die Anderen im Haus bereits wach sind und steige die Stufen Stück für Stück hinab.
Auf der letzten Stufe bleibe ich stehen und schaue nach, ob schon jemand anderes hier unten ist, doch so scheint es nicht zu sein. Merkwürdig! Schlafen sie etwa alle noch? Ich hätte nicht gedacht, dass sie alle solche Langschläfer sind. Es ist doch bestimmt schon total spät.
Schnell bemerke ich dann aber auch was oder wohl eher wer, die lauten Geräusche erzeugt. Es sind nämlich die Geräusche, die entstehen, wenn man etwas härter gegen Holz klopft.
Ich springe die letzten Treppenstufen hinab und laufe zur Tür, während ich mich frage, weshalb ich heute so schrecklich gut gelaunt bin. Das ist für mich total untypisch.
Mit einer schnellen Handbewegung reiße ich die Tür auf und hätte sie beim Anblick der Person auf der anderen Seite der Holzbarriere am liebsten auch sofort wieder zugeschlagen, doch das ist nicht möglich, da diese ihren Fuß blitzschnell in den Türrahmen gestellt hat. In diesem Moment schießen mir mehrere Fragen gleichzeitig durch den Kopf. Wer ist das? Ist er ein Nexus? Was will er hier?
Wieso ich so reagiere? Na ja, sein Aussehen gleich dem des netten Nachbarn nicht gerade. Auf der Nase trägt er eine Brille mit verdunkelten Gläsern und seine rabenschwarzen Haare hat er streng nach hinten gekämmt. Seine Augenfarbe kann ich leider nicht erkennen. Ich vermute aber aus einem Instinkt heraus eine dunkle Augenfarbe. Wenn er jetzt noch einen Kugelschreiber rausholt mit dem er mein Gedächtnis zu löschen versucht, renne ich wirklich schreiend weg.
"Ähm ...was ...kann ich für sie tun?", meine Stimme zittert und ich klinge noch unsicherer als erwartet. Mist, so macht er sicher keinen Halt davor mich aus dem Weg zu schaffen, wenn er einer der Nexus ist. "Ist Hilley zu Hause?", fragt er. Seine Stimme ist hart und eisig. Sie erweckt in meinem Kopf das Bild einer kalten Wand aus Eis, die man unmöglich durchdringen kann. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken und mein Stottern wird nur noch schlimmer: "Ja, ich ...denke schon. Ich ...weiß, aber ...nicht, ob sie noch...schläft." Innerlich gebe ich mir eine Ohrfeige dafür, dass ich mich so leicht einschüchtern lasse. Das schafft doch sonst auch niemand.
"Mach dir keine Sorgen! Ich bin wach", die Stimme von Hilley ertönt klar und so gar nicht verschlafen hinter mir. Ich fahre herum: "Oh, du bist wach. Das wusste ich nicht." "Ich bin genau wie du, gerade erst aufgestanden", sagt sie zu mir, bevor sie sich an den gruseligen Mann wendet: "Und jetzt mal zu dir, Vincent. Wieso siehst du so aus, als wärst du gerade auf einer geheimen Mission?"
Er hebt den Kopf und schiebt sich einfach an mir vorbei, sodass er nun neben Hilley im Flur steht. Instinktiv schließe ich die Tür und wende mich wieder der mehr als merkwürdigen Szene zu.
"Weil es so ist", erklärt der Mann, der allem Anschein nach Vincent heißt, mit einem vielsagenden Blick, den Hilley jedoch trotzdem nicht zu verstehen scheint, was mir ihr Blick und ihre darauffolgende Frage deutlich machen: "Wie meinst du das?" "Ich wurde vom Rat geschickt, um dir und auch den Erbinnen mitzuteilen, dass ihr alle morgen eine Vorladung erhalten habt", er klingt nach wie vor kalt. Gehört es etwa auch zu seiner Aufgabe so zu tun, als wäre er ein gefühlloser Roboter? Wenn ja, ist er darin ein Naturtalent. Dann realisiere ich jedoch auch, dass wir vorgeladen wurden. Was hat das zu bedeuten? Haben wir etwas falsch gemacht oder sogar verbrochen? Mein Atem geht plötzlich merklich schneller, mein Herz beginnt leicht zu rasen und ich beginne zu schwitzen.
"Ihr habt meinen Brief also erhalten?", fragt Hilley. Auf ihrem Gesicht erscheint jedoch, im Gegensatz zu meinem, ein zufriedener Ausdruck. Der Anzugträger nicht kaum merklich: "Natürlich!"
Dann kramt er ein helles Papier und einen Kugelschreiber aus seiner Tasche. Diese Schreibutensilien hält er Hilley dann vor die Nase: "Ich weiß, dass du es hasst, aber du musst auf diesem Blatt unterschreiben, dass du über die Vorladung in Kenntnis gesetzt wurdest."
Ich schaffe es mit viel Mühe einen Blick auf das Papier zu erhaschen. Darauf stehen viele Wörter aneinander gedrückt, wie in die Häuser in einer der Großstädte auf der Erde und am unteren Ende befindet sich eine lange schwarze Linie, auf der man wahrscheinlich unterschreiben muss. Diese Vermutung bestätigt sich, als Hilley den Stift zückt und ihre Unterschrift ruhig auf der Linie postiert. Das geschieht jedoch erst, nachdem sie mit einem Augenverdrehen ihre Position nahe gelegt hat.
Bei dem Anblick kann ich mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Mittlerweile habe ich mich glücklicherweise auch wieder beruhigt und will nicht mehr weglaufen, sobald der Mann in Schwarz seinen Mund aufmacht.
"Wirst du morgen da sein?", fragt das männliche Lebewesen neben mir nun doch etwas Einfühlsamer. Die Brünette nickt sofort: "Natürlich! Es geht schließlich um etwas ungeheuer Wichtiges. Außerdem lernen die Mädchen dann auch mal den Rat kennen. Ich darf sie doch mitbringen, oder?" "Gerne. Der Rat möchte auch explizit mit den Dreien reden", erklärt er. Mit einem Zwinkern fügt er dann auch noch etwas hinzu: "Besonders Katherine interessiert sich für deine Mädchen!" "War ja klar", lacht Hilley, doch ich finde diese Information gar nicht lustig. Wieso wollen diese Leute mit uns reden? Haben wir etwas falsch gemacht? Habe ich etwas falsch gemacht? Bekomme ich ärger, weil ich weggelaufen bin?
Als Hilley meinen Blick bemerkt, wird ihr Lachen noch lauter und herzlicher:"Genauso habe ich auch beim ersten Mal reagiert. Erinnerst du dich noch daran, Vincent?" Der Mann nickt und ein kleines Lächeln schleicht sich auf seine Lippen: "Wie kann ich das jemals vergessen?" Dann blinzelt er jedoch und seine ganze Erscheinung ist wieder der Inbegriff von Gefühlskälte: "Na gut, es war schön dich wieder zu sehen, Hilley. Trotzdem muss ich jetzt aber auch meine anderen Aufträge beenden gehen." Die Frau nickt niedergeschlagen und für einen Moment sehe ich einen Wettstreit der Gefühle in den Augen des Mannes, doch dann blinzelt er schnell und geht zur Tür.
Mit einer schnellen Handbewegung öffnet er sie und tritt in die kalte Morgenluft hinaus: "Tschüss Hilley!" "Tschüss Vincent", erwidert mit ein bisschen Wehmut in der Stimme, den ich aber gerade nicht zu deuten vermag.
Dann ist die Tür wieder geschlossen und wir sind mit unseren Gedanken und Fragen wieder allein.
Nach einigen stillen Sekunden frage ich leise: "Warum wurden wir vorgeladen?" Hilley dreht sich mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht um und steigt die Treppe wieder hinauf: "Das wirst du morgen schon noch erfahren."
Um Punkt fünf Uhr des heutigen Tages stürmt Hilley in mein Zimmer und schmeißt mich aus dem Bett.
Gestern haben Aria und ich nur noch die große Bibliothek entdeckt und uns in ein paar verstaubte Bücher vertieft, während Hilley sich in ihr Zimmer zurückgezogen hat. Was Ruby so getrieben hat, interessiert keinen. Ich habe nur mitbekommen, dass sie jetzt eine Schiene an ihrem verletzten Arm trägt.
Langsam öffne ich meine Augen, als sie die großen Vorhänge aufzieht. Ich steige aus dem Bett und laufe zum Schrank, um mich fertig zu machen, da Hilley mir gesagt hat, dass wir früh raus müssen.
Nachdem Hilley das Zimmer verlassen hat, ziehe ich mir meinen Schlafanzug aus und ersetze ihn durch normale Kleidung. Diese besteht aus einem schwarzen Langarmshirt, einer ebenso dunklen Hose und zwei hohen Stiefeln. Meine Haare binde ich mit einem Band zu einem geflochtenen Zopf. Darüber ziehe ich meinen ebenso dunklen Mantel.
Plötzlich klopft es an der Tür und ich zucke zusammen: "Komm rein!" Die hölzerne Tür wird geöffnet und Aria erscheint in meinem Blickfeld: "Hilley sagt, dass ich dich holen geht, soll. Bist du fertig?" Ich nicke und verlasse mit ihr mein Zimmer.
Während wir die Treppe hinab steigen, betrachte ich sie. Ihre braunen Haare hat sie zu einem hohen Zopf gebunden und an ihren Körper hat sie, mit fast derselben Kleidung wie ich sie trage, bedeckt.
Im Flur warten schon die Anderen. Auch Ruby ist dabei. Ihr geschienter Arm springt mir sofort ins Auge. Ich frage mich, wie es ihrem Arm geht, will aber lieber keine Konversation beginnen, da ich mir schon vorstellen kann, wie sie mir antworten würde.
"Seid ihr fertig?", fragt Hilley. Wir alle bejahen, woraufhin sie uns bittet ihr zu folgen.
Wir laufen um das Haus herum, bis wir an einer großen Scheune ankommen. In diesem Moment fällt mir auf, dass diese mir noch nie aufgefallen ist. Die Wände sind mit derselben weißen Farbe gestrichen wie die Fassade des Hauses. Das Dach ist mit schwarzen Pfannen gedeckt, sodass kein Regen oder Schnee hindurchdringen kann.
Hilley läuft zum Scheunentor und versucht es mit vergeblich zu öffnen, doch das funktioniert nicht so recht. Sie scheint jedoch nicht stark genug zu sein, weshalb ich ihr zur Hilfe komme. Zusammen schaffen wir es das Tor zu öffnen.
Als die Tür offen ist, treten wir alle hinein. Dort angekommen komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dort stehen vier Pferde und ein kleines Fohlen. "Du hast Pferde?", frage ich Hilley und strahle sie an. Ich liebe Pferde. Besonders die Dunklen. "Ja, das sind meine. Ich muss ja auch irgendwie reisen können, ohne jedes Mal die Kutsche zu nehmen", erklärt sie schulterzuckend und läuft zu einem der Pferde herüber. Als Erstes fallen mir das graue Fell und die weiße Blesse auf der Stirn auf. Dann sehe ich, dass drei der Pferde bereits gesattelt sind. "Wir sollen reiten?", fragt Ruby aufgebracht. "Genau das", sagt sie und führt das Pferd rüber: "Du reitest mit mir, Ruby. Die Anderen dürfen sich ein Pferd aussuchen.
Aria und ich laufen sofort los, während Ruby Hilley entrüstet anblickt: "Was? Wieso das? Ich weiß wie man reitet!" "Nein, das ist keine Option. Ich glaube dir zwar, dass du reiten kannst, aber mit dem verletzten Arm lasse ich dich auf keinen Fall allein auf ein Pferd steigen." Sie seufzt genervt, diskutiert aber nicht weiter.
Ich entscheide mich für einen großen Hengst mit grauem Fell, was hin und wieder von weißen Flecken durchzogen wird. Seine Beine, sowie seine Mähne und sein Schweif, sind schwarz.
Das letzte gesattelte Pferd wir von Aria belegt. Es ist komplett schwarz und sein Fell glitzert in der Sonne, die durchs Tor in die Scheune fällt.
"Wisst ihr wie man reitet?", fragt Hilley, nachdem sie aufs Pferd gestiegen ist. Ruby steigt hinter ihr auf und hält sich an der Frau vor ihr fest.
Ich nicke, während Aria zögert. "Okay, kannst du Aria zeigen wie es geht, Stella", bittet Hilley mich. Ich bejahe und zeige ihr, wie man aufsteigt. Dann erkläre ich ihr, wie man die Zügel hält und wie man dann losreitet.
Sie schafft es sofort beim ersten Versuch, was mich natürlich mehr als nur stolz macht. "Perfekt", sagen Hilley und ich gleichzeitig. Dann lenken auch wir unsere Pferde aus der Scheune.
"Könntest du das Tor schließen?", fragt Hilley Aria, da diese nicht selbst vom Pferd steigen und das Scheunentor schließen gehen kann. Aria löst eine Hand vom den Zügeln und richtet sie auf das Tor. Augenblicklich schließt es sich wieder wie von Zauberhand. Das einzige Anzeichen dafür, dass es keine Magie, sondern ihre Kräfte waren, ist der starke Wind, der an uns allen zehrt und die Mähne meines Pferdes aufwirbelt.
"Dann mal los! Wir dürfen nicht zu spät kommen", ruft Hilley uns durch den Wind hinweg zu und gibt dem Pferd die Sporen, woraufhin wir es ihr gleich tun.
Die Hufe der Pferde donnern auf dem harten Erdboden und meine Haare flattern im Wind, während mein eigener Mantel mich warm hält. Das Ganze hat ein wunderbares Gefühl von Freiheit, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Leider ist es schon viel zu lange her, dass ich auf dem Rücken eines Pferdes saß und durch die Landschaft geritten bin.
Ich umklammere die Zügel fester und erhebe mich einige Zentimeter aus dem Sattel, um dem Tier unter mir beim Springen zu helfen. Das Pferd stößt sich vom Boden ab und kommt hinter dem Baumstamm wieder auf dem Boden auf. Ich lasse mich wieder in den Sattel sinken und lasse die Zügel wieder etwas lockerer durch meine Finger geleiten. Der unebene Bode ist hart, wodurch die Hufe laut zu hören sind. Meine Ohren nehmen das Zwitschern der Vögel um mich herum wahr und der Geruch der Baumrinde steigt mir in die Nase, während sich das Fell meines Reittieres warm und schützend anfühlt.
Mittlerweile ist es schon viel heller als heute Morgen, was mir zeigt, dass bald Mittag sein muss, doch trotzdem sind wir noch nicht da. Ich bin, genau wie Aria, die neben mir her reitet, bereits ein wenig erschöpft, obwohl sie noch mehr Energie zu haben scheint. Mein Anflug von Erschöpfung scheint wohl an der Sonne zu liegen. Wie ich darauf kommen? Ich komme darauf, weil Ruby, die von uns allen den ungemütlichsten Platz hat, noch kein einziges Anzeichen von Erschöpfung zeigt. Ganz im Gegenteil! Es wirkt, als würde sie durch die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut Kraft tanken.
Plötzlich verlangsamt sich das Tempo des Schimmels, welches von Ruby und Hilley geritten wird. Verwundert blicken Aria und ich uns an, passen unsere Geschwindigkeit aber an. Wir haben also beide daran gedacht, dass Hilley noch vor etwa einer halben Stunde nicht schnell genug sein konnte und uns die ganze Zeit gedrängt hat.
Interessiert recke ich den Hals und werfe einen Blick auf das, was vor uns liegt.
Am Horizont erscheint ein hoher Berg, dessen Spitze die Sonne am Himmel zu kreuzen scheint. Ich bin wirklich beeindruckt. Hier war ich noch nie und ich habe auch noch nie so eine schöne Brechung des Sonnenlichts gesehen.
Wenige Meter von dem großen Berg entfernt, hält Hilley ihr Pferd dann wirklich an. Ich hätte mein Pferd fast aus versehen in ihren Schimmel hinein laufen lassen. "Hey, pass doch auf", ruft Ruby aufgebracht. "War ja keine Absicht"; murre ich daraufhin. "Vertragt euch, Mädchen", ermahnt Hilley uns und wende sich dann an Aria: "Kannst du als erstes Ruby vom Pferd heben, Aria?"
Diese nickt und löst eine Hand vom Zügel, mit der sie dann ihre Kräfte aktiviert und Ruby sachte auf dem Boden absetzt. Ruby dankt ihr weder, noch würdigt sie das Mädchen eines Blickes. Das ist mal wieder so typisch Ruby. Wieso kann sie nicht einfach mal freundlich sein? Mit ihrem Verhalten zerstört sie immer wieder meine gute Stimmung. Ich bin doch sowieso schon angespannt, weil wir vorgeladen wurden.
Als Ruby unten ist, steigen wir alle auch ab und folgen Hilley, die ihr Pferd zu einem dünnen Balken führt, an dem sie dann die braunen Lederzügel gekonnt festknotet. Ich binde mein Pferd daneben fest und frage dann: "Wie heißt er hier eigentlich?" Ich klopfe dem Tier sanft auf den Hals. "Das ist Columbus und das Pferd von Aria heißt Nero", berichtet die Frau. "Und wie heißt dein Pferd, Hilley?", fragt Aria weiter. "Das hier ist der liebe Cosmo", sie tätschelt dem Tier ebenfalls seinen wunderschönen weißen Hals. Ich drücke meinem Pferd einen Kuss auf die Stirn. Das Fell ist unter meinen Lippen seidig weiß.
"Kommt jetzt, Mädchen", sie läuft um Cosmo herum und zieht ihren dunklen Mantel enger um sich. Wir tun es ihr gleich, als sie jedoch die Holzbretter, die einen Eingang in den Berg verdecken, bleibe ich stehen: "Du willst, dass wir in den Berg rein gehen?" Sie zertritt die Bretter nacheinander: "Nur ein Stück!" "Nur ein Stück?! Befindet sich der Rat etwa immer Inneren des Berges?", scherze ich, weshalb ich auch so überrascht bin, als sie mit "Indirekt" antwortet. Ich ziehe eine Augenbraue hoch, weiß aber nicht, was ich darauf antworten soll.
Das letzte Brett zersplittert wenige Sekunden später unter Hilleys Fuß, woraufhin sie in den Berg hinein tritt. Ich schaue erst einmal zu Ruby und dann zu Aria, doch dann folge ich ihr. Beide schauen mich ratlos an und zucken mit den Schultern.
Zusammen betreten wir die Höhle. Hilley hat auf uns gewartet und hält Ruby eine Fackel vor die Nase. Sie hebt die Hand und hält sie über die Spitze der Fackel. Die Blonde schließt die Augen und entzündet die Fackel mit einem Schnippen. "Danke", sagt Hilley und führt uns weiterhin an den dunklen Wänden entlang, bis wir in einer Sackgasse ankommen und stehen bleiben müssen.
"Hier geht's aber doch gar nicht weiter", merke ich an. "Das sieht vielleicht auf den ersten Blick so aus", sie öffnet der Verschluss ihrer Kette und legt sie ab. Dann bückt sie sich, macht mit ihrem Zeigefinger ein Loch in den Sand und steckt den Kristall ihres Halsschmucks in die kleine Kuhle.
Als sie damit fertig ist, beendet sie ihren eben begonnen Satz: "Aber auf den zweiten Blick, ist nichts unmöglich." Sobald sie geendet ist, entsteht auf der Wand vor uns ein weißer Wirbel, durch den man nicht hindurch blicken kann.
Meine Augen, sowie auch meine Pupillen, erweitern sich vor Überraschung und mir fällt die Kinnlade herunter. Ist das gerade wirklich passiert? "Ja, das ist gerade wirklich passiert", es scheint, als hätte Hilley meine Gedanken gelesen.
"Und jetzt hört auf so ungläubig zu starren. Wir müssen uns immer noch beeilen", hetzt sie. Als wir uns dann aber immer noch nicht bewegen, seufzt sie genervt: "Okay, was ist denn jetzt noch?" Ich deute mit einer Hand auf den weißen Wirbel. "Das ist ein Portal! Frage fürs Erste beantwortet?", fragt sie. Wir drei nicken alle im selben Moment. "Na gut, dann los", sie klatscht in die Hände: "Aria, du zuerst."
Sie macht einige vorsichtige Schritte nach vorne, bis sie vorm Portal steht und hält ihre Hand dann das Portal, welches einem weißen Wirbelsturm ähnelt. Als sie sich aber nicht weiter bewegt, seufzt Ruby und schubst Aria hinein. Das Einzige, was man noch von ihr hört, ist ein lauter Schreckensschrei. Ich zucke zusammen.
Fies wie immer. War ja klar! Ich werfe ihr einen wütenden Blick zu und folge Aria dann. Ich so schnell wie es geht sehen, wo meine Freundin angekommen ist.
Als ich das Portal passiere, fühlt es sich an, als würde mich eine eiskalte Hand packen und mit sich reißen wie eine wabbelige Stoffpuppe. Ich schreie laut auf und die Angst packt mich.
Als die Kälte mich wieder loslässt, ist das Erste, was ich spüre die harte Erde unter meinen Füßen. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass ich irgendwie aus der Luft auf den Boden falle. Wahrscheinlich kommt diese Assoziation aber nur durch die ganzen Filme, in denen es so ist, zustande.
Schnell öffne ich meine Augen, um mich umzusehen und um zu prüfen, ob es Aria gut geht. Als ich das jedoch getan habe, bleibt mir vor Überraschung fast die Spucke weg. Ich stehe auf einer Wiese nahe einem See. Links und rechts ragen vereinzelt Bäume aus der Erde auf. Bei genauerem Betrachten kann ich auch erkennen, dass es sich um Tannen handelt. Ihre Nadeln tragen ein dunkles Grün und ihr Stamm ist in einem dunklen Braunton gefärbt. An manchen Stellen tropft Baumharz aus dem Holz heraus und erhärtet auf seinem Weg zum Boden.
Im Gegensatz zu den Bäumen sieht das Gras unter meinen Schuhen nicht so normal aus. Es ist nicht so saftig und grün wie sonst, sondern erstrahlt im gleichen dunklen Grün wie die Tannennadeln. Durch das Leder hindurch spüre ich auch, dass es härter ist als normales Gras.
Als ich mich damit abgefunden habe, dass hier irgendwas anders ist, beginne ich mit meinen Augen die Gegend nach Aria abzusuchen. Auch meine anderen Sinne setze ich zur effektiveren Suche ein, nachdem ich merke, dass sie nicht in Sicht ist. Ich nehme den Geruch von Fisch und Tannennadeln wahr und lausche auf die Geräusche um mich herum, doch das verbessert mein Gefühl bei all dem hier auch nicht unbedingt. Nicht einmal zwitschern eines Vogels zu hören. Nur das laute Rauschen und der Wind, der durch die Zweige fährt, sind zu vernehmen.
Warte! Wind? Der war doch gerade noch nicht da?
Ich drehe mich um und dort sitzt die kleine Brünette mit einem verspielten Grinsen auf den Lippen in einer Astgabel und blickt auf mich herunter: "Du hast aber lange gebracht, um mich zu finden! So gut habe ich mich jetzt auch nicht versteckt."
Wie hat sie es in dieser kurzen Zeit geschafft, dort hoch zu klettern? Da fällt mir ein, dass sie ja auch einfach ihre Kräfte hätte benutzen können. Oh Mann, daran muss ich mich echt noch gewöhnen.
"Ich bin gerade zum ersten Mal durch ein Portal gegangen. Tut mir leid, dass ich mich erst mal darauf konzentriert habe", sage ich eingeschnappt: "Jetzt komm darunter. Wir haben nicht so viel Zeit und Ruby und Hilley müssten auch jeden Augenblick hier eintreffen."
Jedenfalls hoffe ich das. Sie sind schließlich schon verdächtig lange Weg. Ich hätte gedacht, dass sie direkt nach mir folgen würden. Je weiter ich darüber nachdenke, desto mehr beschleicht mich der Verdacht, dass sie vielleicht gar nicht mehr folgen werden und uns hier hergelockt haben könnten.
Auf meine Anweisung hin verlässt Aria den Baum wieder, doch zu meinem Entsetzen tut sie das nicht so wie eigentlich erhofft. Ich hatte damit gerechnet, dass sie langsam am Stamm hinunterklettert, doch sie selbst hat andere Pläne.
Ohne über die Folgen nachzudenken, stoßt sie sich einfach ab und springt runter. Ich beobachte fassungslos, wie sie ungebremst aus der mehrere Meter vom Boden entfernten Baumkrone fällt. Ein leiser Schreckensschrei entfährt mir.
Bevor sie jedoch hart auf dem Boden aufschlägt, wird ihr Fall gebremst und sie schwebt entspannt in der Luft. Nur ihre hält sie angespannt auf den Boden gerichtet. Kann sie gerade ernsthaft dank ihrer Kräfte in der Luft herum fliegen? Das ist ja so cool! Gegen sie komme ich mir total schwach vor. Wieso kann sie fliegen, während ich nur Unterwasser atmen kann? Das ist zwar nicht so schlecht, aber trotzdem würde lieber fliegen können.
Ich drehe mich wieder zum Portal, das sich nach wie vor offen an seinem Platz befindet, mit der Hoffnung, dass genau in diesem Moment jemand hindurch schreitet und auf unserer Seite ankommt. Selbst über Ruby, die mit erhobenem Kopf und nach hinten gedrückten Schultern hindurchstolziert, würde ich mich in diesem Moment freuen.
Im selben Moment in dem Arias Füße auf dem Boden auf dem Boden aufsetzen, streckt jemand plötzlich seine Hand durch den weißen Wirbel. Ich schreie auf erschrocken auf und taumele geschockt zurück. Diese Bewegung erinnert mich an eine Szene aus einem Horrorfilm, in der sich ein Mensch, der zuvor lebendig begraben wurde, wieder aus seinem Grab freischaufelt.
Wenige Sekunden später folgen dann aber auch zwei Körper, die alles andere sind als die Körper zweier lebendig Begrabener.
Ich lege eine Hand auf mein rasendes Herz und atme tief durch. "Alles gut bei dir?", fragt Hilley verwundert. Nickend versuche ich mich wieder zu beruhigend, doch von Aria hinter mir kommt ein leises Lachen, was es nicht gerade besser macht. Durch meine Fragerei versuche ich vom Thema abzulenken: "Wieso habt ihr so lange gebraucht?" "Ruby wollte sich nicht überreden lassen vor mir durchs Portal zu steigen", auf diese Anschuldigung folgt ein böser Blick in die Richtung der Blondine. Diese verschränkt wortlos die Arme. War ja klar, dass dieses Biest wieder an allem schuld ist.
"Ist ja jetzt auch egal. Das wichtigste ist, dass wir alle heil hier angekommen sind", erklärt Hilley. Heil angekommen? Das heißt wir hätten auch nicht heil ankommen können? Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um und ich muss mehrmals schlucken.
Nur am Rande bekomme ich mit, wie Hilley einen kleinen Lederbeutel aus ihrem weißen Mantel holt und öffnet ihn. Dann nimmt sie drei Perlen heraus. Von diesem Moment an bin ich wieder ganz bei mir. Wieso nur drei? Wir sind doch vier. Und was sind das überhaupt für Perlen?
"Wofür sind die?", fragt Aria, die mittlerweile neben mich getreten ist, interessiert. "Die helfen euch Unterwasser zu atmen", erklärt sie und reicht Aria und Ruby jeweils eine: "Außerdem haben sie den netten Nebeneffekt, dass eure Sachen nicht nass werden."
Ich betrachte das runde Dingen auf Arias Handfläche interessiert. Es ist hart und seine weiße Oberfläche wird von dünnen dunkelblauen Streifen durchzogen. Ich warte darauf, dass Hilley mir auch eine gibt, doch die Letzte behält sie selbst und verstaut den Beutel wieder in einer der vielen Taschen ihres Mantels.
Meine Augenbraue schießt in die Höhe: "Wieso bekomme ich keine?" "Weil du die Kräfte, die die Perlen verleihen, bereits beherrscht", lacht sie. Ach ja, stimmt. Wie kann ich so vergesslich sein? Liegt wahrscheinlich aber einfach nur daran, dass ich mich noch an das alles hier gewöhnen muss. "Das heißt wir müssen schwimmen?", fragt Ruby entsetzt mit einem Blick auf ihren verbundenen Arm. Hilley blickt sie beruhigend an: "Keine Angst. Du musst dich nur mit dem unverletzten Arm an mir festhalten und mehr nicht." Das blonde Mädchen schaut nach wie vor zweifelnd drein, diskutiert aber nicht wie sie es sonst immer tut, worüber ich ziemlich froh bin.
"Und was sollen wir jetzt damit machen?", fragt Aria mit einem forschenden Blick auf die Perle. "In den Mund nehme und zerkauen, bis der süßen Saft herausläuft", erklärt Hilley und demonstriert es: "Die harten Teile aber erst runter schlucken, wenn ihr mit dem Kopf Unterwasser seid." Alle um mich herum nicken. Wow, jetzt bin ich doch irgendwie froh, dass ich dieses Zeug nicht schlucken muss. Was wohl passiert, wenn man den harten Teil schon vorher schluckt. Ob man dann stirbt?
"Seid ihr alle bereit?", fragt Hilley noch ein letztes Mal und alle bejahen die Frage. Daraufhin machen wir uns alle gemeinsam auf zum See, der bei genauerer Betrachtung eher einem Meer gleicht. Wieso? Weil er so groß ist, dass man das Ende am Horizont nicht einmal erblicken kann. Wie tief es wohl ist? Wahrscheinlich werde ich das gleich erfahren!
Fast synchron legen wir unsere Mäntel ab, damit sie uns beim Tauchen nicht behindern. Ich bin die Erste, die sind Wasser steigt, da die Anderen neben mir noch dabei sind fleißig zu kauen, doch dann folgen sie alle nacheinander, bis jeder bis zum Kinn im Wasser steht.
Belustigt schaue ich zu wie Aria und Ruby noch einmal tief Luft holen und dann untertauchen. Sie brauchen vorher nicht extra Luft holen, wenn sie Unterwasser atmen wollen. Hinter ihnen folgen Hilley und ich dann auch sofort.
Sobald die Anderen einige Sekunden unter der Oberfläche sind, bilden sich plötzlich große Blasen, die mit Luft gefüllt zu sein scheinen, um ihre Köpfe herum. Mir bleibt vor Überraschung fast die Luft weg. Das ist einfach nur wunderschön.
Die wabbeligen Blasen bewegen sich wie Blumen im Wind und schillern wie die Schuppen eins bunten Fisches.
Ich wende meinen Blick von den Anderen ab und konzentriere mich wieder auf mich selbst. Meine Arme und Beine machen wie automatisch die perfekten Schwimmbewegungen, sodass ich meine Umgebung bewundern kann.
Zu allen Seiten ragen hohe dunkle Felsen, vom Grund her, auf und einige leuchtende Fische schwimmen an meinem Sichtfeld entlang. Hier ist es schöner als gedacht. Fast wie im Traum und auch mein ungutes Gefühl ist weg. Traum? Ist das hier etwa lediglich ein stink normaler Traum? Probeweise kneife ich mich, so fest in kann, in den Unterarm. Nichts geschieht! Puh, kein Traum!
Nachdem wir schon etwas länger geschwommen sind, erscheint plötzlich etwas zwischen zwei großen Felsen. Ich recke den Hals, um mehr erkennen zu können, doch meine Bemühungen sind vergeblich, also schwimme ich schneller. Die Anderen tun es mir sofort gleich.
Nach einige weiteren langen Schwimmzügen, kann ich erkennen, was es ist und erneut vergesse ich vor Überwältigung wieder fast weiter zu atmen. Oh man, in letzter Zeit passieren viel mehr überwältigende Sachen, als in den ganzen fünfzehn Jahren vorher.
Vor uns erstreckt sich ein riesiger Palast. Er ist wie eine Wasserpflanze aufgebaut und die Räume sind Kugeln, die man hineinsehen kann. Die Wände scheinen jedoch nicht aus Glas zu sein, sondern eher aus dem Material, aus dem auch die Luftblasen der Anderen bestehen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Hilley ihren Arm ausstreckt und auf das imposante Gebäude deutet. Mit dieser Geste bedeutet sie uns darauf zuzustimmen und alle kommen ihrer Bitte nach. Irgendwie erinnert mich das an das Unterwasserschloss aus dem ersten Teil dieser komischen Menschenfilmreihe. Ich glaube es heißt "War Stars" oder so!
Wir kommen dem wunderschönen Palast mit jeder Bewegung unserer Gliedermaßen näher. Schon von weitem habe ich die Wachen entdeckt, die mich sofort in ihren Bann gezogen haben. Während ihre obere Körperhälfte der einer Seraphine stark ähnelt, ist die Untere eher wie die eines Fisches gebaut. Anstelle eines Beinpaares befinden sich dort blaue mit Schuppen besetzte Schwanzflossen, die sich langsam im Wasser hin und her bewegen.
Als ich nahe genug daran bin, sehe ich, dass jeder von ihnen einen eigenen Dreizack aus massivem Silber in der Hand hält. Auf ihrem Kopf tragen sie Helme aus demselben Material.
Sie verschränken die Waffen vor uns, als wir nicht mehr weit entfernt sind. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Hilley genervt die Augen verdreht. Als wir vor ihnen auf der Stelle schwimmen, zieht Hilley ein kleines Etwas aus ihrer Tasche und hält es den Männern vor die Nase. Daraufhin lösen sie die Speere und lassen uns passieren.
Ich schwimme weiter, nachdem Hilley und Ruby es mir vorgemacht haben. Aria befindet sich hinter mir. Interessiert schaue ich dabei zu wie die Beiden vor mir eine wabbelige Stelle an der Außenhülle des Schlosses passieren. Es wirkt, als würden sie durch durchsichtigen Pudding gleiten. Ich habe Angst davor, was diese Substanz ist und, was sie für eine Wirkung hat, doch dann tue ich es einfach. Ich durchquere die Substanz einfach und versuche alles zu spüren, was es zu spüren gibt. Das Zeug ist eisig, doch als ich die ganz besondere Wand übertreten habe, bleibt kein einziger Rückstand auf meiner Haut zurück.
Im Inneren des durchsichtigen Gebäudes angekommen, hole ich erst mal wieder tief Luft. Nachdem ich drinnen bin, drehe ich mich um, um zu schauen, ob Aria mir direkt gefolgt ist oder ob sie sich nicht traut, obwohl ich nicht glaube, dass sie kneift.
Auch Aria hat den Wall durchquert und ich kann gerade noch mit ansehen, wie die Kopfblase augenblicklich verschwindet, nachdem sie das Ratsgebäude betreten hat. Mein Blick wandert weiter zu Hilley und Ruby, um zu schauen, ob dessen Blasen ebenfalls verschwunden sind. Diese Vermutung wird bestätigt, als unsere Blicke sich treffen.
"Geht es allen gut?", fragt Hilley ein wenig besorgt. Wir alle bejahen es, obwohl Ruby sich mit einem leicht verzehrten Gesicht den verletzten Arm tätschelt. Irgendwie tut sie mir schon ein wenig leid. Ich wäre gerade auch nicht sonderlich gerne an ihrer Stelle.
"Und? Was machen wir jetzt?", fragt Aria, als Hilley auf diese Frage aber dann nur mit einem leisen "Warten" antwortet, driften meine Gedanken weg und ich konzentriere mich auf meine wunderschöne Umgebung.
Erst jetzt fällt mir auch, wie einzigartig dieser Ort ist. Ein Schwarm orange-roter Feuerfische schwimmt an der Schiebe vorbei. Ich mache einige Schritte darauf zu, um alles besser sehen und meine Hände an die Scheibe legen zu können. Das Glas pulsiert unter meiner Haut angenehm. Dieser Anblick hat mich ganz in seinen Bann gezogen. Auf dem Boden unter uns bewegen sich die bunten Korallen und Wasserpflanzen in der Strömung des Wassers.
Plötzlich tippt mir jemand mit seinen Fingern auf die Schulter und weckt mich aus meiner Traumwelt. Ich fahre erschrocken herum und mache instinktiv ein ziemlich merkwürdiges Geräusch.
Der Junge hinter mir sieht mich verwirrt an und lässt dann seinen Blick über meine Körper schweifen. Er schaut von unten, von meinen Zehen, nach oben bis zu meinem Haaransatz. "Hey", ist jedoch sein einziger Kommentar. Ich schaue ihn verwirrt an, fragt, aber lieber nicht wieso er mich so genau gemustert hat: "Hey." Auch ich nutze die Zeit ihn zu mustern.
Seine Haut ist etwas dunkler, was wohl dafür spricht, dass es entweder geerbt ist oder, dass er aus einem sehr sonnigen heißen Gebiet stammt. Seine Haare sind schwarz und seine Augen tragen ein helles Grün. Dank seiner Gesichtszüge und seiner Größe kann ich sein ungefähres Alter gut abschätzen. Er scheint etwa so alt wie ich zu sein, vielleicht aber auch ein Jahr älter. Seinen Körper hat er mit einer Art Uniform bedeckt, die fast dieselbe Farbe wie seine Augen trägt. Auf der Brust trägt er ein Zeichen, was ich leider nicht einordnen kann. Möglicherweise ist es das Zeichen oder Elementarier oder ein Familienwappen. Bei Gelegenheit werde ich Hilley einmal fragen, wofür es steht.
"Hallo Marcel", grüßt Hilley, woraufhin der Junge herumfährt. Auch ich wende meinen Blick von ihm ab und schenke ihr wieder meine Aufmerksamkeit. "Hallo Hilley", er erwidert die Begrüßung beschwingt: "Wie du sicher schon weißt, bin ich hier, um euch den Weg zu zeigen." "Ich hatte da schon so eine Ahnung", grinst sie und zwinkert ihm zu. Diese Reaktion überrascht mich total. Ich habe Hilley wahrscheinlich noch nie so ausgelassen und verspielt gesehen. Dazu muss ich aber auch sagen, dass ich ihre wirkliche Identität noch nicht lange kann.
"Wie sollte es auch sonst sein", bemerkt der Grünäugige. "Dann zeig uns doch endlich den Weg", drängt Ruby genervt. Anscheinend konnte sie sich von ihrem schmerzenden Arm losreißen und hat sich nun eine Person gesucht, der sie auf den Geist gehen kann. Aria, die so steht, dass Marcel und ich sie sehen können, verdreht die Augen und macht Ruby nach.
Sowohl Marcel als auch ich selbst versuchen ein Grinsen zu unterdrücken. Der Dunkelhaarige seufzt und läuft vor uns her: "Na gut, dann mal los!" Ich seufze ebenfalls und folge ihm mit den Anderen im Schlepptau. Das wird sicher noch witzig, wenn Ruby jetzt schon so sehr auf Krawall gebürstet ist.
Vor einer großen Tür aus weißem Holz bleibt Marcel stehen. Ich bin jedoch mal wieder so sehr in Gedanken, dass ich fast in den Jungen hinein gelaufen wäre. Er sagt nichts dazu. Das übernimmt Ruby einfach für ihn und seufzt genervt. Ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass sie genau in diesem Moment ihre Augen verdreht.
Ich versuche mich wieder zu konzentrieren und auch meine Spannung, sowie meine Angst steigen noch weiter, als Marcel verkündet: "Hinter dieser Tür befindet sich der Ratssaal. Wenn ihr bereit seid, könnt ihr hineingehen." Hilley bedankt sich bei ihm und blickt dann zu uns. Marcel verabschiedet sich und macht sich davon. Ich drehe mich um und schaue ihm hinterher. Auch er selbst hat sich umgedreht und einen letzten Blick auf mich geworfen. Meine Wangen werden heiß und wahrscheinlich erröte ich genau in diesem Moment. Marcel ist schon ganz süß.
"Konzentriere dich gefälligst, Stella", mahnt Aria. Verwundert drehe ich mich zu ihr um: "Alles okay bei dir?" "Ja ja", sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. Irgendwie knistert die Luft um Aria gefährlich, doch ich kann die Ursache nicht ganz klar feststellen, weshalb ich ziemlich froh bin, als Hilley unsere Aufmerksamkeit fordert: "Seid ihr alle bereit? Können wir rein gehen?"
Ruby wartet aber nicht auf unsere Antwort, sondern geht einfach zu einer der großen Flügeltüren und versucht diese mit aller Kraft zu öffnen, doch ihr zugegebener Maßen guter Versuch schlägt fehl.
Aria sieht es und zeigt genau die Reaktion, die ich mit aller Kraft zu unterdrücken versuche. Sie lacht. Ich muss mich echt beherrschen nicht mit einzustimmen. Das ist aber leider nicht so leicht, da Ruby echt albern aussieht, wie sie mit einer Hand am Türgriff zehrt. Die andere Hand kann sie nicht an den metallenen Griff legen, da sie die Schiene um ihren Arm trägt und ihn so nicht bewegen kann.
Hilley blickt Aria und mich warnend an, woraufhin ich meinen Blick senke und Aria mit ihren Kräften die Tür öffnet.
Die Blonde stolpert daraufhin fast, doch Aria fängt sie mit ihren Kräften auf, bevor sie auf dem Boden landet. Ruby atmet erleichtert durch und stellt sich wieder richtig hin. Wenigstens ein "Danke" oder ein freundliches Lächeln hätte man von ihr erwarten können, doch bei Ruby wartet man vergeblich darauf.
"Mädchen! Benehmt euch bitte", sie streicht ihre Kleidung glatt und stellt sich gerade hin. Wir tun es ihr gleich und formieren uns links und rechts neben ihr. "Bereit?" Wir alle nicken und betreten den Raum daraufhin mit hoch erhobenem Haupt.
Im Ratssaal angekommen, fällt mir fast die Kinnlade herunter. Das ist ja noch schöner als die Räume, die ich vorher schon zu Gesicht bekommen habe. Das Sonnenlicht strahlt durch das Wasser bis in den Raum hinein und wird von einigen Kristallen gebrochen.
Erst dann fallen mit die Throne auf, die aus mehreren Kristallen bestehen und alle unterschiedlichen Farben haben. Insgesamt sind es, solange ich mich nicht verzählt habe, neun Stück, wobei nur fünf von ihnen tatsächlich besetzt sind. Die übrigen vier sind leer. Ich frage mich weshalb. Sind deren Besitzer vielleicht gerade unterwegs oder sitzt dort noch niemand? Mein Blick wandert über die Reihe und mir fällt auf, dass sie in einem Halbkreis aufgestellt sind. Wenn man von vorne gerade darauf sieht, blickt man geradewegs auf den aller Größten von ihnen. Er besteht aus mehreren großen und kleinen lilafarbenen Kristallen. Nur die Sitzfläche und die Armlehnen sind nicht so spitz wie der Rest, sondern schön glatt. Das Licht wird wunderschön gebrochen und leuchtet in der gleichen Farbe wie die Kristalle.
Oben auf sitzt eine junge Frau. Sie sitzt gerade und blickt auf uns hinab. Ihr Blick ist freundlich, während ihr Gesicht vor Weisheit nur so strotzt. Zwar wirkt sie noch nicht sonderlich alt, wirkt, aber trotzdem schon so als hätte sie schon mehr erlebt als alle Anderen in diesem Raum. Ihr langes dunkelbraunes Haar fällt in Wellen über ihre Schultern. Ihre Augen erstrahlen in einem dunklen Lila, was der Farbe der Stein um sie herum fast komplett gleicht. Mir war gar nicht bewusst, dass es so eine Augenfarbe gibt. Wahrscheinlich hat das aber mit ihren Kräften zu tun. Das ist bei Ruby, Aria und mir selbst ja auch so.
Während die Augen von Aria und mir noch relativ normal sind, sind Rubys Augen meistens orange und werden sogar fast rot, wenn sie sich aufregt. Das habe ich nur einmal gesehen. Soweit ich weiß war das als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Ganz sicher bin ich mir aber auch nicht mehr. Mein Gehirn ist eben auch nicht perfekt.
Schnell konzentriere ich mich wieder auf die Situation. Wieso schweifen meine Gedanken nur immer so schnell ab? Das ist total lästig. Nun fällt mir auch die Kleidung der Frau auf. Sie trägt eine ähnliche Uniform wie Marcel, nur dass ihre lilafarben ist und hinten noch eine Art Cape oder Umhang hat. Auch sie trägt so ein rätselhaftes Zeichen und ich beginne mich zu fragen, was es damit auf sich hat. Das Einzige, was mir auffällt ist, dass sich ihr Zeichen stark von dem auf Marcels Uniform unterscheidet.
Leider finde ich nicht die Zeit auch die Anderen näher zu betrachten, obwohl sie alle einen sehr interessanten Eindruck auf mich machen, da Hilley nun die Stimme erhebt: "Sie wollten uns sprechen, großer Rat." " Ja, so ist es", sagt die Frau mit den lilanen Augen: "Es geht um ein Anliegen von größter Wichtigkeit. Können sie sich denken, worum es geht, Miss Jackson?" Hilley nickt: "Ich habe da schon so eine Vermutung." "Teilen sie uns diese Vermutung auch mit, Miss Jackson?", fragt ein Mann, der die genau die Gleiche Uniform trägt wie Marcel. Ist es vielleicht sein Vater?
Gespannt warte ich auf Hilleys Antwort, da ich selbst keine Ahnung habe, wieso wir herbestellt wurden: "Es geht wahrscheinlich darum, dass der Wasserkristall verschwunden ist." "Nicht ganz", merkt eine Frau auf einem Thron aus rot leuchtenden Kristallen an: "Wir haben dank eines unserer Undercoveragenten erfahren, dass die Nexus an den Stein gelangt sind." "Oh mein Gott", ruft Hilley laut aus: "Was sollen wir jetzt tun?" "Beruhigt dich wieder, Hilley", bittet die Frau freundlich. Es wundert mich, dass sie Hilley nicht mit ihrem Nachnamen anspricht, so wie es die anderen Leute auch getan haben: "Wir haben einen Plan!" "Einen Plan? Wie wollt ihr den Kristall denn zurückbekommen. Das ist so gut wie unmöglich, Katherine", schimpft sie:"Sie werden den Stein sicher nicht einfach irgendwo liegen lassen, sondern eher in einer Kammer mit eintausend Sicherheitssystemen und Wachen." "Eigentlich ist das so, aber wir haben von einem geheimen Informanten die Info bekommen, dass sie ihn an einem noch besser geschützten Ort aufbewahren", erklärt der Mann. "Und welcher Ort soll so gut bewacht sein?", fragt die dunkelhaarige Frau neben mir trotzig und leicht überheblich zugleich. "Das Institut für Jugendliche mit besonderen Fähigkeiten", erklärt der Mann in Grün. "So was gibt's?", frage ich verwundert. "Ja Stella, so etwas existiert", erklärt sie mir. "Und wieso sind wir dann nicht in diesem Institut? Wir haben doch auch besondere Fähigkeiten", gebe ich ratlos zu bedenken. "Es wird von den Nexus kontrolliert, richtig?", fragt Ruby skeptisch. Alle Ratsmitglieder nicken gleichzeitig und ich beiße mir auf die Lippe. Oh, das wusste ich nicht.
"Da du ja scheinbar so gerne mal ins Institut hinein schauen würdest, geben wir dir die Chance dazu, Stella", verkündet die dunkelhaarige Frau, die wohl Katherine heißt und das Oberhaupt des Rates zu sein scheint.
Verwundert hebe ich den Kopf und blicke sie überrascht und geschockt zugleich an. "Was? Ich ... Ich wusste ja gar nicht, dass das Institut den Nexus gehört. Hätte ich das gewusst ...", versuche ich mich heraus zu reden. "Das hat nichts damit zu tun, was du gerade gesagt hast. Das haben wir uns schon vorher überlegt. Schließlich geht es ja auch um deinen Kristall und Ruby ist verletzt, weshalb sie die Aufgabe nicht übernehmen kann", wird mir von der Frau auf dem roten Throne erklärt. "Das heißt, ich soll allein in ein Institut voll mit künftigen Nexus, um einen wertvollen Stein zu stehlen?", frage ich geschockt. "Fast!", gibt Katherine von sich: "Du gehst nicht alleine." "Nicht?", fragen Hilley und ich gleichzeitig, wobei wir beide total fassungslos klingeln.
Katherine steht von ihrem Platz auf und kommt auf uns zu: "Nein, wir können dich nicht allein gehen lassen, Stella. Deshalb wir Aria dich begleiten." Nun blickt auch Aria überrumpelt drein.
Hilleys Stimme dröhnt laut durch den Saal und alle richten ihren Blick auf sie: "Das könnt ihr doch nicht ernst meinen. Es ist ja schon schlimm genug, dass ihr Stella zu so einer Aufgabe drängt, aber ich werde nicht auch noch Aria verlieren. Sie war bereits in dieser Situation und das soll sie um Himmelswillen nicht nochmal erleben."
Der Mann verdreht die Augen, während Katherine Hilleys Hand in ihre legt und sie zu beruhigen versucht: "Ich weiß wie schwer das für dich sein muss, aber ich verspreche dir, dass ihnen nichts geschehen wird. Dafür werde ich persönlich sorgen."
Plötzlich wirkt Hilley sehr gebrochen und am Boden zerstört: "Versprich, dass du sie zurückbringst."
Katherine nickt und legt auch ihre zweite Hand auf die von Hilley: "Ich verspreche es."
Man kann ganz klar erkennen wie viel Macht und Vertrauen in diesen Worten liegt. Es scheint, als würde in diesem Moment eine Beziehung oder ein altes Versprechen erneuter werden.
Meine Füße baumeln hoch in der Luft, während meine Finger sich hartnäckig an das Holz klammern. Meine Nägel graben sich in die dunkle Rinde und ich ziehe ich mich mit aller Kraft hoch, sodass ich nun in der Astgabel sitze.
"Endlich bist du auch mal oben angekommen", scherzt Aria: "Hat ja lange genug gedauert." Ich verdrehe die Augen und schaue sie gespielt wütend an:"Ja, vielleicht habe ich ja länger gebraucht, weil du mit deinen Kräften hier hochgeflogen bist und mir nicht genauso helfen wolltest." Sie zuckt mit den Schultern: "Tut mir leid, aber es sieht einfach viel zu Lust aus dir beim Klettern zuzusehen." Ein gespieltes Schmollen erscheint auf meinem Gesicht und ich klammere mich noch fester an den Baum.
Der Ausblick von hier aus ist einfach fantastisch auch, wenn ich nicht gerade nach unten Blick kann, da mir dann ein wenig schwindelig wird. Zwar habe ich keine Höhenangst, aber fallen muss ich auch nicht unbedingt.
Von meinem Platz neben Aria aus, kann ich in die Fenster der oberen Etage von Hilleys Haus blicken. Ich schaue genauer hin und sehe Hilley, die entspannt auf ihrem Bett liegt und schläft. Wie schön zu sehen, dass auch sie mal runter kommt und aufhört sich ständig um uns Sorgen zu müssen.
Aria knufft mich mit ihrem Ellenbogen in die Seite, um meine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. Ich klammere mich am Baum fest und blicke sie böse an: "Hey, lass das. Ich wäre fast vom Baum gefallen." "Sorry", erwidert sie daraufhin kleinlaut und senkt den Blick. "Schon gut. Was ist denn?", frage ich sanft. Habe ich ihr mit meinen Worten weh getan?" "Tut mir echt leid", wiederholt sie kleinlaut:"Ich wollte nur wissen, ob du bei der Aufgabe, die uns aufgetragen wurde, auch so ein mieses Gefühl hast wie ich." Ich zucke mit den Schultern: "Wenn ich länger darüber nachdenke, habe auch ich Angst. Dann denke ich aber daran, dass der Elementarierrat und versprochen hat, dass wir keinen Schaden nehmen werden und dass sie uns beschützen werden."
"Also vertraust du einfach nur auf diese Leute?", fragt Aria skeptisch. Ich nicke und lege meinen Arm um sie: "Manchmal ist ein bisschen vertrauen gar keine schlechte Sache." "Mir fällt es aber schwer diesem merkwürdigen Rat zu vertrauen, schließlich kenne ich keine dieser Personen", gibt sie zurück. Kurz muss ich überlegen, doch dann habe ich eine gute Lösung für sie: "Na gut, dann vertrau eben nicht ihnen, sondern mir. Ich habe dir einmal bei der Flucht geholfen und werde das auch noch ein zweites Mal tun. Und ein drittes Mal! Und auch ein Viertes." "Hoffen wir mal, dass es nicht nötig sein wird mich so oft zu retten", grinst Aria nun: "Dann könnte ich nämlich echt schlecht auf mich selbst aufpassen."
Ich breche in wildes Gelächter aus und Aria steigt sofort mit ein. Es ist so ein schönes Gefühl einfach nur hier zu sitzen und Spaß zu haben, obwohl wir uns vielleicht doch lieber Sorgen wegen der Mission machen sollten. Doch das tun wir nicht. Wir entspannen uns und hören auf uns über alles möglich ständig Gedanken zu machen. Nach einiger Zeit wird das nämlich ziemlich nervig und man hat das Gefühl, dass einem gleich der Kopf platzt.
Okay, sorry. Schlechter Vergleich! Sowas sollte ich lieber lassen, sonst passiert das wirklich irgendwann und das wünscht sich echt Keiner. Außer die Nexus vielleicht. Die hätten sicher kein Problem damit.
"Hey, ihr Turteltauben", ruft plötzlich jemand unter uns. Die Stimme kommt mir leider total bekannt vor und ich blicke nach unten, wo Ruby am Fuß des Baumes steht und zu uns hoch glotzt.
"Hey, Nervensäge", erwidert Aria daraufhin mit einem verspielten Lächeln auf den Lippen. Man merkt ganz klar, dass sie Ruby zu provozieren versucht, weshalb ich ihr mit meinem Fuß einen leichten Tritt verpasse, den sie mir aber glücklicherweise nicht allzu übel nimmt. Stattdessen beugt sie sich vor und flüstert mir etwas ins Ohr: "Jetzt sind wir Quitt!" Fast beginne ich wieder zu lachen, doch glücklicherweise habe ich mich gerade so gut im Griff, dass ich es schaffe mich wieder auf die Blondine unter uns zu konzentrieren.
"Was willst du?", rufe ich laut nach unten. "Hilley hat mir aufgetragen eure Ketten zu holen?", schreit sie zu uns hoch. Alter, ich bin zwar weiter oben, aber noch lange nicht taub. Ich lege meine Hand an die Kette und betrachte den blauen Kristall. "Wieso?", fragt Aria misstrauisch. Ruby verdreht die Augen: "Keine Ahnung! Frage doch Hilley, wenn du es genauer wissen willst." "Gut, mach ich", erwidert Aria neben mir trotzig.
Genau in diesem Moment steckt Hilley den Kopf aus der Tür und sieht zu uns rüber. Wow, sie hat echt super gutes Timing. Aber hat sie nicht vorhin noch geschlafen?
Als sie bemerkt, dass etwas nicht ganz in Ordnung zu sein scheint, kommt sie zu uns herüber und sieht uns streng an: "Was ist denn jetzt schon wieder los?" "Ruby will unsere Kristalle", ruft Aria. "Aria und Stella weigern sich sie mir zu geben", meckert Ruby genervt. "Hört auf euch zu streiten, Mädchen", ermahnt Hilley uns und schaut zu Aria und mir hinauf: "Ich habe Ruby wirklich damit beauftragt." "Und wieso?", fragen Aria und ich genau gleichzeitig. "Weil man euch so morgen im Institut erkennen wird. Jeder Lehrer dort weiß, was es mit den Kristallen auf sich hat", erklärt sie ruhig, woraufhin wir beide nachgeben und die wunderschönen Ketten ablegen. "Vertraut mir", bittet sie:"Ihr bekommt sie auch wieder, wenn ihr heil zurück seid." Zerknirscht nicke ich mit dem Kopf und gebe nach.
Mit einem Blick signalisiere ich Aria, dass sie die Schmuckstücke hinunterschweben lassen soll. Ein ungutes Gefühl macht sich jedoch in mir breit und mein Bauch kribbelt nervös.
Aria dreht ihre Hand um, woraufhin die Stücke einfach ungehindert hinab fallen. Ich schnappe erschrocken nach Luft und halte mich am Baum fest. Die Brünette neben mir lacht amüsiert und streckt ihre Hand, kurz bevor die Steine auf dem Boden zerspringen, aus und fängt sie wenige Meter von der Erde entfernt auf. Erleichtert hole ich tief Luft und entspanne mich wieder. Das ist gerade nochmal gut gegangen. Was hat Aria sich nur dabei gedacht?
Vor mir erheben sich viele helle Wände, die von einem schwarzen Zaun umrahmt sind. Alles wirkt bedrohlich. Selbst die Vögel, die auf den Spitzen des Zaunes hocken machen mir Angst, doch trotz allem versuche ich mir nichts anmerken zu lassen, da Aria neben mir steht und man fast sieht, wie ihr der Angstschweiß die Stirn hinunterläuft. Na gut, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. "Wahrscheinlich sollten wir jetzt erst mal rein gehen", schlage ich vor und versuche entspannt und selbstsicher zu klingen, um ihr ein wenig Kraft zu geben, doch das klappt nicht so gut wie gedacht. Stattdessen nimmt Aria meine Hand und wirft mir einen panischen Blick zu: "Sicher, dass wir das machen sollen? Wir könnten auch einfach wieder gehen!" "Nein, das ist keine Option", widerspreche ich und nehme ihre Hand.
Diese wirklich verschwitzt und eiskalt. "Vertrau mir", erkläre ich ihm: "Ich pass schon auf dich auf!" "Versprochen?", ihre Stimme zittert. "Versprochen", erwidere ich und versuche so viel Wärme wie möglich in meine Worte zu legen.
Das Seufzen, was darauf folgt, sehe ich als Zeichen dafür, dass sie bereit ist. Mit meiner freien Hand greife ich nach dem dunklen Lederkoffer, den ich einen Tag zuvor gepackt habe. Auch Aria hat einen dabei.
Hand in Hand laufen wir auf das Institut zu. Am großen Tor angekommen, lege ich die Hand an einen der dunklen Gitterstäbe und ziehe kräftig daran, um es zu öffnen.
Schwer ist es zwar, doch irgendwie schaffe ich es dann doch. Vielleicht hat mir Aria aber auch mit ihren Kräften geholfen. Manchmal bin ich mir da leider nicht mehr so sicher, da sie es nicht so auffällig tut wie ich.
"Wie sind die Leute hier wohl?", frage ich nachdenklich, als wir langsam über das Schulgelände schlendern. Wir beiden scheinen uns nicht beeilen zu wollen. Mit jedem Schritt wächst das ungute Fühl, doch ich versuche mir weiterhin Nichts anmerken zu lassen, um meine Freundin nicht noch weiter zu beunruhigen. "Eingebildet?", schlägt sie nervös lachend vor. Ich zucke mit den Schultern: "Wahrscheinlich!"
Ich blicke mich weiterhin um. Irgendwas ist hier merkwürdig. Niemand ist zusehen. Weder hier draußen, noch an einem der Fenster. Es wirkt fast, als hätte hier nie jemand gelebt.
Vielleicht ist das ja auch eine Falle! Von Hilley? Von den Nexus oder sogar vom Rat der Elementarier? Ist das vielleicht nur ein Test? Schließlich sind wir beide noch neu. Das könnte auch erklären, weshalb Ruby nicht mit durfte. Sie hat diese Prüfung ja möglicherweise schon absolviert.
Mein Verdacht wird jedoch ins Wanken gebracht, als sich das große hölzerne Portal vor mir öffnet. Ein Mädchen tritt heraus und läuft schnellen Schrittes auf uns zu. Bei uns angekommen bleibt sie stehen: "Hey, ihr müsst die Neuen sein." "J... Ja, das ist richtig", erwidert Aria glücklicherweise schnell. Ich selbst habe nämlich keine Ahnung, was ich hätte sagen sollen.
Schnell mustere ich das Mädchen, bevor es wieder los zu plappern beginnt. Ihr blondes Haar hat sie mit einem hellblauen Haarreif und einem Haarband in der gleichen Farbe zu einem hübschen Seitenzopf gebunden. Ihre Kleidung passt ebenso gut zu dem Verhalten, was sie bisher gezeigt hat, wie ihr Zopf. Sie trägt eine weiße Bluse, durch die man jedoch nicht hindurch sehen kann, eine schwarze Strickjacke und eine Krawatte in der gleichen Farbe. Ihre Beine sind lang und stecken in einer blauen Röhrenjeans, die ihre Figur sehr gut betont und an den Füßen trägt sie schwarze Schuhe.
Ihr Look ist viel moderner als mein eigener oder der von Aria. Er würde aber wahrscheinlich auch nicht sonderlich gut zu uns passen.
Insgesamt wirkt sie sehr steif und macht den Eindruck, als könnte ihr Nichts schnell genug gehen, was ihr Verhalten nur noch weiter verdeutlicht. Mit ihrem linken Fuß scharrt sie auf dem Boden herum und wirbelt ein wenig Staub auf, während sie mit der rechten Hand Geräusche mit einem Kugelschreiber erzeugt. In der Anderen hält sie ein Klemmbrett, in das ein Blatt Papier eingespannt ist. Auch ihr starkes Parfum fällt mir sofort. Es ist aber auch ziemlich schwer den starken Zitronengeruch nicht zu bemerken.
Als ich fertig damit bin sie zu mustern, beginnt sie wie auf ein Stichwort loszureden: "Welche von euch ist Elena Robinson?" Wage erinnere ich mich daran, dass uns von irgendwelchen Leute zur Sicherheit neue Namen verpasst wurden. Aria und ich werfen uns ratlose Blicke zu. Wir scheinen wohl beider vergessen zu haben, wer wir jetzt nochmal waren. Nach einer kurzen Diskussion mit den Augen hebe ich die Hand: "Ich bin Elena!" "Perfekt! Dann musst du", sagt sie an Aria gewandt und sieht in ihrer Liste nach: "Celina Lincoln sein." Die Angesprochenen nickt bestätigend, woraufhin das Mädchen vor uns in die Hände klatscht und sich das Klemmbrett unter den Arm klemmt: "Ausgezeichnet. Ich bin Leyla und habe die wunderbare Aufgabe bekommen euch heute herumzuführen. Das wird sicher eine super Zeit."
Aria blickt mich mit einem Blick an, der so viel sagt wie "Oh Gott, wieso ist die so hyperaktiv. Hat sie keine Freunde?". Daraufhin nicke ich zustimmend, da es genau das ist, was ich mir gedacht habe. Nicht nur, dass sie wie jemand ohne Freunde wirkt der, der echt nicht gerne Zeit vertrödelt, nein, jetzt ist sie auch noch total hyperaktiv geworden.
"Die nächsten zwei Stunden werde ich zu den Besten eures Lebens machen!", erklärt sie enthusiastisch.
Zwei Stunden? Ich habe mich doch gerade verhört, oder? Ich soll es wirklich zwei Stunden mit dieser Person aushalten, ohne das nächstbeste Messer zu nehmen und sie damit zu attackieren? Die Leute hier wollen mich doch verarschen, oder? Haben sie dieses Mädchen mal erlebt? Diese Leute stehen wohl darauf andere zu folgern.
Mein Blick spricht anscheinend Bände, was mir Aria durch ihr leises amüsiertes Lachen signalisiert. Schnell fange ich mich wieder und versuche genauso glücklich darüber zu klingen wie Leyla, doch das geht total schief: "Juhu?!"
Leyla blickt mich daraufhin nur verwundert an: "Ist alles okay bei dir, Elena?" Schon jetzt weiß ich, dass es verdammt lange dauern wird, bis ich mir diesen Namen merke und hoffe einfach, dass ich nicht so lange hier bleiben werde, dass ich ihn mir überhaupt merken muss.
Und als Leyla dann anfängt weiter zu quatschen und uns durch das Institut zu führen, würde ich sie sogar jederzeit gegen, die des Todes nervige, Ruby eintauschen.
Als alle anderen in meinem Zimmer schlafen, erhebe ich mich aus meinem Bett. Der Mond scheint hell durchs Fenster meines Zimmers und erleuchtet mir den Weg. Meine nackten Füße sind auf dem Boden zu vernehmen. Leider habe ich keine Zeit mich anzuziehen, da ich die anderen Schüler im Zimmer nicht aufwachen möchte. Leider musste ich einen Schlafanzug tragen und kann mich deshalb nicht richtig vermummen. Wenn hier also irgendwo Kameras sind, habe ich richtige Probleme.
Meine Haare binde ich zu einem Zopf und schleiche zur Tür. Diese öffne ich dann vorsichtig. Leider knarrt sie laut. Als ich sie so weit geöffnet habe, dass ich gerade so hindurch schlüpfen kann, werfe ich noch einen letzten vorsichtigen Blick auf meine Zimmergenossinnen. Sie schlafen nach wie vor. Puh, das war knapp. Sie dürfen nicht merken, was ich hier tue. Schnell wende ich meinen Blick wieder ab und schlüpfe durch die Tür.
Der Flur ist komplett leer, worüber ich mehr als froh bin, da ich wenig Lust habe erklären zu müssen, warum ich mich zu so später Stunde hier herumtreibe. Meine Angst ist schon groß genug, was sich dadurch zeigt, dass ich bei jedem, Geräusch, egal wie laut es ist, zusammen zucke.
Auf Zehenspitzen schleiche ich über den Flur. Der dunkle Holzboden ist unter meinen Fußsohlen eiskalt. Wieso ist es hier so kalt? Ich sehe mich nach der Quelle um, kann aber nichts entdecken.
Wo wollten wir uns nochmal treffen? Ich blicke über den Gang. Dann fällt mir wieder ein, dass wir uns ja bei den Toiletten treffen wollten, um reden zu können, da keine von uns ein Einzelzimmer hat.
Bei den Toiletten angekommen, stoße ich die schwere Tür auf und blicke mich um. Aria ist noch nirgends zu sehen. Wurde sie aufgehalten oder vielleicht sogar auf dem Flur entdeckt und steckt jetzt in Schwierigkeiten? Ein ungutes Gefühl überkommt mich.
Plötzlich wird die Türklinke hinuntergedrückt. Der Schreck fährt mir in die Glieder und aus einer Kurzschlussreaktion heraus, begeben ich mich in Kampfposition, was wohl das Dümmste ist, was man in dieser Situation tun kann. Als sich eine Gestalt, die ich nicht sofort erkenne, durch die Tür zwängt, stürze ich mich auf sie.
Diese Person schreit erschrocken auf, als ich sie zu Boden werde. Als diese am Boden liegt, halte ich ihr den Mund zu, damit sie aufhört zu schreien. In diesem Moment erkennt auch sie mich und hört auf zu schreien. Ich nehme erleichtert die Hand von ihrem Mund und lege den Kopf in den Nacken: "Erschrick mich doch nicht so!" "Tut mir leid. Ich konnte ja nicht wissen, dass du schon da bist", erklärt Aria unter mir. Sofort bemerke ich es, als sie ihre Hüften sanft unter mir bewegt.
Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ich auf ihr sitze, weshalb ich aufstehen will, doch sie hält mich fest. Ich werfe ihr einen ermahnenden Blick zu und erhebe mich von ihr: "Du bist zu spät." "Sorry, ich wurde aufgehalten", erwidere sie daraufhin kleinlaut. "Schon gut. Hast du die Sachen?", frage ich und klinge dabei sehr fachmännisch. "Natürlich", bestätigt sie daraufhin und zieht einen Gegenstand unter dem Pulli hervor. Ich ziehe ebenfalls etwas hervor und halte es unter den Wasserhahn. Es ist eine Glasschale, in die meine Hände perfekt reinpassen. "Vielleicht sollten wir in eine der Kabinen gehen, damit wir nicht sofort entdeckt werden, wenn jemand hereinkommt", gibt die Brünette neben mir zu bedenken. "Ja, die Idee ist gut", gebe ich zu und nehme die bis zum Rand gefüllte Schale mit in die Toilettenkabine. Aria folgt meinem Beispiel und setzt sich, genau wie ich neben der Toilette auf den Boden. Das ist nicht der beste Platz, aber irgendwo müssen wir ja hin und so bleiben wir wenigstens unentdeckt.
Ich stelle das Gefäß auf den hinunter geklappten Deckel, woraufhin Aria ihren eigenen Gegenstand daneben. Es ist eine vergilbte Karte, die den Umriss eines großen Gebäudes zeigt. Sofort weiß ich, dass sie den Grundriss des Gebäudes zeigt, indem wir uns gerade befinden.
"Hast du das schon mal gemacht?", fragt Aria plötzlich. Ich hebe den Kopf und werfe ihr einen Ist-das-dein-Ernst-wie-sollte-ich-Blick zu: "Nein, ich weiß gerade mal seit etwa zweieinhalb Wochen von diesen Kräften. Hast du etwa gedacht, dass ich sofort am ersten Tag so ein Ritual durchführe?" Sie antwortet nicht, sondern zieht noch einen kleinen Lederbeutel aus der Hosentasche: "Hier, das brauchst du auch noch."
Ich nehme den Beutel und verstreue den Inhalt auf dem Papier. Es ist ozeanblauer Sand. Mit beiden Händen häufe ich die krümeligen Feststoffe auf. Dann lege ich meine Hände in die Schüssel und schließe die Augen, um mich konzentrieren zu können, doch irgendwie passiert nichts, weshalb ich bei Aria Rat suche: "Mache ich irgendwas falsch?"
Nach kurzer Zeit gibt mir einen Tipp: "Als da ist was, was die Nexus mir mal erklärt haben." "Und was?", frage ich mit nach wie vor geschlossenen Augen. "Weißt du wie der Kristall aussieht?", fragt sie. In ihrer Stimme schwingt etwas mit, was mir echt Sorgen macht. Wahrscheinlich liegt das aber einfach daran, dass sie sich nun wieder genauer an die Dinge erinnern muss, die sie bei den Nexus erlebt hat. Ich nicke: "Ja, ich habe ihn bereits in einer Vision gesehen. Reicht das?" Sie bejaht:"Gut, dann rufe ihn dir in Erinnerung und betrachte ihn einfach." "Und dann klappt es?" "Ja, dann müsste es funktionieren", vermutet sie. Ich hole tief Luft und tue, was sie sagt.
Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild des blauen Kristalls. Er leuchtet von ihnen heraus und es wirkt, als würden tief in ihm drinnen Wellen wüten und toben. In mir erstreckt sich ein total beruhigendes Wärmegefühl und der Wunsch nie wieder etwas Anderes zu sehen oder zu spüren wird immer größer.
Die zufriedene Stimme von Aria lenkt mich ab und sorgt dafür, dass ich meine Augen öffne:"Du hast es geschafft!" Mein Blick senkt sich auf die Karte hinab, sodass auch ich das betrachten kann, was dort gerade geschieht. Wenn ich nicht wüsste, dass ich das gerade getan habe, würde ich denken, dass hier gerade ein Wunder geschieht.
Hintereinander bewegen sich die blauen Sandkörner nacheinander vom Haufen runter und bewegen sich in einer durchgängigen Linie über die Karte. Immer mehr Körner bewegen sich vom Haufen hinab über das Papier, bis alle sich wieder auf einem Fleck zu einem kleinen Hügel generiert haben.
"Es hat geklappt, oder?", fragt ich überrascht und blicke wie verzaubert auf das Bild, was sich mir bildet. Mit einer Kopfbewegung stimmt sie mir zu: "Dann lass uns mal nachsehen, wo der Stein sich befindet."
Mit meiner rechten Hand wische ich den Sand vom Papier runter in den Beutel zurück und deute mit dem Zeigefinger auf den Ort, auf dem sich der Sand gesammelt hatte.
Es ist ein kleiner Raum, der sich im Keller des Gebäudes zu befinden scheint, doch scheinbar gibt es auch keine Tür. "Da müssen wir hin", sagen wir beiden gleichzeitig.
Plötzlich öffnet sich die Tür des Toilettenraumes. Aria will vor Schreck aufschreien, doch ich halte ihr den Mund zu und drücke sie gegen die Wand der Kabine. Dann flüstere ich ihr leise ins Ohr: "Einer von uns muss sich auf den Toilettendeckel stellen, sonst sehen sie, dass wir zu zweit sind." Sie nickt schnell und bedeutet mir, dass ich das übernehmen soll.
Ich stelle mich auf den Deckel und platziere meine Füße so, dass ich nicht auf der Karte stehe. Gerade noch rechtzeitig, da in diesem Moment eine der Personen, die rein gekommen ist, fragt: "Wer ist da?"
Mist, wie kommen wir aus dieser Situation wieder heraus. Unbehagen macht sich in mir breit, als keine von uns antwortet. Aria und ich blicken uns an und versuchen dem jeweils anderen zu verdeutlich, dass er antworten soll.
Als ich merke, dass das ganze hier gerade keinen Sinn hat, überwinde ich die, in mir immer größer werdende, Angst und antworte: "Elena ...äh ... Robinson." Aria stößt mich in die Seite und wirft mir einen Was-tust-du-da-Blick zu. Ich ignoriere ihn und beantworte auch auf die weiteren Fragen, die mir gestellt werden. Das tue ich so lange, bis die Person wieder verschwunden ist.
Dann sind wir glücklicherweise wieder alleine. Sobald ich höre, wie sich die Tür schließt, atme ich tief durch und lege den Kopf in den Nacken: "Das war knapp!" Sie ist der gleichen Meinung wie ich: "Wir sollten in unsere Zimmer zurückgehen, sonst merkt vielleicht noch jemand was." Ich stimme ihr zu: "Gut, wollen wir uns Nachts nochmal hier treffen." "Ja, ich schätze das sollten wir, aber morgen haben wir erst mal unseren dritten Schultag."
Mit meinen Zähnen beginne ich auf meiner Oberlippe herumzukauen, was Aria dazu bringt ihre Hand an meine Wange zu legen und sanft an meiner Oberlippe zuziehen, sodass ich meine Zähne sie loslassen. "Was hast du?", fragt Aria ein wenig besorgt. Deprimiert zucke ich mit den Schultern: "Nichts Wichtiges, ich will hier einfach nur so schnell wie möglich wieder raus." "Ich auch!"
Mein Atem geht schnell und der Schweiß läuft mir die Stirn hinunter. Das T-Shirt, was ich trage, hat sich bereits mit ein bisschen Schweiß vollgesaugt.
Als der Lehrer in die Trillerpfeife bläst, stoppen wir alles unseren Lauf. Während die Anderen ihre Haare und Kleidung glattstreichen, ist es mir nicht wichtig, wie ich nach dem Laufen aussehe.
Der Sportlehrer winkt uns zu sich, sodass wir uns alle in einem Halbkreis um ihn herum scharren.
"So Leute, heute üben wir das Kämpfen", verkündet er laut, sodass es wirklich jeder hören kann.
Kämpfen? Oh Gott, das kann ich doch gar nicht. Ich werde so versagen, aber andererseits kann das hier auch meine Chance sein das Kämpfen richtig zu lernen.
Schnell werden wir in zweier Gruppen eingeteilt, um gemeinsam zu üben. Leider kommen Aria und ich nicht gemeinsam in eine Gruppe. Stattdessen landet sie mit einem sehr nett wirkenden Jungen aus der Klasse, während ich einen Typen bekomme, der mich nur abschätzig mustert. In dieser Situation habe ich wohl den Kürzeren gezogen.
"Legt bitte Matten aus, bevor ihr zu kämpfen beginnt", bittet der Lehrer: "Ich will keine gebrochenen Knochen sehen."
Gebrochene Knochen? Was ist das denn für eine Schule? Auf meiner alten Schule hatten wir nicht mal richtigen Sportunterricht. Wir sind ständig nur Runden gelaufen und mehr nicht. Vom Kämpfen hat der normale Durchschnittsschüler an unserer Schule noch nie irgendein Wort verloren. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich so ein ungutes Gefühl habe, als ich den merkwürdigen Blick des Jungen sehe.
Er mustert mich argwöhnisch und blickt dann zu seinen Freunden, die daraufhin zu lachen beginnen. Ich verdrehe genervt die Augen. Jungs!
Der Sportcoach klatscht in die Hände und alle verteilen sich in der Halle, nachdem sie sich Matte geholt haben. Das war wohl das Zeichen dafür, dass wir anfangen sollen.
Als ich das endlich checke, ist der Junge bereits verschwunden und kommt nach kurzer Zeit mit einer blauen Matte wieder. Oh man, das geht mir alles zu schnell.
Der Junge wirft die Matte auf den Boden und stellt sich dann in Kampfposition darauf: "Komm schon, Baby! Lass uns kämpfen." "Baby?", frage ich perplex. Leise nehme ich ein angewidertes Geräusch von Aria wahr, die nur wenige Meter von uns entfernt steht. Was hat sie denn jetzt für ein Problem?
"Nenn mich nicht so. Ich habe auch einen normalen Namen", versuche ich so ruhig wie möglich zu sagen, doch das klappt nicht sonderlich gut. Stattdessen klinge ich ziemlich genervt.
"Und wie lautet dieser?", fragt er. Dabei versucht er wie ein Gentleman zu klingen und verbeugt sich vor mir, was ich mehr als albern finde.
Ich trete zu ihm auf die Matte: "Elena! Und du?" "Das geht dich nichts an", sofort klingt er wieder unfreundlich. "Doch geht es. Schließlich soll ich ja mit dir kämpfen, oder?", fragt ich und mustere den Jungen. Er hat dunkelbraunes Haar, während die Spitzen lila gefärbt sind und seine Augen haben die gleichen Farben. Das wundert mich zwar, doch lieber gehe ich nicht darauf ein, da er nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen zu sein scheint. Sein Körper ist sehr muskulös, der schon meinen Blick auf sich zieht. Schnell richte ich den Blick zu Boden. Auch seinen Duft nehme ich wahr. Er riecht nach sauren Äpfeln. Hmm!
"Miles", sagt er plötzlich. "Was?", fragt ich und hebe wieder den Kopf. "Das ist mein Name", erklärt er: "Können wir jetzt beginnen?" "Ja ja", murmele ich.
Nachdem wir fast die ganze Stunde gekämpft haben und ich unzählige Male auf der Matte gelandet bin, bin ich, im Gegensatz zu ihm, bereits aus der Puste und will eine Pause machen. "Ich will eben eine Pause machen", mit den Händen mache ich ein Time-out Zeichen.
Miles ignoriert es jedoch einfach und ballt seine Hände zu Fäusten. Ich versuche mich schnell aufzurichten, doch er drückt mich wieder auf die Matte zurück: "Jetzt zeige ich dir mal, wie man einen Kampf beendet."
Nervös blicke ich mich um. Mein Blick ist Angst erfüllt. Fast alle Schüler haben die Halle bereits verlassen, um sich umzuziehen. Nur noch Aria, ihr Partner, Miles und ich sind da. Auch der Lehrer ist noch da, doch dieser befindet sich in den Materialräumen, um unsere Sachen zu sortieren. Keiner wird sehen, was ich tue, wenn ich es jetzt tue. Ich hadere immer weiter mit mir.
Als Miles dann ausholt und mit einer Faust auf meinen Kopf zielt, reagiere ich mehr als unüberlegt. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper und ich strecke ihm meine Faust entgegen.
Daraufhin stürzt er zu Boden und beginnt zu husten. Ich halte ihm meine Faust weiterhin entgegen und rutsche auf der Matte von ihm weg.
Miles legt die Hände um seinen Hals und kann nicht mehr aufhören zu husten. Urplötzlich spritzt ihm Wasser aus dem Mund auf die Matte und er sackt fast in sich zusammen.
Von der Seite nehme einen lauten Schrei weg. Dann schließen sich kalte Hände um meine Oberarme und ziehen von der Matte hinunter. Ich versuche mich zu wehren, da ich so meine Kräfte nicht mehr weiter nutzen kann. Die Hände schließen sich so fest um mich, dass ich keinen Widerstand mehr leisten kann. "Beruhig dich, Stella", fordert die Person hinter mir. Ich erkenne die Stimme sofort und drehe mich Aria um. Ihre hellbraunen Haare hat sie zu einem hohen Zopf gebunden. Ihre Worte beruhigen mich und ich lasse es gut sein.
Ein letzter Blick auf Miles lässt mich zusammen zucken. Er liegt in einer Pfütze aus Wasser auf dem Boden. Sein Gesicht ist kreidebleich, doch er lebt.
Als meine Freundin mich beruhigt hat, läuft sie bedrohlich auf den gewalttätigen Jungen zu. Mit einer Handbewegung hebt sie diesen in die Luft und droht ihm: "Wehe du erzählst irgendwem davon, was hier gerade geschehen ist!" "Was wenn ich es doch tue?", fragt der nach wie vor schwache Junge amüsiert. "Dann breche ich dir das Genick mit einer einzigen Handbewegung", faucht sie. "Das will ich sehen", provoziert Miles.
Panisch bemerke ich, dass sie nun, genau wie ich selbst vor wenigen Minuten, die Beherrschung verliert. Schnell wird mir klar, dass von ihr eine viel größere Gefahr ausgeht wie von mir, da sie sicher nicht zögern würde ihm den Hals umzudrehen.
Schnell umklammere ich Aria von hinten und flüstert ihr etwas ins Ohr: "lass gut sein. Er wird sicher nichts erzählen und wenn doch, darfst du ihn gerne umbringen, aber bisher hat er noch Nichts gemacht." Sie atmet tief durch und lässt die Hand wieder sinken. Daraufhin stürzt der Junge ungehindert zu Boden. "Wir sollten gehen", schlage ich schnell vor. Sie stimmt zu: "Ja, das ist wohl besser so."
Auch in dieser Nacht schleiche ich mich wieder aus meinem Zimmer, um mich mit Aria zu treffen. Nach dem Sportunterricht ist heute auch glücklicherweise nichts Schlimmes passiert, was ich mehr als begrüße. Ehrlich gesagt war der sonstige Unterricht mehr als langweilig. Wir hatten nur langweilige Fächer wie Mathematik oder Biologie.
Nach dem Unterricht habe ich dann darauf gewartet, dass es endlich Nacht wird, damit alle Anderen schlafen gehen, sodass ich mich herausschleichen kann.
Dieses Mal mache ich jedoch nicht den Fehler mir einen Schlafanzug und keine Socken anzuziehen, sondern ziehe mir schwarze Sachen an, damit ich nicht gesehen werde. Auch eine Skimaske habe ich mir notdürftig gebastelt. Aria habe ich befohlen dasselbe zu tun. Hoffentlich hat sie es nicht vergessen, sonst haben wir ein Problem.
Mein Blick wandert durch das Zimmer. Alles ist dunkel. Keiner ist wach. Das weiße Licht des hellen Mondes wabert, genau wie in der ersten Nacht, in der ich mich mit Aria getroffen habe, durch den Raum. Ich atme tief durch und schleiche mich aus dem Zimmer. Erneut knarrt die Tür, doch dieses Mal kriege ich es besser in den Griff, sodass es nicht so laut ist wie beim letzten Treffen mit Aria.
Diese Nacht verläuft jedoch ganz anders als in der letzten Nacht. Ich erschrecke mich fürchterlich, als mich plötzlich gegen die Wand drückt. Mein Rücken trifft auf die Wand und ein lautes Geräusch entsteht. Angsterfüllt reiße ich die Augen auf. Das Mädchen vor mir zeigt die gleiche Reaktion, doch dann flüstert sie mir schnell etwas ins Ohr: "Komm! Wir gehen sofort los. Schließlich haben wir nicht ewig Zeit." "Da hast du auch wieder Recht", ich löse mich von der Wand und ziehe sie mit mir über den Flur ohne zu wissen wo wir jetzt eigentlich genau hin müssen:"Hast du Licht dabei?" Sie nickt und zieht einen hellen Stein aus ihrer Tasche.
Dieser Leuchtet in derselben Farbe wie das Mondlicht. Ich betrachte den Stein überrascht: "Ist das...?" Schnell unterbricht sie mich:"Nein, ist es nicht. Das ist ein Mondstein." Als sie meinen fragenden Blick bemerkt, fügt sie noch etwas hinzu: "Weitere Fragen beantworte ich später." Diese Antwort reicht mir vollkommen: "Hast du die Karte?" Sie reicht mir die Karte und beleuchtet diese mit dem Stein.
Nachdem ich mir kurz einen Überblick verschafft hat, deute ich auf eine Stelle: "Da sind wir." Dann fahre ich mit dem Finger auf dem Papier weiter hinunter, bis ich an einer Stelle, die uns schon bekannt ist: "Und dort wird vermutlich der Kristall aufbewahrt." Aria nickt zustimmend: "Ja, aber es scheint keine Tür zu geben." "Wir müssen uns wohl vor Ort einen Weg rein suchen", meine ich. Das Papier fühlt sich unter meinen Fingern hart an und ein wenig aufgewirbelter Staub steigt mir in die Nase. Ich muss kurz niesen.
"Woher hast du die Karte eigentlich?", frage ich: "Die hat sich Jahre lang nur herumgelegen." "Hab ich geklaut", sagt sie ohne irgendwie kleinlaut oder schuldbewusst zu klingen. Geschockt blicke ich sie an: "Was? Von wem?" Sie verweigert ihre Antwort jedoch: "Das bleibt mein Geheimnis. Ich bringe sie aber zurück, wenn wir den Kristall gefunden haben." "Versprochen?" "Versprochen!", antwortet sie missmutig. "Ist ja jetzt auch egal", ich konzentriere mich wieder auf die Mission: "Wir müssen uns beeilen." Ich setze die schwarze Skimaske auf. Aria tut es mir gleich.
Ich hätte nicht gedacht, dass sie stehlen würde, aber irgendwie bin ich grade auch froh darüber, sonst wüssten wie jetzt wahrscheinlich nicht, wo sich der Kristall befindet und wir hätten auch keine Idee, wo wir suchen sollen.
Nachdem wir viele Gänge durchquert und um zahlreiche Ecken gebogen sind, stehen wir vor dem Raum, den uns die Karte gezeigt hat. Tatsächlich ist aber leider weit und breit keine Tür zu sehe. Nur ein Bücherregal steht an die Wand gelehnt da.
"Super und was machen wir jetzt?", frage ich irritiert. "Ich hätte da eine Idee" "Und welche", ich beginne die Wände abzutasten. "Wenn hier irgendwo eine Tür ist, kann ich es später", sie schließt ihre Augen und ich spüre, wie ein starker Wind durch den Flur bläst. Was ist denn jetzt los?
Als Aria die Augen wieder öffnet, lässt auch der Wind nach und ein breites Grinsen erscheint auf ihren Lippen: "Hier ist irgendwo eine Tür. Wir müssen nur herausfinden wo." Ich verdrehe die Augen. Das habe ich mir auch schon gedacht.
Meine Reaktion auf ihre Erkenntnisse scheint die Brünette aber glücklicherweise nicht gesehen zu haben, weshalb sie genau wie ich beginnt die Wand abzutasten, doch es geschieht immer noch nichts. Oh man, wir suchen doch vergeblich.
Besonders das Buchregal zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Wieso baut jemand ausgerechnet hier eines hin? Ich lege meine Hand an eines der Bücher und lese den Titel "die Legenden der Nexus". Der Ekel macht sich auf meinem Gesicht breit und ich will es gerade wieder wegstellen, da springt mir etwas ins Auge und ich nehme noch mehr Bücher hinaus. Dadurch ist nun das Holz, was zuvor durch die Bücher verdeckt wurde, zu sehen: "Aria komm mal." Das Mädchen läuft sofort zu mir herüber. Als sie das sieht, was ich freigeräumt habe, bricht sie fast in Freudenschreie aus. "Ich denke, dass ich da auf was gestoßen bin", schmunzele ich. "Das glaube ich auch", stimmt meine Partnerin zu: "Willst du oder soll ich?" "Mach du", bitte ich, da ich selbst die ganzen Bücher im Arm halte.
Gespannt sehe ich zu wie Aria ihre Hand ausstreckt und mit den Fingern über die leuchtend blaue Farbe fährt, bis sie an einem blauen Drehschalter ankommt. Sie legt ihre Finger darum und dreht diesen dann.
Als sie den Schalter fast komplett herumgedreht hat, räuspert sich plötzlich jemand hinter uns. Wir beide erschrecken und tierisch. Vor Schreck lasse ich fast die Bücher fallen und Aria stößt sich die Hand am Holz, als sie diese wieder herauszieht. Alle beide, fahren wir zusammen herum und blicken unseren Beobachter überrascht an.
Im schummerigen Licht des Steines in Arias Hand, erkenne ich ihn nicht sofort, doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Unser Verfolger ist mir bereits bekannt. Es ist der Junge aus dem Sportunterricht, dem sowohl Aria als auch ich gerne den Gar ausgemacht hätten. Er trägt genau wie ich dunkle Kleidung und sein Blick wirkt mehr als argwöhnisch: "Was tut ihr hier?"
Meine Partnerin und ich blicken uns an. "Das geht dich nichts an", erwidert sie misstrauisch. Er scheint mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein: "Wenn ihr nicht die Wahrheit sagt, verpetze ich euch." "Petze", flüstern Aria und ich gleichzeitig. "Wir haben die Toilette gesucht", lüge ich. Oh mein Gott, was war das denn für eine schlechte Lüge. "Lügen solltest du echt noch üben", sagt der Junge laut: "Sagt die Wahrheit oder ich lasse euch auf der Stelle auffliegen!" Seine Drohung wirkt so, als würde er, das was er sagt, hat zu einhundert Prozent ernst meinen.
Mit einer Handbewegung bedeutet ich Aria, dass sie das tun soll, was wir auf dem Weg hierher abgesprochen haben. Sie wedelt kurz mit ihrer Hand, woraufhin der Junge an die Wand gehaftet wird. Ein hämisches Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Sofort beginnt er sich zu beschweren: "Hey, das ist unfair. Lasst mich runter. Sofort!" "Wieso sollten wir das tun?", fragt Aria stolz auf sich selbst. "Ich kann euch bei, was auch immer ihr da tut, helfen", schlägt der Junge hilflos vor. Das Einzige, was er zu bewegen fähig ist, ist sein Gesicht. "Und wie willst du das bitte tun?", frage ich nun misstrauisch. Ob er uns wirklich helfen kann? Oder wird er die Chance nutzen um weglaufen oder die Aufmerksamkeit auf uns ziehen.
"Ich kenne den Code, den ihr brauchen werdet, um in den Raum hineinzukommen", gibt er an. Wir sehen uns überrascht an. Ein Code? Wir wissen nichts von einem Code. Lügt er vielleicht nur? Mein Bauchgefühl sagt zwar, dass ich er die Wahrheit spricht, aber sollte ich mich in dieser Situation wirklich nur auf mein Bauchgefühl vertrauen. Ich bin total zwiegespalten.
Aria flüstert mir etwas ins Ohr: "Dreh den Schalter ganz um und schau nach, ob du einen Code eingeben musst." Ja, das ist eine sehr gute Idee. Die Bücher in meinen Armen lege ich auf den Boden. Dann betrachte ich die aufs Holz aufgetragene blaue Farbe, die der meiner Augen sehr ähnelt.
Meine Finger finden den schon ein Stück herumgedrehten Schalter. Er scheint als wäre dieser aus weichem Holz hergestellt worden. Meine Spannung steigt mir jeden Zentimeter, den sich der Schalter dreht. Als ich ihn komplett herumgedreht habe, macht es plötzlich "Klick". Ich werfe Aria einen ängstlichen Blick zu. Sie lächelt mich ermutigend an.
Instinktiv drücke ich den Schalter in das Holz hinein. Erneut ertönt das Geräusch und ich schaffe es gerade noch meine Hände wegzunehmen. Langsam bewegt sich das Regal zur Seite und eröffnet mir den Blick auf eine dunkle, fast schwarze, Tür. Auf das Holz sind zehn verschiedene Symbole, mit derselben blauen Farbe wie im Regal, gemalt worden. Diese wirken wirklich wie ein Code.
Mein Blick saust zu dem Jungen an der Wand: "Meintest du das hier?" "Ja, du musst die richtigen Symbole in der richtigen Reihenfolge eindrücken", erklärt dieser hämisch grinsend. Wie gerne ich ihm den vorlauten Mund stopfen würde. "Und was ist, wenn ich einen Fehler mache?", frage vorsichtig. "Ein Alarm wird ausgelöst", erwidert der Angesprochene. "Dann sag uns den Code", fordere ich.
Der Junge zuckt mit den Schultern: "Ja!" Freude steigt in mir auf, doch wenige Sekunden später werde ich enttäuscht. "Aber ich werde ihn euch nur im Tausch gegen etwas Anderes verraten", erwidert er grinsend. Meine Partnerin und ich verdrehen die Augen. "Das kannst du vergessen", ich drehe mich wieder zu der Tür um. Ich schaffe das schon allein. Es ist mir egal, was er wissen will. Die Informationen, die er verlangen könnte, könnten uns in größte Gefahr bringen und das werde ich garantiert nicht riskieren.
"Warte, Stella! Wir brauchen seine Hilfe", sagt Aria. In ihrer Stimme höre ich, wie schwer es ihr fällt diese Worte auszusprechen. Ich fahre herum: "Was? Wieso?" "Die Chance, dass du den Code komplett richtig eingibst, ist winzig klein", in ihrem Blick sehe ich, dass sie es ernst meint, doch überzeugen kann sie mich trotzdem nicht. Ich traue diesem Jungen nicht und daran kann auch Arias Hundeblick nicht ändern. "Und wie willst du sicher gehen, dass auch er uns keinen falschen Code gibt", fordere ich sie heraus. "Er will etwas von uns und wir wollen etwas von ihm. Wieso sollte er uns dann in die Falle tappen lassen? Das würde ihm doch auch nichts bringen", erklärt das Mädchen. Ihre Stimme wirkt beruhigend auf mich und ich atme tief durch: "Na gut, aber ich will erst den RICHTIGEN Code haben, bevor ich ihm irgendwelche Fragen beantworte!" Die anderen Beiden nicken.
Ich hebe eine Augenbraue und wende mich dann an den Jungen: "Dann rück mal mit dem Code heraus." "Ja ja, mache ich", wendet er ab: "Geh zur Tür!"
Schnellen Schrittes mache ich mich zum dunklen Portal auf und betrachte die Formen. Sie sind alle unterschiedlich, doch leider lässt sich kein offensichtliches Muster bestimmen.
Er beginnt mit seinen Anweisungen: "Drücke zuerst das erste Symbol in der ersten Reihe!" "Das Erste von rechts oder von links?", fragt ich genauer nach, um mögliche Fehler zu vermeiden. "Von rechts", weist er an. Unbehagen packt mich, doch ich drücke mit zitternden Händen auf das Symbol. Hoffentlich ist es das Richtige!
Meine Finger berühren das Material. Ich kann nicht genau sagen woraus die Tür besteht. Vielleicht aus Holz oder Stein. Das ist sehr wahrscheinlich, da die meisten Dinge auf dem Planeten aus diesen Materialien bestehen. Meine Finger zittern und wirken kraftlos, doch ich versuche stark zu sein und meine Angst zu verstecken. Ich drücke gegen das Zeichen und es gleitet wie von selbst in die Tür hinein. Vorsichtig warte ich darauf, was passiert. Wenige Sekunden später leuchtet das nun entstandene Loch so blau wie meine Augen. Das ist wohl das Zeichen dafür, dass es das richtige Zeichen war.
Als ich alle Zeichen hinuntergedrückt habe, leuchten alle erneut blaue auf und die Freude überkommt mich. Jackpot! Zufrieden blicke ich zu Aria. Auch diese scheint sehr erleichtert zu sein.
"Jetzt will ich, dass ihr meine Frage beantwortet", fordert Miles. Ich blicke zu ihm hoch. Beinahe habe ich vergessen, dass er auch noch da ist. "Na gut, dann stell deine Frage", fordere ich genervt auf. Wieso muss er nur hier sein? Kann Aria ihm nicht einfach schnell das Genick brechen?
"Ich kann mir denken, dass ihr keine Nexus sind und dass Elena und Celina nicht eure richtigen Namen sind. Wahrscheinlich seid ihr auch Undercover hier. Dank der letzten Sportstunde kann ich mir auch denken, dass ihr vermutlich Erbinnen der Elementarier seid. Also stellt sich mir noch eine Frage", schlussfolgert er: "Wieso seid ihr hier?" In unsere Gesichter scheint der Schock geschrieben zu stehen, was mir Miles triumphierender Blick verrät. Wir scheinen wohl gerade all seine Vermutungen bestätigt zu haben.
Ich selbst fange mich zuerst: "Um etwas zu stehlen!" Er scheint darauf zu warten, dass noch mehr folgt. "Das war's", sage ich daraufhin: "Du hast nicht gesagt, wie lang die Antwort sein muss." "Aber...", er scheint widersprechen zu wollen: "Was wollt ihr stehlen?" Aria steigt nun auch ein: "Wir hatten abgesprochen, dass du nur eine Frage stellen darfst und dass hast du bereits getan, also halte jetzt die Klappe." Ich muss grinsen. Das macht sie echt gut. Ein Bild dieses Mädchens als Polizistin während eines Verhörs kommt mir in den Sinn, doch schnell konzentriere ich mich wieder und blicke zur Tür, dich sich bereits geöffnet hat: "Wartest du hier." Aria nickt bestätigend und hält den Jungen weiterhin in der Luft fest. Mit diesen Worten trete ich in den dunklen Raum hinein.
Sobald ich den ersten Fuß hineingesetzt habe, erstrahlen helle weiße Lichter und verschaffen mir einen guten Überblick. Ich lasse meinen Blick über die Gegenstände um mich herum gleiten. Der Raum ist so groß wie erwartet und alle zwei Meter kommt man an einem Podest vorbei, auf dem irgendein, augenscheinlich sehr altes Relikt, liegt oder steht.
Ich fühle mich nun viel mehr als zuvor wie eine Diebin oder Geheimagentin auf ihrer Mission, was wahrscheinlich daran liegt, dass nun auch wirklich bin. Mein Blick bleibt an mehreren Gegenständen hängen und immer wieder muss ich dem Dran widerstehen sie einfach von ihrem Sockel zu nehmen und auch einfach mitzunehmen. Ob sie wohl irgendwie geschützt sind? Wahrscheinlich nicht, da die Erbauer dieses Raumes einfach davon ausgegangen sind, dass ein Dieb schon an den vorherigen Hindernissen gescheitert wäre, was uns ja ohne die Hilfe von Miles auch geschehen wäre. Schnell blicke ich mich nach Kameras um. Nichts zu sehen.
Besonders ein kleines Notizbuch mit einem roten Einband und hellem, fast weißem, Papier hat es mir angetan. Ich bin sogar gerade dabei die Hand unbewusst danach aus, da nehme, ich die leise Stimme meiner Komplizin war: "Hast du ihn schon gefunden?" Schnell ziehe ich meine Hand zurück und läuft weiter: "Nein, gib mir noch ein bisschen Zeit." "Beeil dich", drängt das Mädchen.
Nun wende ich mich den schwarzen Kisten, die neben den verschiedenen Podesten stehen zu. Ich schiebe sie auf und bemerke etwas mehr als interessantes. Oben auf liegt eine Kette, die mir sehr interessant vorkommt und mich vor Schreck erstarren lässt.
Sie gleicht meiner fast komplett. Nur einen Unterschied gibt es. Der Stein ist nicht blau wie an meiner Eigenen, sondern braun wie der Erdboden.
Ohne lange über mein Handeln und die möglichen Konsequenzen zu grübeln, strecke ich meine Hand aus und lasse die Kette in meiner Tasche verschwinden. Davon muss Aria ja nicht unbedingt was erfahren und Miles erst recht nicht. Dann sehe ich im Augenwinkel das, was ich eigentlich gesucht habe.
Der Wasserkristall steht auf einem großen Sockel und strahlt noch heller als in meiner Vision. Ich muss mich beherrschen, damit ich nicht vor Freude ausraste. Wir haben es geschafft. Nun können wir endlich von hier verschwinden. Wir können nach Hause zurückgehen und haben dank des Kristalls sogar vielleicht einen Vorteil.
Schnellen Schrittes laufe ich zum Podest und nehme den Kristall hinunter und stecke auch diesen in meine Tasche. Als das geschehen ist, warte ich einige Sekunden, um sicher zu gehen, dass kein Alarm aktiviert wird. Nichts geschieht. Beruhigt atme ich tief durch. Das lief gut. Warum war das so einfach?
"Stella?", fragt Aria vorsichtig. Ich reagiere blitzschnell: "Ja, ich habe alles und komm jetzt raus." Leise höre ich, wie sich beruhigt durchatmet. Hat sie sich etwa Sorgen um mich gemacht.
Schon fast rennend verlasse ich den Raum. Als ich draußen bin, geht das Licht wieder aus und Aria nutzt den Wind, um die Tür wieder zu schließen. Sobald sie ins Schloss gefallen ist, hebt sich der Code wieder auf und die eingedrückten Symbole treten wieder, genau wie vor der Aktivierung, heraus.
"Wir sollten hier lieber schnell verschwinden", gebe ich zu bedenken. Aria stimmt zu und wendet sich dann an Miles, während ich das Regal zurückschiebe und die Bücher einräume. Hoffentlich vertausche ich die Reihenfolge nicht: "Wenn du irgendwem davon erzählst, was wir heute Nacht hier getan haben, ersteche ich dich im Schlaf." Bei ihren Worten läuft mir ein Schauer über den Rücken. Das scheint wohl auch bei Miles der Fall zu sein, denn anstatt zu widersprechen, nickt er nur, woraufhin meine Freundin ihn runter lässt. Sofort macht er sich aus dem Staub.
Aria beginnt mir mit den Büchern zu helfen: "Ich habe da ein ganz mieses Gefühl!" Auch ich verspüre dieses merkwürdige Gefühl. Wird er uns verraten oder Worthalten?
Die großen Türen öffnen sich und die Schüler strömen in den riesigen Speisesaal hinein. Ich selbst befinde mich in der Menge und werde regelrecht mitgerissen. Mit den Fingern reibe ich mir die Augen und versuche ein wenig wacher zu werden. Wieso muss man hier immer so früh aufstehen? Das ist mir einfach zu früh. Ich schlafe lieber länger, anstatt schon um sieben Uhr morgens von der Schulklingel aus dem Bett geklingelt zu werden. Aria bin ich auf dem Gang aber leider noch nicht begegnet, sonst hätten wir uns überlegen können, wie wir hier wieder rauskommen. Leider hatten wir dazu gestern Abend keine Chance mehr.
Ich habe den Kristall einfach schnell in meinem Koffer unter dem Bett versteckt, da ich einfach nur müde war und habe mich dann ins Bett fallen lassen. Erst zwei Stunden Sport und dann noch auf eine nächtliche Mission. Für mich war das einfach ein bisschen viel. Das bin ich nicht gewohnt. Heute Morgen habe ich ihn dann noch besser versteckt, obwohl ich mir nun nicht mehr sicher bin, ob es wirklich so klug war den Kristall an der Außenseite meines Stiefels zu verstecken. Zwar wird man dort nicht zuerst suchen, aber das beste Versteck ist es sicher nicht. Aber wo kann ich ihn denn in einer Schule voll mit feindlich gesinnten Seraphinen sicher verstecken? Am sichersten ist es da doch ihn am Körper zu tragen, oder?
Von allen Seiten werde ich angerempelt. Fast platzt mir der Kragen. Ich hasse es so viele Leute, um mich herum zu haben. Können die nicht einfach verschwinden und mich in Ruhe lassen?
Endlich im Speisesaal angekommen, blicke ich mich um. Die Wände sind weiß gepinselt, während der Boden mit schwarzen Fliesen belegt ist. Mehrere lange Tische stehen im Raum verteilt, die mit Tellern und Besteck gedeckt sind. Auch Nahrungsmittel befinden sich in Körben, Schüssel und Karaffen auf dem Tisch. Alles wirkt so perfekt und pompös. Fast wie in einem wunderschönen Traum, aus dem man gar nicht mehr aufwachen will. Um sicher zu gehen, dass das wirklich kein Traum ist, zwicke ich mich in den Arm. Aua, das war definitiv real!
Mein Blick schweift über die Tische und ich sehe mich nach Aria um. Vielleicht ist meine Partnerin ja schon hier. Leider ist es jedoch sehr das Mädchen unter den ganzen Schülerinnen und Schülern zu entdecken, doch dann entdecke ich sie doch.
Ihre hellbraunen Haare hat sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden und ihre Kleidung wirkt wie frisch gewaschen. Wie kann man am frühen Morgen so gut und wach aussehen? Die Plätze um sie herum sind frei. Keiner scheint neben ihr sitzen zu wollen, was mich sehr wundert, da sie sehr freundlich ist, wenn man sie nicht gerade bedroht oder umzubringen versucht. Außerdem ist sie auch echt hübsch.
Schnell lasse ich mich auf den Platz neben ihr fallen und lege meinen Arm um sie: "Hey, wieso sitzt du hier so alleine?" "Ich habe auf dich gewartet", erklärt sie gut gelaunt und nimmt sich ein Brötchen aus einem der vielen Brotkörbe auf dem Tisch. Es duftet wundervoll, sodass auch mein Hunger erwacht. Die warme Hefe unter meinen Fingern weckt ein wolliges Gefühl in mir. Im ganzen Raum duftet es wunderbar und die Schüler unterhalten sich miteinander.
Plötzlich wird jedoch die Tür aufgerissen, die sich zuvor hinter den Schülern geschlossen hatte, und eine großgewachsene Frau stürmt, gefolgt von zwei anderen Leuten, in den Saal. Am Ende der Tische steht ein kleines Podest, auf das sie sich stellt.
Mich interessiert recht wenig, was diese Leute wollen, doch sieht mich vorwurfsvoll an und flüstert mir etwas ins Ohr: "Konzentrier dich bitte. Wir fallen auf, wenn wir einfach da sitzen und nicht zuhören." Ein wenig genervt richte ich ihren Blick auf die Frau vor uns. "Wer ist das?", frage ich ein anderes Mädchen in meiner Nähe. "Direktorin Rivers", erklärt diese leise und wendet ihren Blick wieder der Frau, die also die Direktorin ist, zu.
Mit den Augen betrachte ich diese nun auch. Ihre Haare sind feuerrot und ihre Kleidung ist genauso elegant wie die der meisten Schüler hier.
Ihre Stimme klingelt hochnäsig, als sie zu sprechen beginnt: "Guten Morgen liebe Schüler. Wahrscheinlich werdet ihr euch jetzt wundern, wieso ich euch beim Essen störe, aber ich wollte euch nur darüber informieren, dass ihr den Saal nach dem Essen nicht sofort verlassen dürft." Aria dreht sich langsam um und schaut mich erschrocken an. Der Schock ist ihr ganz klar anzusehen. Ich lege meine Hand auf ihre und versuche sie zu beruhigen: "Entspann dich. Vielleicht hat es einen ganz anderen Grund." Wir scheinen jedoch nicht die Einzigen zu sein, die Fragen zu dem Thema haben. Die Lehrerin fährt jedoch fort: "Jetzt werden sich wahrscheinlich viele fragen wieso, wir zu dieser Maßnahme greifen müssen. Die Antwort ist ganz einfach. Am gestrigen Tag ist etwas sehr Wertvolles verschwunden. Das Kollegium und ich selbst haben die Vermutung, dass ein Schüler dieses Institutes das Objekt entwendet hat."
Plötzlich lässt sich jemand neben mich fallen. Erst erkenne ich die Person nicht, doch dann merke ich, dass es Miles, mein Gegenspieler aus dem Sportunterricht ist. Er legt seine Arme um uns und flüstern: "Na Ladys, ihr scheint wohl in Schwierigkeiten zu sein." Mein Körper ist wie gelähmt und meine Pupillen erweitert. Oh man, leider hat er recht. "Hast du uns verraten?", zische ich leise. Er sieht mich verwundert an und schüttelt den Kopf: "Ich breche keine Versprechen. Zwar bin ich nicht immer freundlich oder zeige Gefühle, aber meine Versprechen halte ich immer ein." Aria ist dabei nun komplett in Panik zu geraten. Ihr Atem wird schneller und ihre kleinen Hände beginnen zu zittern. Wie kann ich sie beruhigen? Sie darf auf keinen Fall den Mut verlieren. Dann wäre unsere ganze Mission in Gefahr. Auch Miles scheint die Körpersprache des Mädchens richtig gelesen zu haben und wendet sich mir zu: "Ich kenne euch zwar nicht, aber ich werde euch helfen, wenn ich das irgendwie kann. Wo ist der Kristall jetzt?" Forschend blicke ich ihn an. Das, was er zeigt, sagt mir, dass er es ernst meint, doch richtig glauben kann ich ihm noch nicht: "Er ist nicht weit entfernt, aber jetzt habe ich erst mal eine wichtigere Frage. Wieso willst du uns helfen?" Kurz blickt er sich um, doch dann antwortet er: "Ich finde es einfach nicht richtig, was hier geschieht. Schon so lange läuft hier einiges falsch. Es muss einfach endlich mal etwas passieren!" Da hat er auch wieder recht. Auch mir ist schon aufgefallen, dass es hier nicht ganz so läuft, wie es sollte. "Na gut, was kannst du für uns tun?", frage ich widerwillig. "So einiges, aber erst mal müsst ihr mir auch etwas versprechen." Genervt seufze ich. War ja klar, dass er wieder irgendwas will. Eigentlich würde ich mich auch nicht darauf einlassen, aber momentan kann ich jede Hilfe gebrachen: "Was willst du denn für einen Gefallen?" "Nachdem ich euch geholfen habe, habe ich nicht mehr die Möglichkeit hierher zurückzukehren, also will ich, dass ihr mich mitnehmt." "Was? Wieso das denn?", frage ich verwundert. Wieso will er hier weg? Für die Schüler hier ist das dieses Gebäude doch sowas wie ein Zuhause. "Okay, dann hilf uns aber gefälligst sofort", Aria schreitet nun ein. Ihre Stimme zittert genauso wie ihre Hände. Meine Partnerin tut mir mehr als leid, doch helfen kann ich ihr momentan einfach nicht. Geschockt sehe ich sie an, doch das Mädchen lässt sich nicht davon abbringen. "Perfekt!", bestätigt der Junge: "Wenn ich euch ein Zeichen gebe, folgt ihr mir sofort. Verstanden?" Wir beide nicken. Was er wohl vorhat?
Daraufhin klatscht der Junge in die Hände. Sofort geht das Licht aus, was die Halle erleuchtet hat. Einige Schülerinnen und Schüler schreien erschrocken auf. Auch ich selbst, bin mehr als überrascht, doch kein Schrei entflieht meiner Kehle. In der Dunkelheit spüre ich, wie Miles nach meiner Hand greift. Seine Finger passen perfekt in meine, doch leider habe ich keine Zeit mehr mich genauer auf seine Berührung zu konzentrieren. Stattdessen höre ich seine Stimme: "Okay, los!" Der Junge zieht mich mit sich.
Als das Licht wieder angeht, stehen wir drei gemeinsam auf dem langen Tisch, doch Zeit mich damit abzufinden habe ich nicht, da Miles uns beide mit sich über die Tische zieht. Während ich selbst versuche nicht auf die Finger oder die Teller der anderen treten, rennt Miles über das lange Bankett. Wir folgen! Das hätte ich echt nicht erwartet. Außerdem frage ich mich echt, wieso er genau wusste, wann das Licht ausgeht. Oder hatte er etwas damit zu tun?
An der Tür angekommen, öffnet Aria diese mit ihren Kräften, sodass wir keine Zeit verschwenden. Ich nehme zwar wahr, dass uns hinterhergerufen und befohlen wird, dass man uns schnappen soll, doch irgendwie will die Information nicht weiter in mein Gehirn wandern. Das Einzige, was mein Gehirn mir in diesem Moment sagt, ist "Lauf so schnell du kannst, Stella!" und genau das tue ich auch. Meine Füße erzeugen laute Geräusche auf dem harten, dumpfen Steinboden. Nun bin ich doch froh, dass ich den Kristall am Körper trage.
Auch die letzten Türen, die uns den Weg in Freiheit versperren sollen, lassen sich spielend leicht öffnen, sodass wir uns innerhalb von Sekunden draußen binden. Dort halten wir dann an und schnappen kurz nach Luft. Das Adrenalin pulsiert unter meiner Haut und langsam beginnen sich meine Lungenflügel wieder mit der Luft zu füllen, die mir vorher fast komplett weggeblieben ist. Den Kopf lege ich in den Nacken und blicke nach oben in den blauen Himmel. "Wir müssen weiter, sonst holen sie uns noch ein", drängt Miles, doch in diesem Moment ist mir das einfach nur egal. Ich genieße die frische Luft, die ich seit Tagen nicht mehr schnuppern durfte einfach nur. Nachdem der Junge uns jedoch erneut gedrängt hat, raffen wir Mädchen uns auf und folgen ihm durch das Schultor, welches wie von Zauberhand aufschnappt und sich hinter uns wieder schließt.
Plötzlich nehme ich, dann auch wieder eine mir sehr bekannte Stimme war, dessen Quelle sich nur wenige Meter von uns zu befinden scheint. Es ist die von Hilley. Dort steht die bereits etwas ältere Frau in der von ihr gewohnten Kleidung. Neben ihr das Mädchen, was uns bereits einmal aus der Patsche geholfen hat. Ich meine mich daran zu erinnern, dass ihr Name Annabeth ist, obwohl sie zu ihrem eigenen Schutz einen Neuen angenommen hat. Wird sie uns wieder Wegteleportieren? Jetzt wo ich weiß, dass Hilley hier ist, um uns zu holen, breitet sich in mir eine Geborgenheit aus, die in der letzten Zeit so schrecklich vermisst habe. Freudig erregt renne ich regelrecht auf sie zu und schließe meine Arme um sie. Hilley tut es mir gleich. Ihre Arme umschlingen mich so fest, dass ich fast das Gefühl habe, dass sie mich nie wieder loslassen wird, doch dann tut sie es zu meinem Leidwesen doch und fragt: "Seid ihr bereit?" Alle nicken, doch bevor wir uns zur Teleportation bereit machen können, deutet sie auf Miles. Aria ergreift schnell das Wort: "Ach so, ja das ist Miles. Er kommt mit! Die restlichen Fragen beantworten wir später. Los jetzt!" Hilley ist damit jedoch nicht zufrieden und sieht uns misstrauisch an. Annabeth reicht die Antwort aber augenscheinlich, weshalb sie ihre Hände ausstreckt. Bevor Hilley noch weitere Fragen stellen kann, packt Aria Hilley und Miles an den Händen, während ich Miles und Annabeth eine Hand reiche. Annabeths letzte Hand wird in Hilleys gelegt, sodass sich ein Kreis bildet. Nur wenige Sekunden später sind wir verschwunden.
Eine zehntel Sekunde und wir stehen wieder auf der Wiese mit dem hohen Gras vor Hilleys Haus. Ich lande auf dem Boden und meine Füße geben nach. Meine Beine fühlen sich wie Pudding an und ich bleibe erst kurz liegen. Ich sehe den großen Baum, auf dem Aria und ich gesessen haben, bevor wir zu dieser Mission, von der wir nun endlich zurück sind, aufgebrochen sind. Einige Blätter fallen hinab und ich beginne darüber nachzudenken, dass ich hier auch einfach liegen bleiben und verhungern oder verdursten könnte. Ich betrachte meinen schwarzen Ärmel, der ein wenig zu groß für meinen Arm ist. Der Duft des Grases, auf dem ich liege, steigt mir in die Nase und drehe mich auf den Rücken. Neben mir liegen Aria und Miles. Beide scheinen genauso geschafft zu sein wie ich. Liegt das daran, dass die Tage dort so anstrengend waren? Ich hatte gar nicht gedacht, dass ich so müde sein würde, wenn ich wieder zurück bin. Plötzlich tritt Hilley neben mich und ich erschrecke mich fürchterlich. Irgendwie war ich gerade völlig in Gedanken und nun bin ich zurück. Hilley reicht mir die Hand, während Annabeth Aria und Miles hoch hilft.
Als ich wieder auf meinen Beinen stehe, blicke ich zur Tür. Dort auf der Veranda sitzt Ruby. Ihr Arm befindet sich nach wie vor in der Schiene, obwohl doch eigentlich schon viel Zeit vergangen ist. Der Blick des Mädchens ist auf mich den Boden gerichtet, als wir uns jedoch langsam in ihre Richtung aufmachen, hebt sie den Kopf und macht sich auf den Weg zu uns.
Auf dem halben Weg treffen wir uns und Ruby mustert uns. Wir sehen wohl miserabel aus. Das sagt jedenfalls ihr Blick. "Ist was?", frage ich sie deshalb. "Ihr seht mies aus", sagt sie einfach ohne Umschweife: "Nicht, dass ihr jemals gut aussaht, aber ihr wirkt total bleib und seid echt schlecht gekleidet." Ich seufze und verdrehe instinktiv die Augen. Das ist Ruby wie wir alle sie kennen und lieben. Hilley wirft Ruby einen mahnenden Blick zu: "Willst du nicht lieber fragen, wie es den anderen ergangen ist?" Ruby wirkt genervt, tut es aber: "Wie war's? Habt ihr wenigstens eure Mission geschafft?" "Ja haben wir. Es war ehrlich gesagt sogar gar nicht wirklich schwer", erwidere ich. Wenn ich nun genau darüber nachdenke, ist es viel zu leicht gewesen, wenn man bedenkt, dass es eine Schule voll mit mächtigen Kindern gibt. Da fällt mir plötzlich wieder ein, wie die Leute im Institut es wohl gemacht haben. Sie haben uns jeden Abend weiße Tabletten gegeben, die wir unter Aufsicht nehmen mussten. Erst wenn man sie geschluckt hatte, durften wir gehen. Ich habe es irgendwie geschafft die Tablette unter meiner Zunge zu verstecken und dann meine eigene Spucke hinunterzuschlucken, sodass ich gehen durfte. Als ich dann draußen war, bin ich immer schnell zu meinem Zimmer verschwunden. Dort angekommen, habe ich die Tabletten dann ausgespuckt und in meinem Kissenbezug versteckt.
"Und wer ist das?", fragt Ruby nun ein wenig interessierter und mustert Miles. Wieso fragt sie das so komisch?
"Ach ja, das ist Miles", erkläre ich: "Er hat uns geholfen zu entkommen." "Nachdem ich euch beim Klauen erwischt habe", ergänzt der Junge. Aria und ich verdrehe gleichzeitig die Augen. Ist das sein Ernst? Das hätte er nicht unbedingt erwähnen müssen.
"Er hat euch erwischt?", fragt Hilley überrascht und wütend zugleich: "Das reicht. Dieser Junge muss sofort gehen."
"Was?", fragt Miles: "Die beiden haben mir versprochen, dass ich hier bleiben darf."
"Das ist nicht mein Problem! Ich kann echt nicht noch mehr Probleme gebrauchen, also verschwinde einfach", Hilley ballt die Hände zu Fäusten und schaut Aria und mich wütend an. Uns ist klar, dass sie es uns übel nimmt, dass wir ihm etwas versprochen haben, womit sie nicht zufrieden ist.
Miles ist sprachlos und versucht etwas zu sagen, doch ich unterbreche ihn.
"Wir haben es ihm versprochen und ich halte meine Versprechen immer, Hilley", sage ich ernst. Aria steht hinter mir: "Ich auch."
"Das ist mir egal. Er geht!"
"Warum denn?", fragt nun auch Ruby, die Miles interessiert mustert. Wieso hat sie so ein starkes Interesse an ihm.
"Ich muss mich vor euch nicht rechtfertigen. Ich bin hier die Erwachsene und an meine Regeln haltet ihr euch gefälligst", sie wird nun wirklich wütend.
Langsam sind Aria und ich vorm Verzweifeln. Was hat sie gegen ihn?
"Bitte! Sag uns doch wenigstens wieso er nicht hier bleiben darf", fordere ich. In meiner Stimme ist zu hören, wie wichtig das Ganze für mich ist. So gut es geht, versuche ich meine Versprechen immer zu halten und mich ehrenhaft zu verhalten, aber sie macht es mir total schwer, ohne mir ihren Grund zu nennen.
"Na gut, dann lässt ihn in unser Haus, aber es wird euch noch leidtun, wenn er einmal sein wahres Gesicht zeigt", erklärt Hilley und legt den Kopf fordernd schief.
"Super", Ruby nimmt Miles Hand und zieht ihn mit sich: "Komm mich. Ich zeige dir das Haus!"
Als sie verschwunden sind, wirft Hilley uns einen enttäuschten Blick zu: "Merkt euch eins. Ich habe es euch vorher gesagt." Dann verschwindet auch sie.
Ich blicke meine Partnerin fragend an: "Was hat sie gegen ihn?" "Ich habe keine Ahnung!", erwidert diese nur ratlos. Wir beide blicken unseren Mitbewohnern und Freunden fragend hinterher.
Eine Woche ist vergangen, seit wir vom Institut zurückgekehrt sind und wir stehen zu viert in einem Kreis auf dem Feld hinter Hilleys Haus. Miles sitzt auf einem großen Stein ein Stück von uns entfernt und beobachtet uns mehr oder weniger interessiert. Hilley neben uns und blickt in die Runde: "Aria, du fängst an!"Aria nickt und tritt in die Mitte des Kreises. Daraufhin schließen wir den Kreis wieder. "Ihr wisst, was jetzt zu tun ist?", fragt die Erwachsene weiter. Alle nicken. Ich gehe alles nochmal durch. Einer stellt sich in den Kreis und die anderen beginnen die Person im Inneren des Kreises anzugreifen. Diese Person muss dann versuchen die Attacken der Anderen abzuwehren. Wenn, in diesem Fall Aria, es nicht schafft sich zu verteidigen, muss ein anderer in den Kreis. Vorher haben wir auch noch abgesprochen, dass den anderen erst mal nicht so hart angreifen wie möglich, da sie sich ja nicht richtig verletzen soll. Miles sollte eigentlich auch mitmachen, aber aus einem Grund, den er uns nicht mitteilen wollte, hat er sich geweigert. Ich hätte gerne den Grund gewusst, doch auch mir hat er diesen nicht mitgeteilt.
"Konzentrierst du dich, Stella?", fragt Hilley mich, da ich wohl nicht so auszusehen scheine. Schnell verlasse ich meine Gedankenwelt wieder und richte meinen Fokus auf die Übung.
"Ja, tut mir leid."
Aria begibt sich in eine Kampfposition. Eine Hand streckt sie nach vorn und streckt deren Handfläche nach vorn, fast wie im Karate, während sie die andere Hand zu einer Faust ballt und zur Verteidigung ein Stück weiter hinten hält. Sie scheint wirklich zu wissen, was sie da tut.
"Ich bin bereit."
Nun begeben auch wir uns in Kampfposition. Ruby, die ihren Arm wieder richtig bewegen kann, richtet beide Handflächen auf Aria, während ich mich so wie das brünette Mädchen im Kreis positioniere. Hilley stellt sich so hin, als würde sie im nächsten Moment lossprinten.
"Okay, drei ...zwei ...eins. Los!"
Auf das Stichwort hin, schließe ich selbst meine Augen und konzentriere mich auf das Fass voll mit Wasser neben mir, was es mir erleichtern soll meine Kräfte einzusetzen, da ich noch nicht stark genug bin selbst welches zu erzeugen. Hilley hat mir erklärt, dass der Wasserkristall mir das zwar erleichtern und mir mehr Kraft verleihen könnte, doch diesen möchte sie mir erst überlassen, wenn ich meine eigenen Blockaden überwunden habe, obwohl ich keine Ahnung habe, was sie meint. Als ich sie darüber aufklärte, meinte sie nur, dass ich wissen würde, was das zu bedeuten hat, wenn es soweit ist.
Wie auf einen stillen Ruf hin, öffne ich meine Augen in genau dem Moment in dem das Wasser aus dem hölzernen Fass schießt und mit geballter Kraft auf meine Freundin zurast. Zur selben Zeit beginnen sich auch in Rubys Händen flammend rote Feuerbälle zu bilden, die sie auf das Mädchen im Kreis wirft. Diese weicht jedoch geschickt aus. Auch mein Wasser hält sie wie von Zauberhand auf. Kurz bevor es sie an dem Hinterkopf trifft, wird es abgelenkt und wird auf mich zurückgeworfen, wodurch ich in Sekundenschnelle von oben bis unten durchnässt da stehe. Verwundert und gleichzeitig überrascht stehe ich da und blicke Aria an, die mir nur verschmitzt zuzwinkert. Genau in dem Moment, in dem das Wasser aufgehalten wurde, hatte ich eine weiße Barriere wahrgenommen, die für wenige Sekunden auf glimmte, bevor sie das Wasser zurückwarf. Hat Aria etwa einen teilweise unsichtbaren Schutzwall aus Wind um sich herum gebildet?
Ohne sie weiter anzugreifen, starre ich auf die Barriere, die nun immer sichtbarer wird. Jedes Mal, wenn einer von Rubys Feuerbällen auf die Barriere trifft, wir ein weiteres Stück sichtbar und der Ball wird stärker zurückgeschleudert, wenn man eine Stelle zweimal trifft. Mit der Zeit muss nicht mehr Aria ausweichen, sondern Ruby, woraufhin Aria den Triumph in ihrem Gesicht nicht mehr verstecken kann. Ich selbst bin aber einfach nur sprachlos. Das ist total faszinierend. Kann ich sowas auch? Auch der Wind um Aria herum beginnt stärker zu pusten und an uns zu ziehen.
Plötzlich räuspert sich jemand hinter uns und beginnt mit einer mir unbekannten weiblichen Stimme zu sprechen: "Da scheine ich ja genau im richtigen Moment hier eingetroffen zu sein!"
Wir alle richten unsere Blicke im selben Moment auf die unbekannte Person hinter uns und nicht nur mir stockt der Atem.
Dort steht ein Mädchen etwa im selben Alter wie die anderen Erbinnen und ich selbst. Sie hat ihr schwarzes Haar zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, die sie ein wenig wie Medusa aussehen lassen. Ihre Haut ist hell und ihre Augen sind braun wie die Erde unter meinen Füßen, aus der das helle Gras sprießt. Sie trägt einen schwarzen Pulli, der von einer braun-gelben Strickjacke ein Stück weit verdeckt wird. Auch ihre Hose ist schwarz und ihre Füße stecken in dunklen Lederstiefeln. Über ihre Schulter hat sie einen alten Sack geworfen, der mit einigen Sachen vollgestopft zu sein scheint.
"Wer bist du?", frage ich, da ich selbst mich als erste fange, während Aria, Hilley und Ruby das Mädchen weiterhin nur anstarren. Miles hingegen scheint sich jedoch gar nicht für sie zu interessieren. Er starrt nur durch die Landschaft.
"Ich bin Sarah Montgomery", stellt sie sich vor, woraufhin Hilley nach Luft schnappt: "Und ich bin deine Schwester, Stella!"
Mir stockt der Atem und das Herz springt mir fast aus der Brust, während sich in meinem Hals ein großer Kloß bildet. Kann es wirklich möglich sein, dass das Mädchen dort meine Schwester ist?
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2018
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