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Der Frosch auf der Matte

„Nein, Sara, ich kann dir da auch nicht… Nein. Frag ihn doch einfach.“

Emma Scott kramte hektisch in ihrer großen Umhängetasche nach dem Wohnungsschlüssel. Das Handy hatte sie zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt und versuchte den jammernden Ausführungen ihrer kleinen Schwester über ihre neuesten Eskapaden zu folgen, während sie gleichzeitig eine prall gefüllte Papiertüte mit Lebensmitteln unter ihrem Arm balancierte.

Ihre langen, schwarzen Locken hingen ihr wirr um das fein geschnittene Gesicht und ihre dunkelblaunen Augen blitzten verärgert.

Fünf Stockwerke! Fünf Stockwerke hatte sie sich mitsamt der Tüte und ihrer kleinen Schwester am Telefon hochgequält und dann reagierte kein Schwein auf ihr wiederholtes Klingeln. Dabei war sie sich sicher, dass zumindest Alex Zuhause war.

„Emma?“, krakelte ihre Schwester. „Hörst du mir überhaupt zu?“

Frustriert stellte Emma die Papiertüte ab, wobei sie sie mehr an der Wand nach unten gleiten ließ, als dass sie sie tatsächlich abstellte und richtete sich auf.

„Ja doch! Ich habe dir schon die ganze Zeit zugehört, aber ich habe alle Hände voll und dein Bruder ignoriert mein Klingeln. Und ich finde den verdammten Schlüssel nicht!“ Emma konnte sich gerade noch beherrschen. Andernfalls hätte sie der grün lackierten Tür, die mit bunten Namenszügen verziert war, einen Tritt versetzt.

Sara lachte kurz. „Alex hat bestimmt wieder die Musik aufgedreht und schnippelt an irgendeinem Holzblock herum.“

Emma schnaubte nur. Erneut kramte sie in ihrer Tasche.

„Habt ihr jetzt eigentlich einen Nachmieter für John?“, wollte Sara wissen.

„Ne, noch nicht. Aber Lisa hat da wohl was in die Wege geleitet. Irgendwann heute oder morgen kommt jemand zum Anschauen vorbei.“

Emma gab es endgültig auf und ließ sich auf dem Frosch nieder, der ihre Fußmatte zierte. Henry war der Ansicht, dass man auch bei der Fußmattenauswahl nicht auf ein gewisses Maß an Ästhetik verzichten sollte. Am Ende war es ihnen allen egal gewesen, wie die blöde Fußmatte aussah. Sie wollten nur endlich nach Hause und dem völlig überfüllten Möbelhaus den Rücken kehren. Dementsprechend hatte auch niemand lange mit Henry diskutiert, als der sich endlich für eine entschieden hatte. Jetzt grinste die Besucher halt ein Frosch an, der farblich aber wirklich haargenau zu der Tür passte, die Alex so liebevoll bepinselt und jeden ihrer Namen mit bunter Farbe verewigt hatte.

Emma lehnte sich mit einem dankbaren Aufseufzen gegen eben jene Tür und schloss die Augen. Einkaufen konnte schon anstrengend sein. Vor allem, wenn man mit dem WG-Einkauf dran war.

„Wer ist es denn?“

„Hm?“

„Mensch, Emma, schläfst du?“

„Nein, ich warte und entspanne. Das ist ein Unterschied und auf jeden Fall besser, als die Tür einzutreten.“

„Also?“

„Was also?“ Emma stellte das Handy auf Lautsprecher und legte es neben sich, bevor sie sich einmal ausgiebig streckte.

„Ob du schon weißt, wer es ist?“

„Ne, wie gesagt, Lisa hat das in die Wege geleitet. Ich glaube, sie hat bei ihrer Bank einen Aushang gemacht. Hoffentlich ist es nicht einer ihrer Nobelkunden.“

„Keine Angst, Schwesterherz, wenn es tatsächlich so einer sein sollte, kommt er noch nicht mal bis in die Küche. Er wird nur euren Flur sehen und wieder kehrt machen.“

„Du kamst einfach überraschend“, wies Emma den kaum versteckten Vorwurf von sich. „Hätten wir gewusst, dass Besuch kommt, hätten wir aufgeräumt. So bist du halt einen Tag zu früh gekommen und außerdem haben wir nicht jeden Tag so viele Pakete im Flur stehen. Henry bestellt nicht immer so viel Krempel.“

„So viel Krempel? Mit seiner Bestellung hat er Amazon für einen Tag lahm gelegt“, scherzte Sara und Emma musste grinsen.

„Okay, er hatte wirklich viel bestellt. Aber ich bin sowieso gerade mit Aufräumen beschäftigt. Du hast mich gerade beim Großeinkauf erwischt.“

„Na, wir werden sehen, wie wirkungsvoll diese Aufräumaktion ist. Zu aufgeräumt sollte es auf jeden Fall nicht sein. Euer potenzieller neuer Mitbewohner bekommt sonst einen falschen Eindruck.“

„Haha.“

„So, Schwester, ich muss dich jetzt abwürgen. Dad ist gerade gekommen und will irgendwas. Bis dann und gib Alex einen Kuss von mir, ja?“ Und damit hatte sie aufgelegt.

Sekundenlang starrte Emma ihr vor sich hin tutendes Handy an, bevor sie es schließlich ausstellte. Das war typisch Sara. Wahrscheinlich zeigte sich das italienische Erbe ihrer Mutter nicht nur in den schwarzen Haaren, die alle Geschwister geerbt hatten, sondern auch in ihrem Temperament. Fairerweise musste man zugeben, dass diese temperamentvollen Gene nur auf den weiblichen Teil von Sophia Scotts Nachkommen übergesprungen waren. Alex war dem Wesen nach eher nach ihrem Vater geraten. Zurückhaltend, still und leidenschaftlich, wenn es um etwas ging, das ihm wirklich am Herzen lag. Wie seine Kunst. Und die Musik, die er in diesem Moment wahrscheinlich wieder so laut aufgedreht hatte, dass er nichts von seiner Umgebung mit bekam und erst recht die Türklingel überhörte.

Resigniert sah Emma auf ihre Armbanduhr. Halb vier. Na, dann konnte es noch eine halbe Stunde dauern, bis Henry oder Travis nach Hause kamen. Lisa hatte heute lange Dienst und kam vermutlich nicht vor sieben aus der Bank.

Zum Glück musste sie heute nicht mehr an die Uni. Die letzte Vorlesung für heute hatte sie erfolgreich hinter sich gebracht und war danach gleich zum Einkaufen gegangen. Und nun saß sie hier. Und wartete. Und fragte sich, wo zum Teufel sie den Schlüssel gelassen hatte. Und verfluchte ihren Bruder.

Alex war ein ruhiger Zeitgenosse. Er hatte eine Schreinerlehre gemacht und sogar eine Zeit lang als Schreiner gearbeitet. Vor einem Jahr, an seinem vierundzwanzigsten Geburtstag hatte er dann ganz ruhig verkündet, dass er seinen Job gekündigt hatte. Statt nach den Plänen seines Chefs irgendwelche Tische anzufertigen, wollte er sich lieber auf die künstlerische Verarbeitungsweise von Holz spezialisieren.

Das hatte niemanden groß überrascht. Weder seine Schwestern, noch seine Eltern. Ihnen allen war klar gewesen, dass in Alex ein Künstler steckte, der seine Freiräume brauchte. Schon als kleines Kind hatte er mit einem stumpfen Taschenmesser an Ästen herumgeschnitzt, bis sie seiner Vorstellung entsprachen. Auf diese Weise waren seine Schwestern in den Besitz ihrer ersten Holzfiguren gekommen. Eine Sammlung, die sich im Laufe der Zeit immer weiter vergrößert und deren Bestandteile immer kunstfertiger geworden waren.

Überrascht hatte Alex sie allerdings damit, dass er Boston den Rücken kehrte und in die WG seiner Schwester nach Chicago zog. Er wollte etwas ganz Neues. Weg von Zuhause und seinem Zimmer unter dem Dach.

Ihre Eltern hatten es verstanden und Emma war froh, dass sie wenigstens einen kleinen Teil ihrer Familie bei sich hatte.

Nun arbeite Alex als Barkeeper in einer Disco. Schlug sich die Nacht um die Ohren, schlief, wenn alle anderen gerade aufstanden und widmete sich dann seiner Kreativität. Wobei er die Musik so laut aufdrehte, dass es an ein Wunder grenzte, dass er noch keinen Hörschaden hatte. Er war halt ein Charakter für sich, der sich mit wirklich jedem gut verstand. Außer vielleicht mit Henry.

Henry wohnte neben Emma am längsten in der WG. Seit knapp zwei Jahren. Er war Friseur. Ein Beruf, der wie auf ihn zugeschnitten war. Denn das, was Alex schwieg, plapperte Henry fröhlich vor sich her. Seine Kundinnen liebten ihn. Sowohl wegen seiner offenen und fröhlichen Art, als auch wegen seines Aussehens.

Henry sah wirklich gut aus, dachte Emma schmunzelnd. Er war dreiundzwanzig, also nur ein Jahr älter als Emma, sah aber schon wesentlich reifer aus, als es bei Männern in diesem Alter üblicherweise der Fall war. Nicht, dass er alt wirkte. Um Gottes willen, nein. Aber er hatte etwas an sich, das ihn älter erscheinen ließ.

Nach eingehenden Studien, war Emma zu dem Schluss gekommen, dass es an seinen Augen lag. Genauso wie sie, hatte er blaue Augen, wobei seine einen Tick heller waren, als ihre. Aber es war nicht die Farbe, die einem auffiel. Es war der Ausdruck in ihnen, der ihn älter wirken ließ. Sie zeugten von Erfahrung, Wut und Traurigkeit, die verhinderten, dass seine Augen bei einem Lächeln richtig strahlten. Kurzum: Ein wahrer Frauenmagnet. Dummerweise war er schwul.

Trotz allem war er ein lebenslustiger Mensch und für Emma zu einem guten Freund geworden, auf den sie für nichts in der Welt verzichten wollte. Sie konnte mit ihm über alles reden. Nur seine Familie war ein Tabuthema, um das er einen großen Bogen machte. Emma akzeptierte das.

Was sie jedoch nicht akzeptierte, beziehungsweise nicht richtig verstand, war die Tatsache, dass Alex und Henry nicht wirklich grün miteinander wurden. Von Anfang an herrschte eine Kluft zwischen ihnen. Besonders am Anfang musste Emma immer und immer wieder zwischen den beiden Streithähnen vermitteln, um des lieben Friedens willen.

Mehr als einmal hatte Henry Alex Homophobie vorgeworfen, was dieser ganz entschieden von sich wies. Auch Emma konnte da nur müde lächeln. Alex war wirklich der letzte, der damit ein Problem hatte. Sein bester Freund Zuhause war auch schwul gewesen und Alex hatte sich immer auf dessen Seite gestellt, auch als er in der Schule deswegen ordentlich zu leiden hatte. Kinder konnten grausam sein. Doch auch diese Zeit hatte die Freundschaft von Alex und Malcom überstanden und bis heute riefen sie sich mindestens einmal die Woche gegenseitig an.

Emma war zu dem Schluss gekommen, dass es einfach an ihren gegensätzlichen Charakteren lag. Alex introvertiert und eher ernst, Henry extrovertiert und immer zu einem Spaß aufgelegt. Einmal hatte er Alex` Haare leuchtend rot gefärbt. Seitdem ließ Alex ihn nicht mehr an seine Haare und bezahlte lieber für den Friseur, als es so zu machen, wie alle WG-Bewohner und einfach Henry schnippeln zu lassen.

Und Henry hatte wirklich Talent. Er verstand sein Handwerk. Er hatte selbst Lisa zu einer Frisur verholfen, bei der sie nicht jeden Morgen vor dem Spiegle Selbstmord begehen wollte. Lisa war so alt wie Henry, allerdings alles andere als selbstbewusst. Sie fühlte sich zu dick und setzte sich regelmäßig auf Diät. Dass ihre Haare so rot und unbändig waren, half da auch nicht weiter. Komischerweise hatte sie sich gegen dien Spitznamen Hexe, der ihr liebevoll von Henry verpasst worden war, noch nicht zur Wehr gesetzt. Wahrscheinlich weil sie wusste, dass er nicht böse gemeint war.

Lisa arbeitete bei der Bank und hatte ihre Haare irgendwann nur noch lieblos zusammengebunden, damit sie das Gesamtbild der geschäftsbewussten Bankkauffrau im schicken Kostüm nicht vollends ruinierten.

Henry hatte sich das genau zwei Tage lang angesehen und dann hatte er sie eines Abends abgefangen und war mit ihr im Bad verschwunden. Zwei Stunden später kam Lisa mit einem völlig veränderten Haarschnitt heraus. Ihre Haare waren immer noch wild und unbändig, aber jetzt wirkte es so, als wäre es gewollt und brachte ihr rundliches Gesicht gut zur Geltung.

Henry war äußerst zufrieden mit sich.

Der letzte im Bunde ihrer momentanen fünfer WG war Travis.

Der Medizinstudent war das Nesthäkchen der WG und wurde dementsprechend umsorgt und betüddelt. Vor allem von Lisa und Emma, obwohl die noch nicht einmal ein Jahr älter war. Klaglos ließ er diese Zuwendungen über sich ergehen, auch wenn er dafür von den Jungs die ein oder andere spöttische Bemerkung in Kauf nehmen musste. Er war einfach zu gutherzig.

Emma grinste noch breiter.

Er war der ruhende Pol der WG. Er verstand sich mit jedem und wurde von jedem gemocht. Er hörte sich die Beschwerden, Klagen und Streitigkeiten seiner Mitbewohner an und das ein oder andere Mal schaffte er es sogar zu schlichten.

Jetzt musste nur noch das leere Zimmer von John besetzt werden. Emma war gespannt, was dort für ein Vogel einziehen würde. Hoffentlich brachte er das WG Leben nicht zu sehr durcheinander.

Wieder sah sie auf die Uhr. Kurz nach vier.

Jetzt sollte aber wirklich bald mal jemand kommen. Der Frosch war nicht so gemütlich, wie er aussah. Wieder klingelte ihr Handy. Zum Glück hatte sie diesmal keine kiloschwere Tüte zu schleppen.

Das Display verriet ihr, dass es Lisa war. Komisch. Die sollte doch jetzt eigentlich arbeiten?

„Hallo, Hexe, was gibt es denn?“

„Emma, gut, dass ich dich erreiche. Ich wollte eigentlich nur fragen, wie es mit der Besichtigung gelaufen ist. Nimmt Logan das Zimmer?“

„Besichtigung? Wer ist Logan?“ Emma runzelte die Stirn.

„Ich hab` dir doch erzählt, dass ich hier einen Aushang am Schwarzen Brett gemacht habe.“

„Ja und?“

„Na daraufhin hat sich dieser Logan gemeldet und Alex hat sich bereit erklärt, ihm die Wohnung zu zeigen.“ Lisa klang leicht gehetzt. Wahrscheinlich hatte sie sich mal wieder auf der Toilette verbarrikadiert, damit sie auch ja niemand telefonieren sah. Emma würde es auch nicht wundern, wenn sie mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel hockte. Natürlich erst, nachdem sie ihn mit einem ihrer Desinfektionstücher gereinigt hatte.

„Alex wollte das machen?“ Emma ließ den Zweifel in ihrer Stimme deutlich mitschwingen. Immerhin saß sie gerade vor verschlossener Tür.

„Ja, er hat mir vorhin eine SMS geschrieben. Du meinst, er hat es vergessen?“ Nun klang Lisa nicht nur leicht gehetzt, jetzt gesellte sich auch noch ein Schuss Panik in ihre Stimme. Sie war der pünktlichste und zuverlässigste Mensch, den Emma kannte. Wahrscheinlich, weil sie in der Bank on einem Termin zum anderen huschte.

Sie hatte sogar mal ihrem Tennislehrer, nachdem sie ihn versehentlich abgeschossen hatte, eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung schmackhaft machen wollen. Außer einem gewaltigen blauen Fleck ist bei dieser Verhandlung aber nicht viel rausgekommen.

„Hm, nein. Das hat er bestimmt nicht“, beruhigte Emma die Freundin. Es half ja nichts, wenn die sich jetzt verrückt machte.

„Hör zu, Lisa, du gehst jetzt an die Arbeit und ich kümmere mich drum, sobald ich zu Hause bin.“

„Danke, Emma. Bis heut Abend.“ Damit legte Lisa auf und Emma hielt zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde ein tutendes Handy an ihr Ohr. Sie hatte es gerade wieder eingesteckt, als die Tür in ihrem Rücken mit einem Ruck geöffnet wurde.

Wie ein gefällter Baum kippte Emma nach hinten und landete mit dem Rücken auf dem bunten Flickenteppich des Flures.

„Au. Verdammter Mist“, fluchte sie und sah vorwurfsvoll nach oben.

„Emma?“ Das Gesicht ihres Bruders schob sich in ihr Blickfeld.

„Nein, der Weihnachtsamann“, gab sie knurrend zurück. Ächzend rappelte sie sich auf und stellte sich vor ihren Bruder.

„Was machst du vor der Tür?“ Emma legte den Kopf leicht zurück, damit sie ihn böse anfunkeln konnte.

„Ich habe es mir auf der Fußmatte gemütlich gemacht, um endlich mal den Schal zu stricken, den ich Mum vor zwei Jahren zu Weihnachten versprochen habe“, antwortete sie sarkastisch und zog die Augenbrauen hoch.

„Ich habe geklingelt“, fuhr sie fort, bevor Alex überhaupt antworten konnte. „Zigmal. Aber du hast es ja vorgezogen, deine Schwester vor der Tür warten zu lassen.“

„Tut mir leid. Ich hatte…“

„Die Musik an“, vollendete Emma den Satz und winkte ab. „Jaja.“

Sie ging in die Hocke und hob die Einkaufstüte auf, mit der sie sich dann in dem engen Flur an ihrem Bruder vorbei drängte und geradewegs in die helle Küche marschierte.

Sie liebte diesen Raum. Das große Fenster sorgte den ganzen Tag für ausreichend Licht und die Einbauschränke passten mit ihrer Holzoptik wunderbrar zu dem alten Holztisch mit Eckbank, die Alex mühevoll restauriert hatte, nachdem sie sie auf dem Sperrmüll gefunden hatten.

Der große Kühlschrank war über und über mit Fotos bedeckt und auf einem Regal standen die Flaschen, die von der letzten Party übrig geblieben waren.

„Lisa hat angerufen und wollte wissen, wie denn die Führung gelaufen ist und wie Logan?“ Alex nickte.

„Wie Logan das Zimmer fand.“

„Mir gefällt das Zimmer. Und wenn ihr alle einverstanden seid, würde ich schon diese Woche einziehen.“

Erschrocken wirbelte Emma herum, als sie diese tiefe, leicht kratzige Stimme vernahm. Eine Hand auf ihr donnerndes Herz gedrückt, sah sie die Quelle dieser Worte an.

Er war groß, war ihre erste Assoziation. Fast einen Kopf größer als Alex. Also mindestens einen Meter neunzig. Sein muskulöser Körper wirkte nicht wie der eines Preisboxers. Eher… eher wie der eines Panthers, bevor er zum Sprung ansetzt. Er trug einfache ausgewaschene Jeans und einen dunkelblauen Pulli mit V-Ausschnitt, der seine honigblonden Haare gut zur Geltung brachte. Sie wirkten etwas zerzaust und einen Tick zu lang. Aber das würde Henry wohl schnell ändern, dachte Emma amüsiert und musste unwillkürlich grinsen. Vom Alter her schätzte sie ihn ungefähr gleich alt, wie ihren Burder. Na, das würde zumindest passen.

„Tut mir leid, du hast mich erschreckt“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Emma Scott. Die Schwester dieses Trampels mit der selektiven Hörstörung.“ Sein Händedruck war warm und fest. Angenehm.

„Freut mich, Emma Scott. Ich bin Logan Lopez und ich habe die Klingel auch nicht gehört.“ Seine Stimme klang nach wie vor kratzig.

„Na bravo. Die ersten Verbrüderungen.“ Emma seufzte übertrieben. „Das wundert mich nicht. Es ist schwer, die Klingel zu hören, wenn man die Musik so laut hört, dass die Leute unten auf der Straße anfangen zu tanzen.“

Sie hatten wenigstens den Anstand, einigermaßen schuldbewusst aus der Wäsche zu gucken.

Die goldene Regel

„Also, ich finde ihn ganz okay“, sagte Alex und schenkte sich etwas Tee nach.

Sie hatten sich alle an dem geräumigen Küchentisch versammelt. Sogar Lisa hatte es zeitlich noch geschafft, Logan unter die Lupe zu nehmen, bevor dieser dann gegangen ist, um auf den Anruf der WG zu warten.

„Also, meinen Segen hat er auch.“ Emma hielt ihrem Bruder bittend ihre Teetasse hin, sodass er augenverdrehend nochmal aufstand und ihr nachschenkte.

„Wir wissen doch gar nichts über ihn. Ist euch das mal aufgefallen? Eigentlich wissen wir nur seinen Namen, dass er beruflich viel unterwegs ist und dass er aus Texas kommt. Das ist nicht gerade viel, oder?“ Travis sah skeptisch in die Runde.

Seine braunen Augen hatten einen sehr speziellen Ausdruck. Als würde er etwas sehen, das den anderen bis dato verborgen war. Den Travis Ausdruck sozusagen.

„Ach, Spätzchen, was soll denn groß passieren?“ Henry schlang seinen Arm um Travis. Zurzeit wiesen seine wuscheligen Haare ein seltsames schwarz weiß Muster auf, das ihn aussehen ließ, wie eine Elster.

„Ich denke nicht, dass Serienkiller auf Wohngemeinschaftensuche gehen.“ Plötzlich stockte sein Atem und er krallte die Hand in Travis` Schulter.

„Oder“, hauchte er atemlos „glaubst du, er könnte den Toilettensitz nach dem Pinkeln oben lassen?“

„Spinner!“ Unwirsch schüttelte Travis seine Hand ab und schoss den anderen einen bösen Blick zu, weil se es tatsächlich wagten, zu grinsen.

„Ich sage euch, mit dem stimmt was nicht“, prophezeite er düster, bevor er entschlossen nach seiner Tasse griff und einen großen Schluck nahm.

„Ist das nicht etwas heiß?“, wollte Lisa fürsorglich wissen und Travis brach prompt in ein röchelndes Husten aus und wedelte mit der Hand vor seinem offenen Mund herum.

„Geht schon“, japste er mit hochrotem Kopf.

Das breite Grinsen in den Gesichtern seiner Mitbewohner wurde ignoriert. Emma hatte schließlich Mitleid mit ihm.

„Also, was ist nun? Ist irgendwer dagegen, dass er Johns Zimmer bekommt?“ Fragend sah sie in die Runde und nach kurzem Zögern, stimmte auch Travis in das allgemeine Kopfschütteln ein.

„Sehr gut. Ich habe nämlich keine Lust, noch einen weiteren Monat mehr zu bezahlen.“ Emma nickte zufrieden. Sie konnte sich ohnehin nicht vorstellen, dass dieser Logan so verkehrt war. Er schien sich immerhin schon mal mit Alex so gut zu verstehen, dass er dessen laute Musik ertrug und ihn vor seiner kleinen Schwester in Schutz nahm.

„So, wer ruft ihn an? Lisa?“ Emma sah zu Lisa hinüber, die immer noch über Travis Rücken strich. Sie war schon eine treusorgende Seele.

„Kann ich machen.“ Irrte sich Emma, oder wurde Lisa leicht rot.

Anscheinend nicht, denn Henry sah sie so lauernd an, wie ein Fuchs seine Beute.

„Aber nochmal eine Sache, Mädels“, setze er an und Emma ahnte, was jetzt kommen würde.

„Ihr denkt an unser goldenes WG Gesetz, oder?“

Emma schüttelte nur belustigt den Kopf, während Lisas Gesicht noch einen Touch rötlicher wurde. Der Fluch des Rotschopfes.

„Welches WG Gesetz?“, fragte Travis arglos und erntete einen nahezu entsetzten Blick von Henry.

„Na das ich-vögel-nicht-mit-Mitbewohnern-Gesetz! Hast du das wirklich vergessen? Willst du mir vielleicht was sagen?“

„Himmel, Henry, kannst du nicht ein anderes Wort benutzen, wie schlafen oder Liebe machen?“ Lisa war so genervt, dass sie sogar ihre normale Gesichtsfarbe zurückgewonnen hatte.

„Wenn ich es durch schlafen ersetzen würde, dann hätten wir hier alle ein größeres Problem. Schließlich ist jeder von euch schon mal abends in mein Bett gekrochen.“

Automatisch wanderten die Blicke der anderen zu Alex.

„Was? Mich braucht ihr gar nicht anzusehen. Henrys ‚Alle‘ schließt mich nicht mit ein.“ Er schoss Henry einen giftigen Blick zu.

„Oh verzeiht, eure Durchlauchtigkeit. Ich bitte vielmals um Entschuldigung für diesen Fauxpas.“ Der Blick, den Henry an Alex zurückschickte, war nicht minder toxisch.

„Bitte, Jungs, nicht heute Abend“, bat Emma.

„Was kann ich dafür, wenn Alessandro alles auf die Goldwaage legt.“ Emma sah Henry feixen und ihren Bruder brodeln. Was hatten die nur immer für ein Problem?

„Du sollst mich nicht immer Alessandro nennen“, fuhr Alex auf.

„Du heißt nun mal so. Beschwer dich bei deinen Eltern!“

„Jungs, es reicht!“, bellte Emma und blitzte die beiden wütend an.

„Lisa, gehst du telefonieren und sagst ihm bescheid?“

Lisa nickte und stand hastig auf. Vorher warf sie Emma noch einen dankbaren Blick zu und eilte dann aus der Küche. Sie hasste Streitereien.

Travis hatte es auf einmal auch furchtbar eilig aus der Küche zu kommen und murmelte etwas von einer Hausarbeit. Nur Alex, Henry und Emma waren in der Küche zurückgeblieben.

„Alex, musst du dich nicht fertig machen?“ Emma sah ihren Bruder an und der zückte seine Taschenuhr. Ein selten hässlicher Klunker, den er aber abgöttisch liebte. Er hatte ihn von seinem Opa zur abgeschlossenen Ausbildung geschenkt bekommen und hütete sie, wie Gollum seinen Ring.

„Verdammt“, murmelte er und stand auf. Bevor er allerdings die Küche verlassen konnte, zog Emma ihn schnell am Arm zu sich herab und gab ihm einen kräftigen Schmatzer auf die Wange.

„Der ist von Sara“, fügte sie erklärend hinzu und war erleichtert, dass langsam wieder das vergnügte Blitzen in Alex` Augen zurückkehrte.

„Ich bin dann gleich weg“, sagte Alex noch, bevor er die Küche verließ.

Emma schoss Henry einen warnenden Blick zu und der verkniff sich den Kommentar, der schon über seine Zunge rollen wollte.

„Machst du mir die Haare?“, fragte sie dann schnell und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.

„Was hast du denn heute noch vor, Prinzessin?“ Henry sah sie neugierig an.

„Ich treffe mich mit Mary, Ash und Cat. Wir wollen mal wieder einen richtigen Mädelsabend machen.“ Sie grinste.

„Mädelsabend, ich verstehe.“ Henry nickte gewichtig. „Cocktails, Musik und Kerle?“, übersetzte er schließlich.

„Du bist so ein intelligentes Kerlchen.“ Sie zwickte ihn in den Nasenrücken, bevor sie aufstand und ihn am Arm packte.

Gespielt widerwillig, ließ er sich von ihr in sein Zimmer ziehen. Dort bewahrte er nämlich sämtliche seiner Haar-Utensilien auf. Er hatte sie genau einmal im Bad liegen lassen und war anschließend entsetzt gewesen, dass sich anscheinend jeder daran vergriff, sodass er sie sorgfältig verstaut hatte. Emma bezweifelte immer noch, dass jemand so lebensmüde war und sich an Henrys heißgeliebten Bürsten, Kämmen und Lockenwicklern vergriff.

„Nehmt ihr Lisa nicht mit?“, erkundigte sich Henry beiläufig, als er seine Kommode nach brauchbarem Material durchwühlte.

Emma hörte die Besorgnis in seiner Stimme und liebte ihn dafür.

„Ich habe sie gefragt, aber sie hat wohl morgen ein wichtiges, außerplanmäßiges Kundengespräch, auf das sie sich noch vorbereiten muss. Keine Panik, wir hätten sie schon mitgenommen, wenn sie zugesagt hätte. Ich mag Lisa und es ist wirklich eine Zumutung, dass sie Samstag zur Arbeit muss.“

„Weiß ich doch.“ Mit einer Handbewegung deutete Henry auf seinen Schreibtischstuhl, auf den Emma sich bereitwillig nieder ließ.

„Ich fürchte nur, dass unsere Lisa etwas desozialisiert. Du hast neben uns noch deinen Freundeskreis an der Uni. Genauso wie Travis. Wie auch immer er das anstellen mag. Aber vielleicht ist er ja nur hier zuhause so ein Gesprächsmuffel. Anders kann ich mir dieses Phänomen sonst nicht erklären.“

„Sei nicht so gemein“, lachte Emma, weil sie wusste, dass Henry nur scherzte.

„Ich habe den ganzen Tag so viel Menschen um mich herum, dass ich abends froh bin, mal meine Ruhe zu haben und Mr. Unnahbar hat sein Holz und seine Farben. Dem würde es nicht mal auffallen, wenn wir alle für zwei Tage verschwinden würden.“

„Sei nicht so muffelig und lass meinen Bruder in Ruhe.“ Emma boxte ihm in die Seite, bevor sie sich herumdrehte, sodass Henry besser an ihre Haare kam.

„Du weißt, was ich meine. Lisa ist da anders. Sie braucht ab und an Menschen um sich herum, die wirklich sie meinen und nicht die Bankangestellte, bei der sie sich beschweren oder einen Abschluss machen wollen. Aber Lisa ist nun mal nicht so kontaktfreudig. Sie kapselt sich lieber ab, nur um ja keinen auf den Wecker zu gehen. So ist unsere Lisa. Kümmert sich um alles und jeden, vernachlässigt sich selbst aber dabei.“ Henry seufzte, während er Emmas Haare zu einem seitlichen Fischgrätenzopf bändigte.

„Du bist ein lieber Kerl, das weißt du, oder?“ Emma konnte sich nicht umdrehen, obwohl sie Henry am liebsten um den Hals gefallen wäre.

Manchmal vergaß sie, dass hinter der harten Schale aus Sarkasmus, Ironie und Witz, ein sehr sensibler Mann steckte, der sich ernsthaft für seine Mitmenschen interessierte und sich um sie kümmerte, sollte er den Eindruck haben, dass es nötig war.

„Ich weiß, ich könnte glatt in die Fußstapfen von Mutter Theresa steigen, wären meine Füße etwas kleiner und zierlicher“, scherzte er prompt und entlockte Emma damit ein Lächeln.

„Ja, du bist ein Heiliger. Aber mehr als fragen kann ich leider nicht. Und es ist ja nicht so, als würde sie sich immer abkapseln. Dass sie Logan anruft ist doch schon mal ein gutes Zeichen.“

„Jaja, dieser Logan hat es ihr offensichtlich angetan. Hoffentlich ist das nicht so ein unsensibler Herzensbrecher. Andernfalls wird der mich kennen lernen.“

„Ich bin dann mal bei der Arbeit“, erscholl Alex` Stimme im Flur und kurz darauf fiel die Wohnungstür ins Schloss.

„Verkneif es dir.“ Emma hob warnend den Zeigefinger und tatsächlich hielt Henry die Klappe. Natürlich erst, nachdem er die Luft durch die Zähne gepfiffen hatte, um zu verdeutlichen, dass er durchaus was zu sagen gehabt hätte.

„Was hast du denn heute Abend vor? Schließlich ist Freitag. Kein heißes Date?“ Emma wechselte bewusst das Thema.

„Ne, ich bleibe heute mal ganz brav zuhause.“

„Was ist denn aus dem Maler geworden, der letzte Woche noch hier ein und aus gegangen ist?“

„Keine Ahnung. Der hat von heute auf morgen nichts mehr von sich hören lassen. Wirklich seltsam.“ Nachdenklich wickelte er das Haargummi um das Zopfende und reichte Emma den Spiegel.

„Und? Wie gefällt es dir?“

Emma grinste zufrieden. Der schwarze Zopf floss förmlich über ihre Schulter und bildete einen herrlichen Kontrast zu ihrem hellblauen Pulli und den dunkelbauen Augen.

„Du hast dich mal wieder selber übertroffen, Maestro“, flötete Emma und lachte dann auf.

„Ich finde es großartig. Danke, Henry.“

„Nichts zu danken, Prinzessin.“

Emma drehte sich mit dem Stuhl herum und beobachtete Henry, wie er seine Utensilien verstaute.

„Willst du nicht mit uns kommen?“

„Ne du, lass mal. Einen Mädelsabend muss ich mir nicht antun. Außerdem würdest du mir jeden heißen Kerl vor der Nase wegschnappen und ich würde heute Abend völlig gefrustet und allein in mein Bett fallen.“

„Als ob ich dir einen Typen ausspannen könnte“, murmelte Emma.

Henry sah einfach gut aus. Daran taten seine Elsterhaare keinen Abbruch. Trotz seiner eins achtzig, wirkte seine Figur feingliedrig und schmal. Dabei aber nicht zerbrechlich. Er war geschmeidig wie eine Katze und Emma wusste, dass er regelmäßig ins Fitnessstudio ging und seine Runden im Park drehte.

Manchmal, wenn der innere Schweinehund nicht zu groß war, begleitete sie ihn sogar hin und wieder auf seinen Joggingrunden. Zu oft tat sie sich das allerdings nicht an. Dafür war die vierbeinige Bestie in ihr einfach zu willensstark und verlangte statt einer morgendlichen Runde Jogging, lieber eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee.

„Na los, mach, dass du fertig wirst. Deine Mädels warten doch bestimmt schon, oder?“

Emma streckte ihm die Zunge raus. Sie neigte halt hin und wieder zur Unpünktlichkeit, was er nie müde wurde, zu betonen.

„Danke nochmal“, rief sie ihm zu und verließ das Zimmer.

Auf dem Flur begegnete sie Lisa, die mit roten Wangen gerade ein Telefonat beendete.

„Das war Logan“, verkündete sie lächelnd.

„Ach sag bloß“, erwiderte Emma trocken.

„Ja, er wird wohl morgen schon versuchen, einen Großteil seiner Sachen hierher zu bringen. Allerdings weiß er nicht genau, wann er es schafft. Er meldet sich vorher nochmal und schaut, ob wer da ist, der ihn rein lassen kann. Am besten wir legen Johns Schlüssel gleich in das Zimmer. Dann kann er kommen und gehen, wie es ihm gefällt, ohne das Gefühl haben zu müssen, uns auf die Nerven zu gehen.“

„Okay. Ist gut. Ich bin morgen wahrscheinlich sowieso den ganzen Tag hier. Das dürfte kein Problem werden.“ Emma dachte nach und ging kurz ihren Plan für den morgigen Tag durch. Außer Schlafen, Essen und Hausarbeit stand allerdings nicht viel auf dem Programm.

„Doch, ich bin da.“ Sie lächelte Lisa zu.

„Oh, das ist gut. Ich habe doch morgen dieses Gespräch.“ Lisa verdrehte die Augen und verschwand dann immer noch lächelnd in ihrem Zimmer.

 

Eine Stunde später saß Emma zwischen Ashley und Cat und nippte an ihrem Cocktail, während sie Mary dabei beobachtete, wie sie immer wieder betont unauffällig zur Bar schielte, hinter der Alex stand und gekonnt die Flaschen durch die Luft wirbelte.

„Ich wusste gar nicht, dass mein Brüderchen eine Bewunderin hat“, sagte sie kichernd zu ihren beiden Freundinnen, die sich genauso über die schmachtenden Blicke amüsierten, wie Emma.

Dabei konnte Mary einem leid tun. Emma wusste normalerweise immer, wenn Alex Interesse an einer ihrer Freundinnen hatte. In diesem Fall hatte er jedoch nichts erwähnt.

„Hat Alex eigentlich eine Freundin?“, fragte Mary, nachdem sie sich für einen Moment von ihrem Objekt der Begierde losgerissen hatte.

Emma verbarg ihr Schmunzeln hinter ihrem Glas.

„Ähm, nein. Schon seit fast einem Jahr nicht mehr. Momentan hat er dafür aber sowieso nicht viel übrig, weil er sich Tag und Nacht seinen Skulpturen widmet. Er hat ein kleines Geschäft gefunden, wo er sie ausstellen darf. Mal sehen, ob sie bei den Leuten ankommen.“

Emma war immer noch ziemlich stolz auf ihren Bruder, dass er diese Angelegenheit tatsächlich anging.

„Oh, da habe ich keinen Zweifel. Seine Figuren sind doch so toll. Vor allem die Katze, die er dir geschnitzt hat, ist ein absolutes Meisterwerk“, schwärmte Mary und verstummte beleidigt, als Ashley in ihren Cocktail prustete.

„Ihr habt ja keine Ahnung.“ Nun schmollte sie und beobachtete lieber den attraktiven Barkeeper.

„Leute, schaut mal, der ist ja heiß.“ Cat bekam große Augen und stellte hastig ihren Cocktail ab, um irgendjemanden hinter Emmas Rücken zu beobachten.

„Den nehme ich“, markierte Cat sogleich ihr Revier und Emma verdrehte die Augen. Sie hatte das noch nie verstanden. Hatte der Typ da nicht auch ein Wörtchen mitzureden?

„Emma, ich habe ihn zuerst gesehen“, sagte Cat vorwurfsvoll.

„Ich mach doch gar nix.“ Perplex drehte Emma sich um und sah, wen Cat so interessiert begutachtete.

„Aber er schaut dich an. Lass bloß die Finger von ihm“, wiederholte Cat nachdrücklich.

„Keine Angst, Cat, ich komme dir nicht in die Quere. Du kennst doch die goldene Regel unserer WG.“

„Häh?“ Verwirrt schaute Cat Emma an und auch Ashley runzelte die Stirn.

„Keine sexuelle Beziehung zu einem Mitbewohner“, ratterte sie schnell herunter, bevor sie aufsah.

„Hallo, Logan.“

Der Morgen danach

„Guten Morgen!“ Henry grinste leicht schadenfroh, als er Emma dabei beobachtete, wie sie in die Küche schlich. War wohl etwas länger geworden am Abend zuvor.

„Morgen“, muffelte sie und griff zielstrebig nach der Kaffeekanne, die er in weiser Voraussicht bereits aufgesetzt hatte.

Er beobachtete, wie sie seufzend die Augen schloss und sich ganz dem Genuss des ersten Schluckes hingab, bevor sie sich zu ihm ins Wohnzimmer gesellte. Äußerst vorsichtig ließ sie sich auf die breite und urgemütliche Couch sinken, immer darauf bedacht, ihren Kopf möglichst wenigen Erschütterungen auszusetzen.

„Ich habe Kopfschmerzen“, teilte sie ihm überflüssigerweise mit.

Henry zog die Augenbrauen hoch und lächelte spöttisch. „Was du nicht sagst, Prinzessin.“

„Ich bin momentan nicht empfänglich für deinen Sarkasmus.“ Stattdessen trank sie noch einen Schluck und lehnte sich zurück. Ihre Beine, die noch immer in einer gemütlichen Schlabberhose steckten, zog sie zu sich heran in einen Schneidersitz.

„Ich habe dich gar nicht mehr gehört heute Nacht.“

„Wohl eher heute Morgen.“

„Was? Wie lange bist du denn mit deinen Mädels unterwegs gewesen?“

„Mädels ist gut. Unser Mädelsabend ist relativ schnell ins Wasser gefallen, als sich Logan zu uns gesellt hat.“

„Logan?“ Den Namen kannte er. Irgendwoher. Er hatte es nicht so mit Namen.

„Ja, Logan. Du weißt schon, unser neuer Mitbewohner?“

„Ach so. Klar. Entschuldige, ich stand kurz auf dem Schlauch.“

Emma winkte ab. Sie kannte ihn einfach zu gut.

„Das ist ja ein Zufall.“

„Zufall eher weniger. Wir waren im Up&Down und Alex hatte ihn wohl eingeladen.“

Henry verkrampfte sich kurz. Er war schon Ewigkeiten nicht mehr da gewesen. Was hauptsächlich daran lag, dass er Alex, so gut es ging, aus dem Weg ging. Schwierig, wenn man sich eine Wohnung teilte, aber es funktionierte ganz gut. Da sich Alex die meiste Zeit in seinem Zimmer verbarrikadierte und er tagsüber bei der Arbeit war, liefen sie sich nur abends manchmal über den Weg oder am Wochenende.

„Ah, dann war Alex also mit von der Partie?“, fragte er möglichst unbeteiligt und wich Emmas Blick aus.

„Aber erst gegen Ende hin. Er musste ja noch arbeiten und konnte dann schließlich schlecht gehen, als er gesehen hat, dass wir alle noch da waren. Wusstest du, dass Mary anscheinend ein Auge auf meinen werten Bruder geworfen hat?“

Henry sah Emma erstaunt an. Wusste nicht so genau, was er davon halten sollte.

„Wirklich?“

Emma schüttelte eifrig den Kopf und hielt dann abrupt inne, um sich die flache Hand vor die Stirn zu pressen. Jaja, der Alkohol.

„Und wie. Sie hat ihn förmlich mit Blicken ausgezogen.“

„Kann man ihr nicht verdenken“, murmelte Henry unüberlegt.

„Was?“ Emma sah ihn an.

„Ich habe gesagt, dass es ihm recht geschieht“, versuchte Henry sein Glück.

„Nein, das hast du nicht.“ Ihre Stimme klang sanft und in ihrem Gesicht breitete sich langsam Verstehen aus.

Henry hätte sich am liebsten selber in den Hintern gebissen. Er war aber auch ein Idiot. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, erst sein Hirn einzuschalten, bevor er den Mund öffnete?

Er stand hastig auf und marschierte zurück in die Küche.

„Wann kommt Logan denn heute mit seinem Kram?“, fragte er und betete, dass Emma auf diese Frage einging.

„Er wird wahrscheinlich kommen, sobald er sich aus dem Bett gequält hat“, antwortete sie mit leichter Verzögerung und Henry atmete erleichtert auf.

Ihm war klar, dass sie noch darüber reden würden und er hoffte, dass Emma nicht total entsetzt von ihm sein würde. Sie war zwar eigentlich die beste Freundin, die er hatte, aber sie würde sich im Zweifelsfall immer auf die Seite ihres Bruders schlagen. Da war er sich sicher. Die warme Hand, die sich auf seine Schulter legte und sie sachte drückte, nahm ihm etwas die Angst vor dem Gespräch.

„Du hast ja Zeit, oder?“ Emma ließ ihre Hand über seinen Arm streifen, bevor sie sich abwandte und ihre Tasse in die Geschirrspülmaschine stellte. Einen Luxus, zu dem sie sich erst vor Kurzem entschlossen hatten, aber die Berge von Abwasch ließen sich damit um einiges schneller bewältigen.

„Ich bin da.“

„Gut, denn ich denke, dass wir alle Mann mit anfassen sollten.“

„Ich soll Kisten schleppen?“ Henry versuchte seine Stimme entsetzt klingen zu lassen und legte nun auch noch einen weinerlichen Unterton mit hinein.

„Aber davon kriege ich Muskelkater und kannst du mir mal sagen, wie ich die Damenwelt beglücken soll, wenn ich meine Arme nicht heben kann, um auf ihrem Kopf für Ordnung zu sorgen?“

Emma grinste und wollte gerade antworten, als Alex zur Tür herein schlurfte.

„Das schaffst du schon“, brummte er und visierte genau wie seine Schwester zuvor, die gefüllte Kaffeekanne an.

Henry zuckte zusammen und Emma schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Na bravo. Sie würde ihn sowas von ausquetschen. Gott sei Dank ließ sie ihn wenigstens nicht allein mit dem alten Miesepeter. Und das rechnete er ihr hoch an, denn sie war schon auf dem Weg in ihr Zimmer gewesen.

„Ich danke dir für dein Vertrauen“, flötete er übertrieben und fuhr sich kokett durch die Haare, während er eifrig mit den Augen blinzelte.

„Lass den Scheiß, Mann, ich bin noch nicht wach genug, um mich schon am frühen Morgen mit einem Streifenhörnchen herumärgern zu müssen.

„Streifenhörnchen?“ Henry sog zischend die Luft durch die Zähne, während er sich insgeheim in den Hintern treten könnte, weil irgendetwas in ihm einen Hüpfer machte.

„Du hättest auch mal wieder einen Haarschnitt nötig und am besten auch eine neue Farbe. Wer hat denn heutzutage noch schwarze Haare?“, gab er zurück und schenkte Emma, die ihn empört ansah einen entschuldigenden Blick.

„Und du fühlst dich dazu berufen, meine Haare in Ordnung zu bringen?“, spottete Alex. „Was soll es denn diesmal werden? Grün?“

„Wann hörst du endlich auf, darauf herumzureiten? Es war ein Unfall!“, log er ohne Schuldgefühle und Alex` Blick sagte ihm, dass er das sehr wohl wusste.

Bevor sie diese Diskussion jedoch vertiefen konnten, klingelte es an der Haustür und Emma und Alex zucken unisono zusammen. Ha!

„Ich gehe schon“, trällerte er übertrieben laut und bekam dafür treffsicher einen Topflappen an den Kopf, während ein Korkuntersetzer seinen Hintern streifte. „An eurer Wurftechnik arbeiten wir noch“, rief er in den Flur zurück, während er die Tür öffnete.

„Wurftechnik?“ Logan sah ihn fragend an. Im Arm hielt er einen Karton, während er sich mit der anderen die blonden Haare aus der Stirn strich.

„Ach, die Geschwister Scott sollten ein wenig an ihrer Technik feilen, wenn sie mich schon immer mit irgendetwas bewerfen müssen.“ Irrte er sich, oder sah Logan für einen Moment erleichtert aus? Egal.

„Na dann komm mal rein in die gute Stube. Was macht der Kopf?“, erkundigte er sich gehässig.

„Dem geht es gut.“ Logans Stimme und den munteren Augen nach zu urteilen, stimmte das sogar.

„Wie kann das sein? Emma sieht aus, als wär sie von einem Bus überfahren worden und Alex könnte als Frankensteins Monster auftreten, ganz ohne Verkleidung.“

„Das habe ich gehört“, brüllte Alex aus seinem Zimmer.

„Solltest du auch“, brüllte Henry vergnügt zurück.

„Ach so. Ich trinke nicht viel. Hin und wieder ein Bier, aber das war es dann auch schon.“

„Oh, einen Abstinenzler hatten wir hier noch nicht. Was machst du nochmal beruflich?“

„Henry, lass ihn doch erstmal reinkommen.“ Emma erschien hinter ihnen im Flur. Sie sah immer noch reichlich zerknautscht aus, hatte sich aber schon Schuhe angezogen. Sie meinte das offensichtlich ernst, mit dem Kistenschleppen.

„Oh, ja klar. Sorry!“ Henry trat zur Seite und dankbar wuchtete Logan die Kiste herein, die anscheinend doch so einiges wog.

„Was hast du denn da drin?“ Besorgt lugt Henry über Logans Schulter.

„Bücher.“

„Bücher? Hast du denn viele Bücher?“ Henry vermaß im Geiste den Karton und offensichtlich konnte man ihm das ansehen, denn Logan lachte herzlich auf. Ein schönes Lachen, wie Henry im Stillen bemerkte.

„Keine Sorge. Es ist nur noch ein Karton. Die anderen sind leichter.“

Inzwischen waren sie in Johns altem Zimmer angekommen. Sie hatten die Wände weiß gestrichen und Lisa hatte sogar den Boden und das Fenster geputzt.

„Wir haben hier einen Schlüssel für dich“, sagte Emma und reichte ihm einen Schlüsselbund.

„Hier, der ist für die Haustür, der für die Wohnung, der für den Briefkasten und der für den Keller.“

„Wir haben einen Keller?“ Logan musterte Emma interessiert.

„Ja, aber eigentlich ist es mehr ein Abteil. Wertvolle Sachen solltest du da nicht aufbewahren. Der Verschlag lässt sich leicht aufbrechen und hier ist schon öfter mal was weggekommen.“

„Ich dachte da an mein Fahrrad.“

„Ach so. Für Fahrräder gibt es im hinteren Teil des Treppenhauses einen Stellplatz. Das ist praktischer, als es ständig in den Keller zu schleppen.“

„So, auf geht`s.“ Alex Stimme ließ Henry erschrocken herumwirbeln. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er hinter ihnen eingetreten war.

„Sind wir heute etwas schreckhaft, Streifenhörnchen?“ Alex lachte hinterhältig.

„Fangt gar nicht erst wieder an“, herrschte Emma sie an, bevor Henry auch nur den Mund öffnen konnte.

„Du gewöhnst dich dran“, sagte sie dann zu Logan, den sie hinter sich her aus dem Zimmer zog.

 

„Also, Leute, vielen Dank! Ich hatte schon damit gerechnet, dass ich mir die Nacht um die Ohren schlagen muss.“ Logan stellte die zwei Familienpizzen auf den Tisch. Zur Feier des Tages hatte er es sich nicht nehmen lassen, seine Umzugshelfer einzuladen.

„Wenn wir geahnt hätten, dass du dein Zimmer komplett neu einrichtest und wir stundenlang schrauben müssen, hätte ich mir das wahrscheinlich nochmal überlegt“, nuschelte Henry mit vollem Mund, weil er soeben herzhaft von seinem Stück Pizza abgebissen hatte.

Das tat gut. Den ganzen Nachmittag waren sie mit Schleppen und Schrauben beschäftigt gewesen, aber sie Pizza leistete enorme Wiedergutmachung.

„Erzähl doch mal, was du so machst“, bat Lisa und haderte dabei mit sich selbst. Sehnsuchtsvoll musterte sie eines der Pizzastücke und spießte gleichzeitig eine Tomate auf. Sie hatte sich mal wieder eine Diät verordnet.

Henry schob ihr die Schachtel zu. „Hau rein, Hexe, du hast es dir verdient. Du kannst morgen wieder dieses Kaninchenfutter in dich reinschaufeln.“

Man sah Lisa den Zweikampf mit sich selbst deutlich an. Doch schließlich gab sie sich geschlagen und angelte sich ein Stück aus der Schachtel.

„Na geht doch“, brummte Henry zufrieden, bevor er sich wieder an Logan wandte. Sie hatten es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht und saßen um den kleinen Glastisch herum. Auf dem Sofa, den bunten Sesseln oder auf dem Boden.

„Du machst irgendwas mit Sport, nicht wahr?“

Logan druckste ein wenig herum, während die anderen ihn interessiert musterten.

„Ich habe mal eine Zeit lang Sport auf Lehramt studiert“, gab er schließlich zu.

„Wirklich? Ich studiere auch Lehramt“, sagte Emma und warf einen drohenden Blick in die Runde. Sie war es gewohnt, sich allerlei Lehrerwitze anzuhören.

„Ja, aber ich habe es nicht durchgezogen. Jetzt arbeite ich für die NFL.“

„NFL im Sinne von National Football League?“, hakte Travis nach.

„Genau.“

„Heißt das, du siehst jeden Tag heiße Jungs in engen Hosen an dir vorbei laufen?“ Henry beugte sich etwas weiter nach vorne. Jetzt wurde es interessant.

Verunsichert sah Logan von einem zum anderen.

„Ich bin schwul“, setzte Henry erklärend hinzu. Doch so leicht, wie ihm dieser Satz inzwischen über die Lippen kam, nahm er das nicht. Immer wieder hatte er Angst vor der Reaktion seines Gegenübers. Er hasste es, doch er legte viel Wert auf die Meinung anderer Menschen. Auch wenn sie ihn damit nur umso mehr verletzen konnten.

Energisch verdrängte er die aufkommenden Gedanken und begegnete für eine Sekunde Alex` besorgtem Blick. Mist, er war einfach zu leicht zu durchschauen, wenn sich sogar Mr. Obermacho um ihn sorgte.

„Na, dann musst du mich wohl mal eines Tages begleiten“, grinste Logan und erlöste Henry mit diesem Satz um einen großen Stein, der ihm von der Seele purzelte.

„Wir sind leider nicht so die Footballfans und kennen uns eigentlich überhaupt nicht aus“,  bekannte Lisa freimütig und erntete damit ein aufrichtiges Lächeln von Logan, das sie prompt erröten ließ.

„Und als was genau arbeitest du dort?“ Travis ließ sich nicht so schnell ablenken.

„Oh, ich werde eigentlich überall eingesetzt“, sagte Logan Schulterzuckend.

„Oh, das kenne ich. Ich war auch einmal Mädchen für alles.“ Alex verzog das Gesicht. „Mach dir nichts draus. Irgendwann möchtest du vielleicht wieder studieren und bis dahin genieß dein Leben.“

Verwirrt sah Logan zu Alex, der ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte.

„Okay und jetzt noch eine wichtige Sache“, trompetete Henry vergnügt.

Er wartete, bis er die Aufmerksamkeit der anderen sicher hatte. „Wir haben hier eine goldene Regel“, fing er an und erntete ein kollektives Stöhnen.

„Was ist los?“ Logan war der Einzige, der noch nicht wusste, worauf das hinaus lief.

„Wir haben hier in der WG die Vereinbarung, dass die Mitbewohner keine sexuelle Beziehung zueinander eingehen.“ Lisa musterte Henry triumphierend, weil sie ihm mit ihrer Erklärung zuvorgekommen war. Wahrscheinlich hatte sie befürchtet, dass Henry sich wieder seiner blumigen Umgangssprache bedienen würde.

„Ihr habt eine Sexvereinbarung?“ Logan klang leicht verblüfft.

„Nein, mein Freund, eher eine Kein-Sexvereinbarung.“ Henry klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Keine Sorge, das ist am besten so.“

„Was denn, habt ihr schon schlechte Erfahrungen gemacht?“

„Naja, nicht so richtig, aber wir haben das sozusagen prophylaktisch festgelegt.“ Henry nickte todernst.

„Und wenn sich jemand von euch tatsächlich verliebt?“

Henry sah etwas unwohl in die Runde. Emmas Blick wich er dabei konsequent aus.

„Das Problem hatten wir noch nicht. Und wenn sich jeder an die Regel hält, wird das wohl auch noch etwas dauern.“

Er war sich nicht sicher, ob er sich das selber glaubte. Aber man konnte es ja mal versuchen.

Zwischenspiel

Müde stolperte Emma aus ihrem Zimmer. Sie hatte sich ihren Wecker extra etwas früher gestellt. Obwohl die Stunde, die sie extra eingeplant hatte, schon auf die Hälfte reduziert wurde, da sie im Zehnminutentakt die Schlummertaste ihres morgendlichen Störobjektes malträtiert hatte.

Trotzdem lag sie gut in der Zeit.

Den Sonntag hatte sie sich mit einer Hausarbeit um die Ohren geschlagen, die sie heute abgeben musste. Natürlich hätte sie das auch schon Wochen früher abhandeln können. Sie nahm es sich auch jedes Semester aufs Neue vor, letztendlich erledigte sie es doch wieder auf den letzten Drücker. Bisher ist es immer ganz gut gelaufen. Sie schob es auf den Druck. Sie brauchte ihn, um gut arbeiten zu können.

Aber sicherheitshalber wollte sie heute lieber überpünktlich an der Uni sein, um sicher zu gehen, dass sie die Arbeit ohne Probleme abgeben konnte. Nicht, dass die pünktliche Abgabe am Stau im Badezimmer scheitern würde.

Als Emma schließlich nach der Tür griff, musste sie zu ihrem Erstaunen feststellen, dass sich tatsächlich schon jemand vor ihr aus den Federn gequält hatte. Oder es war Alex, der sich mal wieder die Nacht um die Ohren geschlagen hatte und nun duschte, bevor er in sein Bett kroch.

Mit der Faust hämmerte Emma gegen die Tür. Auf das lautstarke Brüllen wollte sie nur im Notfall zurückgreifen, um ihre Mitbewohner zu verschonen.

Sie überlegte gerade, ob sie nun nicht doch langsam mehr Lärm veranstalten sollte, als der Schlüssel in der Tür gedreht wurde und die Badtür aufschwang.

„Himmel, Alex, du wusstest doch, dass ich heute früher los muss“, fing sie an und verschluckte sich fast an den nächsten Worten, denn das, was da im Badezimmer stand, war mit Nichten ihr Bruder. Das was dort stand, ähnelte eher einem griechischen Gott. Einem Gott, der nur ein Handtuch um die Hüften trug und dessen dunkelblondes Haar ihm nass im Gesicht klebte.

„Logan“, krächzte Emma überrascht und räusperte sich schnell. „Ich dachte es wäre Alex.“

„Das dachte ich mir schon. War ja nicht zu überhören.“ Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, während er seine Zahnbürste unter dem Wasserhahn ausspülte.

Emma war kurz aus ihrem Konzept geraten. Ausgerechnet jetzt fielen ihr natürlich ihre zerzausten Locken ein.

„Wann bist du denn wieder gekommen?“, fragte sie, denn Logan war den ganzen Sonntag über verschwunden gewesen.  

„Heute Nacht irgendwann. Ich glaube so gegen zwei.“ Er griff sich ein kleineres Handtuch und rubbelte sich damit den Kopf ab.

„Gegen zwei? Dann hast du ja noch nicht mal vier Stunden geschlafen!“ Emma war aufrichtig entsetzt. Sie brauchte ihre sieben Stunden Schlaf, sonst war sie unausstehlich.

Logan winkte ab. „Ach, ich brauche nicht so viel Schlaf. Wenn ich es nicht zu oft mache, dann geht das schon. Ich muss dann auch los. Bad ist frei.“ Mit einem Nicken in ihre Richtung verschwand er in seinem Zimmer.

Emma sah ihm noch ein wenig verwirrt nach, bevor sie sich darauf besann, dass sie ja heute pünktlich los musste.

 

„Was ist denn hier los?“ Emma sah sich um. Sie hatte soeben den Campus erreicht und war mehr oder weniger mit ihrer besten Freundin Laura zusammengestoßen. In Sachen Abgabetermin war sie unter Umständen noch chaotischer als Emma.

Einträchtig schoben sie ihre Räder in die dafür vorgesehenen Fahrradständer und ketteten sie an.

„Ich habe keine Ahnung.“ Laura sah sich um. Ihre stoppeligen roten Haare hatte sie – so gut es ging, wenn man so kurze Haare hatte, wie sie – zu einer Igelfrisur gegelt.

Nachdenklich biss sie von innen auf ihren Lippenpiercing und sog somit eine kleine Ausbuchtung in ihre Unterlippe.

Ihre Freundin war schon eine sehr außergewöhnliche Erscheinung. Die kurzen rotgefärbten Haare waren da noch das Normalste an ihr. Sie trug Piercings an den Ohren, der Nase, den Lippen und an Stellen, die nur sehr ausgesuchte Betrachter je zu Gesicht bekamen. Emma hatte sich dieser Einblick für immer in ihre Netzhäute eingebrannt, weil sie sich von Laura hatte breitquatschen lassen und beim Stechen Händchen gehalten hatte.

Dieses Erlebnis hatte sie geheilt. Sollte sie vorher je mit einem Piercing geliebäugelt haben, war dieser Wunsch seit dem Abstecher in das Vorzimmer der Hölle kuriert. Wenn sie ihre Ohrlöcher nicht vorher schon gehabt hätte, hätte sie sehr wahrscheinlich bis heute keine.

Abgesehen von den diversen Metallteilchen, trug sie eigentlich ganz normale Kleidung, heute zum Beispiel Jeans und ein neongrünes T-Shirt, die sie mit hohen Palteauschuhen kombinierte, in denen sie die meisten ihrer Mitmenschen überragte.

„Vielleicht feiern sie den internationalen Tag des Wolfes“, feixte Laura und beobachtete, wie sich zwei ihrer Kommilitonen damit abmühten, eine übergroße Fahne zu hissen, die von einem grimmig aussehenden Wolfskopf geziert wurde.

„Das wird es sein.“ Kopfschüttlend machten sie sich auf den Weg in Richtung Lehrstuhl. Unterwegs begegneten sie noch einigen Wolfsköpfen, in Form von Plakaten, Aufklebern oder Flaggen.

„Wie ist denn der neue Mitbewohner“, wollte Laura schließlich wissen, als sie die kleine Rasenfläche vor einem der vielen alten Universitätsgebäude überquerten.

„Heiß“, stöhnte Emma peinlich berührt. Die Begegnung von heute Morgen nagte immer noch an ihr. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass sie ihn angestarrt hatte.

„Ach ja?“, hakte Laura interessiert nach.

„Ja.“

„Ja, und?“

Emma seufzte.

„Am besten, du schaust ihn dir bei Gelegenheit selbst mal an.“

„Vielleicht ist das ja dein Traummann“, unkte Laura, die mit der goldenen WG-Regel durchaus vertraut war.

„Das glaube ich eher nicht. Der ist ziemlich verschlossen. Er kapselt sich zwar nicht direkt ab, ist auch immer nett zu allen, aber er bleibt lieber für sich. Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn. Nur, dass er für die NFL arbeitet.“

„Für die NFL? Seid ihr Mädels jetzt doch noch zu den Footballfans übergelaufen? Ich wusste es.“ Von hinten schlang sich je ein Arm um Emma und Laur und zwischen sie drängte sich der dazugehörige Körper.

„Daniel“, begrüßte Emma den Freund lächelnd.

„Boa Constrictor trifft es eher“, murrte Laura leicht, wovon sich Daniel nicht beirren ließ. Emma schmunzelte. Der schlaksige Computernerd mit den verstrubbelten blonden Haaren und den intelligenten blauen Augen hinter seiner schwarzumrandeten Brille, hatte es Laura angetan. Emma hoffte, dass sie das auch bald erkannte und sich Daniel schnappte, bevor es eine andere tat.

„Geht ihr etwa auch zum Spiel?“ Daniel sah sie fragend an, als sie endlich das Gebäude betraten, in denen der Briefkasten für ihre Arbeiten hing.

„Was für ein Spiel?“ Emma kramte ihre Mappe aus der Umhängetasche.

„Na das NFL Spiel. Chicago Wolves gegen die New York Giants?” Seine Frage klang so, als müsste Emma wissen, wovon er sprach.

„Football?“ Laura rümpfte die Nase. Man sah es ihr vielleicht nicht an, aber sie bevorzugte die ruhigeren Sportarten, wie Reiten oder Schwimmen. Wenn sie eine Horde Männer um einen Ball prügelten, konnte sie dem nicht viel abgewinnen und Emma interessierte sich eher für Tennis.

„Natürlich Football. Hattet ihr nicht gerade davon gesprochen? NFL? National Football League?“ Daniel wackelte mich den Augenbrauen.

„Hm? Nein, wir hatten von meinem neuen Mitbewohner gesprochen, der arbeitet für die NFL als Mädchen für alles“, antwortete Emma geistesabwesend, da sie in dem Moment den Briefkasten erspäht hatte.

„Auf geht`s, Laura. Lass uns die blöden Dinger endlich loswerden.“ Entschlossen schob sie ihre Arbeit durch den Schlitz und Laura tat es ihr nach.

„Gute Reise“, zwitscherte Laura vergnügt und hakte sich nun sogar von sich aus, bei Daniel ein, der die Mädchen wohl oder übel hatte loslassen müssen, als sie das Gebäude betreten hatten.

„Vielleicht sollten wir zur Feier des Tages einen Kaffee trinken gehen“, schlug Emma gut gelaunt vor.

„Nicht so schnell“, stoppte Daniel seine Freundin. „Dein neuer Mitbewohner arbeitet für die NFL und das erzählst du mir einfach so und schlägst im nächsten Moment einen Kaffee vor?“

Daniel sah Emma entgeistert an, die seine Aufregung überhaupt nicht nachvollziehen konnte.

„Was ist schon dabei?“

„Was dabei ist? Wenn er hier in Chicago arbeitet, dann hat er bestimmt schon den neuen Spieler zu Gesicht bekommen. Der wurde für ein paar Millionen Dollar von den Houston Texans abgeworben.“

Emma fühlte das Lachen schon in sich aufsteigen, hielt es aber für besser, es zu unterdrücken. Daniel hatte sich richtig in Rage geredet..

„Ja und?“

„Ja und? Der Mann ist einfach Gold wert. Was meint ihr, wie viele Siege auf seine Kappe gehen und jetzt haben ihn die Chicago Wolves verpflichtet. Und euer Mitbewohner sitzt sozusagen an der Quelle. Ich muss den unbedingt kennen lernen. Vielleicht kann er mir ein Autogramm von Aiden besorgen.“

Jetzt musste Emma doch grinsen. Daniel klang nicht nur so begeistert, er sah auch so aus. Wie ein kleiner Junge, dem gerade verkündet wurde, dass Weihnachten spontan vorverlegt wurde.

„Krieg dich wieder ein.“ Laura rammte ihm nicht gerade sanft einen Ellbogen in die Seite und erntete dafür einen bösen Blick.

„Ich habe ihn ja selber noch nicht richtig kennengelernt“, verteidigte sich Emma. „Und er ist fast nie Zuhause. Auf jeden Fall in den letzten zwei Tagen“, fügte sie hinzu.

„Ich will ihn kennen lernen“, beharrte Daniel stur und Emma nickte ergeben. „Wirst du.“

 

„Himmel, Lisa, du hast keine Ahnung, was ich mir heute von Daniel anhören durfte, weil ich ihm nicht sofort eine Brieftaube mit genauen Informationen über unseren neuen Mitbewohner geschickt habe.“ Emma verdrehte gespielt genervt die Augen, während sie eine Karotte schälte und sie anschließend Lisa reichte, die sie in kleine Stücke hackte.

„Wenn du genug Informationen zusammen hast, kannst du sie ja auch mal in der WG verteilen“, scherzte Lisa und Emma grinste.

„Wie wäre es, wenn ihr ihn einfach in Ruhe lasst und ihm nicht sofort seine gesamte Lebensgeschichte abknöpft?“, schlug Travis vor, der bisher nur stumm in der Pfanne mit dem Gemüse herumgerührt hatte.

„Ich bitte dich, Trav, das geht ja mal gar nicht. Was, wenn er doch ein entflohener Schwerverbrecher ist?“ Emma sah ihn mit kugelrunden Augen an und Lisa musste lachen.

„Wenn er das tatsächlich sein sollte, wird er es euch bestimmt nicht auf die Nase binden“, erklärte Travis nüchtern.

„Wer bindet wem was auf die Nase?“ Alex kam in die Küche und griff sich sogleich einen Löffel, um damit eine Kostprobe aus der Pfanne zu entwenden.

„Alessandro Daniel Scott, nimm sofort die Finger aus dem Essen“, schimpfte Emma.

„Emma Sophia Scott, es sind nicht meine Finger“, äffte Alex sie scherzhaft nach und fuhr sich dann mit einer Hand durch die schwarzen verstrubbelten Haare.

„Bist du etwa gerade erst aufgestanden?“, erkundigte sich Lisa.

„Hm“, brummte Alex nur und versuchte erneut, den Löffel in die Pfanne zu tauchen, kassierte stattdessen allerdings einen Hieb mit dem Kochlöffel von Travis.

„Wir können sowieso gleich Essen“, sagte der und nickte bedeutungsvoll zu dem ungedeckten Esstisch.

„Und ich muss mich jetzt fertig machen und dann los.“ Eilig pfefferte Alex seinen Löffel in die Spüle und machte sich aus dem Staub.

„Er ist doch jetzt nicht mit dem angeleckten Löffel in das Gemüse?“ Lisa linste sorgenvoll über Travis Schulter in die Pfanne, als könnte sie mit ihrem Adleraugen Alex` Speichelbakterien ausmachen.

„Keine Sorge, ich habe ihn rechtzeitig abgehalten“, beruhigte Travis sie und ließ sich zumindest zu einem genervten Augenrollen hinreißen, das Emma zum Lachen brachte.

Lisa übertrieb es allmählich mit ihrer Keim- und Bakterienphobie.

Ein lautes Türknallen kündigte Henrys Ankunft an. „Bin wieder da“, brüllte er überflüssigerweise hinterher.

„Wir sind in der Küche“, brüllte Emma zurück, als Henry auch schon strahlend in der Tür auftauchte.

„Ihr erratet nie, was heute passiert ist“, sprudelte er fröhlich drauf los.

„Du hast deine Haare rot gefärbt“, kommentierte Emma das Offensichtliche, denn Henry hatte tatsächlich einen flammendroten Haarschopf, doch er winkte ab.

„Ich habe jemanden kennen gelernt.“ Triumphierend sah er in die Runde.

„Tatsächlich? Wen denn?“ Lisa hakte artig sofort nach und wurde mit einem liebreizenden Lächeln von dem WG-Paradiesvogel belohnt.

„Er heißt Don und ist unglaublich gutaussehend“, schwärmte Henry.

„Don im Sinne von Donald? Wie die Ente?“ Alex war offensichtlich fertig und kam zurück in die Küche gestiefelt. Er hatte sich die Haare zurecht gemacht, sah nun aber eher finster aus. Vielleicht hätten sie ihm doch einen weiteren Löffel gönnen sollen, dachte Emma.

„Musst du nicht arbeiten?“ Genervt wedelte Henry mit einer Hand in der Luft herum, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

Ohne einen weiteren Kommentar, wenn man das abfällige Schnauben nicht beachtete, machte sich Alex vom Acker.

„Also?“ Emma sah ihren besten Freund fragend an.

„Er heißt also Don, neunundzwanzig Jahre alt und Arzt.“ Er strahlte in die Runde.

„Und was hat dich nun in eine solche Hochstimmung versetzt?“ Travis streute allerlei Gewürze in die Pfanne, wobei er von Lisa mir Argusaugen bewacht wurde.

„Er wollte meine Nummer haben.“ Henry strahlte, wie ein Honigkuchenpferd.

„Und? Hast du sie ihm gegeben?“ Lisa fragte, ohne ihn anzusehen, da sie immer noch mit Travis und seiner Würzmethode beschäftigt war.

„Natürlich. Am Wochenende treffen wir uns.“

In dem Moment klappte die Haustür erneut und ein kurzes Stimmengewirr erklang im Flur, bevor Logan die Küche betrat.

Lisa vergaß für Emmas Geschmack ein bisschen zu schnell ihren Aufsichtsposten über Travis. Stattdessen lächelte sie Logan entgegen, der etwas verwirrt zurück in den Flur starrte.

„Was ist denn mit Alex los? Der ist gerade ziemlich wütend an mir vorbei gestürmt?“, fragte er nichtsahnend, während Emma nachdenklich die Stirn runzelte.

„Ach, der hat noch nichts gegessen. Da ist er immer ein bisschen gereizt“, sagte Travis einfach und Logan nickte beruhigt, während Emmas Blick zu Henry wanderte, der erstaunlich still geworden war.

„Dann ist ja gut. Ich wollte auch nur kurz Hallo sagen. Ich muss nämlich schon wieder weg.“ Logan lächelte entschuldigend und Emma konnte nichts dafür, aber es gab Momente, in denen sie die blöde goldene Regel verabscheute.

Impressum

Bildmaterialien: Danke, LynMara, dass du dich wieder selbst übertroffen und mir ein Cover zu meinen nicht vorhandenen Vorstellungen erschaffen hast!!! http://www.pixabay.de
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Schwester, mit der ich unsere ganz eigene Art von WG erlebt habe. Stößchen, Nini =)

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