Der Beine elfenbeinernes Gestell
bewegte sich in leichten Gleichgewichten,
ein weißer Glanz glitt seidig durch das Fell,
und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,
stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,
und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.
Rainer Maria Rilke
Ich saß ruhig auf meinem Platz ganz hinten im Raum und hypnotisierte die Uhr, die direkt über der Tafel angebracht worden war. Unmittelbar darunter lamentierte Mr. Geoffrey über irgendein Gedicht der englischen Literatur und ich konnte sehen, dass er begeistert von der Aufmerksamkeit war, die die Schüler ihm schenkten. Er bemerkte nicht, dass sie, genauso, wie ich, im Stillen den Minutenzeiger anfeuerten, sich schneller zu bewegen.
Mit einem lauten Tick, das mir wahrscheinlich nur deshalb so laut vorkam, weil ich seit einer gefühlten Ewigkeit drauf wartete, ruckte der Zeiger eine Minute vor. Super. Noch neunzehn Minuten und dann endete der Schultag für heute.
Ich musterte meine Mitschüler, die, über ihre Tische gebeugt, ihr Dasein fristeten. Marc Johnson war damit beschäftig, kleine Papierkügelchen, die er vor sich aufgetürmt hatte, in die wilde Lockenpracht von der vor ihm sitzenden Sarah Green zu schnipsen. Der Anzahl der Papierfetzen nach zu urteilen, die sich bereits in ihrem Haar verfangen hatten, war er anscheinend schon eine ganze Weile dabei, an dieser neuen Sportdisziplin zu feilen.
Eine Sitzreihe weiter vorne, was eigentlich ziemlich dreist war, weil sie sich somit direkt unter der Nase von Mr. Geoffrey befanden, hatten Eugen, Peter und Marc ihre Tische etwas zusammengeschoben und ein Kartenspiel eröffnet. Dem Stapel Dollarnoten nach, die sich auf Peters Tisch häuften, versuchten sie wohl, dem restlichen Schultag, etwas mehr Spannung zu verleihen. Ich verbiss mir ein Grinsen und sah schnell woanders hin, um den immer noch selig vor sich hin redenden Lehrer, nicht durch Gelächter auf die drei Glücksspieler aufmerksam zu machen.
Ich seufzte, als mein Blick an den heftig gestikulierenden Händen von Eleanore Carrington hängen blieb. Dieses Mädchen raubte mir den letzten Nerv. Sie war die Jüngste der Klasse und wurde, aufgrund ihrer besserwisserischen Art und den, mit einem Lächeln ummantelten, hinterhältigen Sticheleien, die sie mit Vorliebe fallen ließ, von allen gemieden.
In mir schien sie eine Art Leidensgenossin zu sehen.
Ich war ein Einzelgänger. War es schon immer. Menschen fühlten sich in meiner Nähe nicht wohl. Ich wusste nicht, woran es lag, aber sie machten einen großen Bogen um mich. Dabei war ich in Forest Creek aufgewachsen. Viele aus diesem Kurs kannte ich schon seit dem Sandkastenalter. Aber es hatte sich niemand die Mühe gemacht, mich näher kennenzulernen.
Ich hatte schon ziemlich früh gelernt, dass ich den Versuch, Kontakte zu knüpfen und Freunde zu finden, lieber unterlassen sollte. Sobald ich mich jemanden näherte, konnte ich sehen, wie er sich innerlich wappnete. Im Kindergarten hatten meine potentiellen Spielgefährten sogar angefangen zu weinen, wenn ich mit ihnen spielen wollte. Schließlich gab ich es auf und blieb für mich.
Eleanore wedelte inzwischen mit einem Stück Papier in der Luft herum. Ich erkannte erst beim genaueren Hinsehen, dass sie etwas darauf geschrieben hatte. Was machst du nach der Schule? Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste, dass sie einfach Gesellschaft brauchte. Sie brauchte jemanden, mit dem sie lästern konnte. Auf dem sie herumhacken konnte. Aber so verzweifelt war ich nicht. Sie fühlte sich in meiner Gegenwart genauso unbehaglich, wie alle anderen. Das konnte ich sehen. Ich sah es in ihrer Art, auf Abstand zu gehen, wenn ich zu nahe kam. Daran, wie sie hastig zurücksprang, wenn ich unvermutet in ihrer Nähe auftauchte. Und ich sah es in ihrem Gesichtsausdruck.
Inzwischen war mir klar, dass es das andere Gesicht war. Das Gesicht, das sich hinter ihrer aufgesetzten Mine verbarg. Das wahre Gesicht. So nannte ich es. Jeder hatte es, aber anscheinend konnte nur ich es sehen. Auch das hatte ich erst lernen müssen.
Als Kind hatte ich meine Mutter in so manche Verlegenheit gebracht. Einmal hatte ich sie laut, so wie Kinder das eben taten, in der Schlange vor der Supermarktkasse gefragt, warum die Kassiererin weinte. Ich hatte den entsetzten Gesichtsausdruck meiner Mutter hinter dem entschuldigenden gesehen, den sie der Kassiererin immer wieder zuwarf.
„Avery, was redest du da? Sie weint doch gar nicht!“ Meine Mutter hatte die Einkaufssachen hastig auf das Band gelegt und sich immer wieder bei der Kassiererin entschuldigt, die die Waren über den Scanner zog.
Ich erinnerte mich an die neugierigen Blicke der anderen Menschen, die die Szene natürlich beobachtet hatten und sich nun fragten, was mit dem Kind nicht stimmte.
„Doch, Mummy, die Frau weint“, hatte ich auf meine Ansicht beharrt und plötzlich war die Kassiererin wirklich in Tränen ausgebrochen. Da erst war mir bewusst geworden, dass die Tränen zuvor völlig lautlos über ihre Wangen gerollt waren. Schluchzend war die Kassiererin davon gelaufen und durch eine Kollegin ersetzt worden, die etwas von dem plötzlichen Tod des Ehemannes gemurmelt hatte.
Zuhause hatte meine Mum mich dann angeschrien und mir so beigebracht, dass ich nicht mehr über dieses andere Gesicht redete.
Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, dass ich in den Menschen lesen konnte, wie in Büchern. Natürlich las ich keine Gedanken. Aber ich konnte die wahren Gefühle in den Gesichtern sehen. Teilweise war es ganz praktisch, weil ich auf diese Weise nicht angelogen werden konnte und wusste, um wen ich besser einen Bogen machte.
Während meiner Schulzeit hatte ich genau einen Versuch unternommen, einen Menschen, von meiner Ahnung zu überzeugen. Das war vor zwei Jahren. Ich war gerade sechzehn geworden, als mir der Gesichtsausdruck eines älteren Schülers aufgefallen war. Natürlich der des anderen Gesichts. Hinter seiner gelassenen Coolness verbarg sich ein von Hass zerfressenes Gesicht. In seinen Augen blitzte die Gier, der Mund war zu einer Grimasse verzogen und die Augenbrauen bösartig zusammengezogen. Das war der Ausdruck, mit dem er seiner Exfreundin nachsah.
Ich hatte eine solche Angst bekommen, dass er ihr was antun könnte, dass ich zum Direktor gegangen war. Ich hatte ihm von meiner Angst erzählt. Natürlich hatte ich meine Fähigkeit außen vor gelassen. Doch der Direktor hatte nur müde gelächelt und mich vor die Tür gesetzt, was er vermutlich nicht getan hätte, hätte ihm meine bloße Anwesenheit nicht die Schweißtropfen auf die Stirn getrieben.
Zwei Tage später war der Junge mit einem Messer auf das Mädchen losgegangen. Zum Glück hatte sie es überlebt. Aber ich hatte mich schuldig gefühlt. Ich hätte mehr unternehmen müssen. Der Direktor war ungestraft davon gekommen. Ich hatte niemandem außer ihm von meiner Ahnung erzählt.
Das Schrillen der Schulglocke riss mich aus meinen Gedanken. Die neunzehn Minuten waren schneller vergangen, als der Rest der Stunde.
„Was ist nur dein Problem?“, kreischte Sarah aufgebracht und schüttelte ihre Haare, was das Papierkügelchendesaster aber nur verschlimmerte.
Mr. Geoffreys letzte Bemerkungen gingen im Allgemeinen Lärm der Aufbruchsstimmung unter. Auch ich zog mir schnell die Kapuze meines Pullovers über den Kopf, schnappte meine Tasche und lief eilig los. Ich hatte, im Gegensatz zu Eleanore, keine Schwierigkeiten, mir einen Weg durch die Menge zu bahnen, weil mir die Leute automatisch auswichen und so meine ganz persönliche Schneise ins Gedränge geschlagen wurde.
Erleichtert atmete ich auf, als ich das Schulgebäude verließ und mich auf den Heimweg machte.
Zu meiner Freude wohnten meine Mutter und ich etwas außerhalb von Forest Creek, direkt am Waldrand. In ungefähr zwei Meilen Entfernung stand noch ein Haus, das allerdings schon eine ganze Weile leer stand, sodass wir unsere Ruhe hatten.
Mein Weg führte mich durch grüne Wiesen und an bestellten Feldern vorbei. Der Geruch von Regen lag in der Luft und ich hoffte, dass es heute vielleicht noch einen ordentlichen Regenguss gab. Ich liebte diese ganz spezielle Atmosphäre nach einem kurzen Regenschauer. Den Duft nach Sauberkeit gemischt mit dem des Waldes.
Ich erreichte unser Gartentor trotz des Bummelschrittes viel zu früh. Er war klein und machte einen etwas verwilderten Eindruck, aber ich mochte ihn so. Auch das Haus hatte dringend einen Anstrich nötig. Dafür fehlte aber das Geld.
Ich schloss seufzend die Haustür auf und sofort schlug mir der Geruch von abgestandenem Alkohol und kaltem Zigarettenrauch entgegen. Ich unterdrückte die Übelkeit, die in mir hochstieg und spähte vorsichtig durch die Wohnzimmertür. Im Fernseher lief irgendeine Talkshow und auf dem Sofa lag meine Mutter. Lang ausgestreckt und die leere Whiskeyflasche noch in der Hand.
Traurigkeit stieg in mir auf, wurde aber kurz darauf von Resignation und einem leichten Schuldgefühl verdrängt.
Meine Mutter war Alkoholikerin. Solange ich denken konnte. Aber in letzter Zeit nahm es Überhand. Sie hatte sogar ihren Job verloren. Sie bezog Arbeitslosengeld und investierte es sofort wieder in Alkohol. Würde ich nicht nebenbei in einer Tierarztpraxis arbeiten, würde ich sehr wahrscheinlich verhungern.
Ich hatte den Eindruck, dass sie mich vergessen hatte. Auch die Lillian Capwell, die sich um ihre kleine Tochter gekümmert hatte, widerwillig, aber immerhin, gab es nicht mehr. Schon seit Jahren nicht mehr. Ich war mir selber überlassen. Sie würde es wahrscheinlich nicht einmal bemerken, würde ich nicht mehr nach Hause kommen.
Tatsächlich nicht? Eine kleine Stimme in mir beharrte darauf, dass ich überhaupt der Grund war, warum sie mit dem Trinken angefangen hatte. Denn auch sie vertrug meine Nähe nicht. Wie alle anderen Menschen. Ich war immer wieder erstaunt, dass sie mich als Kind nicht weggegeben hatte, denn ich wusste, dass sie meine Nähe kaum ertrug.
Aber tief in mir drin, hoffte ich wohl immer noch auf die Liebe der Mutter, die sie doch vielleicht irgendwo für mich verspürte. Doch wem machte ich was vor? Ich wusste es schließlich besser.
Leise trat ich an die Couch heran und nahm ihr vorsichtig die Flasche ab, bevor ich eine Wolldecke über ihr ausbreitete. Ihre braunen Locken, die meinen früher so geähnelt hatten, waren verfilzt und hingen in Büscheln von ihrem Kopf. Um ihre Augen erkannte ich dutzende von Falten, die sich in die schlaffe, gelbliche Haut eingegraben hatten.
Ich zuckte zurück, als sich meine Mutter unruhig auf eine Seite herumwälzte und mir nun ihren Rücken entgegenstreckte. Ich biss mir auf die Lippe, um zu verhindern, dass irgendein Ton darüberhuschte und sie womöglich aufweckte. Hatte sie schon immer so knochige und ausgemergelte Schultern gehabt? Sogar die einzelnen Erhebungen ihrer Wirbelsäule stachen deutlich sichtbar durch den dünnen Pulli, den sie trug, hervor.
Wann sie wohl das letzte Mal was gegessen hatte? Ich ging in unsere kleine Küche und sah in den Kühlschrank. Viel war nicht drin. Neben Mums Alkoholvorräten blieb auch nicht mehr viel Platz. Inzwischen kippte ich sie nicht mehr weg. Anfangs hatte ich das noch getan. Aber sie war regelmäßig ausgerastet und hatte sich dann sofort aufgemacht, sich einen neuen Vorrat anzulegen und war oftmals nicht wieder nach Hause gekommen, sondern auf dem Rückweg einfach in einem Feld liegen geblieben.
Also ließ ich ihre Vorräte in Ruhe. Es war mir lieber, ich wusste, wo sie war und dass sie noch am Leben war, als sie stundenlang suchen zu müssen.
Ich bereitete ihr mit mickrigen Zutaten ein Sandwich und stellte es ihr dann auf den Wohnzimmertisch, damit sie es beim Aufwachen sah. Den Fernseher schaltete ich aus. Kein Wunder, dass die Stromrechnungen immer so hoch waren.
Anschließend schlich ich hoch in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Ich würde mir eine schöne Schlabberhose anziehen und mich mit einem Buch in den Garten verkrümeln.
Und auf den Regen warten.
Irgendetwas stimmte nicht. Ich hatte keine Ahnung, was es war, aber schon seit dem Aufstehen hatte ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Und das erste Mal seit sehr langer Zeit, achtete ich bewusst auf die anderen Gesichter. Ich versuchte in meinen Mitschülern, den Lehrern und sonstigen Angestellten zu lesen. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen oder lieber schreiend weglaufen sollte, denn ich musste mich nicht einmal richtig konzentrieren. Mir flogen die verschiedenen Gesichter nur so zu und ich erkannte in Sekundenschnelle, wenn sich ein Ausdruck auch nur minimal veränderte.
Es war, als hätte mich jemand an einen Verstärker angeschlossen. Einen Verstärker, der sich nicht abstellen ließ. Normalerweise schaffte ich es ganz gut, mich auf die Wirklichkeit zu konzentrieren, aber heute brachte mir das nur pochende Kopfschmerzen ein.
Mein Blick irrte durch das Klassenzimmer und obwohl es erst die erste Stunde war, fühlte ich mich so erschöpft, wie schon lange nicht mehr. Ich konnte noch nicht einmal Mrs. Havers Ausführungen über die verschiedenen Stadien der Mitose folgen. Und dabei liebte ich Biologie. Es war das einzige Fach, wo ich mich sogar freiwillig am Unterricht beteiligte. Aber heute ging das nicht. Ich presste meine Hände gegen die Schläfen und fing an, sie kreisend zu massieren. Doch auch das half nicht viel. Schließlich wandte ich meinen Blick ab und sah aus dem Fenster.
Der Regen war tatsächlich gekommen. Aber bis jetzt auch noch nicht wieder gegangen. Eine dichte Wolkendecke hing über Forest Creek und es regnete in Strömen.
Gedankenverloren beobachtete ich die Tropfen, die sich bündelten und mal stockend, dann wieder so schnell, als hätten sie es eilig, das Glas hinab rannen, wobei sie feine Schlieren hinterließen.
Bevor ich es richtig registrierte, fuhr ich auf meinem Block diese Muster nach. Schliere um Schliere – mal mit feinem, mal mit energischem Strich – hielt mein Bleistift die sich ständig verändernden Muster fest. Auf meinem Block entstand das Bild einer Frühlingsanemone, deren Blüten sich zögernd einer nicht vorhandenen Sonne entgegenreckten. Daneben die langen Stiele von Märzenbechern, die sich in einem Strauß bündelten und die filigranen Flügel eines Kolibris – ich zuckte zusammen. Mein Bleistift verharrte über dem Papier. Schnell legte ich ihn zur Seite und blätterte um. Was meine Kunstlehrer an den Rand der Verzückung trieb, trieb mich an den Rand der Verzweiflung.
Wo andere nur eine zerkratzte Tischplatte sahen, erkannte ich die zarten Umrisse einer tönernen Karaffe. Wo andere eine rau verputzte Wand sahen, eröffnete sich mir zwischen den Höhen und Tiefen der Unebenheiten ein phantastisches Gemälde, dessen Einzelheiten selbst Da Vinci nicht besser hätte ausarbeiten können. Lebhafte Phantasie, hatte es meine Mutter einmal abfällig genannt, als ich ihr unüberlegter Weise einmal davon erzählt hatte. Ich war mir nicht sicher, wie ich es nannte.
Aber ich war mir sicher, dass es noch nie so ausgeprägt war. Vorsichtig, als könnte mich etwas aus den dünnen Papierseiten hervor anspringen, blätterte ich wieder zurück. Vorher warf ich allerdings noch einen Blick auf die Stuhlreihen vor mir. Doch wie immer interessierte sich keiner meiner Mitschüler für das seltsame Mädchen hinten im Raum.
Ich lenkte meinen Blick wieder auf die Bleistiftzeichnung und hielt den Atem an. So detailliert hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gezeichnet. Dass ich etwas sah, was andere nicht sahen und es anschließend aufmalte, bedeutete schließlich noch lange nicht, dass ich gut zeichnen konnte.
Dieses Bild jedoch… Man konnte die schnellen Flügelschläge des kleinen Vogels, der sich so elegant in der Luft hielt, damit er seinen Schnabel in einer roten Blüte versenken konnte, fast erahnen. Es war, als hätte jemand die Fernbedienung gegriffen und auf Standbild gedrückt, während ein schwarz-weiß Film lief.
Ich schlug meinen Block zu. Was war nur los mit mir? Die Schmerzen in meinem Kopf hämmerten weiterhin von innen gegen meine Stirn und sie wurden immer schlimmer. Ich kniff krampfhaft die Augen zusammen und presste meine Handballen dagegen. Ich sah bereits Sterne, so fest drückte ich zu.
Ein Schluchzen stieg in meiner Kehle auf und ich konnte es anscheinend nicht ganz unterdrücken, denn die Stimme der Lehrerin verstummte.
„Miss Capwell, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Mrs. Havers` Stimme drang besorgt in mein Bewusstsein.
Ich nahm die Hände von meinen Augen und blinzelte vorsichtig ins Licht. Ein stechender Schmerz war die Folge.
„Kopfschmerzen“, krächzte ich mühsam und stand schwankend auf. Natürlich waren alle Blicke auf mich gerichtet. Doch das interessierte mich im Moment herzlich wenig. Die Schmerzen wurden mit jeder Sekunde schlimmer.
„Ich gehe kurz an die frische Luft“, sagte ich mit bebender Stimme zu Mrs. Havers, die den Anschein machte, als wollte sie auf mich zueilen, aber im letzten Moment noch einen Sicherheitsradius wahrte.
„Ja, gehen Sie ein wenig hinaus, Avery.“ Die Frage, ob mich wer begleiten sollte, sparte sie sich. Wir alle kannten die Antwort.
Ich ging langsam zur Tür. Jeder Schritt löste eine weitere Schmerzwelle aus und am liebsten wäre ich wieder auf meinen Platz gegangen und hätte mich dort zusammengekugelt.
Mit zitternder Hand griff ich nach der Türklinke, die in just diesem Augenblick hinuntergedrückt wurde.
Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen und in meinem Kopf schien eine kleine Bombe zu detonieren. Der Schmerz schwappte über mich hinweg, wie eine auf den Strand donnernde Welle. Ich japste nach Luft. Nur am Rande nahm ich wahr, wie Mr. Lewis, der Direktor, seine pompöse Erscheinung ins Klassenzimmer wuchtete.
Ich grüßte ihn nicht mal. Ich war halb blind vor Schmerzen und stand am Rande einer Panikattacke. Was war nur los? Ich taumelte einfach an ihm vorbei und stellte dabei fest, dass er nicht alleine war. Er hatte noch zwei Personen im Schlepptau, doch die konnte ich mir beim besten Willen nicht genauer ansehen.
So schnell es mir möglich war, bewegte ich mich in Richtung Ausgang. Hinter mir hörte ich noch die Frage „Wer ist das?“, aber ich konnte nicht darauf reagieren. Meine ganze Aufmerksamkeit galt der Haupteingangstür, der ich mich langsam näherte. Ein paar Mal musste ich mich an einem der Spinde abstützen, die rechts und links den Flur säumten, doch dann erreichte ich endlich die Tür und stand kurz darauf draußen auf dem Schulhof.
Regen prasselte auf meinen Kopf und ich hielt mein Gesicht aufatmend dem Himmel entgegen. Es schien, als würde jeder einzelne Tropfen, einen Teil des Schmerzes wegspülen und kurz darauf erinnerte nur noch ein leichtes Brennen hinter meinen Augen, an den unvorstellbaren Schmerz, der kurz zuvor noch in meinem Kopf getobt hatte.
Langsam wanderte ich über den Hof und genoss die regengeschwängerte Luft. Es machte mir nichts aus, dass ich klatschnass wurde. Hauptsache ich war draußen und die Schmerzen los. Das Brennen ließ sich aushalten.
Allerdings machte ich mir echte Sorgen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals solche Schmerzen gehabt zu haben. Ich hatte eigentlich nie Schmerzen. Ich war noch nie bei einem Arzt. Hatte noch nie in meinem Leben eine Impfung oder auch nur eine Tablette bekommen und nun hatte ich von jetzt auf gleich so starke Schmerzen?
Wenn man das in Beziehung zu diesem unguten Gefühl setzte, das ich schon nach dem Aufstehen verspürt hatte, dann konnte man es mit der Angst zu tun bekommen. Und genau diese kroch gerade langsam in mir hoch.
Mein Nacken verspannte sich. Und aus dieser Verspannung heraus, kroch der Schmerz, wie klobige Wurzeln, zurück in meinen Kopf. Ich krümmte mich nach vorne und erwartete, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Wieder presste ich meine Hände gegen den Kopf und Panik brandete in mir auf. Mein Fluchtinstinkt erwachte. Bis heute hatte ich nicht einmal gewusst, dass ich so etwas besaß, weil es ja normalerweise nicht nötig war, davonzulaufen, weil sich mir freiwillig sowieso niemand näherte.
Inzwischen schüttete es richtig. Und obwohl ich den Regen normalerweise liebte, wünschte ich jetzt, er würde für ein paar Minuten aufhören und mir eine freie Sicht ermöglichen. Durch die dichten Vorhänge aus Wasser, konnte ich meine Umgebung nur noch erahnen. Bestenfalls verschwommen wahrnehmen.
Trotz des unaufhörlichen, pochenden Schmerzes, der sich langsam meines ganzen Körpers zu bemächtigen schien, versuchte ich mich aufzurichten. Langsam. Stück für Stück. Wenn es nicht so regnen würde, würden mir die Schweißperlen über das Gesicht laufen, so viel Anstrengung kostete es mich, meinen Rücken durchzustrecken. Letzten Endes stand ich doch noch leicht gekrümmt da. Mein Atem ging heftig und ich schnappte immer wieder keuchend nach Luft, bevor ich mich zwang, gleichmäßig weiter zu atmen.
Da war etwas. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich dort etwas bewegt hatte. Keine hundert Meter von mir entfernt. Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und das Adrenalin, das durch meinen Körper schoss, ermöglichte es mir, für kurze Zeit, meine Schmerzen zu verdrängen. Instinktiv wusste ich um eine Bedrohung, die ich noch nicht erkennen konnte. Alles in mir schrie danach, das Weite zu suchen. Und das möglichst schnell.
Doch ich rührte mich nicht. Reglos stand ich im Regen. Das Schulgebäude war als wuchtiger Schatten zu erahnen. Für eine Zuflucht lagen die Eingänge aber zu weit entfernt.
Ich spähte angestrengt durch die Regenschleier. Da war es wieder. Ein Schatten huschte durch mein Blickfeld. Ein ziemlich großer Schatten, wie mir auffiel. Genau konnte ich das nicht sagen, doch ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Ich schrie unterdrückt auf, als ein stechender Schmerz durch meinen Körper zuckte.
Vor mir machte ich wieder diesen Schatten aus und nun hielt mich nichts mehr. Ich wirbelte herum und rannte los.
Bei jedem Schritt schien mein Kopf zerspringen zu wollen und es war nur noch die pure Angst, die mich vorwärts trieb. Weg von der Schule und weg von der Bedrohung, worin auch immer sie bestand.
Die Regentropfen peitschten in mein Gesicht und fühlten sich auf der Haut, wie tausend kleine Steinchen an. Meine Haare schlangen sich wie glitschige Algen um meinen Hals und für einen kurzen Moment, einen winzigen Moment, hatte ich die Ahnung kalter Finger um meine Kehle, die langsam zudrückten. Ich schüttelte während des Laufens den Kopf, um diese Illusion loszuwerden und wurde sofort mit einem sengenden Schmerz für diese unbedachte Bewegung bestraft.
Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte. Aber kein Laut drang aus meiner Kehle. Vermutlich hätte es sowieso keiner gehört, bei dem Lärm, den der Regen machte, wenn er auf das Pflaster platschte.
Ich wusste nicht, wie lange ich lief, aber ich sah nicht über die Schulter. Ich konzentrierte mich auf das Laufen. Einen Fuß vor den anderen. Einen Schritt nach dem anderen. Fuß vor Fuß, Schritt nach Schritt. Immer wieder sagte ich mir das, um die Panik zurückzudrängen, die sich langsam meiner ermächtigte.
Ich ließ den Schulhof hinter mir. Erreichte den Feldweg, der mich nach Hause führte. Aber irgendetwas riet mir ab, direkt nach Hause zu laufen. Ich war nicht blöd. Ich wollte meinen Verfolger nur nicht nach Hause führen. Falls ich überhaupt verfolgt wurde. Stattdessen lief ich in den Wald. In den Wald, den ich genauso gut kannte, wie mein Zimmer zuhause. Ich fand mich blind darin zurecht. Und das war mein Vorteil.
Elegant tauchte ich unter den herabhängenden Zweigen einer Tanne ab und meine Schritte federten über den feuchten Waldboden. Das dichte Blätterdach verhinderte, dass mir der Regen hier genauso heftig ums Gesicht schlug, wie außerhalb des Waldes. Hinter mir hörte ich ein undeutliches Fluchen. Eine tiefe Männerstimme. Nun war ich mir sicher, dass ich verfolgt wurde.
Wie ein Hase, rannte ich Haken schlagend durch die eng stehenden Bäume hindurch. Es war dunkel hier. Schon draußen hatte man kaum etwas gesehen, aber hier war es richtiggehend finster. Hinter mir hörte ich einen unterdrückten Schrei, woraufhin ich den Kopf drehte und zurücksah.
Im nächsten Moment spürte ich einen stechenden Schmerz an meiner Stirn. Diesmal von außen. Ich spürte direkt, wie sich meine Augen verdrehten. Ich fiel. Dann wurde alles schwarz.
Langsam tauchte ich aus der Bewusstlosigkeit auf. Und im Gegensatz zu den Filmen, in denen die erste Frage in einer solchen Situation „Wo bin ich?“ lautete, wusste ich sehr genau, wo ich war und verfluchte mich dafür, dass ich mich unbedingt umdrehen musste.
Ängstlich wartete ich auf den Schmerz und auf die Stimme meines Verfolgers, der mich sicher eingeholt hatte. Doch ohne Ergebnis. Wasser rann in kleinen Bächen über mein Gesicht und meine Kleidung klebte nass und kalt an meinem steifen Körper. Ich öffnete vorsichtig meine Augen. Es war immer noch dämmrig, aber nicht mehr ganz so dunkel. Nach wie vor prasselte der Regen auf das dichte, grüne Blätterdach und langsam wurde auch der zuvor noch einigermaßen trockene Waldboden nass und matschig.
Ich setzte mich auf und wischte mit dem Ärmel über mein Gesicht. Erstaunt stellte ich fest, dass sich noch immer keine Schmerzen einstellten. Ich sah mich um und entdeckte… nichts! Kein irrer Psychokiller, der mit einem meterlangen Messer vor mir stand und auch sonst keine augenscheinliche Bedrohung. Anscheinend war ich noch einmal davon gekommen. Ich hatte mehr Glück als Verstand. Ich hatte mir das doch nicht eingebildet?!
Zur Vorsicht rappelte ich mich auf und lauschte angestrengt. Aber ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Wirklich gar nichts. Und auch das Gefühl der Beklemmung, das mich vorhin so überfallen hatte, war verschwunden. In diesem Wald war niemand, der hier nicht hingehörte. Ausgenommen von mir und meinen tropfenden, kalten Klamotten.
Ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass ich die Schule für heute vergessen konnte. Nun musste ich für Mrs. Havers eine plausible Erklärung finden, warum ich nicht wieder aufgetaucht war. Die Geschichte mit der Verfolgung würde sie mir kaum abkaufen. Ich fing ja schon selber an, sie zu bezweifeln.
Langsam machte ich mich auf den Rückweg. Anscheinend war ich gar nicht so weit gelaufen, wie ich gedacht hatte, denn ich erreichte die Schule relativ schnell. Zur Abwechslung graute es mir einmal nicht, das Schulgebäude zu betreten, da die Schüler bereits auf dem Heimweg waren. Ich wusste nicht, ob ich so lange auf dem Pausenhof, gerannt oder bewusstlos gewesen war, aber die Schule war aus. Die Gänge waren wie ausgestorben. Nur vereinzelt hetzte ein Nachzügler in den wohlverdienten freien Nachmittag.
Vor dem Biologieraum blieb ich stehen. Ich holte einmal tief Luft und klopfte dann, bevor ich eintrat.
„Avery! Sie haben mir einen ganz schönen Schreck eingejagt. Wo um alles in der Welt waren Sie denn?“ Mrs. Havers stand auf und kam mir sogar ziemlich nahe. So nah, dass ich erkennen konnte, dass sie sich wirklich ernsthafte Sorgen gemacht hatte.
„Sie sind ja total durchnässt.“
„Es tut mir Leid. Ich brauchte etwas Bewegung und deshalb bin ich in den Wald gegangen, weil ich dachte, dass es dort nicht so nass ist. Dann bin ich wohl gestolpert und irgendwie blöd mit dem Kopf aufgekommen. Anscheinend war ich kurz bewusstlos“, murmelte ich und klopfte mir gedanklich anerkennend auf die Schulter, für diese plausible Geschichte.
„Sie waren so lange bewusstlos?“ Mrs. Havers war offensichtlich entsetzt. Soviel dazu.
„Anscheinend. Aber ich habe nur noch leichte Kopfschmerzen“, setzte ich eilig hinzu, als ich sah, dass sie drauf und dran war, den Sicherheitsradius um mich herum zu durchbrechen.
Sichtlich erleichtert blieb sie stehen.
„Dann gehen Sie besser noch heute zum Arzt und lassen sich untersuchen. Das ist wahrscheinlich sinnvoller, als zur Schulkrankenschwester zu gehen.
„Das werde ich“, beteuerte ich.
Nun sah mich ihr anderes Gesicht doch sehr zweifelnd an, während sie weiterhin nickte und mir schließlich meine Schulsachen aushändigte. Dabei vergaß sie natürlich nicht, mir bis ins Detail zu erklären, welchen Stoff ich nachholen musste. Lehrer!
Aufatmend verließ ich eine Viertelstunde später den Raum und machte mich auf den Heimweg.
Der starke Regen von heute Morgen, war einem sanften Tröpfeln gewichen. Es machte mir nichts. Ich war sowieso schon nass. Also schlenderte ich in meinem üblichen Bummelschritt nach Hause.
Als ich an die kleine Weggabelung kam, die einmal zu unserem Haus und einmal zu dem Nachbarhaus führte, blieb ich ruckartig stehen. Vor dem Nachbarhaus standen zwei Autos. Zwei ziemlich moderne und teure Autos. Zumindest machte es auf mich den Eindruck. Mit Autos kannte ich mich nicht wirklich aus. Auf den ersten Blick konnte ich eigentlich nur sagen, dass das eine silbern war und das andere rot.
Ansonsten war es ruhig und ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Ich wollte schon fast meiner Neugier nachgeben und ein wenig näher rangehen, als ich zögerte. Irgendetwas in mir sträubte sich dagegen.
Dabei war das Bild, das sich mir bot, durchaus friedlich. Der wilde Efeu, der sich an der weißen Fassade hinaufrankte und die blühenden Rosenbüsche rechts und links von der grün gestrichenen Haustür, verliehen dem Haus etwas wild Romantisches. Trotzdem war da diese Ahnung. Als hätte sich eine Art Wolke über das Anwesen gesenkt.
Ich schüttelte den Kopf. Eine Art Wolke… Wahrscheinlich hatte ich mir den Kopf doch stärker angestoßen, als vermutet. Und trotzdem.
Einmal hatte ich diese innere Stimme heute bereits ignoriert und das hatte mich zu einem kleinen Komaaufenthalt in den Wald geführt. Ein zweites Mal passierte mir das mit Sicherheit nicht! Energisch machte ich kehrt und ging nach Hause. Dass das Haus nun allem Anschein nach bewohnt war, behagte mir nicht so recht. Ich hatte gerne meine Ruhe.
Als ich nach Hause kam, stellte ich erleichtert fest, dass meine Mutter nicht da war. Das bedeutete, dass ich mich ungestört im Haus bewegen konnte, ohne Angst haben zu müssen, sie aufzuwecken oder ihr sonst irgendwie in die Quere zu kommen.
Ich kochte mir Nudeln mit Tomatensoße und setzte mich im Wohnzimmer auf einen Sessel, nachdem ich alle Fenster aufgerissen hatte. Ich hatte den Fernseher angeschaltet, nahm aber das Geschehen auf dem Bildschirm gar nicht wirklich wahr. Darum schaltete ich die Flimmerkiste nach ein paar Minuten ab und hing meinen Gedanken nach.
Ich ließ die Ereignisse des heutigen Tages immer wieder Revue passieren, bis ich dachte, die Kopfschmerzen kämen zurück. Ich wurde daraus einfach nicht schlau. Es war definitiv jemand hinter mir her gewesen. Ich war ohnmächtig geworden, lag somit wehrlos im Wald herum, aber nichts passierte? Und dann waren die Schmerzen restlos verschwunden und das, obwohl ich mir den Kopf angeschlagen hatte? Das war alles nicht logisch. Und ich mochte die Logik. Logik war etwas, das Erklärungen lieferte. Etwas, auf das man sich verlassen konnte. Das beständig war. Etwas, das Sinn ergab. Wo aber war hier der Sinn?
Die Nudeln hatte ich, trotz meiner Grübeleien, inzwischen aufgegessen. Ich trug das Geschirr in die Küche und wusch es schnell ab. Anschließend zog ich mir meine älteste Jeans und das ausgeleierte Sweatshirt über, das schon bessere Zeiten erlebt hatte und fuhr mit dem Fahrrad zurück in die Stadt. Heute hatte ich Dienst in der Tierarztpraxis.
Es verwunderte mich immer noch, dass Dr. Cory Bishop mich eingestellt hatte. Aber anscheinend überwogen meine Fähigkeiten im Umgang mit Tieren, die Tatsache, dass auch sie sich in meiner Nähe nicht wirklich wohl fühlte. Doch langsam gewöhnte Cory sich an mich. Mir war es zunächst gar nicht aufgefallen, aber ihr Sicherheitsabstand zu mir verringerte sich mit jedem Mal, das ich da war, ein Stückchen mehr. Mein persönliches Highlight bestand darin, dass sie mich sogar einmal berührt hatte. Zwar mit einem Latexhandschuh und auch nur, um mir zu zeigen, wie ich die Blutung des angefahrenen Hundes unter Kontrolle hielt, aber berührt war berührt.
Ich fuhr durch die engen Straßen von Forest Creek und entdeckte ein paar bekannte Gesichter. Gegrüßt wurde ich nicht. Seufzend stellte ich mein Rad schließlich vor der kleinen Tierarztpraxis ab. Da sich die Praxis unten in dem Privathaus der Ärztin befand, suchte man die sterile Umgebung vergeblich. Sobald man das Haus betrat, gelangte man in einen kleinen Warteraum, der mit seinen Sofas, Kissen und Tischchen eher an ein Wohnzimmer erinnerte.
Wie immer waren bereits ein paar ältere Herrschaften anwesend, die es sich dort gemütlich gemacht hatten, Tee tranken und sich miteinander unterhielten.
Corys Praxis war so etwas wie der inoffizielle Seniorentreffpunkt der Stadt. Die alten Leute hatten hier Gesellschaft, jemanden zum Reden und eine private Gemütlichkeit, die in der ansässigen Seniorenresidenz anscheinend vermisst wurde.
Ich grinste, als ich die nebeneinander aufgestellten Katzentransportboxen sah, die den Herrschaften als Alibi dienten. Doch die Vierbeiner schien das nicht zu stören. Sie waren die Ausflüge gewöhnt und da in den meisten Fällen keine Behandlung durch die Ärztin drohte, nahmen sie ihren Aufenthalt hier sehr gelassen hin.
„Guten Tag“, grüßte ich artig und hob sogar die Hand zum Gruß. Ich bekam sogar ein paar Antworten, die, wenn auch in den Tee genuschelt, freundlich gemeint waren.
Ich lächelte leicht und schlüpfte in den weißen Kittel, den Cory für mich an den Kleiderhaken neben der Sprechzimmertür gehängt hatte.
Aus dem Sprechzimmer ertönte aufgeregtes Bellen und das Lachen der Ärztin. Ich klopfte kurz an, bevor ich eintrat.
„Avery, gut dass du da bist. Tilo scheint heute nicht so viel Gefallen an meiner Behandlung zu finden.“ Cory sah mich erleichtert an. Der Hundehalter, ich hatte seinen Namen vergessen, stand unbeteiligt daneben und sah zu, wie Cory sich damit abmühte, den großen Schäferhund festzuhalten.
Ich mochte solche Menschen nicht. Man sah ganz deutlich, dass das arme Tier eine große Angst hatte, aber der Mann rührte keinen Finger. Als würde ihm der flehende Blick in den Augen des Tieres völlig entgehen.
Entschlossen trat ich näher und legte Tilo beruhigend eine Hand in den Nacken. Meine Finger glitten durch das warme weiche Fell und seine Ohren spitzen sich aufmerksam, als ich ihm irgendwelche belanglosen Floskeln zuraunte. Erleichtert ließ Cory das Halsband los, welches sie zuvor fest umklammert hatte und zog eilig die Spritze auf. Ich grinste, als ich sah, mit welcher Selbstverständlichkeit der große Hund nun auf dem Behandlungstisch saß. Als könnte er kein Wässerchen trüben. Er wedelte sogar mit dem Schwanz.
Mit einem Aufatmen, das von Herzen kam, packte Cory schließlich die Spritze weg.
„Ich kann den Kerl nicht ausstehen“, bemerkte Cory freimütig, als sich die Tür hinter Tilo und seinem mürrischen Herrchen geschlossen hatte. Stöhnend streckte die Ärztin ihren Rücken durch und band sich die krausen roten Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen. Der alte hatte sich offenbar während der Auseinandersetzung mit vierzig Kilo Hund gelöst.
Das mochte ich an ihr. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, unterschied sich Corys anderes Gesicht nur in wirklichen Ausnahmefällen von ihrem für jeden sichtbaren. Sie sagte, was sie dachte und stand auch dazu.
„Wer ist denn als nächstes dran?“, fragte ich die junge Frau, die zu ihrem eigenen Schrecken, vor einer knappen Woche ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte.
Cory lächelte und um ihre Augen bildeten sich dutzende von kleinen Lachfältchen.
„Ich denke, wir lassen uns jetzt gehörig Zeit mit dem Aufräumen. Das ganze Wartezimmer ist voller Pseudopatienten.“
Ich lachte. Mit betont langsamen Bewegungen desinfizierte ich den Behandlungstisch.
„Wir haben anscheinend Nachbarn bekommen“, platze ich schließlich heraus. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass mich diese Angelegenheit doch beschäftigte. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Cory kam einer Freundin am Nächsten, was doch ziemlich traurig war.
„Ja, das habe ich schon gehört. Mrs. Tuttle war heute Morgen hier.“ Bedeutungsvoll wackelte Cory mit den Augenbrauen.
Mrs. Tuttle war ein wandelnder Informationspunkt. Oder einfacher ausgedrückt: Die Klatschbörse schlechthin. Es gab eigentlich nichts, was den bebrillten Augen dieser alten Dame entging. Oder dem Hörgerät, das höchstwahrscheinlich auch Mikrowellen empfangen konnte. Ich verdrehte die Augen. Versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie begierig ich auf eben diese Informationen war. Das Gefühl der Beklemmung hatte sich zwar verflüchtigt, aber ich konnte noch immer die feinen Härchen in meinem Nacken spüren, die sich aufgestellt hatten, als ich auch nur daran dachte, mich dem Nachbaranwesen zu nähern. Ich wurde langsam verrückt!
„Mrs. Tuttle konnte gar nicht so viel dazu sagen. Und das hat sie ziemlich gestört. Sie hat sogar vergessen, sich nach meinem brach liegenden Liebesleben zu erkundigen. Sie wusste nur, dass es sich bei unseren neuen Mitbürgern um vier Geschwister handelt. Ich denke, dass du sie noch vor mir zu sehen bekommst, weil sie ja sehr wahrscheinlich deine Schule besuchen werden.“ Cory griff nach ihrem Klemmbrett, das sie auf dem Meidkamentenschrank abgelegt hatte. Mit gerunzelter Stirn ging sie die Liste der Patienten durch, die draußen im Wartezimmer ihren Besitzern beim Teetrinken zusahen.
„Anscheinend leben sie alleine. Ich weiß nicht, was mit den Eltern ist. Und Mrs. Tuttle anscheinend auch nicht“, fügte Cory augenzwinkernd hinzu und öffnete die Tür, um den nächsten Alibipatienten zu untersuchen.
Geschwister also. Und wenn sie tatsächlich meine Schule besuchen sollte, dann konnten sie noch nicht so alt sein. Trotzdem breitete sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend aus. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich unsere Nachbarn nicht kennen lernen wollte.
Unruhig zog ich mir die Kapuze meines blauen Pullovers noch weiter in die Stirn. So unauffällig wie möglich bahnte ich mir einen Weg durch das Gedränge der Schüler. Ich unterdrückte ein Gähnen. Ich hatte die Nacht nicht gut geschlafen. Dunkle Ringe zierten nun die Gesichtspartie unter meinen Augen und eine bleierne Müdigkeit steckte in meinen Gliedern. Gleichzeitig war ich nervös. Und diese Kombination aus Müdigkeit und erwartungsvollem Kribbeln in meinem Bauch, machte mir zu schaffen.
Als ob etwas über mir schweben würde. Ein Ereignis, dem ich nicht davon laufen konnte. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so diese verworrenen Gedanken vertreiben. Es war wahrscheinlich schlicht und ergreifend die Neugier, die mich so nervös machte. Die Neugier auf die Geschwister, die so einsam und abgeschieden am Rand der Stadt wohnten. Neben meiner Mutter und mir.
Doch das, was ich spürte, war keine Nervosität. Es war Angst. Leider konnte ich beim besten Willen nicht sagen, was diese tief verwurzelte Angst in mir ausgelöst hatte. Es konnten ja schlecht die Erzählungen von Mrs. Tuttle und dieses Unwohlsein beim Betrachten des Hauses sein, die mich in ein nervliches Wrack verwandelten.
Vorsichtig rutschte ich auf meinen Platz im Klassenraum. Ich ertappte meine Finger dabei, wie sie abermals nervös an der Kapuze zupften. Ärgerlich senkte ich meine Hand, nur um sie kurz darauf eine meiner langen braunen Locken ergreifen zu lassen und das nervöse Spiel in etwas abgewandelter Form fortzusetzen.
Der Raum fülle sich langsam und aufgeregtes Geplapper hallte von den Wänden wider. Ich blendete es so gut es ging aus und versuchte mich, auf meine Atmung zu konzentrieren, die in den letzten Minuten immer schneller geworden war.
Wieder schwappte dieses panikartige Gefühl über mich hinweg, das mich bereits Gestern erfasst hatte. Tief holte ich Luft. In dem allgemeinen Geräuschpegel fiel es Gott sei Dank nicht auf, dass ich mich anhörte, wie nach einem hundert Meter Sprint.
Kalter Schweiß trat auf meine Stirn und meine Hände wurden feucht. Was war nur los? Ich war den Tränen nahe. Was stimmte nur nicht mit mir? Mein Herz pochte laut in meiner Brust und in meinen Ohren rauschte das Blut, wie die Stromschnellen des Flusses, der sich durch die Felder und Wiesen von Forest Creek wand. Ich wollte gerade aufstehen und nach draußen flüchten, als die Klassenzimmertür schwungvoll geöffnet wurde.
Mr. Lewis betrat den Raum, gefolgt von zwei neuen Schülern und ich erstarrte. Ich konnte mich einfach nicht mehr bewegen. Sämtliche Haare an meinem Körper sträubten sich. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, aber ich war wie gelähmt. Ich konnte mich noch nicht einmal schütteln. Ich saß da, wie angewachsen, während alles in mir nach Flucht schrie.
„Dies sind Diana und Liam O´Bannion“, ertönte Mr. Lewis` volltönende Stimme.
Ich schluckte und verzweifelt presste ich meine Hände gegen beide Schläfen. Doch den Blick konnte ich nicht abwenden. Von dem Mädchen und dem Jungen, die ihre Blicke aufmerksam durch das Zimmer schweifen ließen.
Das Mädchen, Diana, hatte lange schwarze Haare, die ihr glatt über den Rücken fielen. Wie ein Vorhang aus schwarzer Seide. Sie war ungefähr so groß wie ich und ich war mit einem Meter siebzig nicht gerade klein. Trotzdem wirkte sie schüchtern. Ihre mokkabraunen Augen huschten durch das Zimmer und schienen für einen flüchtigen Moment auf jedem Gesicht zu ruhen. Als versuchte sie, die verschiedenen Menschen einzuordnen. In ihr ganz persönliches Bewertungssystem. Sie war durchaus hübsch, wirkte aber neben ihrem Bruder fast schon unscheinbar.
Liam O’Bannion war ein Stück größer, als seine Schwester, legte aber ein ganz anderes Auftreten an den Tag. Selbstbewusst stand er im Raum. Den Rücken gerade und die Schultern durchgestreckt. Sein braunes kurzes Haar war sorgfältig geschnitten und unter ein paar Stirnfransen lugten dieselben mokkabraunen Augen hervor, die ich bereits bei seiner Schwester bemerkt hatte und genau wie sie, ließ auch er den Blick durch den Raum schweifen. Allerdings ließ er die Leute merken, dass er sie einer Musterung unterzog. Er hielt Blickkontakt und wandte seine Augen nicht peinlich berührt ab, wenn er beim Mustern ertappt wurde. Stattdessen breitete sich dann ein schalkhaftes Lächeln auf seinem Gesicht aus, das ihn einfach unwiderstehlich wirken ließ.
Vermutlich wäre auch ich seinem Zauber erlegen, wenn nicht in dem Moment, in dem Liams Blick bei mir ankam, ein stechender Schmerz durch meinen Kopf gezuckt wäre. Ich keuchte auf und hielt mich nur noch mit Mühe aufrecht auf meinem Stuhl. Hastig unterbrach ich den Blickkontakt, doch es wurde nicht besser. Vielmehr nahmen die Schmerzen zu und nun standen mir tatsächlich Tränen in den Augen. Doch nun waren es Tränen des Schmerzes. Ich hielt es fast nicht mehr aus.
Ich presste meine Handballen vor die Augen, als könnte ich so den Schmerz in den hintersten Winkel meines Kopfes verbannen.
Und dann, so plötzlich, wie er gekommen war, verschwand er. Irritiert aber gleichzeitig erleichtert, senkte ich meine Hände. Ganz langsam, als könnte durch eine unbedachte Bewegung alles wieder von Vorne losgehen. Als nichts passierte, stieß ich erleichtert die Luft aus, die sich in meinen Lungen angestaut hatte. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich sie angehalten hatte. Mit dem Ärmel meines Pullovers fuhr ich mir zitternd über die Stirn.
„Sie werden ab heute auf jeden Fall diese Klasse besuchen“, sagte Mr. Lewis in diesem Augenblick und holte mich in das Geschehen zurück.
Ich hob den Kopf und spähte vorsichtig nach vorne. Hoffentlich hatte keiner etwas mitbekommen. Nach der gestrigen Aktion, wollte ich nicht schon wieder die Aufmerksamkeit aller auf mich ziehen.
Zwei mokkabraune Augenpaare begegneten meinem Blick und fixierten ihn. Die Geschwister hatten die Stirnen in Falten gelegt und sahen sich mit einem Mal unglaublich ähnlich, wie sie so dastanden und mich nicht aus den Augen ließen.
Verlegen zog ich wieder an meiner Kapuze, die sich leider nicht mehr tiefer in mein Gesicht ziehen ließ, ohne dass ich mich dabei ausgezogen hätte. Also ließ ich mich stattdessen tiefer in meinen Stuhl sinken und rutschte etwas nach unten. Inzwischen wurden nämlich auch meine Klassenkameraden auf die intensiven Blicke aufmerksam und drehten sich um, als wollten sie sich vergewissern, dass sie mir galten. Als säße noch jemand hier in der letzten Reihe, dachte ich innerlich schnaubend.
Zum Glück hielt niemand meinem Blick länger stand, sodass sich bald wieder alle umgedreht hatten und ihre Aufmerksamkeit zurück auf die zwei Neuen richteten, die immer noch vor der Tafel standen. Zum Glück hatten sie nun auch endlich ihre Blicke abgewandt, weil Mr. Lewis ihnen gerade irgendwelche Zettel in die Hand drückte. Vermutlich ihre Stundenpläne. So bekamen sie nicht mit, wie unter den weiblichen Mitgliedern dieser Klasse, heftige Spekulationen über den Beziehungsstatus von Liam angestellt wurden.
Wieder einmal war ich froh, dass ich ganz hinten saß. So konnte ich ihre Gesichter nicht sehen. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken, dass sie wahrscheinlich alle vor sich hin sabbern würden, aber gleichzeitig legte sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. Wie gut, dass ich mich selber nicht beobachten konnte. Vermutlich sah ich nicht besser aus. Er sah aber auch gut aus. Allerdings sagte mir das freche Grinsen, das er zur Schau stellte, dass er sich dessen durchaus bewusst war.
Ich musterte sein ebenmäßiges Gesicht, bis ich feststellte, dass er meinen Blick erwiderte. Ertappt sah ich ihn einen kurzen Augenblick an, was er nun mit einem Lächeln und einer leicht angehobenen Augenbraue quittierte. Hastig zwang ich meine Augen stattdessen auf das Gesicht seiner Schwester. Die sah ziemlich genervt aus und rammte ihrem Bruder den Ellbogen in den Bauch, worauf er ihr den Arm um die Schultern legte, was ein kollektives Aufseufzen zur Folge hatte.
Himmel, langsam wurde es lächerlich. Anscheinend dachte das auch Diana, denn sie lächelte belustigt und flüsterte ihrem Bruder etwas zu, worauf er kurz das Gesicht verzog. Ich wüsste wirklich gerne, was sie gesagt hatte. Und dann stockte ich. Meine Augen wanderten zwischen den Geschwistern hin und her. Es war mir egal, dass sie meine Musterung inzwischen bemerkt hatten und sie ruhig und völlig unbeteiligt über sich ergehen ließen. Auch, dass Liam wieder spöttisch eine Augenbraue hochgezogen hatte, interessierte mich momentan nicht die Bohne. Ich konnte ihr anderes Gesicht nicht entdecken. So sehr ich mich auch bemühte. Es gab nicht einmal eine verschwommene Regung in den Gesichtern der beiden. Gar nichts. Da war nichts, das nicht alle anderen auch sehen konnten.
Schnell huschte mein Blick zu Miss Parker, unserer Mathelehrerin, die inzwischen die Klasse betreten hatte und sich nun höflich von dem Direktor verabschiedete, wobei ihr anderes Gesicht sichtlich genervt wirkte. Sie wollte Mr. Lewis ganz offensichtlich endlich loswerden. Also lag es nicht an mir. Es waren die Geschwister, mit denen etwas nicht stimmte. Ich bezweifelte nämlich stark, dass es sich bei ihnen um so grundehrliche Personen handelte, die immer ihr Innerstes herauskehrten und vor der ganzen Welt ausbreiteten. Liams verwegenes Grinsen, das nun mit absoluter Sicherheit mir galt, bestätigte mich in dieser Annahme. Da war etwas faul und zwar richtig faul. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich beobachtet. Ich war es nicht gewohnt, dass man mir seine Aufmerksamkeit länger, als für ein paar Sekunden widmete. So eine Wirkung hatte ich einfach auf die Menschen und daran hatte ich mich früh gewöhnen müssen.
Liam und Diana schienen da eine Ausnahme zu bilden, denn sie kamen schnurstracks auf mich zu, als Miss Parker, der es endlich gelungen war, ihren Vorgesetzten abzuschütteln, nur unbestimmt in meine Richtung gewedelt hatte.
Ich hielt den Atem an, als sie bis auf zwei Meter herangekommen waren. Gleich würden sie stock und stehen bleiben. Dann würden sie sich an das andere Ende der Tischreihe setzen. Komischerweise war ich enttäuscht. Ich wollte nicht, dass sie sich von mir abgestoßen fühlte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich ein stückweit normal zu werden. Ich wollte schon den Kopf senken, um nicht sehen zu müssen, wie sie sich von mir abwandten, als sie meinen Sicherheitsradius einfach durchbrachen.
„Wie geht`s?“ Liams Stimme klang angenehm und hell, als er sich einfach auf den freien Stuhl neben mir fallen ließ. Diana nickte nur, als sie sich auf die andere Seite ihres Bruders setzte.
Ich musste ungefähr so intelligent ausgesehen haben, wie meine Mitschüler, die sich umgedreht hatten und nun mit offenen Mündern zu uns nach hinten starrten.
Ich räusperte mich vorsichtig, als ich merkte, dass Liam auf eine Antwort wartete und nicht einfach nur eine Floskel angebracht hatte.
„Danke, gut“, gab ich nervös zurück und war froh, dass meine Stimme einigermaßen nach mir selbst klang und nicht wie die eines verschreckten Mäuschens.
„Wie heißt du?“ Liam sah mich aufmerksam an. Seine Augen brannten sich in meine und ich hatte den Eindruck, als suchte er nach irgendetwas.
„Avery.“ Ich zwang mich, seinen Blick zu erwidern, ohne mir meine Nervosität anmerken zu lassen. Ich war richtig stolz auf mich, als ich es schaffte, auch meine Augenbraue etwas anzuheben, so wie er es davor getan hatte.
Liam nickte leicht. „Avery also.“ Mein Name klang aus seinem Mund ganz ungewohnt. So, als würde er einen guten Wein genießerisch über seine Zunge rollen lassen. Wieder starrte ich in seine tiefbraunen Augen. Hatte ich schon jemals so braune Augen gesehen?
Diana unterbrach unser stummes Blickduell, als sie Liam wieder den Ellbogen in die Seite stieß. Demonstrativ schüttelte sie den Kopf und rollte dabei die Augen. Während Liam nur noch breiter grinste, nutzte ich die Gelegenheit, um meine Aufmerksamkeit auf die Tafel zu lenken.
Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass dies einer der Momente war, auf die man später zurückschaute und mit Sicherheit behaupten konnte, dass sich da etwas verändert hatte. Und zwar grundlegend.
Bestätigt wurde dieser Eindruck durch die Wärme, die Liams Arm ausstrahlte, als er meinen, wie zufällig, kurz berührte. Seinen Blick hielt er dabei stur auf die Tafel gerichtet, während Diana mir einen kurzen, aber eindringlichen Blick schenkte. War es Ablehnung, die ich darin erkannte? Oder mehr eine unausgesprochene Warnung?
Eine warme Hand legte ich auf meine, als ich nach der Stunde hastig meine Sachen zusammensuchte. Erschrocken zuckte ich zusammen und ich ließ natürlich prompt mein Buch fallen, das ich soeben in meine Tasche stopfen wollte. Beschämt hob ich es auf, bevor ich mich leicht zur Seite drehte, um Liam ansehen zu können, ohne, dass mir meine Kapuze ständig im Blickfeld war.
„Weißt du, Avery“, wieder zog er meinen Namen genüsslich in die Länge „wir sind ja neu hier. Vielleicht kannst du uns zur nächsten Stunde begleiten? Wir müssen zu Mrs. Havers. Biologie.“
Ich schluckte. Na super. Da musste ich auch hin. Sehr wahrscheinlich war es kein Zufall, dass Miss Parker vorhin in meine Richtung gezeigt hatte.
„Da muss ich auch hin“, nuschelte ich schicksalsergeben und hängte mir meine Tasche über die Schulter.
„Sieh an, Ana, unsere ganz persönliche Führerin“, scherzte Liam und sah mich dabei an. Glücklicherweise errötete ich nicht allzu schnell. Ansonsten, wäre mir das Blut sicher schon ins Gesicht geschossen bei der Intensivität des Blickes.
Diana grummelte etwas vor sich hin. Sie war anscheinend nicht die Gesprächigste. Wir warteten noch kurz, bis Diana fertig mit dem Einsammeln ihrer Sachen war, bevor wir uns auf den Weg machten.
Wir. Es klang so ungewohnt. Es war so ungewohnt! Werder Liam noch Diana schienen sich an meiner Gegenwart zu stören, obwohl ich ihre Blicke immer wieder einmal nachdenklich auf mir ruhen spürte. Auch die Blicke meiner Mitschüler bekam ich zu spüren. Nur sah ich in ihnen den Neid, die Eifersucht und das Erstaunen. Immer wieder Erstaunen und Unglauben, dass ausgerechnet ich in den Genuss der Begleitung der Geschwister kam, auf die alle so neugierig waren und die noch dazu so gut aussahen.
„Seid ihr eigentlich Zwillinge“, fragte ich, um das Schweigen zu brechen und meine Konzentration von den Gaffern abzulenken.
Erstaunt sahen mich die zwei an. „Sind wir. Und Ana ist sogar ein paar Minuten älter als ich.“ Liam grinste mich an, als freute er sich maßlos, dass ich Interesse an seiner Person bekundet hatte.
„Normalerweise kommt da niemand drauf. Man hält Liam immer für älter.“ Zum ersten Mal meldete sich Diana zu Wort. Ich war überrascht von dem angenehmen Klang ihrer Stimme und noch mehr von dem schüchternen Lächeln, das sie mir dabei zuwarf.
Unwillkürlich lächelte ich zurück.
„Wohnst du schon immer hier, Avery?“ Liam musterte mich interessiert. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er großen Wert auf meine Antwort legte. Unsicher sah ich ihn an.
„Ja. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen am Waldrand.“ Ich sah keinen Grund darin, es zu verheimlichen. Wenn es sich bei den Geschwistern um irre Axtmörder handelte, dann würden sie früher oder später sowieso alles über mich herausfinden. Sie mussten nur Mrs. Tuttle ein paar Plätzchen vorbei bringen.
„Am Waldrand? Dann wohnst du in unserem Nachbarhaus?“ Diana schien sich an den Klang ihrer eigenen Stimme gewöhnt zu haben, denn diese Frage stellte sie nicht mehr so zaghaft, wie die davor. In ihren Augen blitzte jetzt ein Funke Neugier und ich verbiss mir ein Lächeln. Ich kannte sie überhaupt nicht, aber ich mochte sie.
„Ja. Ich habe gestern schon gesehen, dass anscheinend wer eingezogen ist. Ich wollte auch kommen, aber dann…“ Ich verstummte. Ich war drauf und dran gewesen, von meinen Eindrücken gestern zu erzählen. War ich denn noch bei Trost? Ich hatte hier die Chance, echte Freunde zu finden und würde mir das bestimmt nicht kaputt machen, indem ich ihnen auch noch lang und breit erklärte, wie verrückt ich eigentlich war.
„Dann…?“ Liam sah mich erwartungsvoll an. Ich mochte es, zu ihm aufzuschauen. Trotzdem wich ich seinem Blick jetzt lieber aus.
„Ach, ich musste nur nach Hause, weil ich schon spät dran war für die Arbeit.“ Ja, das konnte man gelten lassen. Es klang sogar recht plausibel.
Trotzdem bemerkte ich den Blick, den die Zwillinge sich zuwarfen. Sie schienen nonverbal zu kommunizieren und ich fühlte mich plötzlich ausgeschlossen. Was lachhaft war. Ich kannte sie überhaupt nicht.
„Wo arbeitest du denn?“, bohrte Diana nach und kam ihrem Bruder, der den Mund schon geöffnet hatte, damit zuvor.
„In einer Tierarztpraxis“, antwortete ich, froh, etwas Unverfängliches sagen zu können. Doch anscheinend war es nicht unverfänglich genug, denn Liam brach in Gelächter aus.
Verwundert sah ich ihn an und wünschte im nächsten Augenblick, dass ich es nicht getan hätte. Er sah wirklich unverschämt gut aus. Ein Blick in die Gesichter der Umstehenden, bestätigte mich in meiner Beobachtung. Sämtliche Blicke waren auf den braunhaarigen Kerl gerichtet, der sich königlich über meinen Arbeitsplatz amüsierte. Meinen Arbeitsplatz.
Langsam wurde die Anschmachterei durch eine gehörige Portion Wut ersetzt. Was bildete der Typ sich ein?
„Kannst du mir mal sagen, was daran so lustig ist?“, fauchte ich ihn an. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass ihm das Lachen verging. Auch Diana warf ihrem Bruder einen vernichtenden Blick zu.
„Tut mir Leid“, tat Liam zerknirscht.
Ich sah ihn abwartend an.
„Es tut mir wirklich leid. Es ist nur ein solches Klischee.“ Wieder breitete sich ein Grinsen in seinem Gesicht aus.
„Au. Spinnst du?“ Er sah seine Schwester böse an, die ihm mit voller Absicht auf den Fuß getreten hatte. Im Stillen beglückwünschte ich sie zu dieser Aktion.
„Klischee? Inwiefern ist das denn ein Klischee?“ Meine Stimme klang bedrohlich gelassen. Aber ich würde ihm am liebsten auch noch mal auf den Fuß treten und zwar auf denselben!
Liam schien nach einer Antwort zu suchen. Wieso konnte ich sein anderes Gesicht nicht sehen? Jeder hatte eins. Wirklich jeder. Ich hatte mich damit abgefunden und jetzt kam dieses Zwillingspärchen daher und brachte mein mühsam konstruiertes Weltbild zum Wanken. Und dann lachte mich die eine Hälfte davon auch noch aus!
„Klischee, weil du ein hübsches Mädchen bist, das sich den Tieren verschrieben hat.“ Seine Antwort klang lahm. Selbst in meinen Ohren. Doch auch ohne das andere Gesicht war ich mir sicher, dass er mir nicht erklären würde, was genau er gemeint hatte.
Auch Diana machte keine Anstalten, in die Bresche zu springen. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass sie genau wusste, wovon ihr Bruder da sprach. Den Blicken nach zu urteilen, würde sie ihm später noch eine Abreibung verpassen.
Ich ließ es auf sich beruhen. Vielleicht bot sich ja später noch die Gelegenheit für eine kleine Fragerunde.
Die nächste Überraschung erwartete uns vor dem Biologieraum in Form einer Abwesenheitsnotiz. Mrs. Havers war anscheinend erkrankt. Der Kurs fiel aus.
„Na das ist doch mal eine gute Nachricht“, sagte Liam und klatschte freudig in die Hände. Diana schüttelte den Kopf. Sie schien die Gefühlsausbrüche ihres Bruders gewohnt zu sein, auch wenn er gerade die Erkrankung einer Lehrerin feierte.
„Wir könnten uns draußen auf eine der Bänke setzen“, schlug ich zaghaft vor.
„Gute Idee“, stimmte zu meinem Erstaunen Diana gleich zu und griff ihren Bruder am Arm, bevor der von einer Horde Mädchen in Beschlag genommen werden konnte, die sich bereits an ihn heranpirschte.
Wir marschierten durch den langen Flur zurück und zum ersten Mal sprangen die Leute nicht sofort hastig aus dem Weg, sondern vergewisserten sich vorher, dass es tatsächlich ich war, die da in Begleitung den Flur entlangschritt. Ein Lächeln erstrahlte in meinem Gesicht und ich strich mir die Kapuze vom Kopf, um meine Haare aus der warmen Höhle zu befreien.
„Wow.“ Liam griff einfach in meine langen braunen Locken und ließ sie andächtig durch die Finger gleiten.
„Liam! Nimm die Finger von ihr!“ Diana klang richtig empört, was ihren Bruder aber nicht zu stören schien. Ganz langsam fuhr er durch meine Haare und ich muss gestehen, dass sich auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich die Hände eines anderen Menschen einfach so auf mir. Ohne Ekel, ohne Abscheu, ohne Zwang. Einfach, weil er es wollte, berührte er mich.
„Dir sollte man Kapuzenpullis strikt verbieten“, sagte er, nachdem er seine Hände wieder bei sich hatte und ich nicht umhin konnte, ihre Abwesenheit ein kleines bisschen zu bedauern.
„Ich mag meine Kapuzen.“ Ich versuchte meiner Stimme einen betont neutralen Klang zu geben.
„Ignorier den Idioten einfach.“ Diana schien sich immer wohler zu fühlen. So freimütig, wie sie das sagte.
Draußen fanden wir tatsächlich noch eine freie Stelle auf der Wiese, die sonst immer von Schülern belagert wurde, die in den Pausen etwas Sonne tanken wollten. Während Diana und Liam Sandwiches hervorkramten, biss ich in einen Apfel.
„Möchtest du etwas von mir abhaben?“ Liam warf einen skeptischen Blick auf meinen Apfel.
„Nein danke. Ich mag kein Fleisch“, antwortete ich mit einem ebenso skeptischen Blick auf sein Schinkensandwich.
Den Blick, den sich die Zwillinge jetzt zuwarfen, ignorierte ich schon sehr gekonnt. Als tauschten sie Informationen oder Vermutungen aus, ohne dass eine dritte Seite es verstehen konnte. Sollte mir recht sein. Ich schloss kurz die Augen und hielt mein Gesicht der Sonne entgegen.
„Seid ihr eigentlich nur zu zweit? Ich habe was von vier Geschwistern gehört“, sagte ich schließlich, um die Unterhaltung wieder aufzunehmen. Für ein Anschweigen kannten wir uns noch nicht gut genug.
„Wo hast du das denn gehört?“, fragte Liam belustigt.
Ich grinste. „Das ist eine kleine Stadt. Ihr seid Gesprächsthema Nummer eins!“
Diana lachte hell auf. Ja, ich mochte sie wirklich. Sie nahm es mit Humor, dass sie ganze Stadt über sie klatschte, während Liam etwas bedröppelt aus der Wäsche guckte.
„Wir sind tatsächlich zu viert.“ Diana hielt ihr Gesicht ebenfalls der Sonne entgegen.
„Wir haben noch eine Schwester und einen Bruder. Izzy und Noah. Sie sind auch Zwillinge“, fügte sie mit einem grinsenden Seitenblick auf mich hinzu.
„Und sie sind ein Jahr älter als wir, was sie auch nur zu gerne raushängen lassen.“ Liam verzog sein Gesicht, als würde er seelische Schmerzen erdulden müssen.
„Liam übertreibt. Sie fühlen sich nur für uns verantwortlich, weil unsere Eltern in Europa sind.“
„Ihr seid also ganz auf euch gestellt?“ Warum fragte ich das eigentlich so ungläubig? War ja nicht so, als würde sich jemand um mich kümmern.
„Ach, das ist halb so wild. Das sind wir schon gewohnt.“ Liam schielte nach dem restlichen Sandwich seiner Schwester.
Ich grinste, als er es sich kurzerhand aneignete. Aber im nächsten Moment verging mir das Grinsen. Ich keuchte auf und presste meine geballte Faust vor die Brust.
„Avery? Was ist los mit dir?“ Diana sah mich entsetzt an. Ich konnte nur den Kopf schütteln. Tränen traten mir in die Augen und rannen ungehindert meine Wangen hinab. Ich holte keuchend Luft und hatte das Gefühl, dabei zu ersticken. Ich rang nach Atem. Aber dieses Gefühl war noch harmlos im Vergleich zu der tiefen Qual, die mir vorgaukelte, jemand hätte mir mit einem Dolch in die Brust gestochen.
„Avery!“ Liam hockte sich vor mich und fasste mich an den Schultern.
Der Schmerz nahm nicht ab. Zittrig japste ich nach Luft und presste gleichzeitig beide Hände vor die Brust.
„Diana, tu was.“ Liams Stimme klang angsterfüllt.
„Ich weiß nicht was!“ Diana sah sich panisch um. Schließlich blieb ihr Blick an etwas hängen, dass sich hinter Liam befand.
„Noah“, hauchte sie.
„Was ist hier los?“ Eine tiefe Stimme drang leise an mein Ohr und ich krümmte mich vor Schmerzen zusammen und landete in Liams Armen, der mich vorsichtig festhielt. Mir wurde schwarz vor Augen.
„Mein Gott, Noah, das bist du.“ Diana klang völlig aufgelöst.
Dann wurde mir schwarz vor Augen. Innerhalb von zwei Tagen fiel ich das zweite Mal in eine tiefe Ohnmacht.
Krampfhaft kniff ich die Augen zu. Ich wollte nicht aufwachen! Ich war vor Liam und Diana zusammengeklappt. Langsam schienen diese Ohnmachtsanfälle zur Gewohnheit zu werden. Ich sollte vielleicht mal einen Arzt aufsuchen. Das wäre dann eine ganz neue Erfahrung für mich. Aber langsam wurde ich von der Notwendigkeit eines Besuches überzeugt.
„Sie ist wach“, ertönte eine dunkle Stimme direkt neben mir.
„Avery?“ Das war Diana, die sich anscheinend über mich gebeugt hatte, denn ihre Stimme erklang direkt über meinem Gesicht.
„Schätzchen, du solltest jetzt wirklich langsam die Augen aufmachen.“ Liam. Definitiv Liam. Auch er klang ziemlich nah und ein wohliges Kribbeln schoss durch meinen Magen.
Zögernd blinzelte ich und sah zwei verschwommene Gesichter, direkt vor mir. Nach abermaligem Blinzeln, erkannte ich deutlich die besorgten Gesichter der Zwillinge.
„Willkommen zurück“, sagte Liam sichtlich erleichtert und schon breitete sich wieder das Grinsen auf seinem Gesicht aus, das ich schon kennengelernt hatte.
Vorsichtig stützte ich mich auf die Ellbogen. Ich lag auf einer der Liegen im Krankenzimmer und ich sah die Schulkrankenschwester, die gerade an einem Infusionsbeutel herumhantierte, dessen Schlauch zu einem Pflaster auf meinem Handrücken führte.
„Wie lange war ich weg?“, fragte ich entsetzt und zupfte automatisch an dem Pflaster herum, wofür ich einen leichten Klaps von Diana kassierte, die das Pflaster gewissenhaft wieder feststrich.
„Drei Stunden!“ Sie sah mich so besorgt an, dass ich förmlich darauf wartete, dass sie ihre Hand auf meine Stirn legte, um zu fühlen, ob ich eventuell Fieber hatte.
„Deine Mutter wurde verständigt, ist aber bisher noch nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich wurde sie bei der Arbeit aufgehalten“, meinte Liam und sein Grinsen war jetzt einem mitleidigen Gesichtsausdruck gewichen.
Ich wunderte mich, warum ich diesen kleinen Stich in meiner Herzgegend überhaupt verspürte. Warum ich enttäuscht war. Mir war klar, dass sie nicht auftauchen würde. Dafür war ich ihr nicht wichtig genug. Und die Arbeit, die Liam vermutete, war in Wirklichkeit wahrscheinlich wieder eine ganze Batterie von Schnapsflaschen.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, als ich bemerkte, dass die Zwillinge ganz offensichtlich auf eine Reaktion von mir warteten.
„Mir geht es ja jetzt wieder gut. Ich werde ihr gleich eine SMS schicken, damit sie beruhigt ist und weiß, dass sie nicht extra kommen braucht“, log ich und hoffte, dass mein Lächeln nicht so gequält aussah, wie es sich anfühlte.
Ich setzte mich auf und war sofort von vier paar Händen umgeben, die mich notfalls auffangen wollten. Nun war mein Lächeln echt. Ich war es nicht gewohnt, dass man sich um mich kümmerte oder gar sorgte.
Vorsichtig schwang ich die Beine herunter und sah mich nach der Schwester um, damit sie mir endlich die Nadel aus dem Arm entfernte.
Mein Blick blieb an einem Typen hängen, der etwas abseits stand und mich mit seinen Blicken fixierte. Ich holte keuchend Luft und zuckte kurz zusammen, denn auf einmal hatte ich das Gefühl als hätte mir wer eine Faust in den Magen gerammt. Halb rechnete ich schon mit einer erneuten Schmerzattacke, doch die blieb Gott sein Dank aus. Auch meine Atmung beruhigte sich wieder.
Liam und Diana waren sofort zur Stelle, doch mein Blick versank gerade in unglaublich blauen Augen, die sich misstrauisch verengt hatten, während sie mich einer offenen Musterung unterzogen. Ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Ich schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Sein schwarzes Haar hing ihm verwuschelt in die Stirn und stand zu allen Seiten ab. So als wäre er ein paar Mal achtlos mit den Händen hindurch gefahren. Die Lippen hatte er zu einem Strich zusammengepresst und die Stirn in Falten gelegt. So, als würde er angestrengt über etwas nachdenken.
Er war groß. Er lehnte zwar mit einer Schulter gegen der Wand, aber er war trotzdem ziemlich groß und soweit ich das erkennen konnte, denn er trug passend zu seinem Haar, eine schwarze Lederjacke, ziemlich durchtrainiert. Das graue Shirt, das er darunter trug schmiegte sich nämlich ganz offensichtlich an einen muskulösen Oberkörper.
Die nähere Musterung seiner verwaschenen Jeans sparte ich mir, denn er hatte meine Musterung ebenso mitbekommen, wie ich die Seine. Nun glättete sich seine Stirn und er hob stattdessen seine dunkeln Augenbrauen ein Stück nach oben, während seine Lippen sich zu einem verächtlichen Lächeln verzogen.
Arroganter Idiot! Er durfte also gucken und ich nicht, oder wie? Wer war das überhaupt?
Neben mir räusperte sich Liam und schoss dem Lederjackentypen einen vernichtenden Blick zu.
„Avery, das ist unser Bruder Noah“, stellte Liam mit düsterer Stimme vor.
„Aha“, entgegnete ich geistreich. Der Genpool dieser Familie war wirklich beneidenswert.
„Ihr scheint es ja gut zu gehen. Dann können wir jetzt endlich gehen. Ich hocke schon seit Stunden umsonst hier.“ Noahs tiefe Stimme klang kalt. Er stieß sich von der Wand ab und war mit wenigen Schritten an der Tür.
„Noah“, fauchte Diana ihn an und schubste ihn förmlich zur Tür hinaus.
„Tut mir wirklich leid“, entschuldigte sie sich anschließend bei mir. „Er ist momentan etwas angespannt. Normalerweise ist er nicht so.“ Sie sah mich mit ihren großen braunen Augen an. Himmel, den Hundeblick hatte sie wirklich raus.
„Aha“, wiederholte ich trocken und nicht sehr überzeugt und erntete damit ein prustendes Lachen von Liam. Auch auf meinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Ein echtes diesmal. Irgendwie war die Spannung zusammen mit dem ältesten der O´Bannion Geschwister aus dem Raum verschwunden.
Mit etwas verkniffener Miene näherte sich mir die Krankenschwester und die Zwillinge wichen offenbar widerwillig von meiner Seite, damit sie die nötige Bewegungsfreiheit hatte, um mir die Infusionsnadel aus dem Arm zu ziehen.
Ihr anderes Gesicht verriet mir die Angst, die sie verspürte. Gleichzeitig schien sie sich in der Näher der Geschwister einigermaßen sicher zu fühlen, sodass sie ohne großes Zögern ihrer Arbeit nachging.
„Vielleicht solltest du noch zu einem Arzt gehen“, schlug sie schließlich pflichtbewusst vor, während sie ihre Utensilien wieder zusammenpackte.
Ich nickte unbestimmt mit dem Kopf, was Liam und Diana mit einem Kopfschütteln registrierten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie ganz genau wussten, was in mir vorging. Hoffentlich bestanden sie nicht darauf, mich zum Arzt zu begleiten. Zuzutrauen wäre es ihnen.
Entschlossen stand ich auf und griff nach meiner Tasche, die irgendjemand auf den Stuhl neben der Liege gestellt hatte.
„Mir geht es gut“, versicherte ich meinen Begleitern, die anscheinend darauf warteten, dass ich noch einmal umkippte. „Wirklich!“
„Na dann fahren wir jetzt.“ Liam griff sich meinen Arm und hakte ihn sich unter seinen eigenen. Diana lächelte, als sie diese umständliche Prozedur bemerkte. Enthielt sich jedoch jeden Kommentars und nahm mir einfach meine Tasche ab.
„Wieso fahren? Ich gehe immer zu Fuß.“ Ich hatte plötzlich ein wirklich ungutes Gefühl.
„Noah ist mit dem Wagen da und nimmt uns mit. Izzy ist mit dem anderen schon vorgefahren, um die Handwerker ins Haus zu lassen,“ bestätigte Diana gut gelaunt meine Befürchtung.
„Ich komm schon klar. Ich denke, frische Luft und ein bisschen Bewegung tut mir ganz gut.“ Ich musste es wenigstens versuchen. Mich reizte es gar nicht, mich zusammen mit dem gefühlskalten Vollidioten in ein Auto zu quetschen.
„Er ist wirklich nur etwas schlecht gelaunt“, sagte Diana leise, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Es liegt wirklich nicht an dir. Du musst ihn nur erst einmal richtig kennenlernen, dann wirst du schon mit ihm klarkommen.“ Diana schien wirklich von sehr optimistischer Natur zu sein.
Ich war normalerweise auch kein Schwarzmaler, aber heute gedachte ich, eine Ausnahme zu machen. Ich fühlte mich in Noah O´Bannions Nähe ganz einfach nicht wohl.
Leider hatte ich keine andere Wahl, als mich in mein Schicksal zu fügen, denn Diana trug meine Tasche einfach vor mir her und Liam zerrte mich sanft mit sich. Gegen diese beiden kam man wahrscheinlich nur äußerst selten an. Und auch nur dann, wenn sie sich nicht einig waren.
Vor der Schule stand das silberne Auto, das ich bereits von Weitem gesehen hatte und Noah lehnte gegen die Beifahrertür. Seine Augen hatte er hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Als er uns kommen sah, lief er ohne ein weiteres Wort zur Fahrertür und setzte sich hinter das Lenkrad.
Ich bohrte Diana böse Blicke in den Rücken und versteifte mich etwas, als Liam mich zum Auto zog. Als er mir dann auch noch die Beifahrertür öffnen wollte, blieb ich wie angewurzelt stehen.
„Kommt gar nicht in Frage. Ich setze mich nach hinten“, sagte ich entschieden und stieg schon ein, bevor Liam zu einer Widerrede ansetzen konnte.
Im Inneren des Wagens roch es noch sehr neu und ich drückte auf den Knopf, um das Fenster ein wenig zu öffnen.
Diana setzte sich neben mich auf die Rückbank, während Liam nun nichts anderes übrig blieb, als sich neben seinem Bruder fallen zu lassen.
Im Spiegel begegnete ich Noahs Blick, dem ich entschlossen standhielt. Täuschte ich mich, oder sah er noch ärgerlicher aus, als gerade im Krankenzimmer? Ich verengte die Augen und hinter meiner Stirn bildete sich eine Reihe von Schimpfwörtern, die ich diesem unfreundlichen Kerl am liebsten an den Kopf werfen würde.
Wieder zog er nur die Augenbrauen hoch und startete das Auto. Und dann fuhr er tatsächlich los, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Ich verkrampfte. So ein Idiot. Ich dachte allerdings gar nicht daran, ihn unser Blickduell gewinnen zu lassen.
„Noah, lass den Scheiß. Sieh auf die Straße“, meldete sich Liam schließlich genervt zu Wort. Allerdings schien er in keinster Weise um unsere Sicherheit besorgt zu sein. Er schien schlicht und einfach genervt zu sein.
„Noah“, zischte nun auch Diana, als der Angesprochene keine Anstalten machte, mich aus seinem Blick zu entlassen. „Lass Avery in Frieden und benimm dich nicht, wie ein Arschloch!“
Ich grinste und musste ein Lachen unterdrücken. Ich mochte Diana. Ich mochte sie wirklich. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, als würde sich auch auf Noahs Gesicht ein Lächeln schleichen, das er aber sofort wieder hinter seinen zusammengepressten Lippen versteckte. Endlich wandte er seinen Blick ab und ich atmete auf.
Die Spannung im Auto lockerte sich etwas. Aber wirklich nur etwas. Liam versuchte zunächst noch etwas Konversation zu machen, doch Noah hüllte sich in eisiges Schweigen und ich dachte nicht daran, nachzugeben. Ich fühlte mich herausgefordert. Irgendetwas an ihm provozierte mich und jagte mir gleichzeitig eine Heidenangst ein. Ich legte keinen großen Wert, ihm nachts mal alleine über den Weg zu laufen.
Diana warf mir immer wieder besorgte Seitenblicke zu, während sie den Hinterkopf ihres ältesten Bruders eher tödliche schenkte. Ich beschloss den Blicken einfach auszuweichen und starrte verbissen aus dem Fenster.
Nach einer zehnminütigen und äußerst schweigsamen Fahrt, kamen wir zu der Weggabelung, die unsere Häuser voneinander wegführte.
„Du kannst mich hier rauslassen“, sagte ich durch zusammengebissene Zähne zu Noah, der auch tatsächlich ohne Proteste einfach anhielt. Ich warf den Zwillingen noch einmal ein Lächeln zu.
„Danke, dass ihr mich zur Schwester gebracht habt“, sagte ich schließlich aufrichtig.
„Das war Noah“, antwortete Diana beinahe schon entschuldigend. Ich kniff die Augen zusammen. Na super. War er also auch da gewesen?
Liam drehte sich zu mir um und lächelte. „Wir sehen uns morgen in der Schule“, sagte er betont munter.
„Ja. Bis dann“, murmelte ich und stieg aus.
„Danke“, nuschelte ich, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte noch durch das geöffnete Fenster in Richtung Fahrersitz. Erhielt aber keine Antwort. Stattdessen brauste das Auto davon.
Arrogantes Arschloch!
In dieser Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan. Ständig spukten mir die Ereignisse des vergangenen Tages im Kopf herum, was zur Folge hatte, dass ich mich unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Natürlich waren es vor allem die Gesichter der O`Bannion Geschwister, die mir keine Ruhe gelassen hatte.
Meine Mutter hatte natürlich gar nicht mitbekommen, dass ich später als sonst aus der Schule gekommen war. Sie saß mit einer noch halbvollen Whiskeyflasche auf der Couch und verfolgte irgendeine Krimiserie im Fernsehen.
Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, warum es mir immer wieder einen kleinen Stich der Enttäuschung versetzte, wenn ich sie so teilnahmslos dasitzen sah. Langsam musste ich mich doch daran gewöhnt haben, dass ich ihr egal war und sie mich am liebsten loswerden würde. Gefallen musste es mir deswegen aber noch lange nicht.
Als ich später im Garten gesessen und versucht hatte, mich auf mein Buch zu konzentrieren, wurde leises Gelächter vom Wind an meine Ohren getragen. Unwillkürlich hatte ich in Richtung unseres Nachbarhauses gespäht, konnte es aber natürlich durch die Bäume und Büsche nicht erkennen. Trotzdem war ich nicht umhin gekommen, sie um ihre Ausgelassenheit zu beneiden. Um ihren Zusammenhalt und den ganz normalen geschwisterlichen Umgang.
Nun ging ich mit gesenktem Kopf in Richtung Schule. Halb rechnete ich damit, hinter mir das Brummen eines Autos zu vernehmen und machte mich darauf gefasst, jederzeit einem silbernen Blitz aus dem Weg zu hechten, aber ich kam ohne lebensbedrohliche Zwischenfälle an der Schule an.
Auch auf dem Parkplatz konnte ich das Auto der O`Bannions nicht entdecken, obwohl ich ja auch nicht danach suchte. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Es half nur nicht viel, weil ich mich ständig selber dabei ertappte, wie ich danach Ausschau hielt.
Ich freute mich darauf, Diana und Liam wiederzusehen. Ich durfte mir nur nicht gestatten, mich zu sehr auf sie einzulassen. Vielleicht hatten sie nach dem Desaster von Gestern beschlossen, dass sie lieber doch nichts mit dem Freak zu tun haben wollten, den alle anderen mieden und der grundlos einfach in Ohnmacht fiel. Allerdings waren sie mir nicht von der Seite gewichen. Hatten mich sogar zur Krankenschwester gebracht und sie klangen ernsthaft besorgt. Zumindest Diana und Liam. Noah hatte sie im Hintergrund gehalten und die Zwillinge zum Aufbruch ermahnt.
Ich konnte ihn wirklich nicht ausstehen. Es lag nicht nur an seiner arroganten Art. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich lieber nicht mit ihm alleine sein wollte. Er jagte mir eine Riesenangst ein. Wahrscheinlich wäre ich gestern Hals über Kopf aus dem Krankenzimmer geflohen, wenn Diana und Liam nicht da gewesen wären.
Er hatte etwas an sich, das ich nicht in Worte fassen konnte. Vielleicht war es seine Art, im Raum zustehen. Ganz am Rande des Geschehens, aber mit der Gewissheit, dass er notfalls alles im Griff hatte. Dass er das Geschehen unter Kontrolle hatte.
Ich schüttelte energisch den Kopf und hätte mir am liebsten auch noch selbst eine saftige Ohrfeige versetzt. Was interessierte mich Noah O´Bannion?
„Was ziehst du denn für ein Gesicht?“ Neben mir ertönte die belustigte Stimme von Liam und ich konnte ein glückliches Kribbeln in meiner Magengegend nicht unterdrücken.
„Ich war in Gedanken“, antwortete ich ausweichend und sah, wie Diana, die sich gerade neben Liam niederließ, mir ein leichtes Lächeln schenkte. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem seitlichen dicken Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel.
Bunte Ringe baumelten an ihren Ohrläppchen und betonten ihre sanften Gesichtszüge. Sie hatte wirklich Geschmack und ließ es dabei noch so wirken, als wüsste sie nicht, dass sie bildschön aussah. Vermutlich war ihr das wirklich nicht bewusst. Ich fragte mich nur, ob sie die Blicke, die ihr der männliche Anteil der Klasse zuwarf, nicht bemerkte.
„In Gedanken also“, bemerkte Liam und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder zu sich zurück. „Das können ja dann keine guten Gedanken gewesen sein.“
„Ich werde dir ganz sicher nicht sagen, an was ich gedacht habe“, grinste ich.
„Aha. Ich hoffe, du hast nicht an mich gedacht. Ich würde nämlich lieber ein Lächeln sehen, wenn du an mich denkst.“
„Flirtest du etwa mit mir?“
Jetzt lachte er schallend auf. Und die halbe Klasse drehte sich zu uns um.
„Gut, dass du das mitbekommen hast, Prinzessin.“
So ein Mist. Jetzt wurde ich tatsächlich etwas rot. Ich warf Diana einen hilfesuchenden Blick zu, den sie aber mit dem ihr typischen Grinsen ignorierte.
„Ich mag es, wenn schöne Frauen meinetwegen erröten.“ Ich war kurz davor, ihm eine zu scheuern.
„Jetzt lass sie in Ruhe, Li.“
Dankbar sah ich Diana an, während Liam zwar die Klappe hielt, aber doch sehr zufrieden mit sich und der Welt im Allgemeinen, vor sich hin grinste und ab und zu bedeutungsvoll mit den Augenbrauen wackelte. Würde er nicht so verdammt gut aussehen, könnte ich vielleicht lauthals darüber lachen, so aber lief mir nur ein Schauer nach dem anderen die Wirbelsäule hinunter. Seinen anzüglichen Blicken nach zu urteilen, wusste er ganz genau, was er mit meiner Gefühlswelt anstellte und es schien ihn nicht im Mindesten zu stören.
Diana verdrehte lediglich die Augen und konzentrierte sich auf ihre Unterlagen, die sie pflichtbewusst bereits vor sich ausgebreitet hatte. Sie schien die schule wirklich verdammt ernst zu nehmen, wenn ich sie mir so ansah. Im Gegensatz zu Liam, dessen Ordner aussah, als hätte er die Hälfte seiner Blätter versehentlich in einen Schredder gesteckt und sie anschließend wieder irgendwie zusammengestückelt. Allerdings hatte ich bereits gemerkt, dass sich hinter der Fassade des unbekümmerten Spaßvogels und Womanizer, ein ziemlich helles Köpfchen versteckte. Das er allerdings nicht zur Schau stellte. Naja, ich kannte die Zwillinge jetzt noch nicht wirklich lange.
Der Vormittag verging überraschend schnell. In jedem meiner Kurse befand sich entweder Liam oder Diana. In manchen sogar beide. Ich war es gar nicht gewohnt, dass man während des Unterrichtes eine Bemerkung neben mir machte, die nichts mit dem Thema zu tun hatte. Dass überhaupt jemand neben mir saß, war ziemlich seltsam. Aber gut seltsam. Ich gewöhnte mich wirklich schnell daran.
Was ich in den Stunden mit den O´Bannion Geschwistern gelernt hatte, war, dass ich im Grunde meines Wesens kein Einzelgänger war. Ich war es so gewohnt, dass ich auf mich alleine gestellt war, sei es in der Schule oder im Alltag, dass ich mir im Laufe der Jahre wahrscheinlich eingeredet hatte, dass ich gerne alleine war. Gerne alles selber machte. Gerne nur mir Rechenschaft schuldig war.
Aber dem war einfach nicht so. Ich mochte es, wie ich Teil einer kleinen Gruppe wurde. Einer Gruppe, deren Mitglieder sich offensichtlich um mich bemühten und sich über meine Meinung und vielleicht sogar meine Freundschaft freuen würden.
Aber ich war misstrauisch. Ich hatte weder bei Diana noch bei Liam das andere Gesicht gesehen. Während mein sonstiges Umfeld, sich noch genauso verhielt, wie ich es gewohnt war und munter vor sich hin log und sein Innerstes vor der Außenwelt zu verbergen suchte, konnte ich bei den Geschwistern keine verborgene Regung ausmachen. Rein gar nichts. Und genau das war es, was mich so misstrauisch machte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die sich völlig offen mitteilten. Ich selber würde das nie freiwillig tun.
Ich konnte jedoch schlecht auf sie zu gehen und sagen: Hey Leute, kann es sein, dass etwas mit euch nicht stimmt? Ich sehe euer anderes Gesicht nämlich nicht. Bei dem Gedanken musste ich sogar leicht auflachen, was mir einige sehr skeptische Blicke einbrachte.
Ich zog es vor, sie zu ignorieren und suchte mir stattdessen ein schattiges Plätzchen auf der Wiese, während ich unauffällig Ausschau nach Liam und Diana hielt. Als ich sie schließlich entdeckte, wollte ich schon beinahe die Hand zum Gruß heben, als ich sie abrupt auf halber Höhe wieder sinken ließ. Neben Liam stand Noah, der gerade heftig auf ihn einzureden schien, wobei er seine Worte entschieden mit energischen Handbewegungen unterstrich.
Diana stand daneben und musterte ihren ältesten Bruder sehr interessiert, während ein anderes Mädchen beruhigend auf ihn einzureden schien. Sie war ziemlich klein. Der Zwerg der Familie, dachte ich, denn dass es sich um das zierliche Persönchen um Noahs Zwillingsschwester handelte, war ziemlich offensichtlich. Obwohl sie fast zwei Köpfe kleiner war, als er, hatte sie die gleichen schwarzen, verwuschelten Haare wie er. Und auch die Art, wie sie abfällig in meine Richtung deutete, erschien mir doch sehr vertraut.
Ich sollte solche Gesten eigentlich gewohnt sein. War ich ja auch. Aber dass sie ausgerechnet von der Gruppe mit den Leuten kam, die es in meiner unmittelbaren Nähe aushielten, ohne gleich die Flucht ergreifen zu wollen, machte mich doch etwas betroffen. Allerdings konnte Noah mich nicht leiden. Das hatte ich in der ersten Minute festgestellt. Und es beruhte auf Gegenseitigkeit, nebenbei bemerkt. Warum sollte seine Schwester, seine Zwillingsschwester wohlgemerkt, nicht die gleiche Antipathie hegen, wie er?
Trotzdem starrte ich möglichst unauffällig zu dem Vierergrüppchen hinüber, die sich von den anderen abgesondert hatten und im Schatten des Schulgebäudes standen. Liam schien nun die Nase voll zu haben, von seinem Bruder mehr oder weniger zusammengestaucht zu werden – danach sah es nämlich immer mehr aus. Nun trat er einen Schritt vor und redete seinerseits auf den großen Schwarzhaarigen ein. Ziemlich heftig. Und seine Gestik hatte er dabei keineswegs so unter Kontrolle, wie Noah zuvor. Mehr als einmal mussten Diana und ihre Schwester einem Ellbogen oder einem gestreckten Zeigefinger ausweichen.
Mich würde ja brennend interessieren, was diese vier so dringend zu besprechen hatten, dass sie es hier in aller Öffentlichkeit und vor der Nase hunderter Schaulustiger taten. Wieder wedelte eine Hand in meine ungefähre Richtung. Diesmal war es Liams und Diana, die seinem Fingerzeig gefolgt war, entdeckte mich, worauf sie sich in die Unterhaltung einmischte, was zur Folge hatte, dass sich alle vier zu mir umdrehten und mich mit Blicken aufzuspießen schienen. Zumindest zwei von ihnen.
Diana und Liam sahen mich ziemlich schuldbewusst an. Vermutlich war ihnen klar, dass ich genau wusste, dass sie über mich gesprochen hatten.
Noah war es, der sich schließlich als erstes abwandte. Ich glaubte, sein verächtliches Schnauben bis zu mir her hören zu können. Die Kleine folgte ihm auf den Fuß, als er wieder im Schulgebäude verschwand und irgendwie breitete sich Erleichterung in mir aus. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, woran es lag, aber ich fühlte mich nicht wohl, wenn ich zu lange in Noahs Nähe war. Vielleicht war es Einbildung, aber sowohl im Krankenzimmer, später im Auto als auch jetzt, reichte es, Noah nur zu sehen und schon würde ich am liebsten Reißaus nehmen. Ich würde es wohl früher oder später merken, ob da was dran war.
Liam und Diana sahen ihren Geschwistern noch für einen Augenblick nach, bevor sie kehrt machten und geradewegs auf mich zukamen.
Hastig kramte ich meinen Apfel hervor, um möglichst so unbeteiligt wie möglich zu wirken und lehnte mich entspannt gegen den Stamm des Baumes, der heute als mein Schattenspender diente. Ganz demonstrativ.
Liams müdes Grinsen, das er vermutlich extra in seinem Gesicht platziert hatte, um mich zu beruhigen, wich einem echten, als er mich betrachtete. Zu gerne, würde ich nun sein anderes Gesicht sehen können. Mich würde wirklich interessieren, was in ihm vorging. Blöderweise, war ich nun darauf angewiesen, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, wie es jeder andere auch machen würde.
Ich kam ziemlich schnell zu dem Schluss, dass er versuchte, etwas vor mir zu verbergen. Auch Diana machte diesen Eindruck. Wobei sie allerdings wesentlich geschickter darin war, ihre Emotionen zu unterdrücken und eine nichtssagende Mine aufzusetzen. Allerdings wirkte das Lächeln von beiden Teilen des Zwillingspärchens ziemlich gequält.
Nach einem kurzen Gruß ließen sie sich neben mich ins Gras fallen und packten ihr Mittagessen aus.
„Wenn ihr lieber nichts mit mir zu tun haben wollt, dann kann ich das gut verstehen“, sprudelte ich hastig hervor, bevor ich es mir richtig überlegt hatte. Im nächsten Moment biss ich mir auf die Zunge und zupfte nervös an den Grashalmen herum.
„Rede keinen Unsinn, Avery.“ Liam hob sanft mein Kinn an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. Diese dunkelbraunen Mokkaaugen, die sich so mitfühlend in meine honigbraunen bohrten. Ich schluckte. Von der Stelle, an der seine Haut die Meine berührte, breitete sich angenehme Wärme aus, die sich wellenartig in meinem Körper verteilte.
Dummerweise trieb mir das die Röte ins Gesicht und meine Hoffnung, er könnte das vielleicht nicht mitgekriegt haben, wurde mit seinem leichten Heben der Augenbrauen zunichte gemacht. Aber sein Gesicht wurde sofort wieder ernst und wischte jegliche Anzüglichkeit einfach weg.
„Wir sind gerne mit dir zusammen.“ Er sah mich so eindringlich an, als würde ihm sehr viel daran liegen, dass ich ihm glaubte.
„Noah und Izzy sind etwas skeptisch, weil wir dich nicht kennen und hier ganz offensichtlich jeder einen Bogen um dich macht.“
Das war nur die halbe Wahrheit. Das wurde mir sehr schnell klar. Spätestens als ich den mahnenden Blick bemerkte, den Liam seiner Schwester zuwarf.
„Li hat Recht, Avery. Izzy und Noah sind etwas überfürsorglich. Sie fühlen sich für uns verantwortlich und würden am liebsten jeden Schritt kontrollieren, den wir machen.“ Diana tätschelte begütigend meine Hand. Zog sie aber schnell wieder zurück, als sie merkte, dass sie aus Versehen Körperkontakt hergestellt hatte und biss stattdessen peinlich berührt in ihr Sandwich.
Ich konnte nicht anders, als leicht zu lächeln. Diana war ungefähr so scheu, wie ein junges Reh. Sie war sehr bedacht, wen sie an sich heranließ und wen nicht. Und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie bei mir vielleicht zu Ersterem neigte.
Mir war klar, dass mir hier nicht die ganze Wahrheit erzählt wurde. Die anderen O`Bannion Zwillinge schienen ein ernsthaftes Problem mit mir zu haben, auf das ich allerdings keinen Einfluss hatte, weil sie nicht mit mir darüber redeten, sondern mich im Vorhinein zu irgendetwas abstempelten.
Im Moment kümmerte es mich nicht. Solange Liam und Diana mich nicht plötzlich fallen ließen, konnte ich damit leben. Aber ich würde mich von Noah und am besten auch seiner Schwester fernhalten. Sicher war sicher.
Ich wusste nicht genau, was letztendlich den Ausschlag gegeben hatte. Ob es Dianas hoffnungsvolles Lächeln oder Liams gekonnt eingesetzter Charme war. Aber irgendwie hatten sie mich dazu gebracht, zu ihnen ins Auto zu steigen. Ohne Noah und den Giftzwerg versteht sich.
Nun holperten wir über den Feldweg in Richtung Nachbarhaus. Ich verkrampfte kurz, als wir an der Kreuzung abbogen. Ich fühlte mich, als sein ich soeben durch eine Art Vorhang gefahren, der zuerst undurchlässig wirkte, sich dann aber als äußerst nachgiebig erwies. Ein Vorhang, der mich aufhalten wollte, indem er sich drohend vor mir aufbaute.
Liam warf mir durch den Rückspiegel einen besorgten Blick zu, als ich meine Hand in die Rückenlehne seines Sitzes krallte. Ich schnappte nach Luft. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich den Atem angehalten hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Herz raste und sich auf meiner Stirn kalte Schweißtropfen gebildet hatten.
Hastig wischte ich sie weg. Ich war fast erstaunt, wie sehr ich mit hämmernden Kopfschmerzen oder sogar einer Ohnmacht gerechnet hatte. Wahrscheinlich war es dieses Gefühl, das mir im Hinterkopf herumgegeistert war. Das Gefühl, das ich empfand, als ich mich dem Haus schon einmal nähern wollte.
Himmel, jetzt richtete ich mein Leben schon nach Phantomschmerzen aus, die unter Umständen vielleicht einmal auftreten könnten. Ich musste wirklich etwas dagegen unternehmen. Also richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Haus vor mir, das mit jeder Sekunde ein Stück näher kam.
Der Efeu sah von Nahem noch grüner aus und harmonierte wunderbar mit der grünen Haustür, die anscheinend einen frischen Anstrich hinter sich hatte. Auch so wirkte das Haus frisch renoviert. Diana drehte sich immer wieder zu mir herum, als erwartete sie irgendeine Reaktion von mir.
„Das ist ja nicht mehr wieder zu erkennen. Ich hatte es ganz verfallen in Erinnerung“, sagte ich pflichtschuldig, obwohl es durchaus mein Ernst war. Nur zu gut erinnerte ich mich an die herabblätternde Farbe, die sogar noch älter aussah, als die von unserem Haus.
„Ja, nicht wahr?“ Diana strahlte wie ein Honigkuchenpferd. An diesen Anblick musste ich mich erst mal gewöhnen, denn so glücklich und zufrieden hatte ich sie bisher noch nicht kennengelernt.
„Ana ist ganz stolz drauf, weil das Haus nach ihren Plänen renoviert wurde“, grinste Liam und sah seine Schwester neckend von der Seite an, was diese aber gar nicht richtig zu bemerken schien, weil das Auto in dem Moment hielt und sie schon mit dem Aussteigen beschäftigt war.
Ich lachte, als Liam schwungvoll meine Autotür aufriss und mir galant die Hand entgegenstreckte.
„Darf ich euch beim Aussteigen behilflich sein, Prinzessin?“
Immer noch grinsend überließ ich ihm meine Hand und wieder tanzten in meinem Magen ein paar Schmetterlinge, als er sie einfach behielt und mich an der Hand zur Eingangstür führte.
„Ihr bringt sie mit hierher?“ Die glockenhelle Stimme, die Dianas doch so ähnlich und doch wieder so anders war, ließ mich zusammenzucken. Liam drückte beruhigend meine Hand und machte mit der anderen eine gleichgültige Geste.
Doch ich war nicht gleichgültig. Tatsächlich kroch ein leiser Anflug von Furcht in mir herauf, als ich Noahs Zwillingsschwester in der Haustür stehen sah. Ihre schwarzen Haare, die um einen Tick länger waren als, die von ihrem Bruder, hatte sie mit einem knallpinken Gummiband zusammengefasst, aus dem sich ein Großteil der wirren Haarmähne bereits wieder befreit hatte.
Ihre Wasserblauen Augen funkelten ihre Geschwister an, während sie für mich nur ein verächtliches Blitzen bereit hielten. Sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und ihre zierliche Figur so groß es eben ging, in der Haustür aufgebaut.
Mit jedem Schritt wurde ich langsamer, bis Liam mich schließlich hinter sich her ziehen musste.
„Reg dich ab, Izz.“ Liam sah seine Schwester wütend an. Ein Ausdruck, den ich so noch nicht bei ihm gesehen hatte. Auf einmal wirkte er ziemlich einschüchternd und erwachsen. Keine Spur mehr von dem jugendlichen Übermut, den er so gern aus sich hervorsprudeln ließ.
Nach wie vor hielt er mich sicher an der Hand. Sein Glück. Andernfalls wäre ich schon längst über alle Berge.
„Ich soll mich abregen? Hast du sie noch alle, Liam O`Bannion?“ Sie schien wirklich stinksauer.
„Avery, darf ich dir meine Schwester Izobel vorstellen? Manchmal trifft es die Bezeichnung Drache aber besser“, fauchte Liam in Richtung seiner Schwester, die daraufhin nur ein hohles Lachen ertönen ließ, das so gar nicht lustig klang und mir stattdessen einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.
„Du hältst dich ja für so witzig.“ Izobel, das klang in dem Moment viel passender, als Izzy, sah sich hektisch um. „Noah kann jeden Moment wieder kommen und er rechnet ganz sicher nicht mit ihr. Du weißt, was dann passieren kann.“
Nun schien auch Liam ein wenig alarmiert zu sein. Ich hingegen verstand nur Bahnhof. Was machte es für einen Unterschied, ob er mich nun erwartete oder nicht? Er konnte mich in beiden Fällen nicht leiden.
„Was steht ihr denn noch hier draußen rum? Ich muss Avery unbedingt mein Zimmer zeigen.“ Diana tauchte hinter ihrer Schwester im Flur auf und sah uns erwartungsvoll an, die wir immer noch vor dem Haus standen.
„Vielleicht sollte ich besser…“, fing ich an, doch urplötzlich schoss wieder dieser fast schon vertraute Schmerz durch meinen Kopf. Ich riss meine Hand aus Liams und presste sie zusammen mit der anderen gegen meinen Kopf. Ich stöhnte auf und biss mir peinlich berührt in die Unterlippe. Doch die nächste Schmerzwelle brach bereits über mich herein und ich sackte auf die Knie.
„Was habe ich gesagt?“ Izobels Stimme drang durch den dichten Nebel aus Schmerz, der sich langsam in meinen Kopf fraß. Sie klang aber nicht mehr wütend, sondern panisch.
Doch darauf konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Immer heftiger und in wesentlich schnelleren Schüben, als beim letzten Mal, jagten die Schmerzwellen durch meinen Kopf und strahlten nun auch auf meinen Körper aus.
„Was ist denn hier…“ Mehr hörte ich nicht, denn wieder umfing mich eine schützende Dunkelheit, die mich langsam in ihre Umarmung zog. Mir blieb nur noch genug Zeit, Noah O`Bannion aus tiefstem Herzen zu verwünschen.
„Avery. Komm schon, Prinzessin, ich weiß, dass du mich hören kannst. Wach auf.“
Liams Stimme drängte sich in mein Bewusstsein und unwillkürlich flatterten meine Augenlider, als hätten sie nur auf diese Ermunterung gewartet. Vorsichtig schlug ich sie auf und schloss sie gleich darauf wieder, als ich über mir vier Köpfe entdeckte, die auf mich hinunter sahen.
„Nicht schon wieder“, stöhnte ich gequält. Ich horchte kurz in mich hinein und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass die Schmerzen vollständig vergangen waren.
„Gott sei Dank.“ Liams leises Lachen ertönte, das sich wohlig warm in mir auszubreiten schien. „Sie scheint wieder auf dem Posten zu sein.“
Ich öffnete die Augen wieder und setzte mich auf. So lange konnte ich nicht weg gewesen sein, denn ich lag immer noch in der Einfahrt. Wenigstens hatte mich diesmal keiner durch die Gegend geschleppt. Ich stand vorsichtig auf und sah in die besorgten Gesichter der vier Geschwister. Naja, in die besorgten Minen von zweieinhalb Geschwistern. Diana und Liam schienen wirklich über alle Maßen erleichtert und suchten mit den Augen besorgt meinen Körper ab, als vermuteten sie irgendwelche versteckten Wunden.
Izobels Mine schwankte zwischen Erleichterung und Wut. Wahrscheinlich wog sie in Gedanken ab, ob sie einen erneuten Ohnmachtsanfall riskieren und mich anschreien sollte.
Noahs Gesichtsausdruck ließ sich gar nicht anders als verächtlich deuten. Mit herablassender Mine begegnete er meinem Blick, als ich energisch die Schultern straffte. Ich wollte mir vor ihm keine Blöße geben und es tat so verdammt gut, als ich Liams Hand spürte, die wieder meine ergriff.
„Passiert die das öfter, Kleine? Dann würde ich an deiner Stelle aber mal zum Arzt gehen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand im Haus, noch bevor ich eine passende Erwiderung parat hatte. War vielleicht auch besser so. Mir fielen die besten Gemeinheiten nämlich immer erst im Nachhinein ein, wenn schon alles gelaufen war. Nicht jeder hatte die Schlagfertigkeit mit Löffeln gefressen.
„Was ist nur sein Problem?“, fragte ich erbost.
„Was sein Problem ist? Du bist schon zweimal einfach umgekippt.“ Izobel hatte sich anscheinend für die Wut entschieden.
„Dreimal“, verbesserte ich sie unüberlegt.
„Dreimal was?“, hakte Liam sofort nach. „Du bist schon dreimal umgekippt?“ Er drehte mich zu sich herum, sodass er mir in die Augen sehen konnte.
„Wo war das erste Mal?“ Er packte mich bei den Schultern, als wollte er verhindern, dass ich die Beine in die Hand nahm.
„Im Wald“, antwortete ich kleinlaut.
„Im Wald? Wann war das?“ Nun hatte ich auch Dianas volle Aufmerksamkeit, während Izobel mich nur stumm anstarrte. Die war mir wirklich unheimlich!
„Vorgestern?“, stotterte ich und sah fragend vom Einen zum Andern.
„Vorgestern“, quiekte Izobel entsetzt.
„Was ist denn daran so wichtig, ob es heue, vorgestern oder im letzten Monat war? Es tut mir ja leid, das ich euch damit belästige, aber ich kann euch versichern, dass ich mir das nicht ausgesucht habe und mir auch schöneres vorstellen kann, als vor den einzigen Menschen in Ohnmacht zu fallen, die überhaupt mit mir reden“, brauste ich auf und merkte zu spät, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
„Jetzt heult sie auch noch“, erklang wieder diese dunkle Stimme, die mich früher oder später noch in den Wahnsinn treiben würde.
Ich wirbelte herum. Wie um alles in der Welt kam er denn so plötzlich hinter mich? War anscheinend doch neugierig der Herr, was?
Ich riss mich von Liam los und Marschierte auf Noah zu. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, gab ich ihm eine Ohrfeige. Sein Kopf flog herum und er sah mich aus wütend zusammengekniffenen Augen an.
„Hör auf, mich wie den letzten Dreck zu behandeln!“, schrie ich. „Du kennst mich überhaupt nicht. Du weißt nichts über mich und schon stempelst du mich ab. Ich habe dir nie irgendetwas getan. Also komm mir einfach nicht zu nahe und ich lass dich in Ruhe!“
Außer Atem sah ich ihn an. Ich konnte meinen Handabdruck auf seiner Wange erkennen und das trotz des Dreitagebartes. Ich kam nicht umhin, ein wenig stolz auf meine Schlagkraft zu sein. Ich war so wütend, dass mir erst jetzt klar wurde, dass ich das erste Mal in meinem Leben Gewalt angewendet hatte. Entsetzt starrte ich auf meine Hand und dann wieder in Noahs Augen, die mich interessiert beobachteten.
„Interessant. Das Kätzchen fährt die Krallen aus.“ Seine Stimme mochte gelassen klingen, doch ich hörte die unterschwellige Wut hervor. Wenn wir allein gewesen wären, hätte er vermutlich schon zurückgeschlagen. Auch die anderen drei, die wie erstarrt hinter mir standen, wagten sich nicht zu rühren. Nur Liam machte schnell einen Schritt nach vorne, packte mich am Arm und zog mich an seine Seite.
„Jetzt reicht es. Ihr habt euren Standpunkt klargemacht.“ Zu meiner Überraschung, war es Izobel, die leise ihre Stimme erhob.
„Sie ist schon dreimal umgefallen, in den letzten drei Tagen, Noah.“ Sie sah ihn ernst an und augenblicklich verhärtete sich seine Mine.
„Wo?“, fragte er tonlos.
„Im Wald“, antwortete sie und mir schien, als würden sie noch viel mehr sagen, was für uns andere aber nicht verständlich war. War wahrscheinlich so ein Zwillingsding. Auch wenn Diana und Liam eine ungefähre Ahnung zu haben schien, was genau da vorging.
„Könnte mir vielleicht mal jemand sagen, was so schlimm daran ist, dass ich im Wald umgefallen bin? Da bin ich wenigstens weich gefallen und nicht auf so eine blöde Kiesunterlage“, maulte ich und wurde natürlich ignoriert.
„Am besten ist es, wir gehen erst mal rein.“ Diana sah sich nervös über die Schulter und ihre Augen huschten über den Waldrand.
„Gute Idee, Schwesterherz“, stimmte Liam eilig zu und zerrte mich förmlich über die Hausschwelle.
„Das nächste Mal trägst du mich aber über die Schwelle“, scherzte ich lahm, wurde aber mit einem kleinen Lächeln belohnt.
Im Haus war es überraschend gemütlich. Das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte, da es sich mehr oder weniger um eine Zweckgemeinschaft der Geschwister handelte, weil ihre Eltern im Ausland waren, würde es auch dementsprechend aussehen. Mir hätte die liebevoll gestrichene Eingangstür aber ein Hinweis sein sollen. Es sah so aus, als hätte sich Diana nicht nur der äußeren Renovierung angenommen, sondern auch im Haus selber kräftig mit dem Farbeimer hantiert oder hantieren lassen.
Ich wurde durch einen kleinen Flur geschleift und fand mich urplötzlich in einem geräumigen und doch sehr einladend wirkenden Wohnzimmer wieder. Liam verschränkte seine Finger mit meinen, was Noah nur ein abfälliges Schnauben entlockte, das mich aber nicht weiter störte. Ich genoss stattdessen Liams selbstverständlich wirkende Berührung und sah mich um. Ein großer Kamin beherrschte den Raum, um den herum eine gemütlich aussehende Sitzgarnitur, bestehend aus zwei Sesseln und einer großen Couch, aufgebaut war.
An den anderen Wänden standen Regale mit unzähligen von Büchern, von denen einige bereits sehr abgegriffen aussahen, während ich bei dem ein oder anderen noch die Originalverpackung ausmachen konnte. Ich unterdrückte den Impuls, mich auf die Regale zu stürzen und nachzusehen, welche Genre hier so vertreten waren und betrachtete stattdessen das Bild, das über dem Kamin hing. Oder besser gesagt thronte.
Es schien nicht wirklich zu der übrigen Einrichtung zu passen und ich bezweifelte, dass es Dianas Idee war, es dort aufzuhängen. Das Gemälde wurde von einem breiten, schweren Goldrahmen umfasst, den ich bestimmt nicht abkriegen wollte. Das Ding wog bestimmt eine Tonne. Vergoldete Schnörkeleien flochten sich zu einem dicken Band zusammen und erinnerten teilweise ein wenig an den Efeu, der am Haus heraufkletterte.
Das Bild selber zeigte eine ziemlich blutige Szene. In der Mitte stand ein Pferd. Sein schneeweißes Fell, war blutdurchtränkt und in seiner Stirn klaffte ein Loch, aus dem das Blut nur so hervorsprudelte. In seinen Augen schien ein entschlossenes Feuer zu lodern, während sich geflügelte Geschöpfe auf das Tier stürzten und ihre Krallen in den verbliebenen Stellen weißen Fells versenkten.
Ich wandte mich angeekelt ab.
„Das ist ja widerlich“, kommentierte ich, als ich in die abwartenden Gesichter der vier O`Bannions starrte.
Diana lächelte matt. „Das kannst du wohl laut sagen“, meinte sie mit bedrückter Stimme, sodass ich mich von Liam löste und ihr stattdessen meinen Arm um die Schultern legte.
Sie schien von diesem Gemälde noch angeekelter zu sein, als ich und sie wohnte hier.
„Du kannst es ja abnehmen und stattdessen ein Bild von einem Sonnenblumenstrauß hinhängen“, schlug ich tröstend vor und erntete ein zittriges Lächeln.
„Sonnenblumenstrauß.“ Izobel sah mich höhnisch an. Ich hatte den starken Eindruck, etwas verpasst zu haben. Sie schien mich wirklich zu hassen. Ich verstand nur nicht warum. Ich wagte zu behaupten, dass Diana mich mochte. Liam mochte mich offensichtlich wirklich sehr gern, was mir ziemlich gut gefiel und Noah konnte mich nicht leiden, womit ich auch kein Problem hatte, weil das auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber Izobel kannte mich nicht. Sie hatte keinen persönlichen Kontakt zu mir gehabt und sie schien mich wirklich aus tiefster Seele zu hassen. Und Hass war eine sehr starke Emotion. Ihn erkannte ich auch, ohne das andere Gesicht sehen zu müssen. Was mir nur ein Rätsel war, war die Ursache. Was hatte ich getan, um ihn zu verdienen?
Izobels kalter Blick verfing sich in meinen Augen und für einen Moment hatte ich den Eindruck, von Eiskristallen durchbohrt zu werden, so eisig wirkten ihre wasserblauen Augen. Ich schüttelte mich unwillkürlich und wandte den Blick ab, der natürlich gleich wieder auf dem hässlichen Bild landete und auf einem Gegenstand, den ich zuvor nicht bemerkt hatte.
Auf dem Boden, neben den Vorderhufen des Schimmels, lag ein länglicher, in sich gewundener, silbern schimmernder Gegenstand. Ich trat näher heran und erkannte ein filigranes Horn, dessen Ende ein blutiger Stumpf war.
Ich wusste nicht, wie lange ich das Bild anstarrte. Es berührte etwas in mir. Ich konnte nicht sagen, was genau es war, aber ich fühlte mich langsam etwas unwohl, weil die Augen sämtlicher Anwesender auf mich gerichtet waren. Als warteten sie auf irgendeine bestimmte Reaktion von mir.
Ich kam aber nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn in dem Moment ertönten draußen Sirenen. Neugierig sah ich aus dem Fenster und sah in einiger Entfernung einen Krankenwagen, der in eiligen Zickzacklinien den vielen Schlaglöchern auf dem Feldweg auszuweichen versuchte. Ich grinste bei dem Anblick, bevor mir die Erkenntnis das Grinsen aus dem Gesicht wischte.
Der Wagen war auf dem Weg zu mir nach Hause. Ich erstarrte und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Irgendwas war mit meiner Mutter.
„Ich muss los“, sagte ich zu niemandem bestimmten und schon war ich draußen und rannte in Richtung Kreuzung. Bald schon hatte ich den Krankenwagen eingeholt, der sich nur noch in Schrittgeschwindigkeit vorwärtsbewegen konnte. Andernfalls hätte das Fahrzeug wohl ernsthafte Schäden davon getragen. Bis eben war mir nie aufgefallen, wie kaputt der Weg tatsächlich war. Weder meine Mutter noch ich fuhren Auto und zu Fuß merkte man es nicht so sehr, wenn man irgendwelchen Löchern und Unebenheiten auswich.
Noch vor dem Einsatzwagen erreichte ich unser Haus und stürzte auf Cory Bishop zu, die in der Eingangstür stand und mir entgegensah. Ihre krausen roten Haare standen in alle möglichen Richtungen ab und sie sah mir angstvoll entgegen.
„Avery, geh da lieber nicht rein.“ Sie versuchte mich an der Schulter festzuhalten, doch ich riss mich los und stürzte ins Haus.
„Mum?“ Meine Stimme klang sogar in meinen Ohren seltsam kratzig.
Aus purer Gewohnheit sah ich zuerst ins Wohnzimmer und mir stockte der Atem. Meine Mutter lag ausgestreckt auf dem Boden neben der Couch. Ihr rechter Arm war mit einem Geschirrtuch umwickelt worden und ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht wirkte nicht mehr so gelblich, wie ich es in Erinnerung hatte stattdessen war es nun seltsam weiß und eingefallen. Als wäre sämtliches Blut aus ihm gewichen. Ein gurgelndes Geräusch entwich meiner Kehle, als ich sah, dass das sogar der Fall war. Um meine Mutter herum hatte sich eine Blutlache auf dem hellen Holzfußboden gebildet. Ihr schmuddeliges, helles Oberteil, hatte sich bereits mit der dunkelroten Flüssigkeit vollgesogen.
„Mum!“ Ich fiel neben dem leblosen Körper auf den Boden und griff mit zitternden Fingern nach ihrem Arm.
„Mum“, wiederholte ich flehend und schüttelte verzweifelt an ihrem Arm.
Nichts passierte. Blut tropfte herunter und landete mit einem leisen Platschen in der Lache darunter. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so viel Blut im Körper haben?
Ich merkte, wie ich langsam aber sicher hysterisch wurde.
„Mum!“ Jetzt schrie ich.
„Avery.“ Hinter mir ertönte eine ruhige Stimme. Liam griff sanft nach meiner Hand und zog mich dann energisch vom Boden hoch, damit ich Platz machte für die zwei Sanitäter, die soeben ins Wohnzimmer polterten.
Als sie an mir vorbei mussten, um zu meiner Mutter zu gelangen, blieben sie abrupt stehen und sahen sich unbehaglich um. Ich konnte die Angst auf ihren Gesichtern sehen, die sich mit jedem Moment, den sie in meiner Nähe stehen blieben, verdichtete, bis sie kurz davor waren, wieder aus dem Haus zu rennen.
„Himmel, Liam, schaff sie hier weg.“ Noah drängte sich zwischen mich und die beiden Männer und lotste sie vorsichtig an mir vorbei, während er seinem Bruder einen auffordernden Blick zuwarf.
Ich sah gerade noch, wie die Sanitäter eine Trage neben meiner Mutter auf den Boden legten und sich über ihren leblosen Körper beugten. Dann ließ ich mich von Liam nach draußen ins warme Sonnenlicht führen. Er hatte den Arm um mich gelegt. Eine Berührung, die ich so noch nicht kannte. Noch nie hatte mich jemand tröstend in den Arm genommen und mir immer gewünscht, dass es so jemanden in meinem Leben gab. Jemanden, der sich um mich sorgte, dem ich am Herzen lag. So sehr, dass er mich zu trösten versuchte.
Doch in diesem Moment konnte ich nur an meine Mutter denken, die dort drinnen auf dem Boden lag. Ob man das Blut wohl jemals wieder aus dem Holzfußboden entfernen konnte?
Ein leicht hysterisches Lachen kam über meine Lippen und Liam sah mich sorgenvoll an. Meine Mutter stand auf der Schwelle zum Tod und ich machte mir Sorgen um die Flecken auf dem Boden. Wieder bahnte sich ein Lachen meine Kehle hinauf, doch ich unterdrückte es. Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen und mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Ich konnte mir jetzt keinen Nervenzusammenbruch leisten.
Ich sah, wie Cory langsam auf mich zukam und Liam dabei misstrauische Blicke zuwarf. Doch dann überwog die Besorgnis und sie trat nah an mich heran. Sie streckte sogar die Hand aus und strich mir vorsichtig eine Locke aus dem Gesicht. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst, ich könnte sie durch eine unbedachte Bewegung sofort wieder verscheuchen.
Auch Liam hatte die Tierärztin ungläubig beobachtet, bevor sich nun ein Lächeln auf seine Lippen stahl. Er wusste etwas, schoss es mir durch den Kopf. Er wusste, dass ich anders war.
Mit einem Mal, war mir das völlig klar. Am liebsten hätte ich ihn hier und jetzt ins Kreuzverhör genommen und ihn so lange bearbeitet, bis ich eine Antwort bekam. Doch in diesem Augenblick wurde die Haustür weit aufgestoßen und die Sanitäter trugen meine Mutter auf der Trage heraus und verfrachteten sie im Krankenwagen. Sie hatten sie an eine Infusion gehängt, was mich erleichtert aufatmen ließ. Sie lebte also noch.
„Willst du nicht mitfahren?“, fragte Cory leise und lenkte meine Aufmerksamkeit zu ihr zurück.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich werde später ins Krankenhaus fahren. Ich brauche noch eine frische Hose.“ Es war eine lahme Ausrede. Aber die Blutflecke an meiner Jeans machten sie wenigstens etwas glaubwürdig. Ich konnte ja schlecht sagen, dass ich die Sanitäter in Angst und Schrecken versetzen würde, wenn ich mich zu ihnen in das Fahrzeug quetschen würde.
„Ich fahre sie nachher hin“, sprang Liam ein und ich sah ihn dankbar an. Dankbar gepaart mit Misstrauen.
In diesem Moment trat Noah aus dem Haus. Sein Gesichtsausdruck ließ keine Regung erkennen. Er gesellte sich zu unserer kleinen Runde und sein Blick blieb an Cory hängen, die immer noch dicht bei mir stand. Je länger sein Blick auf ihr liegen blieb, desto nervöser wurde sie. Ich konnte sie gut verstehen. In mir weckte er auch ständig den Wunsch, ihm eine zu verpassen. Was mich dann allerdings doch etwas erstaunte, war die Tatsache, dass Cory plötzlich versuchte, ihr Haar in Ordnung zu bringen und sich auf ihren Wangen eine leichte Röte zeigte. Ich schüttelte den Kopf. Anscheinend weckte er in ihr einen ganz anderen Wunsch.
Liam grinste mich leicht an. Er hatte meinen Blick bemerkt und nickte mir schmunzelnd zu. Dann wurden wir wieder ernst. Was war ich nur für eine Tochter? Ich alberte hier herum, während meine Mutter schwerverletzt abtransportiert wurde.
Noah war es, der schließlich das Wort ergriff.
„Sie haben sie gefunden, richtig?“ Sein Blick bohrte sich in Corys, worauf sie hastig nickte und die Hand, die immer noch mit ihren Haaren beschäftigt war, fallen ließ.
„Haben Sie eine Ahnung, was passiert sein könnte?“, fragte Noah weiter und hielt ihren Blick fest.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Cory, wobei sie mir einen vorsichtigen Blick zuwarf. Ich erkannte die Lüge in ihrem Gesicht. Doch überschattet wurde dieser Ausdruck von Sorge. Sorge um mich. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Die Ärztin sorgte sich tatsächlich um mich. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so sehr um mich sorgte. Dass sie mich so sehr mochte, dass sie sich um mich sorgte.
„Ist schon gut, Cory“, sagte ich leise und sah sie aufmunternd an.
Noahs Blick wanderte kurz zu mir, bevor er wieder den kleinen roten Lockenkopf anvisierte.
„Was ist passiert?“, bohrte Noah wieder und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Ein harter Glanz Zug lag um seinen Mund, der mir verriet, dass er mit seiner Geduld bald am Ende war. Offensichtlich kam auch Cory zu dem Schluss, dass sie besser reden sollte, denn sie räusperte sich kurz.
„Ich kam her, um Avery um einen Gefallen zu bitten.“ Sie sah mich kurz an. „Als ich hier ankam, stand die Haustür offen und auf mein Rufen reagierte niemand. Deshalb habe ich nachgesehen. Ich weiß, dass deine Mutter ein paar Probleme hat und deshalb bin ich reingegangen.“ Sie unterbrach sich kurz und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
„Ist schon gut.“ Es wussten sowieso fast alle und Liam und seine Geschwister würden es auch bald herausfinden.
Sie nickte mir dankbar zu, bevor sie ihre Augen wieder zu Noah lenkte, der sie nach wie vor mit ausdrucksloser Mine musterte.
„Also bin ich reingegangen“, wiederholte sie. „Und da lag sie. Ihre Pulsader war aufgeschnitten.“
Ich atmete scharf ein und war dankbar für Liams Wärme in meinem Rücken, denn mir wurde gerade eiskalt. Hatte sie versucht, sich umzubringen? Ich schluckte hart und griff unwillkürlich nach Liams Hand, die er mir willig überließ. Ich sah ihn dankbar an und bekam nur am Rande mit, wie Noahs Blick abfällig über unsere verschränkten Finger glitt, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Cory richtete, die das aber nicht weiter mitbekam, weil ihre Augen meine suchten.
„Es tut mir so leid, aber ich glaube, sie hat versucht sich umzubringen. Auch ihr anderer Arm war übersäht von Schnittspuren. Anscheinend hat sie mehrere Ansätze gebraucht.“
Ich holte zischend Luft, worauf Liam mich mit dem Rücken an sich zog und mir von hinten seine arme um die Taille schlang. Er murmelte mir irgendetwas ins Ohr, was mich wahrscheinlich beruhigen sollte. Aber wie sollte er mich beruhigen, wenn ich gerade erfahren hatte, dass sich meine Mutter versucht hatte umzubringen?
„Bring sie hier weg, Liam“, wies Noah seinen Bruder an, der dieser Aufforderung auch sofort Folge leistete und mich mit sich wegzog. Erst, als er mich in sein Auto bugsierte, bemerkte ich, dass es überhaupt dastand.
Ich sah aus dem Fenster und beobachtete, wie Noah weiter mit Cory redete. Hatte ich mich überhaupt verabschiedet? Ich machte Anstalten, wieder aus dem Wagen zu klettern, um mich bei Cory zu bedanken und mich von ihr zu verabschieden, als Noah seinen Blick auf mich richtete. Seine blauen Augen verhakten sich förmlich mit meinen und für einen Moment, konnte ich nichts anderes tun, als in diesen Augen zu versinken. Wie konnte man nur so blaue Augen haben?
Als das Auto plötzlich anfuhr, wurde ich mit einem Ruck aus meinen Gedanken gerissen und fing gerade noch Noahs zufriedenen Blick auf, als Liam auch schon wendete.
Von der Seite bemerkte ich seine nachdenklichen Blicke, mit denen er mich in kurzen Abständen bedachte.
„Was ist?“, fragte ich schließlich, aber er schwieg und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
„Wir müssen hier abbiegen“, sagte ich dann, als wir zur Kreuzung kamen. Liam fuhr aber weiter in Richtung seines Hauses.
„Liam, du wolltest mich doch ins Krankenhaus fahren.“ Ich sah ihn an.
„Wir fahren erstmal nach Hause, damit du dich umziehen kannst.“
„Ich habe gar nichts zum Wechseln mitgenommen“, fiel mir auf.
„Noah wird dir was einpacken.“
„Noah?“
„Ja. Er wird einfach ein paar deiner Sachen einpacken.“
Wieso sagte er das so ruhig?
„Noah wird also meine Wäsche durchwühlen und mir etwas zum Anziehen mitbringen“, rekapitulierte ich, womit ich Liam ein leises Lachen entlockte.
„Keine Sorge. Noah hat zwei Schwestern. Er kennt sich aus.“
„Daran zweifle ich auch gar nicht“, brummte ich und versuchte nicht daran zu denken, was Noah in meinem Schrank vorfinden würde.
Dann wanderten meine Gedanken wieder zu meiner Mutter. Und ich vergaß mein Problem, dass Noah meine Wäsche durchwühlen würde.
Hatte sie tatsächlich versucht, sich umzubringen? Aber warum? Wegen mir? Aber wieso sollte sie das tun? Sie war die meiste Zeit betrunken. Und zwar so betrunken, dass sie sich kaum bewegen konnte. Ich musste sie schon mehr als einmal wieder auf die Couch heben, weil sie hinuntergefallen war und in ihrem Suff einfach liegengeblieben war.
Als Liam den Wagen in die Einfahrt lenkte, kamen Diana und Izobel aus dem Haus gerannt. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich tiefe Besorgnis ab.
Diana riss meine Tür auf, bevor ich mich auch nur bewegen konnte.
„Was ist passiert?“ Sie half mir, auszusteigen und nahm mich sofort in die Arme. Dankbar lehnte ich meine Stirn auf ihre Schulter, während sie mir sanft über den Rücken streichelte.
„Wo ist Noah?“, hörte ich Izobel scharf fragen.
„Er kommt gleich nach“, beruhigte Liam seine Schwester. Oder versuchte es zumindest. Ich hörte sie noch aufgebracht tuscheln, als Diana mich langsam ins Haus lotste.
Ich zuckte zusammen, als neben mir eine Tasche auf das Sofa fiel. Meine Tasche. Ich blickte auf und erkannte Noah, der sich hinter der Rückenlehne aufgebaut hatte.
„Wir müssen weg“, sagte er und seine tiefe Stimme klang sehr ernst.
„Also war es kein Selbstmordversuch?“, fragte Liam, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Nein“, bestätigte Noah seinen Verdacht. „Sie haben sie gefunden.“ Dabei wanderte sein Blick zu mir. Ich sah verwirrt auf.
„Wovon redet ihr eigentlich?“ Fragend musterte ich die Gesichter, doch keiner hatte eine Antwort für mich.
Ich rappelte mich auf und griff nach der Tasche.
„Ich werde mich jetzt umziehen und ins Krankenhaus fahren“, verkündete ich und wollte aus dem Raum fegen. Das wurde mir echt zu blöd. Sollten die doch weiter in Rätseln sprechen. Ich hatte die Nase voll.
Leider kam ich nicht zur Tür, weil Noah sich mir in den Weg stellte. Seine schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn, verbargen aber nicht das unwillige Funkeln seiner Augen, als er mir meine Tasche entriss.
„Du gehst nirgendwo hin, Kätzchen“, knurrte er erbost.
„Und du willst mich aufhalten?“ Trotzig legte ich den Kopf in den Nacken. Böse gucken konnte ich auch. Und auf seinen bescheuerten Spitznamen, mit dem er mich aus der Reserve locken wollte, ging ich erst gar nicht ein.
„Wenn es sein muss.“
„Meine Mutter liegt im Krankenhaus, stirbt vielleicht und ich soll nicht hinfahren?“ Ungläubig sah ich ihn an. „Du spinnst ja“, brachte ich das Offensichtliche auf den Punkt.
Drohend kam Noah einen Schritt weiter auf mich zu, sodass wir uns nun direkt gegenüberstanden und fast kein Platz mehr zwischen uns war.
„Du hast ja keine Ahnung“, sagte er gefährlich leise. „Wenn du ins Krankenhaus fährst, finden sie dich und dann bist du so gut wie tot.“
Ich erstarrte. „Wer findet mich?“
„NOAH!“ Liams Stimme peitschte durch den Raum und ließ Noah über meinen Kopf in Richtung seines Bruders sehen.
„Was denn? Irgendwann wird sie es sowieso rausfinden. Du kannst sie nicht in Watte packen. Und du weißt, dass ich recht habe!“
„Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?“ Meine Frage unterbrach den aufkommenden Streit im Keim und ich fühlte die Blicke sämtlicher Anwesender auf mir ruhen. Ich aber sah weiterhin zu Noah auf, der seinen Blick nun wieder auf meine Augen richtete.
Kurz fühlte ich wieder diesen Anflug von Kopfschmerz, aber ich wollte dem jetzt nicht nachgeben. Wenn ich jetzt nicht nachhakte, würde ich es wahrscheinlich nie erfahren. Was auch immer es zu erfahren gab. Und Noah schien mir derjenige zu sein, der mir am Wahrscheinlichsten eine Antwort geben würde.
„Was ist hier los?“, fragte ich erneut und betonte dabei jedes einzelne Wort.
Die Zeit schien still zu stehen, während alle im Raum wie gebannt auf Noahs Antwort warteten.
„Du hast keine Ahnung, was du bist“, sagte er dann leise. So leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte.
„Du hast keine Ahnung, in was für einer Gefahr du schwebst.“
Im Raum war es still. Nur Liam gab ein ergebenes Seufzen von sich, das ich im Moment allerdings ignorierte. Ich starrte in Noahs Gesicht und versuchte zu begreifen, was er gerade gesagt hatte.
„Was ich bin?“, wiederholte ich ungläubig.
Er sah mich nur weiterhin an. Dieses Mal funktionierte sein Trick mit dem Niederstarren jedoch nicht. Waren hier denn alle verrückt geworden? Noah sah mich derart ernst an, dass es mir kalt den Rücken runterlief.
Hilfesuchend wandte ich mich an die drei anderen, die im Halbkreis um uns herumstanden und mich gespannt beobachteten. Sie machten nicht den Eindruck, als würden sie über Noahs Wortwahl besonders verwundert sein. Mein Blick huschte von Liam zu Diana und wieder zurück. Langsam wich ich zurück.
„Ähm, ja, danke fürs Herfahren. Ich komme schon allein ins Krankenhaus“, sagte ich und wollte schnell durch die Tür verschwinden, als Noah eine blitzartige Bewegung machte und mir meinen Fluchtweg versperrte. Ich fühlte mich wie ein Tier in der Falle. Er sah so entschlossen aus, dass ich unwillkürlich wieder zurückwich. Was wurde hier nur gespielt?
Mein Rückzug endete ziemlich plötzlich, als ich mit dem Rücken gegen eines der wandhohen Bücherregale stieß.
„Avery, du brauchst keine Angst zu haben“, erklang nun Liams sanfte Stimme.
Was sollte das werden? Guter Bulle, böser Bulle? Ich hatte genügend Krimiserien gesehen, um darauf noch hereinzufallen. Und wenn dieser Spruch in einem Horrorfilm gebracht wurde, war einer ein paar Minuten später tot.
Ich beobachtete, wie Liam sich in Zeitlupe an mich heranschlich, während Noah immer noch in der Tür stand. Izobel verfolgte das Geschehen offenbar höchst amüsiert, denn zum ersten Mal, sah ich ein Lächeln in ihrem Gesicht. Die einzige, die sich anscheinend irgendwie in mich hineinversetzen konnte, war Diana. Sie sah mich entschuldigend an, nachdem ihr Blick wütend über ihre Brüder gehuscht war. Mit einem energischen Ruck, zog sie Liam an der Schulter zurück, bevor er mir zu nahe kommen konnte.
Dann kam sie einfach auf mich zu und nahm meine Hand, ohne mir überhaupt die Gelegenheit zu geben, in irgendeiner Weise zu reagieren.
„Es tut mir so leid! Diese Idioten haben einfach kein Feingefühl“, sagte sie zu mir, während sie mich hinter sich her zur Couch zog und mich mehr oder weniger zum Sitzen nötigte. Ich fragte mich, wo ihre Schüchternheit auf einmal geblieben war.
„Was sie dir sagen wollen, Avery, ist Folgendes: Du bist anders als die meisten Menschen. Das hast du sicher schon selber mitbekommen, oder?“ Erwartungsvoll sah sie mich an.
Zögernd nickte ich. Verrückten sollte man nicht widersprechen. Das hatte ich mal irgendwo gelesen und eigentlich stimmte es ja, was sie sagte. Ich war anders.
Liam setzte sich nun auch auf die Couch, wobei er darauf achtete, mir nicht zu nahe zu kommen. Noah hingegen bewegte sich keinen Millimeter von seinem Posten an der Tür weg. Was dachte er denn? Dass ich hier Hals über Kopf herausstürmen würde? Naja. Vielleicht war er gar nicht so dumm, dachte ich mit einem sehnsüchtigen Blick in Richtung Tür, was mir nur ein boshaftes Grinsen einbrachte.
„Avery.“ Diana lenkte meine Aufmerksamkeit zu sich zurück. „Du durchschaust die Menschen. Du kannst in ihnen lesen, wie in aufgeschlagenen Büchern.“
Ich starrte sie an. Woher wusste sie das? Und wieso konnte sie so einfach darüber sprechen, als wäre es das Natürlichste der Welt?
„Wo… woher…?“, krächzte ich und räusperte mich wie verrückt, doch meine Stimme versagte mir einfach.
Diana lächelte mitfühlend und tätschelte mir mütterlich die Hand, was mich gleich noch einmal zusammenzucken ließ. An Berührungen hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt und an so beiläufige schon gar nicht. Sie schien wirklich kein bisschen Angst vor mir zu haben. Und das wiederum jagte mir eine Heidenangst ein. Das war einfach nicht normal. Doch irgendetwas sagte mir, dass sich mein Weltbild in Kürze sowieso grundlegend verändern würde.
„Jetzt rede nicht so lange um den heißen Brei herum.“ Izobel verlor langsam die Geduld, wagte aber nicht, ihrer Schwester die Arbeit abzunehmen und selber zu sagen, was Sache war.
„Wir sind auch anders. Wir erkennen Menschen, wie dich sofort.“ Dianas Stimme klang immer noch sanft und fürsorglich, als spräche sie mit einem Kleinkind.
„Was bin ich denn eurer Meinung nach?“ Ich verlor nun genau wie Izobel die Geduld, was meiner Stimme anscheinend den benötigten Impuls versetzte und sie ins Leben zurückbeförderte.
„Du bist eine Erdgeküsste.“ Ich fuhr herum, als Noahs Stimme von der Tür her die Stille durchbrach, die sich nach meiner Frage gebildet hatte.
„Bitte was?“ Ich hatte keine Ahnung, wovon er da sprach. Obwohl er aussah, als wartete er auf eine Reaktion. Doch da musste ich ihn enttäuschen.
„Eine Erdgeküsste“, sagte Diana und schoss tödliche Blicke in Richtung ihres Bruders.
„Was ist denn bitte eine Erdgeküsste?“ Mein Puls jagte hektisch durch meinen Körper und mir wurde warm. Bekam man bei einer Panikattacke nicht einen Kälteanfall?
„Das ist eine Erdgeküsste“, genervt deutete Izobel in Richtung Kamin. Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm mit den Augen und blieb schließlich an dem grausamen Bild hängen, das immer noch den freien Platz über dem Kamin zierte.
Wieder lief mir ein Schauer die Wirbelsäule hinab und unwillkürlich schüttelte ich mich. Das Bild war aber doch zu grausam. Das hilflose Pferd stand auf einer Lichtung mitten im Wald. Vom Himmel stürzten drachenartige Wesen mit spitzen Krallen, die sie in das weiße Fell des hilflosen Tieres versenkten. Ledrige Schwingen verdunkelten den sternenklaren Himmel und schuppige Haut schillerte im Licht des Mondes in allen möglichen Farben. Erst bei genauerer Betrachtung erkannte ich die schemenhaften Gestalten, die zwischen den Bäumen hervorspähten und offenbar dem Pferd zur Rettung eilen wollte. Zu spät, wie ich vermutete, denn das Pferd war kurz davor zu Boden zu gehen.
„Ich bin ein Waldmensch?“, fragte ich nun völlig verwirrt und Izobel schüttelte augenverdrehend den Kopf.
„Du bist ein Einhorn“, sagte sie, als sei es das Natürlichste der Welt. Auch die anderen sahen mich mit derart überzeugten Gesichtern an, dass ich einfach nicht anders konnte: Ich brach in schallendes Gelächter aus. Ich lachte so heftig, dass ich mir den Bauch vor lauter Schmerzen hielt und mir die Tränen nur so über das Gesicht liefen.
„Ein Einhorn“, japste ich und schlug mir auf die Schenkel. Wieder brach sich ein Lachen die Bahn, das mich eine ganze Weile am Reden hinderte.
„Avery“, sagte Liam vorsichtig, als ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte. „Das ist unser Ernst.“ Vorsichtig rutschte er ein bisschen näher an mich heran und begegnete meinem ungläubigen Blick mit ruhiger Mine.
„Ein Einhorn“, wiederholte ich.
„Erdgeküsste“, verbesserte Noah, den ich zwischenzeitlich komplett vergessen hatte, weil er nach wie vor an der Tür stand.
„Ist doch das gleiche“, fauchte Izobel.
„Ist es nicht. Wenn du Einhorn sagst, erwartet jeder ein Pferd mit einem Horn im Gesicht“, giftete Noah zurück.
„Stirn, Noah, auf der Stirn und nicht im Gesicht“, wagte Liam zu verbessern.
„Das ist mir scheißegal, wo das dämliche Pferd sein Horn hat. Ist sie vielleicht ein Pferd? Hat sie ein Horn? Nein! Also passt die Bezeichnung nicht.“ Nervös tigerte Noah vor der offenen Tür auf und ab, wobei sein Blick immer wieder zum Fenster wanderte und die Umgebung absuchte.
„Haltet einfach die Klappe. Alle beide!“ Dianas Stimme klang mit einem Mal sehr energisch. Und zu meinem Erstaunen hielten die Brüder tatsächlich den Mund. Auch Izobel zog es vor zu schweigen. Und Diana wandte sich wieder an mich.
„Erdgeküsste sind wahnsinnig selten“, fing sie an und betrachtete mit Abscheu das Gemälde. Mein Blick folgte ihrem und landete zielsicher auf dem silbrig schimmernden Horn, dessen Ende nur noch eine blutige Masse war.
„Erdgeküsste tragen eine reine Seele in sich. Deshalb werden sie auch als Einhorn dargestellt, weil diese Wesen die Reinheit symbolisieren. Die Reinheit, die Wahrheit und die Unschuld“, fuhr sie gedankenverloren fort.
Mein Gesicht musste ein einziges großes Fragezeichen gewesen sein, denn sie lächelte leicht.
„Diese Reinheit ist es, die es dir erlaubt, andere Menschen zu durchschauen. Du kannst ihnen in die Seele schauen.“
„Ich sehe doch nur ihre Gesichter“, sagte ich tonlos.
„Aber du siehst nicht die Gesichter, die wir sehen, oder?“ Wissend sah sie mich an und mit einem Mal kam ich mir völlig entblößt vor. Noch nie hatte ich das jemandem erzählt. Zumindest nicht, nachdem ich festgestellt hatte, dass nur ich dazu in der Lage war. Und nun saß ich hier auf dieser Couch, in diesem Wohnzimmer, vor diesem abscheulichen Bild und musste mir sagen lassen, dass das Geheimnis, das ich so tief in mir verschlossen hatte, gar kein so großes Geheimnis sein konnte.
Langsam schüttelte ich den Kopf und Diana nickte, als hätte ich ihr etwas bestätigt, das sie nicht ohnehin schon längst wusste.
„Was genau siehst du denn?“ Wissbegierig lehnte Izobel sich ein Stück nach vorne und erntete prompt strafende Blicke von Diana und Liam.
„Was? Ihr wollt es doch auch wissen und wenn sie uns schon in diese Geschichte mit hineinzieht, kann ich doch wenigstens mal nachfragen, oder etwa nicht? Schließlich bringt uns das alle in Gefahr.“ Izobel sah wütend in die Runde.
„Es ist, als würde sich eine Maske über das Gesicht schieben. Eine durchscheinende Maske, die die wahren Gefühle im Menschen wiederspiegelt“, sagte ich hastig, bevor hier ein handfester Streit ausbrechen konnte, denn die Stimmung war alles andere als entspannt.
„Wenn du zum Beispiel traurig bist, nach außen hin aber ein lächelndes Gesicht zeigst, sehe ich deine Tränen.“ Ich musste wieder an die Kassiererin denken, die so sehr um ihren Mann getrauert hatte. „Ich sehe sozusagen den Clown ohne die grinsende Schminke“, fügte ich hinzu und langsam schienen die Geschwister zu verstehen, was ich meinte.
„Wie fühlt sich Liam denn gerade?“, fragte Izobel mit einem gemeinen Grinsen und ich sah unwillkürlich zu dem Braunhaarigen, dessen Wangen nun einen leichten rosigen Schimmer hatten. Hastig wandte Liam das Gesicht ab und verbarg es so vor meinen Augen. Was glaubte er denn, was ich sehen würde?
„Ich kann es nicht sagen“, gab ich zu.
„Dann guck halt in mein Gesicht, wenn diese Mimose sich nicht traut“, forderte Izobel mich auf.
„Ich kann es nicht sagen“, wiederholte ich. „Ich kann bei euch nichts sehen.“
Neben mir atmete Liam erleichtert auf und schenkte mir ein entschuldigendes Grinsen, was ich nur mit hochgezogenen Augenbrauen quittierte. Ich würde schon noch dahinter kommen, was er so angestrengt vor mir zu verbergen suchte.
„Überhaupt nichts?“ Izobel klang so enttäuscht, wie Diana aussah.
„Nein gar nichts.“ Himmel, was konnte ich denn dafür? Es lag ja an ihnen. Bei allen anderen funktionierte es ja.
„Wieso funktioniert es bei euch nicht? Warum seid ihr so anders?“ Das erschien mir eine berechtigte Frage zu sein. Vor allem war es eine logische Frage. Wieso sollte der „Fehler“ bei mir liegen? Ich hatte mich nicht verändert. Die einzige Veränderung in letzter Zeit waren diese vier Geschwister. Und die Ohnmachtsanfälle natürlich. Die Ohnmachtsanfälle. Meine innere Alarmglocke fing an zu klingeln und wurde zunehmend lauter, je näher ich darüber nachdachte. Hatten meine Blackouts was mit den Geschwistern zu tun? Schließlich waren sie zumindest zweimal in meiner Nähe und das erste Mal hatte jemand hinter dem Direktor gestanden, als ich so überstürzt aus dem Klassenzimmer gelaufen war.
„Was seid ihr?“, fragte ich schneidend.
Und erhielt keine Antwort. Selbst Diana schien nach den passenden Worten zu suchen und ausnahmsweise redete ihr keiner dazwischen.
„Die Ohnmachtsanfälle“, half ich nach, wobei meine Stimme weiterhin Glas schneiden konnte.
„Wir stammen sozusagen von der Gegenseite ab“, fing Diana vorsichtig an. Ich sah sie nur auffordernd an.
„Erdgeküsste sind ziemlich wertvoll.“ Unbehaglich wandte sie wieder den Blick zu dem Gemälde. „Es ist nicht nur deine Gabe, Menschen zu durchschauen, ihre Lügen zu enttarnen, die dich so wertvoll macht. Das, was dich so in Gefahr bringt, ist dein Blut.“ Sie war während des Redens immer schneller geworden und war nun sichtlich erleichtert, die Sache hinter sich gebracht zu haben.
„Mein Blut?“ Ich konnte ihr nicht folgen.
„Du warst in deinem ganzen Leben noch nie krank, oder über einen längeren Zeitraum verletzt, stimmt`s?“ Diesmal war es Liam, der sogar freiwillig das Wort ergriff und vorsichtig nach meiner Hand tastete und sie schließlich entschlossen ergriff. Als würde ich sie ihm abbeißen…
Ich musste nicht lange über diese Frage nachdenken. „Nein, war ich nicht.“
„Das liegt daran, dass dein Blut eine heilende Wirkung hat.“ Ich sah ihn ungläubig an.
„Es stimmt.“ Diana nickte eifrig. „Du bist sozusagen die Seele der Natur. Ihre ganze Reinheit und Beschaffenheit ist in deinem Blut verschlüsselt. Und das macht dich so wertvoll und ist gleichzeitig der Grund, warum Erdgeküsste heute so selten sind“, fügte sie mit leiser werdender Stimme hinzu.
Wieder wanderte mein Blick zu dem Einhorn, das über dem Kamin zum Tode verurteilt war. Die scharfen Klauen, die das Wesen langsam in Stücke rissen. Das Blut, das nur so aus ihm heraustropfte und das Horn. Das Symbol der Reinheit, lag verstümmelt und unbeachtet auf dem Boden.
„Sie werden gejagt“, flüsterte ich schließlich. Ganz leise und in meinem Magen rumorte es. Ich wendete den Kopf und sah in betretene Gesichter.
„Von wem werden sie gejagt?“ Ich traute mich fast nicht, diese Frage zu stellen, weil ich Angst vor der Antwort hatte, die ich tief in mir bereits kannte.
„Von uns.“ Noah war es, der diese Worte sachlich in den Raum warf und plötzlich machte seine Stellung vor der Tür einen bedrohlichen Eindruck auf mich. Langsam stand ich auf und wich wieder einmal zurück.
„Mach dich nicht lächerlich, Kätzchen. Wenn wir dich hätten umbringen wollen, wärst du längst tot“, spottete Noah, der meinen Rückzug und den abschätzenden Blick zur Tür ganz richtig gedeutet hatte.
„Sei endlich still!“ Wütend sprang Liam auf und stellte sich zwischen seinen Bruder und mich. Unterbrach so den Blickkontakt, wofür ich ihm wirklich dankbar war, bevor mir die Sache mit den Jägern wieder einfiel.
„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Avery. Noah hat sich wie immer etwas zu undeutlich ausgedrückt.“ Wieder schoss er seinem Bruder einen bedrohlichen Blick zu und ich wäre an Noahs Stelle froh, dass Blicke nicht töten konnten. Wenn ich es mir recht überlegte, wäre Liam dann wahrscheinlich ebenso tot, wie sein Bruder, denn dessen Blick war nicht weniger bedrohlich. Irgendetwas schien zwischen den Brüdern vorgefallen zu sein. Oder sie konnten sich einfach noch nie leiden. Allerdings bezweifelte ich das.
Liam richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder auf mich.
„Wir sind keine Jäger. Auch unsere Eltern sind keine Jäger. Wir hatten nur das Pech, in die falsche Seite hineingeboren worden zu sein. Aber was genau man mit seinem Leben anstellt, bleibt einem selbst überlassen. Und wir wollen nur unsere Ruhe haben.“ Ich glaubte ihm. Ich wusste nicht, woran es lag, aber ich glaubte ihm. Aber so leicht wollte ich es ihm nicht machen.
„Warum kippe ich dann ständig um, wenn ihr in der Nähe seid?“
„Die Wirkung hat Noah auf das weibliche Geschlecht“, brummte Izobel und schien damit keinen Scherz gemacht zu haben, weil sie mich düster ansah.
„Bitte?“
„Es sind nicht wir, die das machen“, sprang Diana erklärend ein und sicherte sich so meine Aufmerksamkeit.
„Es ist Noah, der diese Schmerzen in dir hervorruft, sodass dein Körper beschließt, den Stecker zu ziehen.“
„Aber wir sind doch beide hier und ich stehe noch.“ Zu Demonstrationszwecken trat ich einmal heftig mit dem Fuß auf.
„Wir wissen auch nicht, woran das liegt“, gab Diana widerstrebend zu. „Aber immer wenn er in deine Nähe kommt, muss er eine Art mentale Schutzmauer errichten. Wenn er vergisst, diese Mauer hochzuziehen, brichst du zusammen.“ Diana zuckte die Achseln und Izobel grinste schadenfroh Liam runzelte verärgert die Stirn und Noah stand einfach nur da. Und sah mich an.
Ich stützte mich mit beiden Händen auf dem Waschbecken ab und starrte mich im Spiegel an. Meine braunen Locken hingen mir wirr ums Gesicht und meine honigbraunen Augen, die normalerweise mein schmales Gesicht dominierten, glichen dunklen Höhlen, die von dunklen Ringen verziert wurden. Forschend suchte ich nach einer Veränderung. Einer Veränderung, die darauf hindeutete, dass ich tatsächlich war, was sie behaupteten. Eine Erdgeküsste. Ich schnaubte. Was für ein Irrsinn. Aber sie hatten gute Argumente vorgebracht. Schließlich hatte ich schon immer gewusst, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich hatte so viele Fragen. Anstatt sie zu beantworten, hatten sie mich aber lieber ins Bad abgeschoben und den blutigen Schlieren, die ich mit meinen Händen überall auf mir hinterlassen hatte, nach zu urteilen, war es gar keine schlechte Idee gewesen.
Mit einem energischen Ruck wandte ich mich vom Spiegel ab und zog mich aus, bevor ich unter die Dusche trat. Die prasselnde Wärme, half mir tatsächlich dabei, mich etwas zu entspannen. Etwas. Meine Gedanken kreisten um meine Mutter. Ein Anruf im Krankenhaus hatte ergeben, dass sie mit dem Leben davon gekommen war. Gerade noch. Man ging von einem Selbstmordversuch aus. Ich kam nicht umhin, die Schuld dafür bei mir zu suchen, obwohl Liam mir nachdrücklich versichert hatte, dass es mit Sicherheit kein Selbstmordversuch gewesen war.
Kurze Zeit später trat ich, mit einer gemütlichen Jeans, einem kuschligen Pulli und mit nassen Haaren die Küche, wo die Geschwister schon versammelt saßen. Sie verstummten und Liam musterte erst meinen Aufzug und dann seinen Bruder mit hochgezogenen Augenbrauen. Wahrscheinlich hatte er einen extrem kurzen Rock und ein Spaghettiträgertop erwartet. Das war zumindest meine Erwartung, bis mich der Inhalt der Tasche eines besseren belehrt hatte und ich erleichtert ausgeatmet hatte. Dass ich auch Unterwäsche in der Tasche gefunden hatte, war mir zwar etwas peinlich, aber wie Liam gesagt hatte, schließlich hatte Noah zwei Schwestern.
Ich setzte mich auf den freien Stuhl neben Izobel und nahm von Diana dankbar eine Tasse mit dampfenden Tee entgegen. Vorsichtig nippte ich daran, bevor ich aufmerksam in die Runde sah. Ich umklammerte die Tasse mit beiden Händen.
„Wann kann ich ins Krankenhaus?“ Diese Frage brannte mir auf der Zunge und löste bei den Geschwistern betretenes Schweigen aus.
„Avery, du kannst nicht ins Krankenhaus“, sagte Noah behutsam und Diana nickte traurig.
„Aber warum nicht? Sie ist immerhin meine Mutter!“ Sie konnten mir doch nicht allen Ernstes verbieten, ins Krankenhaus zu fahren, oder? Ich kannte sie jetzt erst ein paar Tage und schon bestimmten sie über mein Leben?
„Weil sie dich sonst finden würden.“ Noah hob aufgebracht den Kopf und seine blauen Augen funkelten mich böse an.
Meine Hand fuhr zu meinem Kopf, durch den ein scharfer Schmerz geschossen war, der mir die Tränen in die Augen trieb.
„Noah!“ Izobel griff nach Noahs Hand und lenkte seinen Blick zu ihr. Eindringlich sah sie ihm in die Augen und nach und nach verblasste der Schmerz.
Entsetzt sah ich sie an. Bis jetzt hatte ich insgeheim gehofft, dass alles nur ein schlechter Scherz war, aber nun wurde ich mit der Wahrheit konfrontiert. Es war tatsächlich Noah, der diese Schmerzen in mir auslöste.
„Wie kann das sein?“, flüsterte ich entsetzt.
Liam griff vorsichtig nach meiner Hand und streichelte mit dem Daumen über meinen Handrücken.
„Wenn wir das wüssten.“ Er sah seinen Bruder argwöhnisch an. „Am besten, du lernst, wie du dich geistig abschotten kannst. Dann kannst du selber darauf achten, dass du nicht zu angreifbar bist.“
Ich nickte, doch bevor ich weiter fragen konnte, wie diese geistige Abschottung genau aussah, ergriff Diana das Wort.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie leise und spähte immer wieder Richtung Fenster, als fühlte sie sich beobachtet.
Für einen Moment stockte mir der Atem, als ich beobachtete, wie Noahs harter Blick plötzlich ganz weich und liebevoll wurde, als er seine jüngere Schwester ansah.
„Wir sollten vorerst hierbleiben. Das Haus von Jägern ist für andere Jäger tabu und die Erdgeküsste vermutet hier niemand.“
„Avery. Sie heißt Avery“, zischte Liam und drückte dabei meine Hand.
Noah zuckte nur die Schultern, wandte seine Augen aber nicht einmal in unsere Richtung.
„Wir sollten Mum und Dad anrufen“, schlug Diana vor, ohne auf Liam einzugehen.
Izobel nickte. „Das ist vielleicht gar nicht so blöd“, stimmte sie ihrer Schwester zu, wobei ihr Blick aber auf Noah ruhte.
„Wo sind sie denn gerade?“ Liam hatte seine Wut auf seinen Bruder anscheinend verdrängt, denn seine Stimme klang ganz ruhig.
„In London“, antwortete Izobel sofort.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Je weniger Jäger von der Erdgeküssten wissen, desto besser.“ Noah hatte die Stirn in Falten gelegt und fuhr sich mit der Hand immer wieder durch die Haare. Das einzig sichtbare Zeichen für seine Angespanntheit.
„Das sind unsere Eltern! Was erwartest du denn, was sie tun werden, wenn ihre Kinder sie um Rat fragen? Eine Anzeige in der Zeitung schalten ‚Erdgeküsste in Forest Creek gesichtet‘?“ Dianas Stimme nahm einen ziemlich sarkastischen Unterton an. Sie war wirklich sauer auf ihren Bruder.
Was waren das wohl für Eltern, wenn die Kinder ihnen nur eingeschränkt vertrauten? Diana und Izobel waren über Noahs Anmerkung sichtlich empört, was Noah aber nicht weiter kümmerte. Liam hielt sich aus dieser Diskussion ganz heraus, was mich doch etwas nachdenklich stimmte.
„Wir haben niemanden, an den wir uns sonst wenden können. Mum und Dad sind die Einzigen, die uns vielleicht weiterhelfen könnten.“ Izobel versuchte es mit Vernunft. Diana pflichtete ihr heftig nickend bei.
„Das stimmt nicht ganz.“ Noah sah erwartungsvoll in die Runde. „Wir haben noch Tante May“, fuhr er fort, als niemand etwas sagte.
„Tante May?“ Izobel schnaubte abfällig durch die Nase. „Die hat sie nicht mehr alle. Selbst unter Jägern gilt sie als seltsam und verschroben.“
„Warum ist das denn so dringend?“, wagte ich einzuwerfen und redete hastig weiter, bevor ich unterbrochen werden konnte. „Kann ich nicht erstmal ins Krankenhaus?“
„Bist du eigentlich so blöd, oder tust du nur so? Deine Mutter wurde gefoltert!“ Izobel spuckte mir die Worte förmlich ins Gesicht und unter jedem Wort zuckte ich zusammen, als würde sie mir einen Peitschenhieb versetzen.
„Izzy!“ Noahs Stimme donnerte durch den Raum und Izobel schlug sich die Hand vor den Mund, als wäre ihr erst jetzt aufgefallen, was sie da überhaupt gesagt hatte.
„Gefoltert?“, flüsterte ich entsetzt.
Liam zog mich tröstend an sich und ich lehnte mich der angenehmen Wärme, die sein Körper ausstrahlte, dankbar entgegen. Noah und Izobel maßen sich immer noch mit Blicken und schienen erstmals nicht mehr Herz und eine Seele zu sein.
„Wer sollte sie denn foltern wollen?“ Meine Stimme zitterte noch immer leicht, aber ich bemühte mich, hier nicht vor allen in Panik auszubrechen.
„Am Wahrscheinlichsten war es irgendein Jäger, der auf dich aufmerksam geworden ist.“ Diana klang sachlich und ruhig. „Als du im Wald ohnmächtig geworden bist, waren das nicht wir. Oder Noah. Es muss ein Sucher gewesen sein. Das ist eine extreme Arte des Jägers“, redete sie weiter, bevor ich nachfragen konnte. „Sie widmen ihr ganzes Leben der Suche nach den Erdgeküssten. Anscheinend hatte er dich schon eine ganze Weile im Visier und war mit unserer Ankunft gezwungen, endlich zu handeln.“ Sie sah mich entschuldigend an. Als ob sie sich die Schuld für die ganze Misere gab.
„Aber ich hatte so heftige Kopfschmerzen“, fiel mir ein und mein Blick wanderte automatisch zu Noah.
„Das war zum größten Teil wahrscheinlich wirklich Noah, der zu diesem Zeitpunkt ja keinen Grund hatte, sich geistig abzuschirmen. Und durch diese ungewohnte Reizquelle warst du sowieso schon überempfindlich. Wenn dann noch ein Sucher seine mentalen Fühler nach dir ausstreckt, dann hat dir das wahrscheinlich den Rest gegeben.“ Liam drückte tröstend meine Schulter, mit der er mich immer noch an sich gedrückt hielt.
Mir fiel wieder ein, wie sensibel ich an diesem Tag war. Wie ich ohne Anstrengung jede noch so kleine Regung im anderen Gesicht sehen konnte, das Bild und natürlich die unerträglichen Schmerzen. Ich nickte leicht, bevor ich hochfuhr.
„Mentale Fühler? Soll das heißen, ich kann geortet werden?“ Nun machte sich doch Panik in mir breit und auch mein Blick schnellte zum Fenster.
„Keine Panik. Unsere Anwesenheit sollte dich eigentlich einigermaßen abschirmen. Aber am besten wir bringen dir bei, wie du deinen Geist verschließen kannst.“ Liam lächelte mich beruhigend an, während Noah ihn schon wieder schlecht gelaunt anstarrte.
„Wir!“, knurrte er. „Ja klar!“
Ich zog es vor, ihn zu ignorieren. „Aber wieso sollte er meine Mutter foltern? Sie weiß doch gar nichts. Himmel, selbst ich wusste nichts!“
„Deine Mutter hätte sterben sollen, Avery“, murmelte Diana leise und sah mich wieder einmal besorgt an.
Ich sog scharf die Luft ein.
„Sicher sollte sicher gegangen werden, dass sie tatsächlich nicht noch was Hilfreiches wusste, aber letztendlich hätte sie sterben sollen. Entführungen lassen sich einfacher bewerkstelligen, wenn es niemanden gibt, dem dein Verschwinden auffallen würde.“ Diana sprach ruhig und leise.
„Wenn du nicht mit zu uns gekommen wärst, könnten wir dich jetzt wahrscheinlich irgendwo in der Weltgeschichte suchen.“ Liam redete in demselben Tonfall und machte Anstalten, mich schon wieder an sich zu ziehen, als Noah plötzlich herumwirbelte und seinen Bruder mit blitzenden blauen Augen anfunkelte.
„Nimm doch endlich mal die Finger von ihr“, sagte er und gab sich sichtbar Mühe, nicht komplett auszuflippen.
Da schien wirklich etwas zwischen den beiden im Argen zu liegen, denn so schnell, wie Liam aufsprang und dabei seinen Stuhl nach hinten umstieß, sodass er polternd zu Boden krachte, hatte er nur auf eine Provokation gewartet.
Sie standen sich nun dicht gegenüber. Es fehlte nicht viel und sie würden aufeinander losgehen.
„Was ist eigentlich dein Problem?“, explodierte Liam und seine schokoladenfarbenen Augen wurden noch etwas dunkler.
„Ich habe kein Problem“, brüllte Noah zurück und ich spürte, wie er langsam die Beherrschung verlor, denn mit jeder weitern Sekunde, die verstrich, wuchs das Pochen hinter meiner Stirn.
„Und ob du ein Problem hast. Seit wir hierhergezogen sind, benimmst du dich total seltsam. Du sonderst dich ab, hast ständig schlechte Laune und flippst bei jeder Gelegenheit aus.“ Liams Stimme stand der Noahs in Sachen Lautstärke in nichts nach.
„Selbst Izobel weist du ab“, setzte Liam noch einen drauf und das Pochen weitete sich aus und wurde immer heftiger. Schweißperlen bildeten sich bereits auf meiner Stirn und ich wusste, dass ich es nicht mehr lange aushalten würde.
„Und wie du mit Avery umspringst“, zog Liam mich nun mit hinein.
„Ach, es passt dir nicht, wie ich deine Freundin behandle? Braucht die Kleine eine Sonderbehandlung? Zerbricht sie, wenn man sie zu ruppig behandelt?“ Noahs Stimme war ein dunkles Grollen und brach sich wie Gewitterwolken durch meinen Kopf.
Mit einem Ächzen stemmte ich mich hoch, worauf Diana sofort aufsprang, doch ich wankte schon auf Noah und Liam zu. Je näher ich den beiden kam, desto gewaltiger wurden die Schmerzen und ich rechnete damit, dass mir jeden Moment der Kopf platzen würde, sosehr wütete der Schmerz darin. Alles in mir drängte zu einer Flucht. Ich wollte nur weg von ihm. Doch ich zwang mich, auf ihn zuzugehen. Jeder Schritt in seine Richtung kostete mich enorm viel Kraft. Ich keuchte. Ob vor Anstrengung oder vor Schmerz, konnte ich nicht sagen. In meinen Ohren rauschte es. Ich konnte noch nicht einmal das Gebrüll verstehen, das die Brüder von sich gaben.
„Noah“, presste ich unter Anstrengung hervor, als ich ihn erreichte. Er reagierte nicht. Seine Augen waren auf Liam gerichtet und blitzten vor Zorn. Wieder wollte ich einfach nur wegrennen, doch stattdessen machte ich einen letzten Schritt. Ich fiel ihm förmlich entgegen. Ich sah, wie Liam seine Arme ausstreckte, um mich aufzufangen, aber Noah stieß ihn zur Seite und fing mich selber auf, denn nun hatte ich wirklich keine Kraft mehr.
„Hör auf“, bat ich mit erstickter Stimme an seinem Hals und wurde überraschend sanft an ihn gedrückt. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf den Duft seiner schwarzen Haare, die meine Nasenspitze kitzelten, während sich der Orkan aus meinem Kopf langsam wieder zurückzog.
Erleichtert schlang ich meine Arme um seinen Hals und hielt mich fest, während er vor Konzentration bebte. Immer wieder fühlte ich seine Hand, die vorsichtig über meinen Rücken strich. Nach und nach verbarrikadierte er seinen Geist und entspannte sich zusehends. Ich schmiegte mich fester an ihn und konnte meinen Wunsch, das Weite zu suchen, überhaupt nicht mehr nachvollziehen.
„Aber ich soll die Finger von ihr lassen.“ Liams Stimme klang eiskalt, als sie die plötzliche Stille durchbrach.
Verwirrt öffnete ich die Augen und drückte mich etwas von Noah weg, der mich aber nach wie vor festhielt. Nachdenklich fanden seine blauen Augen meine und für einen kurzen Moment versank ich in ihnen. Dann riss ich mich abrupt los. Was tat ich denn da? Ich wich ein paar Meter zurück und starrte ihn an. Genauso wie der Rest der Anwesenden.
Ich spürte, wie Liam meine Hand ergriff und mich langsam aber bestimmt an seine Seite zog.
„Was war das denn?“ Izobel musterte ihren Zwilling mit geschürzten Lippen. Als würde sie im Kopf gerade eine hochkomplizierte Rechenaufgabe ausknobeln.
Noahs Blick glitt von mir zu Liam und wieder zurück. Ich konnte förmlich beobachten, wie er sich wieder abkapselte und in sich verschloss.
Nun, in sicherer Entfernung, konnte ich gar nicht mehr verstehen, warum ich mich in seinen Armen so entspannt hatte. Er machte einen so bedrohlichen Eindruck, dass ich vermutlich noch einen Schritt zurückgewichen wäre, hätte Liam nicht meine Hand gehalten.
„Das war knapp“, sagte Diana und lächelte ihren Bruder aufmunternd zu, aber Noah erwiderte es nicht.
„Wir müssen wirklich jemanden um Hilfe bitte“, fuhr sie schließlich fort. „Und Avery muss lernen, ihren Geist selbstständig zu beschützen. Sie war kurz davor wieder umzukippen.“
„Tante May hat es mir beigebracht“, sagte Noah und ich meinte, einen triumphierenden Unterton in seiner dunklen Stimme zu hören.
Liam setzte bereits zu einer Antwort an, von der ich ihn mit einem leichten Kopfschütteln abbrachte. Ich hatte keine Lust, auf eine Wiederholung. Er klappte auch brav den Mund wieder zu und lächelte mich entschuldigend an.
„Dann sollten wir zu Tanta May.“ Izobel brauchte offensichtlich einen Plan, nach dem sie sich richten konnte und von dem sie wusste, dass ihn alle befolgten. Zu meinem Leidwesen verstand ich sie und war sogar ein kleines bisschen dankbar dafür, dass endlich jemand Nägeln mit Köpfen machte.
„Wo müssen wir denn da hin?“ Ich räusperte mich.
„Nach Forest Lake.“ Liam lächelte, als er meinen erleichterten Gesichtsausdruck bemerkte. Ich hatte mich tatsächlich schon auf eine Weltumrundung eingestellt. Als Izobel vorhin London erwähnte, hatte ich schon mit Europa gerechnet. Und dafür hatte ich nun wirklich kein Geld. Forest Lake erreichte man von hier aus mit dem Auto in einer guten Stunde.
„Deshalb sind wir hergezogen“, erklärte Diana verschmitzt. Wahrscheinlich hatte ich ein zu erleichtertes Gesicht gemacht, sodass sie meine Gedanken erraten hatte.
„Je eher wir aufbrechen, desto besser.“ Noah schien gar nicht schnell genug von hier wegzukommen.
„Und was ist mit der Schule? Mit meiner Mutter?“ Ich zweifelte noch. Ich konnte doch nicht einfach weg. Und ich musste Cory Bescheid geben.
„Das regeln wir schon. Deine Mutter kannst du jetzt eh nicht besuchen, da sie bestimmt von dem Sucher überwacht wird und Diana kann sehr überzeugend die Stimme verstellen. Am Telefon merkt das keiner.“ Liam legte mir einen Arm um die Schultern und grinste mich an.
„Auf zu Tante May“, sagte er überraschend fröhlich.
Forest Lake unterschied sich nicht wirklich von Forest Creek. Es wirkte genauso verschlafen, wie meine Heimatstadt. Das Einzige, was mir auf den ersten Blick fehlte war der Wald. Mir war bis jetzt gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich daran hing.
Ich presste meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe, während ich das Geplänkel von Liam und Diana, die auf den Vordersitzen saßen, einfach ausblendete. Noah und Izobel waren mit dem anderen Auto losgefahren und machten sich einen Spaß daraus, uns abhängen zu wollen. Mir war das eigentlich herzlich egal. Liam allerdings weniger. Verbissen steuerte er den Wagen durch den Verkehr und versuchte nicht den Anschluss zu verlieren. Zum Glück schien er ein einigermaßen sicherer Fahrer zu sein, denn er blieb an seinen Geschwistern dran und konnte gleichzeitig noch mit seiner Schwester herumblödeln.
Ich hatte dafür keinen Nerv. Dafür war einfach zu viel passiert. Dass ich meine Mutter nicht im Krankenhaus besuchen konnte, nagte schwerer an mir, als ich zunächst angenommen hatte. Sie war mir fremd. Ich kannte die Frau, die meine Mutter war, eigentlich gar nicht. Ich konnte mich nicht einmal mehr an die letzte längere Unterhaltung erinnern, die wir miteinander geführt hatten. Und trotzdem war sie meine Mutter. Ich wollte einfach wissen, dass es ihr gutging. Dass sie überlebt hatte. Denn tief in mir drin wusste ich, dass ich der Grund für ihr zerstörtes Leben war.
Ich schluckte, als ich mich mal wieder bei diesem Gedanken ertappte. Zum Grübeln blieb mir nun aber keine Zeit mehr, denn in diesem Moment lenkte Liam den Wagen über eine steile Auffahrt, die in Schlangenlinien einen kleinen Hügel hinaufführte, in einen geräumigen Hof und mir klappte der Mund auf.
Nachdem die Sprache auf Tante May gekommen war, hatte ich mir eine verhunzelte alte Dame in einer Art Hexenhaus vorgestellt. Nun, zumindest das Hexenhaus traf als Beschreibung nicht so ganz ins Schwarze. Im Gegenteil. Vor uns erhob sich eine prachtvolle alte Villa. Mindestens vier Etagen musste dieses Haus beherbergen, denn ich musste den Kopf in den Nacken legen, als ich ausstieg, um wenigstens an der Fassade hinaufblicken zu können.
Rosen kletterten an der weiß verputzten Mauer nach oben bis unter das Dach und verliehen dem alten Gemäuer einen märchenhaften Charme. Eine breite weiße Treppe führte zu einer imposanten Haustür, die mich persönlich eher an ein Portal erinnerte. Ein silberner Drachenkopf diente als Türklopfer. Wo war ich hier nur gelandet?
„Nicht das, was man in einem Ort wie Forest Lake erwartet, nicht wahr?“ Liam schmunzelte, als er mein Gesicht sah und ich stellte fest, dass meine Kinnlade immer noch gefährlich in Richtung Boden deutete. Schnell klappte ich sie zu und wollte zu einer Antwort ansetzen, aber ich wurde abgelenkt. Noah war aus dem Wagen gestiegen, der ein paar Minuten vor uns eingetroffen war und stieg nun die Stufen hinauf. Seine pechschwarzen Haare schimmerten in der langsam untergehenden Sonne fast bläulich und mein Blick wanderte über das weiße T-Shirt, das seinen muskulösen Rücken betonte, zu seinen schmalen Hüften.
Ich schüttelte den Kopf. Ich brauchte wohl dringend etwas Schlaf.
Ein lautes Pochen ertönte, als Noah den Türklopfer betätigte und bereits wenige Augenblicke später, wurde die Tür geöffnet.
„Das ist Tante May?“, platzte ich heraus und entlockte Liam und Diana, die sich inzwischen auch aus dem Auto bequemt hatte, ein lautes Lachen. Synchron nickten sie. Immer noch kichernd. Ich zog vor, das zu ignorieren. Wieder musste ich meinen Mund schließen, denn so wenig diese Villa ein Hexenhaus war, so wenig handelte es sich bei der verrückten Tante May um eine verhunzelte alte Dame.
Die Frau, die soeben im Türrahmen erschienen war, könnte glatt als Model durchgehen. Als dreißigjähriges Model. Wie konnte das sein? Ihre langen blonden Haare fielen ihr locker über die Schulter und erreichten fast die Hüftknochen. Ihre schlanke Gestalt war in eine Art bunte Tunika gehüllt und an ihren Füßen entdeckte ich kunstvoll geflochtene Sandalen durch die vorwitzig rotlackierte Zehnnägel lugten. Ihr Arme zierten unendlich viele Armreife und um ihren Hals baumelten unterschiedlichste Ketten. Ganz so, als hätte sie sich nicht für eine entscheiden können und schlichtweg alle angezogen.
Doch das Faszinierendste an dieser Frau war wohl ihr Gesicht. Alles an ihr strahlte eine Ruhe aus, die ich nicht nachvollziehen konnte, die mich aber unweigerlich in ihren Bann zog. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln, als sie Noah begrüßte. Ihre Augen waren strahlend blau. Das konnte ich selbst auf die Entfernung von zwanzig Metern ausmachen und musste einen Schauer unterdrücken, denn sie streiften mich kurz, aber intensiv, bevor sie sich wieder auf Noah richteten, der leise auf seine Tante einredete.
„Was meint ihr, lässt sie uns rein?“ Izobel war unbemerkt zu uns getreten und hatte ihre Augen ebenso wie wir auf die zwei Personen auf der Steintreppe gerichtet.
„Ich weiß nicht.“ Diana zuckte mit den Achseln und Liam brummte nur.
„Warum sollte sie uns nicht rein lassen?“ Ich sah die drei fragend an. Und erkannte, dass ich irgendwie getroffen war. Ich wusste nicht, was ich mir erwartet hatte. Vielleicht eine Hexenkugel und eine halb blinde alte Frau, aber auf alle Fälle ein paar Antworten. Ich brauchte Antworten. Und trotz meiner Dankbarkeit den O`Bannion Geschwistern gegenüber, war ich mir nicht sicher, ob sie so gut Bescheid wussten, wie sie mich glauben machen wollten. Ich hoffte inständig, dass die Frau in den bunten Tüchern uns nicht wegschickte.
Während ich noch stumm Stoßgebete gen Himmel sandte, stiegen Noah und Tante May die Treppe hinab und kamen langsam auf uns zu. Mit jedem Schritt, den sie sich näherten, fühlte ich den intensiven Blick aus zwei Paar strahlend blauer Augen bohrend auf mir ruhen. Und wurde immer nervöser. Mit jedem Schritt, den sie auf uns zumachte. Es war wirklich erstaunlich, wie sehr sich die Augen von Tante und Neffe ähnelten. Man hätte sie womöglich einfach austauschen können und man würde keinen Unterscheid erkennen.
Liam tastete nach meiner Hand, als er merkte, dass ich langsam zapplig wurde und drückte sie beruhigend. So dankbar ich ihm auch war für diese Geste, am liebsten hätte ich meine Hand zurückgezogen, denn ich konnte sehen, wie Tante May diese Geste mit Adleraugen beobachtete und sich sehr wahrscheinlich ihren Teil dabei dachte, weil sie Noah einen wissenden Blick schenkte, worauf er nur den Mund verzog.
Statt meine Hand wegzuziehen, überließ ich sie Liam und streckte den Rücken durch, wobei ich gleichzeitig den Kopf hob. Ich merkte selber, dass ich mein Kinn angriffslustig nach vorne reckte, aber ich konnte mich einfach nicht bremsen. Ich kam mir vor wie unter ein Mikroskop gelegt. Auch wenn hier vielleicht alle mehr Ahnung hatten, was zur Zeit mit mir passierte; es passierte dennoch mir! Ich wollte nicht so gemustert werden und dann in eine Schublade gesteckt werden. Mustern konnte ich auch. Ich hielt den blauen Augen stand und überwand den Wunsch, den Blick einfach abzuwenden und auf den Boden zu richten.
Tanta May blieb erst stehen, als sie sich direkt vor mir befand. Es fehlte nicht viel und ihre Fußspitzen würden meine berühren. Ich war so unglaublich stolz auf mich, dass ich nicht zurückzuckte.
„Willkommen in meinem Heim, Erdgeküsste.“ Ihr Haus und ihre Erscheinung mochten ja überhaupt nicht meinen Vorstellungen entsprochen haben, ihre Stimme hingegen erfüllte jedes Klischee. Sie war angenehm weich und so rauchig, als würde sie tatsächlich die Zukunft aus einer Glaskugel deuten.
Ich räusperte mich kurz, bevor ich tatsächlich ein leises „Danke“ herausbrachte.
Himmel, konnte sie nicht mal woanders hinschauen? Immer noch waren ihre Augen genau auf meine gerichtet und ich fühlte mich mit jeder Sekunde, die verstrich, ein wenig schutzloser.
„Die Augen sind die Fenster zur Seele“, murmelte Tanta May, ja ich nannte sie Tante May, auch wenn das meiner Meinung nach überhaupt nicht passte.
Irritiert kniff ich meine Fenster ein wenig zusammen und mein Gegenüber schien aus einer tiefen Versunkenheit aufzuwachen, denn sie blinzelte ein paar Mal.
„Tante May!“ Diana drängte sich ohne Rücksicht auf Verluste zwischen uns und umarmte ihre Tante. Ich hätte sie vor lauter Dankbarkeit abknutschen können. Diana, nicht die schräge Tante. Noahs Mundwinkel zuckten, als wüsste er genau, was ich gerade gedacht hatte, aber als er meinen Blick bemerkte, kehrte wieder seine unbeteiligte Mine zurück. Aus dem sollte mal einer schlau werden.
Nachdem die Begrüßungszeremonie, die sich nach Diana merklich abgekühlt und für Izobel nur noch ein Händeschütteln übrig gehabt hatte, beendet war, bat uns Tante May ins Haus. Ich wich Liam dabei nicht von der Seite, weil ich diese blauen Augen immer noch in meinem Nacken spürte und kurz vor der Haustür wieder dieses unbändige Verlangen nach Flucht verspürte. Ich war mir nicht sicher, ob das Unterdrücken dieses Verlangens eher heldenhaft oder einfach nur dumm war. Aber was blieb mir anderes übrig?
Das Haus, das tatsächlich vier Stockwerke, nebst Keller und Dachboden, beherbergte, war eine weitere Überraschung. Allerdings keine so große mehr, denn nachdem ich die verrückte Tante gesehen hatte, war ich mehr oder weniger gezwungen, meine Vorstellungen über Bord zu werfen. Schon das Treppenhaus machte deutlich, was einen erwartete. Licht und Geräumigkeit. Keine alten, verstaubten Möbel, die eher ins vorige Jahrhundert gepasst hätten, sondern moderne, geschmackvolle Einrichtungsgegenstände, die an IKEA erinnerten, aber bestimmt um einiges teurer waren. Denn trotz Helligkeit und Modernität, strahlte das Haus eine stille Eleganz aus, der ich mich nicht entziehen konnte.
Direkt hinter der Eingangstür, konnte man bis unter das Dach blicken, da die einzelnen Stockwerke in einer Art Balustrade mündeten, sodass man von jedem Stockwerk direkt in den Eingangsbereich blicken konnte. Ich kam mir ja so unglaublich klein vor.
Tante May führte unsere kleine Truppe direkt in eine gemütliche Wohnküche, wo eine dampfende Teekanne auf dem Tisch stand.
„Setzt euch doch“, sagte sie mit ihrer rauchigen Stimme, während sie aus einem großen Küchenschrank für jeden eine Tasse hervorkramte.
Dankbar rutschte ich zwischen Diana und Liam auf die Eckbank und nahm eine Tasse entgegen. Als alle mit Tee versorgt waren, der übrigens einfach himmlisch schmeckte, setzte sich Tante May zu uns an den Tisch.
„Ich muss nicht fragen, was euch hergeführt hat. Ihr habt also eine Erdgeküsste gefunden.“ Wieder lagen ihre Augen auf mir. Diesmal war es Noah, der den Blick von mir lenkte.
„Ihre Mutter wurde angegriffen“, sagte er ernst und seine Tante runzelte daraufhin besorgt die Stirn.
„Jäger in Forest Creek?“
„Scheint so.“ Noah nickte.
„Wer weiß sonst noch Bescheid? Eure Eltern?“ Wieder war es Noah, der den Kopf schüttelte. Bildete ich es mir ein, oder sah Tante May erleichtert aus?
„Was ist hier los?“ Liam setzte sich aufrechter hin, als er diese Frage stellte.
„Erdgeküsste laufen nicht einfach so herum und ausgerechnet wir stoßen auf Avery?“ Auch Diana sah ihre Tante nun an.
„Ich bin mir nicht sicher.“ Nachdenklich rührte Tante May einen Löffel Honig in ihren Tee.
„Nicht sicher?“ Zum ersten Mal, seit wir angekommen waren, brachte ich mehr als ein Wort heraus. Okay, zwei waren nicht viel, aber im Moment kam es darauf an.
„Ich dachte ich kriege hier Antworten.“ Vorwurfsvoll sah ich in die Runde.
„Es spricht.“ Noah verzog spöttisch den Mund, aber das machte mir momentan nicht das Geringste aus.
„Halt einfach den Mund“, fuhr ich ihn an, was ihn so verblüffte, dass er tatsächlich schwieg. Anerkennend klopfte mir Liam auf die Schulter, doch ich schüttelte seine Hand unwirsch ab.
„Meine Mutter liegt im Krankenhaus, ich falle jeden Tag in Ohnmacht, habe teilweise Schmerzen, dass es kaum zum Aushalten ist, sehe Dinge, die ich nicht sehen sollte und werde hier her gebracht. Und jetzt kriege ich keine Antworten?“ Mein Atem ging heftig. Ich war gegen Ende immer lauter geworden und funkelte wütend in die Runde, wobei ich zugeben muss, dass Noah das Meiste abbekam. Es war schließlich seine Idee gewesen, alles stehen und liegen zu lassen und hier her zu kommen.
Tante May hob amüsiert die Augenbrauen.
„Ich habe durchaus Antworten, Erdgeküsste. Mir wurden bislang jedoch die richtigen Fragen verweigert.“
„Die richtigen Fragen verweigert?“, brauste ich auf. „Ich finde, dass die Frage, was zum Teufel hier los ist, ganz und gar nicht falsch.“
Liam und Diana legte mir gleichzeitig je eine Hand auf die Schulter. Erst da merkte ich, dass ich aufgesprungen war, was dank der Eckbank gar nicht so einfach war. Zögernd ließ ich mich wieder auf meinen Platz sinken.
Ruhe kehrte ein und ich war bereits kurz davor, mich für meinen Ausbruch zu entschuldigen, als Tante May wieder das Wort ergriff.
„Stell mir die Frage, die dich am meisten beschäftigt“, sagte sie leise und sah mich dabei so intensiv an, als kannte sie diese Frage schon längst.
„Warum ertragen die Menschen meine Nähe nicht?“, schoss es aus mir heraus, bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte. Verblüfft und leicht verlegen, schloss ich meinen voreiligen Mund wieder und musterte intensiv die Tischplatte. Mir war nicht klar, wie sehr mich diese Frage beschäftigte.
„Einsames Mädchen“, murmelte Tante May so leise, dass man sie kaum verstand.
Ich fröstelte plötzlich und umklammerte meine Tasse mit beiden Händen, als könnte ich ihre Wärme absorbieren. Ich spürte, wie die Blicke sämtlicher Anwesender auf mir ruhten und fühlte Liams Hand, die tröstend nach meiner griff.
„Die Menschen meiden dich, weil du nie gelernt hast, dich abzuschirmen. Erdgeküsste haben eine so reine Seele, dass um sie herum das Negative umso stärker aufleuchtet. Und Menschen haben nun mal keine reine Seele. Aus einem Raum voller Neugeborener würde die Seele einer Erdgeküssten nicht herausstechen. Aber je älter die Menschen werden, desto dunkler wird ihre Seele. Bei einigen mehr, bei anderen weniger. Stellt es euch wie ein strahlend helles Licht vor, das immer weiter abgedunkelt wird. So ist es mit den Seelen der Menschen. Die Seele einer Erdgeküssten verändert sich nicht. Sie bleibt so hell, wie am Tag ihrer Geburt. Sie blendet die Seelen um sich herum und erinnert sie an das, was sie unweigerlich verloren haben.“ Tante May stockte kurz und ich sah auf. Der Blick, den sie mir zuwarf war so liebevoll und gleichzeitig so erfüllt von Mitgefühl, dass ich nicht wegsehen konnte.
„Das ist der Grund, warum Menschen dich meiden, Avery.“ Zum ersten Mal sprach sie meinen Namen aus und ich konnte nicht verhindern, dass in mir die Tränen aufstiegen. Schnell sah ich weg, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
„Aber ich kann mich abschirmen? Ich kann das lernen und dann kann ich auch in die Nähe von Menschen kommen, ohne dass sie vor mir davon laufen? So wie Noah?“, fragte ich hoffnungsvoll und sah sie so erwartungsvoll an, dass ich ihren irritierten Blick bemerkte.
„Wie Noah?“ Tante Mays Stimme klang unverändert, aber ich hatte den Eindruck, dass ich ihr soeben etwas mitgeteilt hatte, dass sie nicht gewusst hatte.
„Was meint sie damit? Noah?“
Ich warf Noah einen entschuldigenden Blick zu. Dabei wusste ich nicht einmal, wofür ich mich überhaupt entschuldigte. Schließlich waren diese Ohnmachtsanfälle ebenso ein Grund, weswegen wir hier waren.
Noah wich meinem Blick zur Abwechslung mal nicht aus. Aber er antwortete seiner Tante auch nicht. Izobel fühlte sich schließlich bemüßigt, auch ihren Teil zu der Unterhaltung beizutragen.
„Er knockt sie regelmäßig aus, wenn er in ihre Nähe kommt, ohne seinen Schutz hochzuziehen“, sagte sie nicht gerade charmant.
Tante May saß da, wie erstarrt. Sie sagte kein Wort, aber ihre Augen sprachen Bände, während sie zwischen Noah und mir hin und her wanderten.
„Na das ist doch mal eine interessante Entwicklung“, sagte sie schließlich und wieder überraschte sie mich, als sich auf ihrem Gesicht ein verschmitztes Lächeln ausbreitete.
Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Das große Himmelbett, das mir für die Dauer unseres Aufenthaltes zugewiesen worden war, federte jede Bewegung so sanft ab, dass ich tatsächlich das Gefühl hatte, auf einer Wolke zu liegen. Leider garantierte auch eine Wolke nicht für eine Nacht erholsamen Schlafes – den ich dringend nötig hatte.
Zu Vieles ging mir im Kopf rum. Kein Wort hatte Tante May mehr verloren, das mir irgendwie weitergeholfen hätte. Ich war so schlau wie vorher. Das einzig Tröstliche war die Tatsache, dass ich anscheinend nicht die Einzige war, die sich ziemlich vor den Kopf gestoßen fühlte. Auch Noah hatte sich wohl eine Antwort erhofft. Ich konnte nur erahnen, wie viel Mühe es ihn kosten musste, sich die ganze Zeit abzuschirmen, damit ich nicht einfach wieder umkippte. Doch so sehr er auch nachhakte, seine Tante ignorierte unsere drängenden Fragen.
Tante May – ich sollte sie auch so nennen – hatte stattdessen damit begonnen, ihren Gästen Zimmer zuzuweisen. Ich war dankbar für das kleine Zimmer im Erdgeschoss.
Nach dem Abendessen, das sie uns aufgetischt hatte, wäre ich nicht mehr in der Lage gewesen, mich die vier Stockwerke hinaufzuquälen, wie es anscheinend bei Liam der Fall war. Seiner äußerst angesäuerten Mine nach zu urteilen. Keine Ahnung, wo die anderen untergebracht waren. Ich war glücklich mit meinem Zimmer. Es hatte nämlich eine Tür, die direkt in den Garten führte und zu meiner Freude fing dahinter ein Wald an, den man von der Straße nicht vermutet hätte.
Leise blies der Wind die Gardinen auf, da ich die Tür offen gelassen hatte und ich gab es endgültig auf, einschlafen zu wollen. Stattdessen schwang ich mich aus dem Bett und tappte auf nackten Sohlen in den Garten. Sofort fühlte ich mich besser. Das Gras kitzelte meine Füße und ich atmete tief die Nachtluft ein. Langsam schlenderte ich durch den Garten in Richtung Wald. Ich konnte nur hoffen, dass keines der O`Bannion Geschwister aus dem Fenster sah, denn ich wollte nicht wissen, was ich für einen Anblick in meinen kurzen Shorts und dem einfachen Top bot.
Als ich die ersten Bäume erreichte, ließ ich mich an dem Stamm einer großen Eiche im Gras nieder und legte den Kopf in den Nacken. Ich wusste nicht, wie lange ich so dasaß, aber ich entspannte mich immer mehr. Ich schaffte es, die quälenden Sorgen aus meinem Kopf zu verbannen und genoss stattdessen die Stille.
„Avery!“ Die sanfte Stimme von Tante May war es schließlich, die mich aus dem Schlaf riss. Verwirrt öffnete ich die Augen und realisierte erst nach und nach, dass ich wohl eingeschlafen sein musste, denn ich lag zusammengerollt im taufeuchten Gras unter dem alten Baum.
„Ich hätte mir gleich denken können, dass du hier draußen bist.“ Tante May schmunzelte und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Dankbar ließ ich mich auf die Beine ziehen. Ich war wohl immer noch nicht ganz wach.
„Erdgeküsste suchen die Freiheit, wenn sie sich bedrängt fühlen. Mein Fehler. Ich hatte lange Zeit nicht mehr das Vergnügen, eine Erdgeküsste leibhaftig vor mir zu sehen.“ Sie kicherte leise vor sich hin. Anscheinend hoch amüsiert über ihre Schusseligkeit.
Ich fragte lieber nicht, wie lang das wohl sein konnte, denn irgendwie fürchtete ich mich vor der Antwort. Sie sah vielleicht aus wie dreißig, aber sie wirkte um so vieles älter. Als hätte sie schon zu viel erlebt in ihrem bisherigen Leben.
Behutsam lotste sie mich in Richtung Haus. Glücklicherweise verwickelte sie mich in kein Gespräch, denn dazu wäre ich wohl so früh am Morgen noch nicht in der Lage gewesen. Wie spät war es überhaupt? Ich kam nicht mehr dazu, diese Frage zu stellen, denn Noah erschien in der Terrassentür meines Zimmers und machte einen ziemlich wütenden Eindruck. Ich konnte sein Gesicht zwar noch nicht richtig erkennen, aber das Pochen in meinem Kopf, das mich plötzlich überfiel, legte die Vermutung nahe, dass er fuchsteufelswild war.
„Oh je.“ Tante May warf mir einen belustigten Blick zu, den ich so gar nicht nachvollziehen konnte, denn in dem Augenblick stand Noah auch schon vor uns. Aufgebracht funkelte er mich an und in meinem Kopf begann das inzwischen schon vertraute Hämmern.
„Wo zum Teufel bist du gewesen?“, zischte er, bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte. Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut und rollte förmlich über mich hinweg; jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Weckte den Fluchtinstinkt in mir. Einen wirklich sehr ausgeprägten Drang. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich je das Bedürfnis hatte wegzulaufen, außer in den vergangenen Tagen. Mein Kopf erinnerte mich daran, dass Noah kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Eine Welle heißen Schmerzes brandete über mich hinweg und ich presste automatisch die Hand an meine Schläfe.
„Noah.“ Meine Stimme klang fremd in meinen Ohren. So dünn und hilflos.
„Hast du eine Ahnung, was uns durch den Kopf gegangen ist, als wir dich nicht finden konnten? Und das nach allem, was schon passiert ist?“ Noah war nicht zu stoppen. Inzwischen wünschte ich mir die schweigsame Variante von ihm herbei, aber die schien er für den Moment verdrängt zu haben.
Ich stöhnte leise auf vor Schmerz, war aber trotzdem stark genug, nicht von der Stelle zu weichen, auch wenn ich am liebsten davon gelaufen wäre.
„Noah!“ Liams Stimme hallte durch die Luft und ließ seinen Bruder zusammenzucken, während er an meine Seite eilte und schützend den Arm um mich legte.
„Was ist bloß los mit dir? Siehst du nicht, dass sie Schmerzen hat?“
Noah erstarrte und ich konnte fühlen, wie die Schmerzen für einen Augenblick schlimmer wurden, bevor sie nach und nach verschwanden. Wortlos wandte sich der älteste der O`Bannions ab und verschwand im Haus.
„In der Tat, sehr interessant.“ Ich sah müde zu Tante May, die ich kurzzeitig völlig vergessen hatte. Ihr Blick war ihrem Neffen gefolgt und war nun merkwürdig leer, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz wo anders. Dann riss sie sich zusammen und klatschte, wie es verhunzelte alte Damen tun würden, vergnügt in die Hände.
„Da haben wir eine Menge Arbeit vor uns“, zwitscherte sie. „Am besten du ziehst dich an und nach dem Frühstück fangen wir an, an deinem Schutz zu arbeiten. Es ist ja nicht mit anzusehen, wie das arme Kind ständig solchen Schmerzen ausgesetzt ist“, murmelte sie, als sie sich bereits zum Gehen wandte.
„Deine Tante ist wirklich sehr interessant“, sagte ich zu Liam, der daraufhin kurz auflachte.
„Du hast ja keine Ahnung“, kicherte er. „Die ganze Familie macht einen Bogen um sie und unser Vater würde ausflippen, wenn er wüsste, dass wir bei seiner Schwester sind.“
„Wieso?“
„Oh, das ist eine wirklich lange Geschichte. Was genau vorgefallen ist, dass sie sich so entzweit haben, weiß von uns keiner so genau. Aber sie reden schon seit ungefähr vierzig Jahren kein Wort mehr miteinander.“ Er zuckte unbekümmert die Schultern.
Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. Liam klopfte mir fürsorglich auf den Rücken, während ich mir die Seele aus dem Leib hustete.
„Seit vierzig Jahren?“, keuchte ich mit tränenden Augen.
„Wie alt ist deine Tante?“
„Sie müsste jetzt so Ende fünfzig sein.“ Liam rechnete offensichtlich kurz nach, denn er blickte angestrengt in den Himmel. „Ja. Sechsundfünfzig um genau zu sein.“
„Aber sie sieht so jung aus.“ Ich wusste doch, dass mit der Tante irgendwas nicht stimmte.
„Ach, das fällt uns schon gar nicht mehr auf. Sie benimmt sich nämlich nicht so.“
„Tatsächlich? Wär mir nie aufgefallen“, antwortete ich sarkastisch und brachte Liam damit zum Lachen.
„Das muss sie dir selbst erzählen. Selbst ich kenne die Geschichte nicht. Ich glaube nur Noah hat eine ungefähre Vorstellung. Er ist der Einzige von uns, der regelmäßig Kontakt mit Tante May hat. Aber jetzt wird erstmal gefrühstückt. Vielleicht solltest du dir noch was anziehen. Nicht, dass ich deinen Aufzug nicht bewundern würde, aber er ist doch etwas ablenkend.“ Er grinste.
Nach dem Frühstück führte Tante May mich in ihr Arbeitszimmer, wie sie es nannte. Und endlich wurden meine Erwartungen mal erfüllt, denn das Arbeitszimmer sah aus, wie eine Hexenküche. Auf dem großen alten Holztisch standen Unmengen an Schüsselchen, Reagenzgläsern, Tonkrügen und Kräutertöpfen herum. Die Wände bestanden aus Bücherregalen, die – anders als bei den O`Bannions – kreuz und quer mit Büchern, Nippsachen und wieder irgendwelchen Pflanzen vollgestopft waren und eine Spur des Chaos verbreiteten.
„Was arbeitest du eigentlich?“, wagte ich die Frage.
„Ich bin Heilpraktikerin“, antwortete Tante May, während sie auf eine wacklige kleine Holzleiter stieg und ein Einweckglas aus einem der oberen Regalbretter fischte.
Ich musste unwillkürlich lachen und sogar Tante May schmunzelte etwas. „Ich weiß“, seufzte sie gespielt betrübt. „Ich erfülle jedes Klischee.“
Sie stellte das Glas auf den Tisch.
„Vanilleschoten?“ Fragend sah ich wieder auf.
„Ja. Daraus bereite ich dir jetzt einen Tee und du wirst sehen, dass deine Kopfschmerzen bald verschwunden sind.“ Sie zwinkerte mir zu und erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch ein schwaches Pochen in meinem Kopf verspürte.
„Schon die alten Ägypter wussten um die Heilkraft von Vanille“, erklärte Tante May, während sie mir den Tee zubereitete. Wahrscheinlich gab es in diesem Haus gar keine modernen Medikamente.
„Ich hatte noch nie in meinem Leben Kopfschmerzen“, fiel mir plötzlich auf, weil ich darüber nachdachte, ob ich überhaupt schon jemals eine Tablette gegen irgendetwas eingenommen hatte.
„Ich weiß, Liebes. Das sind auch keine normalen Kopfschmerzen. Das sind die Nachwirkungen davon, dass mein lieber Neffe unbewusst in deinem Geist herumstochert.“ Lächelnd stellte sie mir eine dampfende Tasse vor die Nase und ich nahm an dem großen Tisch Platz.
„Aber wieso kann er das überhaupt? Liam, Diana und Izobel tun das doch auch nicht.“ Ich nippte an dem Getränk und seufzte wohlig auf. Keine Ahnung, was sie mir da untergejubelt hatte, aber es schmeckte großartig.
„Das ist ein Thema, das wir uns für ein andermal aufheben. Ihr seid noch nicht so weit.“ Damit schien das Thema für sie erledigt und ich hütete mich, nachzufragen. Ich kannte die Tante jetzt noch nicht lange, aber nach gestern wusste ich, dass sie schweigen konnte.
„Wir fangen jetzt damit an, dir beizubringen, wie du dich abschirmen kannst. Wenn Noahs Konzentration nachlässt, bist du nicht auf ihn angewiesen, sondern kannst dich selber abschirmen.“
„Und wie mache ich das?“ Interessiert sah ich von meiner Tasse auf.
„Das ist unterschiedlich. Ich persönlich stelle mir immer eine rote Ziegelsteinmauer vor, die ich um mein Gehirn ziehe. Stark, fest und unüberwindbar hoch. Wichtig ist, dass du dich darauf konzentrierst, erst sämtliche fremden Einflüsse, die auf dich wirken, aus deinem Kopf zu verbannen und dann musst du schnell sein und eine Barriere errichten, von der du dein Innerstes geschützt fühlst.“
„Und woher weiß ich, wann die Barriere dicht ist?“
„Ja. Das ist das Problem. Ich werde wohl noch etwas Tee aufsetzen“, seufzte Tante May.
Ich musste gar nicht fragen, wofür ich noch mehr Tee brauchte, denn Noah betrat den Raum. Sein Gesicht war eine starre Maske und verreit nichts von seinen Emotionen.
„Ich soll mit Noah üben?“, fragte ich fassungslos. Da waren die Ohnmachtsanfälle ja vorprogrammiert.
„Keine Sorge, Kindchen. Er hat sich unter Kontrolle. Hast du doch, oder?“ Sie warf Noah einen scharfen Blick zu, den dieser aber nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken quittierte und sich mir gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ.
„Noah ist leider der Einzige, der hier die Möglichkeit besitzt, in deinen Geist vorzudringen“, erklärte Tante May beinahe schon entschuldigend.
„Hier?“, fragte ich argwöhnisch nach. „Gibt es denn noch andere, die das können?“
„Ich fürchte ja. Aber keine Sorge, dafür üben wir ja.“ Sie füllte meine Tasse noch einmal nach und setzte sich dann vor Kopf.
„Also gut. Avery, du konzentrierst dich jetzt nur auf deinen Kopf. Am besten, du schließt die Augen.“ Gehorsam folgte ich ihren Anweisungen und versuchte zu vergessen, dass die Quelle allen Übels direkt vor mir saß.
„Gut so. Und jetzt verinnerliche dieses Gefühl. So fühlt es sich an, wenn du in deinem Kopf völlig alleine bist.“
Schön gesagt. Ich fühlte mich wie immer. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und horchte in mich hinein. Aber da war nichts. Doch dann, ganz plötzlich, setzte dieses pochen wieder ein und ich wusste, dass Noah seinen Schutz gesenkt hatte. Ganz leicht nur, aber es war da. Und plötzlich verstand ich, was Tante May gemeint hatte. Dieses Pochen näherte sich meinem Innersten, war aber noch nicht da. Konzentriert versuchte ich mir die Ziegelsteinmauer vorzustellen, die Tante May beschrieben hatte und musste unweigerlich an die Mauer aus dem Harry Potter Film denken, die das Tor zur Winkelgasse bildete. Ich hatte die Szene ganz genau vor Augen, wie sich die feste Mauer plötzlich zu einem Tor verschob und ich merkte, wie das Pochen heftiger wurde. Mist. Hatte ich jetzt etwa meine eigene Mauer eingerissen?
Noahs Präsenz war mir nun völlig bewusst. Er war in meinem Kopf und über dem Pochen schwebte seine Anwesenheit, wie ein strahlend helles Licht. Nicht wie die dunkle Wolkenwand, die ich mir immer vorgestellt hatte. Nein, es war ein Strahlen, heller als die Sonne und so wunderschön, dass ich gar nicht verstand, wieso ich davor immer zurückgewichen war. Ich streckte mich dieser Helligkeit entgegen. Wollte für einen Moment den Schmerz, die Dunkelheit und die Verzweiflung der letzten Tage vergessen. Auch der Schmerz, den Noah mir normalerweise bescherte, verblasste angesichts der Schönheit, die meinen Geist flutete.
Und dann war es plötzlich weg. Ich versuchte dem Licht zu folgen, doch es war weg.
Verwirrt öffnete ich die Augen und schnappte nach Luft. Noah saß nicht mehr auf seinem Stuhl, sondern lag daneben. Tante May hatte sich über ihn gebeugt und wedelte nun vorsichtig mit einem kleinen Fläschchen unter seiner Nase herum. Riechsalz? Noah war ohnmächtig.
„Oh mein Gott.“ Ich sprang auf und eilte um den Tisch herum. Neben Noah ließ ich mich auf die Knie sinken und betrachtete sein Gesicht, das so entspannt war, wie ich es noch nie gesehen hatte.
„War ich das etwa?“ Erschrocken sah ich zu Tante May, die immer noch mit dem Fläschchen hantierte.
„Oh ja, meine Liebe. Du hast den Spieß umgedreht. Mir war nicht klar, dass das so einfach geht. Mein Fehler.“ Sie lächelte leicht.
„Mein Fehler?“, wiederholte ich entsetzt. „Er ist ohnmächtig!“ Aufgebracht sah ich Tante May an.
„Was, wenn ich ihn ernsthaft verletzt habe? Vielleicht hätte ich ihn umbringen können und das alles nur, weil er mir helfen wollte und dann sagen Sie das so leichthin?“ Ich schrie sie jetzt an. Es machte mich rasend zu sehen, dass ich ihr damit nur ein schelmisches Grinsen entlockte.
„Ganz ruhig, Kätzchen, mir geht es gut.“ Ich sah wieder zu Noah, der die Augen geöffnet hatte und mich ansah.
„Hast du Schmerzen?“ Beunruhigt sah ich ihn an.
„Mir geht es gut. Das machen wir am besten gleich nochmal.“ Mit einem Ächzen setzte er sich auf und Tante May reichte ihm meine Tasse mit dem Vanilletee.
Erschöpft und mit den Nerven völlig am Ende saß ich an diesem Abend in der gemütlichen Wohnküche auf der Eckbank. Immer wieder nippte ich an dem Vanilletee und versuchte so, den nachhallenden Kopfschmerz endgültig aus meinem dröhnenden Schädel zu verbannen.
Das mit der mentalen Mauer hatte nicht so wirklich funktioniert. Um ehrlich zu sein gar nicht. Stattdessen konnte ich froh sein, dass es nur mein Kopf war, der vor sich hin litt und bei den vielen Ohnmachtsanfällen nicht noch ein paar gebrochene Knochen zu beklagen waren. Ganze zwei Mal hatte ich es noch geschafft, Noah auszuknocken, was ihn jedoch nur noch stärker motiviert hatte, bis er es geschafft hatte, mich auszusperren und an seiner Stelle auf die Matte zu schicken. Nach etlichen Stunden und genauso vielen Ohnmachtsanfällen hatte uns Tante May dann schließlich entlassen. Sie war der Ansicht, dass wir zu sehr damit beschäftigt waren, den anderen außer Gefecht zu setzen, als uns selbst zu schützen.
Leider hatte sie damit recht. Nach dem ersten Schrecken, den Noah mir mit seinem kurzen Aufenthalt im Land der Träume beschert hatte, hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, mich ebenso schnell dort hin zu schicken, bis wir beide verbissen damit beschäftigt waren, nicht als erstes umzukippen. Da ich diese kleinen Wettbewerbe meistens verloren hatte, war Tante May schließlich auf die grandiose Idee gekommen, dass ich mir eine andere Art der Barriere ausdenken musste. Die Ziegelsteinmauer funktionierte ja offensichtlich nicht.
Ich fragte mich nur, wie diese Abschirmung aussehen sollte? Vielleicht ein Sonnenschirm? Trotz des brummenden Schädels war ich nach wie vor fasziniert von dem Licht, das Noah in meinen Kopf abstrahlte. Ich hatte es jedoch nur sehen können, wenn er anschließend ohnmächtig geworden war. Das Licht war somit mein persönlicher Triumph, den ich auskosten sollte. Stattdessen war ich enttäuscht, wenn es so schnell verlosch und ich anschließend einen auf dem Boden ausgestreckten Noah erblickte. Wenn ich umkippte war da kein Licht. Dann war da nichts anderes als Schmerz. Ein Schmerz, der mein Innerstes zu zerreißen drohte.
Ich klammerte meine zitternden Finger um die inzwischen lauwarm gewordene Tasse. Ich wurde aus diesem ganzen Zirkus nicht schlau. Trotzdem war ich lieber hier als Zuhause. War es schlimm so etwas zu denken, wenn die eigene Mutter im Krankenhaus lag? Aber zum ersten Mal hatte ich so etwas wie Freunde. Menschen, denen es nicht egal war, wenn ich einfach verschwand.
„Na, worüber grübelst du denn nach?“ Liam ließ sich neben mir auf der Eckbank nieder und sah mich aufmerksam an.
„Ich frage mich, was das aus mir macht, wenn ich mein Zuhause nicht vermisse“, gestand ich kleinlaut.
„Einen Menschen“, antwortete Liam prompt.
Zweifelnd sah ich ihn an. „Sollte ein Mensch nicht froh sein, wenn er ein Zuhause hat?“
„Du hattest kein Zuhause, Avery. Du hattest eine Mutter, die ihre Seele für eine Flasche Hochprozentigen verpfändet hätte und außer dieser Tierärztin keine andere Bezugsperson. Das ist kein Zuhause. Ein Zuhause sind Menschen, die sich umeinander kümmern. Denen es wichtig ist, wie es den anderen geht, die dir helfen, wenn du am Boden bist und dich immer mit offenen Armen empfangen. Das ist eine Familie.“
Erstaunt musterte ich den braunhaarigen Jungen, dessen Mokkaaugen einen sehnsüchtigen Glanz bekommen hatten.
„Was ist mit deiner Familie? Wieso lassen eure Eltern euch hier allein?“ Das war eine Frage, die mich die ganze Zeit schon brennend interessierte.
Liam zuckte nur mit den Schultern und ich dachte schon, er würde meine Frage unbeantwortet lassen, als er schließlich leise seufzte.
„Meine Eltern sind Mediziner. Während Mum richtig praktiziert, ist Dad in der Forschung. Ich weiß nicht, was genau er erforscht, darüber hat er nie geredet und wird es sehr wahrscheinlich auch nie, aber er muss deswegen viel reisen. Und Mum begleitet ihn.“ Er zuckte abermals die Schultern. Tat es als Nebensächlichkeit ab, aber ich kaufte es ihm keine Sekunde lang ab. Er vermisste seine Eltern.
„Sie sind Ärzte?“, hakte ich nach, denn ich wollte nicht, dass er wegen meiner neugierigen Fragerei jetzt auch noch deprimiert wurde.
Er versuchte sich an einem schwachen Grinsen. „Ja. Ich glaube, das hat es auch noch nie gegeben, dass man als Jäger in die Medizin geht. Das, was die Jäger normalerweise anstreben, ist einfach die Unsterblichkeit und…“
„Unsterblichkeit?“ Entsetzt unterbrach ich ihn. „Wie um alles in der Welt, wird man denn unsterblich?“
Liam schwieg ertappt.
„Liam“, drängte ich energisch „bitte sag mir, dass mein Blut nichts damit zu tun hat!“ Geschockt starrte ich ihn an. Ich wusste, dass ich die Antwort nicht hören wollte.
„Tut mir Leid, Prinzessin. Ich wollte dir nicht den Abend vermiesen.“ Liams Stimme bestätigte meine Befürchtungen.
„Sag schon. Was erwartet mich, wenn ich auf Jäger stoße?“ Ich holte tief Luft und versuchte mich an der unbewegten Mine, die ich nun schon so oft bei Noah gesehen hatte.
„Lass gut sein, Prinzessin. Niemand kauft dir dieses Pokerface ab. Es ist völlig in Ordnung, Angst zu haben.“
„Liam, lenk nicht ab. Sie brauchen mein Blut, richtig? Was machen sie damit?“
„Sie trinken es.“ Liam griff nach meiner Hand.
„Hast du dich nie gefragt, woher der Vampirmythos kommt?“
„Twilight?“, schlug ich zaghaft vor und entlockte Liam damit ein ehrliches Grinsen.
„Vampiren wird unnatürliche Körperkraft, Schnelligkeit und Unsterblichkeit nachgesagt.“
„Ja. Und sie schlafen in Särgen und verwandeln sich in Fledermäuse. Und sie glitzern in der Sonne.“
Liam schnaubte.
„Das hätten sie wohl gerne. Die Kraft, die Schnelligkeit und die Unsterblichkeit kann jeder normale Mensch erreichen. Vorausgesetzt er findet eine Erdgeküsste und saugt sie bis auf den letzten Tropfen aus. Naja, heutzutage würde man wahrscheinlich einfach ihr Blut abnehmen.“ Liam sah mich vorsichtig an.
„Es gibt also Vampire, aber das sind nichts anderes als Jäger, die ihre Zähne in die Hälse von Menschen wie mir schlagen?“
„Nun ja, ich denke die Fangzähne sind ein Mythos.“
„Bin ich dann unsterblich?“ Ungläubig sah ich ihn an. Damit hatte ich mich noch nie auseinandergesetzt und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt sein wollte. Ich dachte nicht, dass mein bisheriges Leben für alle Ewigkeit erstrebenswert wäre. Vor allem, wenn ich es allein verbringen müsste, weil sich kein Mensch in meine Nähe traute.
„Nein. Keine Sorge. Du bist nicht unsterblich. Dein Blut verhindert nur Krankheiten und Verletzungen heilen bei dir schneller. Ansonsten bist du immun gegen dein Blut. Du kannst dich nicht anstecken“, scherzte er.
Aber mir war gerade nicht nach Scherzen zumute, denn mir fiel gerade etwas ein, das ich nicht bedacht hatte.
„Wenn mein Blut heilende Wirkung hat, könnte ich dann nicht etwas davon meiner Mum geben? Würde es sie nicht heilen können?“ Erwartungsvoll sah ich zu Liam, der sich nun nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen schien.
„Liam?“ Ich wusste, dass ich ihn drängte, aber das war mir egal. Ich hätte meine Mutter sofort retten können? Hätte ich vielleicht auch die Alkoholikerin in ihr heilen können? „Liam!“
„Ja“, nuschelte er.
„Ja? Ich kann sie also heilen?“ Meine Stimme war laut geworden.
„Was ist denn bei euch los? Der erste Ehekrach?“ Diana kam in die Küche und setzte sich zu uns.
„Schon eher der Scheidungsgrund“, knurrte ich erbost.
„Was ist denn los?“ Diana sah vorsichtig zu ihrem Bruder, der den Kopf geknickt hängen ließ.
„Was los ist? Ihr habt mir verschwiegen, dass ich meine Mutter hätte heilen können. Das ist los!“
„Ach das. Ja, ich habe mich schon gefragt, wann du darauf kommen würdest.“ Diana sagte das so ruhig, sodass ich sie nur mit offenem Mund anstarren konnte.
„Hör mal, Avery. Mit deinem Blut ist nicht zu spaßen. Niemand kann genau voraussagen, was dein Blut für eine Wirkung auf normale Menschen hat. Wenn du zu viel verabreichst machst du womöglich einen Junkie aus ihnen. Und was ist da besser? Die Sucht nach dem Alkohol oder die nach deinem Blut?“
„Aber ihre Verletzungen. Der Blutverlust. Das alles könnte ich heilen?“
„Vermutlich.“
Wütend sprang ich auf.
„Was hast du vor?“ Liam sah mich besorgt an und auch Diana hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu sagen.
„Ich gahe ins Bett“, fauchte ich und rauschte aus dem Raum. Ich brauchte jetzt unbedingt meine Ruhe vor dem ganzen Mist.
„Du bist ja so durchschaubar, Kätzchen.“ Ich zuckte zusammen, als ich Noahs belustigte Stimme hinter mir hörte. Erschrocken wirbelte ich herum.
„Was machst du hier?“, zischte ich leise. Ich wollte schließlich nicht das ganze Haus wecken. Stundenlang hatte ich gewartet, bis es tatsächlich im ganzen Haus still geworden war, bevor ich mich leise rausgeschlichen hatte.
„Ich warte auf dich.“ Lässig stieß er sich von der Hauswand ab, an der er zuvor gelehnt hatte. Ganz in schwarz gekleidet war er im Dunkel der Nacht schwer zu erkennen. Unwillkürlich wich ich ein paar Schritte zurück, als er so auf mich zukam.
„Versuch bloß nicht, mich aufzuhalten“, warnte ich.
„Sonst was?“ Den spöttisch verzogenen Mund konnte ich mir denken. Dazu brauchte ich kein Licht.
„Bitte, Noah, ich muss das einfach tun“, appellierte ich an seine menschliche Seite, von der ich hoffte, dass sie irgendwo in ihm steckte. „Sie ist meine Mum.“
„Und deswegen schleichst du dich bei Nacht und Nebel aus dem Haus, obwohl du keine Ahnung hast, wie du zurück nach Forest Creek kommst, mindestens ein Jäger hinter dir her ist und du vermutlich keine Ahnung hast, wie du dir selbst Blut abnehmen kannst?“
Mir klappte der Mund auf. Hatte ich ihn schon jemals so viel sagen gehört? Verärgert renkte ich meinen Kiefer wieder ein und konzentrierte mich auf das Wesentliche.
„Der Bus geht gleich. Und wieso sollte ich mir Blut abnehmen?“
„Bist du nicht deswegen unterwegs ins Krankenhaus?“
„Ja, und?“
„Wie gedenkst du denn, deiner Mutter das Blut zu verabreichen? Wolltest du dir ins Handgelenk beißen und ihr anschließend das Blut in den Mund tröpfeln?“
„Ich hätte mir ins Handgelenk geschnitten“, korrigierte ich hoheitsvoll und fischte zum Beweis das scharfe kleine Küchenmesser aus meiner Jackentasche. Es ärgerte mich, dass er meinen Plan so schnell durchschaut hatte.
Noah lachte leise auf und es klang tatsächlich amüsiert. Vielleicht hätte ich diesen Klang genießen können, wenn er nicht auf meine Kosten zustande gekommen wäre.
„Bist du jetzt fertig?“, Wütend blitzte ich ihn an.
„Oh, ich hätte noch eine ganze Menge mehr auf Lager, aber dafür reicht einfach die Zeit nicht. Lass uns fahren.“ Er zog einen Schlüsselbund hervor und wedelte damit selbstgefällig vor meiner Nase herum.
„Du fährst mich ins Krankenhaus?“, fragte ich ungläubig und rührte mich nicht von der Stelle.
„Auf Dauer wird es einfach zu langweilig, dich ständig außer Gefecht zu setzen. Und wenn ich nicht mitkomme, machst du es alleine und ich denke, Liam würde dich sehr vermissen, wenn du als Blutspende für die Jäger endest.“ Seine Stimme klang vollkommen ruhig.
Irgendwann musste ich ihn mal fragen, wie er es schaffte, sämtliche Emotionen sowohl aus seinem Gesicht, als auch aus seiner Stimme zu verbannen. Es war wirklich frustrierend. Mir war bis jetzt nicht aufgefallen, wie sehr ich mich eigentlich auf das andere Gesicht verließ. Wie sehr es mir half, mich in meine Mitmenschen hineinzuversetzen und mir eine Meinung zu bilden. Bei den O`Bannions war ich allein auf mich und meine Gefühle angewiesen. Als hätte mir jemand vor dem Test meinen Spickzettel abgenommen, auf den ich mich voll und ganz verlassen hatte. Kein schönes Gefühl!
„Was ist jetzt? Wenn wir hier noch lange stehen, wird es schon wieder hell.“
„Fahren wir!“ Entschlossen stieg ich in seinen Wagen. Er folgte mir und kurz darauf rollten wir die Einfahrt hinunter.
Es dauerte nicht lange und ich ärgerte mich bereits, dass ich nicht mit dem Bus gefahren war. Ich hatte nicht gewusst, dass Schweigen so bedrückend sein konnte. Ich musterte Noah unauffällig von der Seite und kam nicht umhin, sein Profil zu bewundern. Er sah schon verboten gut aus. Aber das konnte momentan nur von Vorteil sein. Es wäre damit seine Aufgabe, die Krankenschwestern abzulenken.
„Gefällt dir, was du siehst? Tut mir Leid, dass ich nicht der Zwilling von Liam bin. Dann wäre mehr Ähnlichkeit vorhanden.“ Sein bissiger Ton überraschte mich.
„Was hast du nur für ein Problem mit Liam?“ Ich wollte die Frage gar nicht laut stellen, aber irgendwie war meine Zunge schneller als mein Kopf.
Die Antwort blieb er mir schuldig und stattdessen senkte sich abermals diese unangenehme Stille über uns. Die Strecke kam mir ewig vor.
„Was für eine Mauer stellst du dir vor, wenn du deinen Kopf gegen mich abschirmst?“ Diese Frage war nicht so verhängnisvoll und vielleicht hals mir die Antwort sogar weiter.
„Mauer?“, fragte er verwirrt?
„Ja. Tante Mays Ziegelsteinmauer funktioniert bei mir nicht. Ich denke die ganze Zeit an den Eingang zur Winkelgasse, aber dummerweise sehe ich immer nur die Szene vor mir, in der sich die Mauer zu dem Tor verformt und schon ist alles schwarz.“ Ich plapperte einfach drauf los. Alles war besser als dieses Schweigen.
Noah lachte auf. Ein Lachen. Ein ehrliches Lachen. Das erste Lachen, das ich überhaupt von ihm hörte. Und es gefiel mir. Der tiefe Ton vibrierte in meinem Bauch und meine Mundwinkel zogen sich automatisch ein Stück nach oben.
„Kätzchen, du bist unglaublich!“ Wieder lachte Noah herzhaft auf und es war mir egal, dass er über mich lachte. Ich wollte ihn einfach lachen hören. Etwas, das er viel zu selten tat.
„Tante May probiert ihr Möglichstes, dir den Schutzwall zu erklären und du denkst an Harry Potter.“
„Das war die einzige Ziegelsteinmauer, die mir eingefallen ist“, verteidigte ich mich trotzig.
„Die Ziegelsteinmauer ist ja auch nur Tante Mays Beispiel. Das klappt bei dir nicht. Du brauchst etwas Eigenes. Etwas, auf das du vertraust und mit dem du dich wohlfühlst.“
„Was stellst du dir denn vor?“ Nun war ich neugierig.
„Eis“, sagte er nach kurzem Zögern. „Ich stelle mir eine Wand aus Eis vor.“
Eis? Wieso wunderte mich das nicht? Schließlich spiegelte sich diese Kälte auch in seinen Augen wider. Nicht in der Farbe. Dazu war das Blau zu intensiv. Aber diese Kälte, die er ausstrahlte. Als hätte er nicht nur seinen Kopf mit einer Eismauer umgeben, sondern sein ganzes Wesen. Sein Herz. Überzogen von einer dünnen Eisschicht, um es vor Verletzungen zu schützen.
Oder, um es am Verbluten zu hindern.
Wir stellten das Auto ganz am Ende des Parkplatzes ab, um so unauffällig wie möglich ins Krankenhaus zu gelangen. Noah schien wirklich in Sorge zu sein. Immer wieder sah er sich um und wich mir nicht von der Seite.
„Sobald du auch nur ein Kribbeln im Kopf spürst, sagst du mir Bescheid, verstanden, Kätzchen?“ Er wandte noch einmal den Kopf und ließ seinen Blick über den Parkplatz wandern, bevor wir schließlich den hell erleuchteten Krankenhausflur betraten.
„Meinst du wirklich, der Jäger hält hier Wache und wartet, bis ich auftauche, um nach meiner Mutter zu sehen?“ Skeptisch sah ich ihn an.
„Du bist doch hier, oder nicht?“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage und blöderweise hatte er damit recht. Früher oder später hätte ich meine Mutter besucht. Auf einmal war ich mir ganz und gar nicht mehr sicher, ob das eine so gute Idee war.
Die langen, sterilen Flure waren wie leergefegt. Ganz vereinzelt klappte mal eine Tür, aber bis jetzt hatten wir noch niemanden zu Gesicht bekommen. Der strenge Geruch nach Desinfektionsmitteln weckte in mir den Wunsch, möglichst schnell das Weite zu suchen und in den nächst besten Wald abzutauchen.
„Wie finden wir denn raus, wo meine Mutter liegt?“ Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass Noah mit dabei war. Zu zweit ratlos zu sein, ist immer besser, als alleine da zu stehen.
„Sie liegt im dritten Stock, Zimmer 306“, sagte Noah und steuerte bereits einen der Fahrstühle an.
„Woher weißt du das?“ Verwirrt folgte ich ihm.
„Kätzchen, es war so klar, dass du eines Nachts ausbrechen würdest. Also habe ich angerufen und mich erkundigt.“
Verblüfft sah ich ihn an und folgte ihm ohne nachzudenken in den geräumigen Aufzug.
„Was denn? Dachtest du ich ziehe hier irgendeine Ninjanummer ab, setze die Krankenschwester mit meinem Charme außer Gefecht und erobere das Zimmer deiner Mutter mit einem Flugsalto?“ Er zog die Augenbrauen hoch, als er meine Blicke bemerkte.
„Irgendwie schon“, gab ich beschämt zu. Dass er einfach zum Telefonhörer gegriffen hatte, ließ mich jetzt doch etwas dumm dastehen.
Die Fahrstuhltüren schlossen sich, aber zu meiner Verwunderung drückte Noah die Taste für den zweiten Stock. Die Frage verkniff ich mir. Ich konnte es mir denken. Wenn tatsächlich jemand das Zimmer meiner Mutter überwachte, sollten wir uns nicht durch den Fahrstuhl ankündigen. Als sich die Türen wieder öffneten, verließen wir den Fahrstuhl ganz normal und liefen gleich darauf die Stufen des Treppenhauses nach oben.
An der Tür zum dritten Stock blieb Noah stehen. Angespannt lauschte er, bevor er es wagte, die Tür vorsichtig zu öffnen. Dann packte er mich, wobei ich ziemlich stolz auf mich war, dass ich einen erschrockenen Quietscher gerade noch unterdrücken konnte und bugsierte mich in einen der vielen Räume, die den Flur säumten.
„Das ist aber nicht das Zimmer meiner Mutter“, wagte ich anzumerken, als Noah auch schon damit begann, die Schränke der Abstellkammer, denn es schien tatsächlich eine zu sein, zu durchwühlen.
„Wir sollten dir nur schon vorher das Blut abnehmen. Für den Fall, dass es schnell gehen muss.“ Triumphierend hielt er eine Spritze hoch, die für meinen Geschmack etwas zu groß war. Doch Noah fackelte nicht lange. Mit einem Gummiband, das er in einer Schublade gefunden hatte, näherte er sich mir.
„Du musst schon den Pulli ausziehen, Kätzchen. Ich bin kein Arzt und selbst der sticht nicht durch die Kleidung.“
„Du willst mir Blut abnehmen?“ Leicht entsetzt starrte ich ihn an.
„Willst du es vielleicht selber tun? Bitte, das will ich sehen.“ Nun war er sichtlich genervt.
„Hast du das denn schon mal gemacht?“, hakte ich nach, während ich mich aus meinem dunklen Pullover schälte. Zum Glück hatte ich ein einigermaßen neues Top drunter.
„Nein. Aber so schwer wird das schon nicht sein.“ Energisch band er mir das Gummi um den Oberarm. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen? Andererseits hatte ich keine andere Wahl. Das Küchenmesser, mein ursprünglicher Plan, steckte zwar noch in meiner Tasche, aber die Nadel sah dann doch vertrauenserweckender aus.
Überraschend behutsam tastete Noah meine Armbeuge ab und wurde anscheinend fündig. Kurz sah er auf und ich war einmal mehr von seinen Augen fasziniert. Ich glaube so nah waren wir uns noch nie. Seine schwarzen Haare hingen ihm leicht in die Stirn und ich konnte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren. Es fehlten nur ein paar Zentimeter… Hastig riss ich mich von diesen Augen los und nickte.
„Ja… Leg schon los und versuch bitte, meinen Arm nicht zu durchbohren.“ Meine Stimme klang rau.
Wieder beugte sich Noah über meinen Arm und setzte die Nadel an. Bevor er die Haut durchstach zögerte er kurz und ein Grinsen erhellte sein Gesicht, das ihn sofort viel zugänglicher wirken ließ.
„Was ist los?“
„Nichts. Ich dachte nur gerade, dass man diesen Augenblick vielleicht für die Nachwelt festhalten sollte. Ein Jäger nimmt einer Erdgeküssten Blut ab.“
Jetzt musste ich auch ein Lachen unterdrücken. Wer ahnte denn, dass dieser Junge, der die ganze Zeit viel älter und ernster wirkte, als gut für ihn war, auch eine humorvolle Seite hatte? Überhaupt wirkte er heute Nacht viel zugänglicher, als die restlichen Tage. Lag wahrscheinlich daran, dass er endlich etwas unternehmen konnte und nicht länger untätig herumsitzen musste. Auch wenn er den Plan – meinen Plan – vermutlich für grob fahrlässig erachtete.
Ich wurde in meinen Gedankengängen unterbrochen, als die Nadel durch meine Haut stieß. Ich wollte ja eigentlich nicht hingucken, aber es interessierte mich doch, wie Noah sich anstellte. Es tat auf jeden Fall nicht besonders weh. Er hatte sich konzentriert über meinen Arm gebeugt und beobachtete nun das kleine Röhrchen der Spritze, das sich tatsächlich mit meinem Blut füllte. Fachmännisch zog er die Spritze zurück und wollte mir einen Wattetupfer geben, als er feststellte, dass sich die kleine Wunde in meinem Arm schon fast wieder geschlossen hatte.
„Cool“, merkte er an und wandte dann seine Aufmerksamkeit der mit Blut gefüllten Spritze zu.
„Irgendwie hatte ich es mir spektakulärer vorgestellt“, murmelte er gedankenversunken.
„Bitte?“
„Dein Blut.“
„Was ist damit?“
„Ich halte hier gerade den Schlüssel zu lebenslanger Gesundheit und sogar zur Unsterblichkeit in Händen. Irgendwie hatte ich mir das spektakulärer vorgestellt. Aber es sieht aus, wie jedes andere Blut. Keine magischen Funken, keine silbrigen Adern in dem dunklen Rot, gar nichts.“
„Du bist enttäuscht von meinem Blut?“ Ein kleines Kichern entkam mir, was mir einen bösen Blick einbrachte. Da war er ja wieder, der griesgrämige Noah O`Bannion.
„Seit Klein auf wird uns von den Erdgeküssten erzählt und ihrem magischen Blut. Du bist ein Märchen, das wahr geworden ist. Da kann man ja wohl auch ein bisschen Magie erwarten.“
„Du glaubst an Magie?“ Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus und ich konnte ein Lächeln nicht verhindern. Mit einem wahrgewordenen Märchen hatte mich noch keiner verglichen.
„Du etwa nicht? Gerade du?“ Er wedelte mit der Spritze vor meinem Gesicht herum.
In Ermangelung einer Antwort zuckte ich nur mit den Schultern. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Tatsächlich hatte ich die seltsame Geschichte, dass mein Blut heilende Wirkungen hätte, als Ammenmärchen abgetan. So ganz überzeugt war ich davon immer noch nicht. Aber das würde ich ja bald erfahren. Entschlossen ging ich zur Tür und bevor mich Noah daran hindern konnte, hatte ich sie vorsichtig geöffnet.
„Was machst du denn?“ Noah schubste mich hinter sich und spähte vorsichtig in den Flur. Wieder zog er mich einfach mit sich. War es eigentlich normal, dass wir bis jetzt niemanden zu Gesicht bekommen hatten? Nun ja, immerhin war es drei Uhr morgens. Wahrscheinlich schlief selbst die Nachtschwester im Moment. Konnte uns nur recht sein.
Schließlich standen wir vor Zimmer 306. In meinem Magen kribbelte es vor Nervosität. Ich hatte nie ein besonders inniges Verhältnis zu meiner Mutter gehabt. Verständlich, aber als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie mehr tot als lebendig. Inzwischen wusste ich, woran es lag, dass sie meine Nähe nicht ertrug. Dass sie trotzdem bei mir geblieben war, rechnete ich ihr hoch an. Auch wenn sie sich dazu in den Alkohol hatte flüchten müssen. Krampfhaft umklammerte ich die Spritze, die Noah mir nun zusteckte.
„Hast du noch das Küchenmesser?“, fragte er leise.
Ich nickte angespannt.
„Nimm es heraus und halte es in der Hand.“
Zögernd gehorchte ich. Ich umklammerte das kleine Ding, wie so ein irrer Psychomörder sein übergroßes Schlachtmesser. Noah korrigierte noch kurz meine Handhaltung. Jetzt sah ich nicht nur so aus, sondern fühlte mich auch so.
„Spürst du irgendwas?“ Noah sah mich an. Die Türklinke in der Hand, als wartete er darauf, dass ich das Startsignal gab.
Ich horchte angestrengt in mich hinein, so wie ich es heute den ganzen Tag über gemacht hatte, aber ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Kein Kribbeln, kein Pochen, gar nichts. Ich schüttelte den Kopf. Noah horchte noch einen Moment, doch dann gab er sich einen Ruck und öffnete vorsichtig die Tür.
Das Zimmer war leer. Abgesehen von dem weißen Bett, in dem der leblose Körper meiner Mutter lag. Zögernd trat ich heran. Ich bemerkte nur am Rande, dass Noah an der Tür stehen blieb, bereit, jeden Moment zu reagieren.
Sie sah blass aus. Blasser als sonst. Dunkle Schatten lagen unter ihren geschlossenen Augen und in ihrem Mund steckte ein Schlauch, der sie beatmete. In regelmäßigen Abständen hob und senkte sich ihr Brustkorb und ein leises Piepen wachte über ihre Vitalzeichen. Ich sah zu dem kleinen Monitor, der ununterbrochen irgendwelche Kurven aufmalte. Hilflos hob ich die Spritze mit meinem Blut. Was sollte ich denn nun machen?
„In ihrer Hand müsste ein Zugang sein. Für die Infusion. Dort kannst du die Nadel ansetzen.“ Noahs Stimme klang ruhig, als er hinter mich trat und vorsichtig meinen Arm, in die richtige Richtung lenkte. Er hatte recht. In der linken Hand meiner Mutter steckte tatsächlich ein Zugang. Noah wickelte den Verband ab, der darüber befestigt war und ich holte einmal tief Luft. Ich würde das jetzt durchziehen. Schließlich war das der Grund für mein Kommen. Der Grund dafür, dass ich sowohl meins als auch Noahs Sicherheit riskierte.
Entschlossen setzte ich die Spritze an.
„Drück ganz langsam. Tropfen für Tropfen und warte ein bisschen. Wir wissen nicht, wie ihr Organismus darauf reagiert.“
Behutsam folgte ich seiner Anweisung und spritzte ganz langsam etwas Blut durch den kleinen Schlauch. Und wartete. Und wartete. Als sich nichts tat, spritzte ich erneut etwas. Und wartete. Ich beobachtete meine Mutter mit Argusaugen. Ich wusste nur leider nicht, worauf ich achten sollte. Würde sich ihr Äußeres verändern? Ich wusste es einfach nicht. Ich wollte gerade erneut spritzen, als der kleine Monitor zu piepen begann. Es war nicht länger das monotone Piepen, sondern ein hektisches und ich riss automatisch die Spritze zurück. Der Körper meiner Mutter bäumte sich leicht auf und ihre Augenlider flatterten.
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen und Noah und ich wirbelten herum. Doch es war kein Jäger, sondern eine Krankenschwester, die uns misstrauisch beäugte.
„Was machen Sie hier? Wer sind Sie?“ Ihr Ton war harsch und sie marschierte zielstrebig auf den kleinen Monitor zu. Mir entging nicht, wie sie dabei automatisch einen Bogen um mich machte.
„Wie kann das sein?“ Hektisch wühlte sie in einem Kasten, der am Fußende des Bettes angebracht war und förderte eine Liste zu Tage, deren Daten sie mit denen auf dem Monitor abglich. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie uns wieder ihre Aufmerksamkeit schenkte.
„Wer sind Sie?“, wiederholte sie und ich hätte vielleicht nichts bemerkt, aber ihr anderes Gesicht verriet sie. Ihre Augen huschten immer wieder nervös zur Tür und ihre Mimik hatte sich zu einer angsterfüllten Fratze verzogen. Die Angst kroch aus jeder einzelnen ihrer Poren. Mit zitternden Fingern griff sie nach einem Pieper in ihrer Tasche und tippte eine Nachricht ein.
„Ich verständige den Arzt. Der Patientin geht es plötzlich viel besser“, sagte sie fahrig.
Ich glaubte ihr kein Wort. Ich erkannte die Lüge in diesen Worten und griff nach Noahs Hand. Erstaunt sah er mich an und wollte anscheinend eine spitze Bemerkung fallen lassen, doch in Anbetracht meines Gesichtes überlegte er es sich anders. Er verstand sofort und zog mich mit zur Tür. Er riss sie auf. Ignorierte das Geschrei der Krankenschwester.
„Lauf, Kätzchen!“, war alles, was er sagte und schon hetzten wir den Gang entlang. Wir erreichten gerade die Tür zum Treppenhaus, als wir die Stimme der Krankenschwester hinter uns hörten.
„Sie sind da entlang!“
Es war ein wahres Wunder, dass wir bei unserem Tempo nicht die Treppe runter segelten. Hinter uns konnte ich das Stampfen schwerer Stiefel ausmachen, die immer näher kamen.
Angstvoll blickte ich mich um, konnte aber nur eine schemenhafte Gestalt erkennen, weil Noah mich unerbittlich weiterzog.
„Nicht umdrehen. Lauf!“ Er wurde immer schneller. Ließ mich aber nicht los und endlich empfing uns die kühle Nachtluft, als wir das Gebäude hinter uns ließen. Am Ende des Parkplatzes konnte ich unser Auto sehen, was einsam und verlassen auf uns zu warten schien. Noch im Laufen zog Noah den Schlüssel hervor und entriegelte es. Mein Atem ging keuchend und die kühle Luft tat beim Atmen im Hals weh.
„Bleibt stehen“, ertönte hinter uns eine tiefe Stimme und ich spürte, wie Noah für eine Sekunde aus dem Tritt kam. Als hätte diese Aufforderung uns neue Kraft gegeben, spurteten wir die letzten Meter zum Wagen und hechteten in sein rettendes Inneres.
Noah fuhr sofort los und ich drehte mich um. Eine einsame Gestalt in einem schwarzen Mantel wurde von den Rücklichtern erleuchtet. Es war ein Mann. Groß. Bestimmt so groß wie Noah und mit dem gleichen schwarzen Haar. Ein dumpfes Gefühl der Übelkeit breitete sich in mir aus, als wir um eine Kurve rasten und ich den Jäger aus den Augen verlor. Ich drehte mich wieder nach vorne und richtete meinen Blick starr auf die Straße.
„Alles klar bei dir?“ Noahs Stimme klang seltsam monoton.
„Ja. Das war knapp.“
„Ja.“
„Du kanntest den Typen.“ Ich musste Noah nicht ansehen, um zu wissen, dass er damit nicht gerechnet hatte. Er schwieg.
„Wer war das, Noah?“ Meine Stimme hatte etwas Drängendes.
„Mein Onkel.“
Ich schwieg. Und dachte nach. Es war klar, dass er mir das nicht hatte sagen wollen. Er hätte es wahrscheinlich noch tagelang mit sich herumgeschleppt und vor sich hin gegrübelt.
„Ich dachte deine Familie hätte sich für ein Leben abseits der Jäger entschieden?“
„Das dachte ich auch.“ Noah flüsterte nur noch.
„Meinst du er hat dich erkannt?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe mich nicht umgedreht. Und die Nummernschilder helfen ihm auch nicht weiter, weil ich falsche angebracht habe.“
„Aber wir können uns nicht sicher sein. Willst du deine Eltern anrufen?“ Vielleicht war das ja eine Möglichkeit.
„Avery, verstehst du denn nicht? Mein Onkel ist der Bruder meines Vaters und mehr oder weniger sein bester Freund. Ich kann mir nicht denken, dass mein Vater nicht weiß, was sein Bruder hier treibt. Wir können ihn nicht anrufen, weil die Möglichkeit besteht, dass sie unter einer Decke stecken.“ Ich zuckte zusammen, als Noah mit der geballten Faust auf das Lenkrad einschlug.
Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass unser kleiner Ausflug vielleicht unbemerkt bleiben würde. Als wir in die Einfahrt von Tante Mays Haus fuhren, wurde diese Hoffnung innerhalb von Sekundenbruchteilen zunichte gemacht.
Izobel erwartete uns mit in die Hüften gestemmten Fäusten und ich brauchte nicht das andere Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass sie fuchsteufelswild war. Hinter ihr standen Tante May, Diana und Liam und wenigstens Liam war genauso sauer, wie Izobel.
„Na bravo“, knurrte Noah und stieg, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Auto.
Genau! Kurz überlegte ich, mich nicht lieber im Auto zu verbarrikadieren, aber dann stieg ich entschlossen aus und bekam gerade noch mit, wie sich Izobel auf ihren Bruder stürzte.
„WAS UM ALLES IN DER WELT IST NUR IN DICH GEFAHREN?“, brüllte sie und ihre Stimme hallte nur so über den kleinen Vorplatz.
Wie konnte so ein zierliches Persönchen nur eine solche Stimme beherbergen? Ihre schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab und unter anderen Umständen, hätte sie bestimmt eine spitze Bemerkung von ihren Geschwistern kassiert, aber im Moment reichte vermutlich ein Wort und sie würde vor lauter Wut abheben.
„Du weißt ganz genau, wie gefährlich es ist, hier draußen herumzulaufen und ganz besonders für Avery!“ Nun mischte sich Liam in das Geschehen ein und stellte sich demonstrativ neben seine Schwester.
„Gefährlich? Es war einfach nur dumm, unüberlegt, kindisch und lebensgefährlich!“ Wenigstens hallte ihre Stimme jetzt nicht mehr so, aber Izobel sah immer noch nicht ruhiger aus.
Noah setzte gerade zu einer Antwort an, als ich mich notgedrungen neben ihn stellte. Schließlich war die ganze Misere nun wirklich nicht seine Schuld.
„Es war meine Schuld“, bekannte ich und hob tapfer den Blick, nur um Izobels mörderischen zu begegnen. Auch wenn sie so klein war. Ich wollte ihr nie bei Nacht in einer einsamen Gasse begegnen. Vor allem nicht, wenn sie so drauf war, wie jetzt.
„War ja klar.“ Sie spuckte mir die Worte förmlich vor die Füße und musterte mich verachtend.
„Mag ja sein, dass es deine Idee war, Avery, aber es war Noah, der die Gefahr einschätzen konnte und wissen hätte müssen, dass du dich in Lebensgefahr begibst, sobald du das Haus verlässt.“ Liam griff fürsorglich nach meiner Hand.
Fassungslos sah ich ihn an, bevor ich ihm wütend meine Hand entriss.
„Sag mal, spinnst du?“ Verwirrt sah er mich mit seinen Hundeaugen an, doch diesmal achtete ich nicht darauf. Die ganze Wut, die ich bisher unterdrückt hatte, kochte nun in mir hoch.
„Es war meine verdammte Idee, meiner Mutter mein verfluchtes Blut zu spritzen“, schrie ich ihn an und bezog damit unser ganzes Empfangskomitee ein, auch wenn Diana und Tante May noch gar nichts gesagt hatten.
„Ihr könnt nicht ernsthaft erwarten, dass ich tatenlos herumsitze, während meine Mutter um ihr Leben kämpft. Ohne mich wäre sie jetzt überhaupt nicht im Krankenhaus. Ihr habt mir erzählt, dass mein Blut angeblich eine Wunderdroge ist, die Verletzungen heilen kann. Und wenn ich die Möglichkeit dazu habe, dann versuche ich es auch.“ Ich holte tief Luft, aber bevor Liam mir wieder irgendeinen beruhigenden Unsinn zureden konnte, machte ich meiner Meinung weiter Luft.
„Wenn Noah mich nicht begleitet hätte, wäre ich halt ohne ihn gefahren und wahrscheinlich nicht mehr wiedergekommen, weil mich der Jäger erwischt hätte. Also hört endlich auf, ihm die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben, während ich wie das dumme Kleinkind behandelt werde!“
Atemlos sah ich in die Runde, die mich nur erstaunt ansah.
Ja, ich war halt nicht das kleine Mädchen, das man ständig bevormunden musste. Izobel stand der Mund offen, Liam wirkte verärgert und schoss seinem Bruder böse Blicke zu, die der gekonnt ignorierte, Diana lächelte leicht und Tante May wirkte sehr zufrieden. Verstand einer diese Familie!
Bevor sich die Geschwister wieder fangen konnten oder erneut aufbrausen konnten, drängte sich Tante May nach vorne.
„Was haltet ihr davon, wenn ich uns nun ein sehr zeitiges Frühstück mache? Dabei könnt ihr zwei Ausreißer uns gleich erzählen, was passiert ist.“ Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern legte mir bestimmt ihren Arm um die Schultern und bugsierte mich so in Haus. Noah folgte uns, während die anderen noch etwas bedröppelt auf dem Hof standen.
„Und nach dem Frühstück müssen wir unbedingt an eurem geistigen Schutz arbeiten“, plauderte Tante May. „Du kannst mir nichts vormachen, Neffe. Du wärst gerade beinahe zusammengeklappt, bei Averys kleiner Ansprache.“ Erstaunt sah ich zu Noah, doch sein Gesicht war wieder diese undurchdringliche Maske. Ich kam nicht umhin, den Jungen zu vermissen, der vor ein paar Stunden noch mit mir gescherzt und gelacht hatte. Zumindest auf seine Weise.
Wir setzten uns schweigend an den Küchentisch, während Tante May sich an die Zubereitung des Frühstücks machte.
„Das ist nicht zu unterschätzen. Die Abschirmung des Geistes ist wirklich sehr wichtig. Vor allem für euch, wo ihr so angreifbar seid. Und es kann nicht angehen, dass ihr euch gegenseitig in Krisensituationen außer Gefecht setzt.“ Mit einem Holzlöffel verarbeitete sie die Eierpampe in einer der Pfannen zu Rührei.
„Aber warum sind wir so anfällig?“ Versuchen konnte man es ja mal. Ich wollte endlich eine Antwort auf diese Frage. Noah setzte sich auch etwas gerader hin. Der einzige Hinweis, dass ihn diese Frage genauso beschäftigte, wie mich.
„Ihr seid noch nicht so weit“, vertröstete Tante May lächelnd. „Glaubt mir, ihr merkt es, wenn ihr soweit seid und bis dahin üben wir an eurer Abschirmung.“
Ärgerlich zog ich die Augenbrauen zusammen und warf Noah einen finsteren Blick zu. Ich hasste diese kryptischen Antworten. Konnte sie nicht einfach sagen, was Sache war? Bevor ich jedoch weiter nachbohren konnte, kamen die restlichen O´Bannion Familienmitglieder ins Zimmer und ließen sich kommentarlos ebenfalls an dem großen Tisch nieder.
„Na dann erzählt mal.“ Dianas Blick wanderte zwischen Noah und mir hin und her.
Unsicher suchte ich nach seinen Augen, aber er hatte dicht gemacht. Mal wieder. Ich konnte das Eis, mit dem er sich gedanklich abschottet in seinen Augen sehen. Sie wirkten kalt und emotionslos. Ich räusperte mich und automatisch wandten sich mir alle Blicke zu.
„Noah hat mich abgefangen, als ich mich aus dem Haus geschlichen habe, um zu meiner Mutter ins Krankenhaus zu fahren“, begann ich, wurde aber prompt von Liam unterbrochen.
„Abgefangen?“ Misstrauisch verengte er seine Augen zu Schlitzen, als er Noah fixierte. „Woher wusstest du denn, dass sie sich heute rausschleichen würde?“ Noah schwieg. „Sie hätte genauso gut letzte Nacht oder erst in den kommenden abhauen können.“
„Himmel, Liam, sei nicht so begriffsstutzig. Er hat auf sie gewartet. Und so wie ich ihn kenne, nicht erst heute Nacht. Sein Zimmer ist im vierten Stock. Er hätte sie nie gehört. Also war er schon draußen.“ Diana sah ihren Bruder mitleidig an. Ich konnte mich allerdings nicht richtig darüber freuen, dass ausnahmsweise einmal Liam das Kleinkind unserer Truppe war, weil ich Noah leicht verstört musterte. Er hatte auf mich gewartet? Und nicht nur heute Nacht? Er konnte unmöglich wissen, dass ich gehen würde. Ich hatte es mir selbst erst nach dem Gespräch mit Liam überlegt. Die Sache mit dem Blut hatte mir einfach keine Ruhe gelassen.
„Schläfst du überhaupt?“ Izobels Frage war berechtigt. Sie erhielt ein wages Schulterzucken als Antwort. Immerhin.
„Und wie ging`s weiter?“, wollte Liam ziemlich ruppig wissen. Hier sollte jemand vielleicht auch noch ein kurzes Nickerchen machen. Diesen Kommentar verkniff ich mir aber lieber. Ich hing an meinem Leben.
„Wir sind ins Krankenhaus und Noah hat mir Blut abgenommen.“
„Er hat WAS?“ Diesmal war es Diana, die mich unterbrach. Mit kugelrunden Augen sah sie mich an, während Izobel ein prustendes Lachen ausstieß.
„Habt ihr wenigstens ein Foto gemacht?“, kicherte sie und ich kam um ein Lächeln nicht herum. Sie hatte mit ihrem Bruder mehr gemeinsam, als ich dachte.
„Ich hatte nur ein Messer dabei“, murmelte ich entschuldigend. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich ständig rechtfertigen zu müssen.
Diese Aussage löste nicht nur bei Izobel einen Heiterkeitsausbruch aus. Auch Tante May gackerte fröhlich vor sich hin, als sie uns Rührei auf die Teller schaufelte.
„Du wolltest dich schneiden und das Blut in ihren Hals träufeln?“ Diana schüttelte sich.
„Ist ja gut. Ich hatte es nicht ganz durchdacht“, schoss ich giftig zurück.
Diana hob abwehrend die Hände und bedeutete mir fortzufahren.
„Wir hatten meiner Mum gerade das Blut gespritzt…“
„Hat es denn funktioniert?“ Diesmal war es Tante May.
„Keine Ahnung. Sie hat auf jeden Fall reagiert und die Krankenschwester, die uns erwischt hat, war ziemlich geschockt von den Zahlen, die dieser komische Monitor, an den meine Mum angestöpselt ist, ausgespuckt hat. Aber dann mussten wir fliehen, weil ein Jäger hinter uns her war. Er hat uns nicht erwischt. Wir waren im Auto, bevor er uns eingeholt hatte“, vollendete ich hastig aus Angst vor weiteren Unterbrechungen.
„Es hat tatsächlich ein Jäger im Krankenhaus gewartet?“ Liams Stimme klang neutral, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Ich hatte ihn als den charmanten Witzbold kennen gelernt, aber seitdem hatte er sich verändert und machte auf mich einen ziemlich angriffslustigen Eindruck.
„Kanntest du ihn?“ Izobel stieß ihren Zwilling mit dem Ellbogen an.
„Es war stockfinster und wir mussten über den Parkplatz rennen“, sprang ich ein, denn ich wusste in diesem Augenblick plötzlich, dass Noah die Sache mit dem Onkel noch nicht erzählen wollte. Ich wusste es so klar, als hätte ich selber diesen Gedanken gehabt.
Seinem erstaunten Blick begegnete ich ebenso verwirrt. Ich schüttelte hilflos den Kopf.
„Schade“, seufzte Diana, die mein Kopfschütteln offenbar fehlinterpretiert hatte.
„Das zeigt nur noch mehr, dass Avery ihren Geist schützen muss. Wenn sie den Jäger gespürt hat“ sie sah mich fragend an und ich nickte „dann hat er sie andersrum wahrscheinlich genauso wahrgenommen. Also, Kinder, esst. Wir haben ein anstrengendes Training vor uns.“
Kurz darauf saßen Noah und ich auf dem gemütlichen Sofa im Wohnzimmer. Auf dem kleinen Holztisch vor uns eine dampfende Kanne mit Vanilletee.
Nachdem ich wusste, dass er sich die letzten Nächte um die Ohren geschlagen hatte, merkte ich ihm seine Müdigkeit an. Er saß am anderen Ende des wirklich großen Sofas und trotzdem konnte ich die Schatten unter seinen Augen genau erkennen.
„Ich komm schon klar. Hör auf, ständig herzuglotzen“, fuhr er mich schließlich entnervt an und ich wandte beleidigt den Blick ab.
„So, wir können anfangen. Die anderen sind nochmal ins Bett gegangen.“ Tante May grinste. Sie wusste ganz genau, dass das auch unsere bevorzugte Option gewesen wäre. Aber sie kannte kein Erbarmen.
„Noah, du fängst an“, wies sie ihren Neffen an.
Ich schloss schicksalsergeben die Augen und wappnete mich gegen den Schmerz, der auch sofort heranrollte und mein Bewusstsein überschwemmte. Verzweifelt versuchte ich mir eine Wand vorzustellen, um mich abzuschirmen, doch diesmal war es eine Mischung aus Ziegel und Eis, der ich förmlich zusehen konnte, wie sie in sich zusammenbrach und ich stöhnte schmerzerfüllt auf. Sofort zog sich die Wolke zurück.
„Du musst dir die Wand vorher vorstellen, Avery. Wenn der Schmerz erst da ist, ist es zu spät.“ Tante Mays Stimme klang gelassen und als ich die Augen öffnete, schenkte sie mir gerade eine Tasse Tee ein, die ich dankbar entgegen nahm.
„Ich weiß nicht wie“, gestand ich kläglich. „Ständig stürzt sie ein und ich weiß nicht, was meine Art von Mauer sein könnte.“
„Du bist eine Erdgeküsste. Erdgeküsste sind naturverbundene Geister. Du musst dir etwas Lebendiges vorstellen.“ Sie sagte das, als wäre es das Natürlichste der Welt.
„Versuch es nochmal. Noah.“ Auffordernd nickte sie in meine Richtung.
Wieder schloss ich die Augen. Eine Wand aus etwas Lebendigem? Vor mir sah ich den Wald, in dem ich mehr oder weniger aufgewachsen war. Die alten, knorrigen Baumstämme und dazwischen die schlanken Fichten. Immer enger zog ich die Stämme in meiner Vorstellung zusammen, bis sie einen dichten Ring bildete.
Trotzdem erreichte mich der Schmerz. Deutlich langsamer zwar, aber er war da. Noah zog sich zurück und ich öffnete die Augen.
„Das war schon besser“, jubilierte Tante May, als hätte ich soeben das Rad neu erfunden. „Gleich nochmal.“
Ich warf Noah einen genervten Blick zu und erschrak, als ich sein Gesicht sah. Er war ganz bleich. Die immer dunkler werdenden Schatten unter seinen Augen ließen sein Gesicht merkwürdig hohl aussehen.
„Vielleicht“, setzte ich an, doch da merkte ich schon die heranschwebende Wolke und schloss schnell die Augen. War er denn verrückt? Er kapitulierte sich noch ohne mein Zutun in eine Ohnmacht. Obwohl das vielleicht nicht das Schlechteste wäre. Dann könnte er immerhin mal ausschlafen. Ich stockte in meinen Gedanken. Wo war der Schmerz? Ich war so sehr mit meinen Gedanken abgedriftet, dass ich an meine Mauer gar nicht mehr gedacht hatte. Vorsichtig sandte ich meinen Geist aus und entdeckte das helle Licht, das Noah ausstrahlte. Unwillkürlich richtete ich meine Aufmerksamkeit darauf. Gleißende Helligkeit aus goldenem Licht strahlte mir entgegen und ich reckte mich ihm entgegen. Immer weiter, bis ich nicht mehr weiter konnte. Ich stieß an eine Barriere. Meine Barriere. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Und das ganz unbewusst. Es waren keine Bäume. Es war ein Geflecht aus Rosenranken, das sich, ähnlich wie ein geflochtener Weidenkorb, um meinen Geist herumwandte.
Ich war von meiner eigenen Vorstellungskraft erstaunt. Ich konnte die filigranen Blätter, die Stacheln und die Blüten genau vor mir sehen. Ich roch sogar den Duft der Rosen, die sich, genau wie mein Geist, Noahs Licht entgegenreckten und die Wärme, die es ausstrahlte aufsogen.
Nach und nach verblasste das Licht und ich bahnte mir einen Weg aus meinem Bewusstsein zurück in die Wirklichkeit.
Strahlend sah ich zu Tante May, die mir anerkennend entgegen nickte, dann aber den Finger über die Lippen legte und zu Noah deutete.
Er war in sich zusammengesackt. Sein Kopf ruhte an der Rückenlehne des Sofas.
„Oh mein Gott. War ich das? Schon wieder? Ich dachte das mit der Mauer hätte funktioniert?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme leicht panisch klang und ich rutschte eilig zu ihm hinüber. Vorsichtig legte ich ihm meine Hand auf die Stirn.
„Er ist ja eiskalt. Wir brauchen eine Decke. Am besten gleich zwei.“ Ich merkte selbst, dass meine Stimme einen befehlenden Ton angenommen hatte, aber das kümmerte mich gerade wenig. Tante May zog nur die Augenbrauen hoch und ging los. Hoffentlich, um Decken zu holen.
„Entschuldige bitte“, flüsterte ich leise und strich mit meinen Fingern von seiner Stirn in die dichten schwarzen Haare. Angenehm weich fühlten sie sich zwischen meinen Fingern an. Waren Haare so weich? Keine Ahnung. Ich hatte nur meine eigenen und die meiner Mutter als Vergleich und die meiner Mutter waren es definitiv nicht.
Tante May kam wieder zurück. Unter dem Arm ein Stapel Decken und ich zog eilig meine Hand zurück. Trotzdem fühlte ich mich ertappt.
Ich saß auf der Stufe vor der Terrassentür meines Zimmers und starrte wieder einmal nachdenklich in die Nacht. Im Gegensatz zu den anderen hatte ich nach unserer nächtlichen Eskapade nicht noch einmal geschlafen und mich dementsprechend früh zurückgezogen. Doch nach einigen Stunden des Hin- und Herwälzens, hatte ich mein Bett gegen diesen Platz an der frischen Luft eingetauscht.
Es war einfach zu viel passiert, als dass ich einfach einschlafen könnte. Außerdem plagte mich das schlechte Gewissen. Wieso nur hatte ich nichts von dem Jäger Schrägstrich Onkel erzählt? Wieso hatte Noah nichts gesagt? Meine Flunkerei kam mir so selbstverständlich über die Lippen und sie fühlte sich so richtig an, dass ich sie in dem Moment gar nicht hinterfragte hatte. Aber so im Nachhinein…
Sehr wahrscheinlich wäre es klüger, die anderen in Kenntnis zu setzen. Aber irgendetwas hielt mich trotzdem davon ab. Wahrscheinlich hatte Noah gute Gründe, seine Familie nicht einzuweihen. Hoffte ich zumindest. Denn wenn nicht, konnten wir ordentliche Schwierigkeiten bekommen.
Und Schwierigkeiten waren gar nicht gut, seitdem ich hautnah einen Verrückten miterlebt hatte, der bei dunkler Nacht Jagd auf mich gemacht hatte. Auf einem Parkplatz! Das war schon wieder so klischeehaft, dass man eigentlich nur die Augen verdrehen konnte. Aber ich hatte Angst.
Ich wurde von meinen Gedanken unterbrochen, als es leise an meiner Tür klopfte. Ich drehte mich erschrocken um, blieb aber sitzen, als Diana vorsichtig ihren Kopf zur Tür reinsteckte und in Richtung Bett spähte. Als sie mich dann auf meiner Stufe sitzen sah, gesellte sie sich unaufgefordert zu mir.
„Das war ein langer Tag für dich“, stellte sie fest, als sie sich neben mir niederließ. Sie trug wie ich nur Tank Top und Shorts.
„Das kannst du laut sagen“, seufzte ich. Insgeheim fragte ich mich, was sie wollte. Ich hatte Diana nicht als Menschen kennen gelernt, der lange um den heißen Brei herumredete. Vielleicht war sie sauer. Nach meinem Ausbruch heute Mittag hatte ich so etwas erwartet. Schließlich waren sie alle nur meinetwegen hier und ich hatte mich wie ein verzogenes Kind aufgeführt.
„Es tut mir Leid“, platzte ich heraus, als Diana einfach nur schwieg.
Erstaunt sah sie mich an. „Was tut dir leid?“
„Das alles hier.“ Ich beschrieb mit meinen Armen einen Bogen, der die ganze Situation umfassen sollte.
„Was meinst du?“ Diana schien ehrlich verwirrt zu sein.
„Na, dass ich euch alle in Gefahr bringe. Ihr seid schließlich nur meinetwegen in diese Geschichte reingeraten und ich führe mich auf wie der letzte Idiot. Ich habe heute nicht nur mein Leben in Gefahr gebracht, sondern auch Noahs. Es hätte alles Mögliche passieren können, nur weil ich unbedingt in dieses Krankenhaus wollte.“ Die Worte waren nur so aus mir hervorgesprudelt und ich klappte den Mund zu.
Diana sah mich nachdenklich an. „Du glaubst wirklich, dass es deine Schuld ist?“
Ich nickte.
„Du denkst, es sei deine Schuld, dass deine Mutter angegriffen wurde, dass ein Verrückter hinter dir her ist und Noah sein Leben in Gefahr gebracht hat?“ Diana sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Kerzen im Leuchter.
„Jetzt hör mir mal zu, Avery. Du kannst nicht ändern, was du bist. Du kannst nicht ändern, wie sich Menschen verhalten und du kannst nicht ändern, dass es Jäger gibt, die hinter Erdgeküssten her sind, mit der fixen Idee, ihr erbärmliches Leben um die Ewigkeit zu verlängern. Du kannst nicht ändern, dass sie deine Mutter angegriffen haben. Und du kannst ganz sicher nichts an meinem dämlichen Bruder ändern. Noah ist halt so. er spielt gerne mit dem Feuer. Da wirst du ihn ganz bestimmt nicht aufhalten können. In ihm lauert der Jäger ganz dicht unter der Oberfläche und er ergreift jede Gelegenheit, die einen Nervenkitzel verspricht.“
Ich schluckte. „Dann will er mich im Grunde genommen auch töten?“
„Unsinn. Er liebt nur den Nervenkitzel. Und er geht einer ordentlichen Herausforderung ganz bestimmt nicht aus dem Weg. Und wenn diese Herausforderung darin besteht, dich zu beschützen, dann macht er das auch. Wir alle wollen dich beschützen.“
Diana verstummte und legte den Kopf in den Nacken, um die Sterne besser betrachten zu können, wobei sie mich erstmal wieder meinen Gedanken überließ. Im Grunde genommen wusste ich, dass Diana nicht ganz Unrecht hatte. Schließlich war nicht ich es gewesen, die meine Mutter angegriffen hat. Es war ein Jäger gewesen. Natürlich wäre es ohne mich nicht so weit gekommen, aber ich konnte andere Menschen nicht kontrollieren.
Das war es auch nicht, was mir an Dianas Worten einen Stich versetzt hatte. Vielmehr war es ihre Erklärung für Noahs Verhalten. Es war also der Nervenkitzel, der ihn antrieb. Die Verlockung der Gefahr. War er so etwas wie ein Adrenalin Junkie?
„Denk leiser, Avery. Das stört die Stille“, stichelte Diana milde lächelnd. „Liam mag dich“, sagte sie plötzlich und holte mich damit ruckartig ins Hier und Jetzt zurück.
„Was? Ich ihn auch“, sagte ich vorsichtig, nur ahnend, welche Richtung dieses Gespräch nehmen würde.
Diana lachte leise. „Ich meine, er mag dich so richtig.“
Was sollte ich darauf sagen? Natürlich hatte ich gemerkt, dass er mit mir flirtete. Sehr nachdrücklich flirtete. Aber das?
„Aber…“ Hilflos brach ich ab. Was sollte ich denn auch sagen? Und ich hatte mir noch nie über Jungs Gedanken machen müssen.
„Keine Sorge. Ich erwarte gar keine Antwort. Zumal ich denke, dass sie Liam vermutlich nicht gefallen würde. Nur… brich ihm nicht das Herz.“ Dianas Augen schimmerten im Licht des Mondes.
Zaghaft nickte ich. Wie stellte sie sich das denn vor?
„Weißt du, Liam ist ein netter Kerl. Und hat ganz bestimmt einiges auf dem Kerbholz. Aber bis jetzt gab es eigentlich Keine, die ihn näher interessiert hätte und dann lernt er dich kennen und Nah ist es, der dich umkippen lässt.“ Sie verzog ihren Mund zu einem Grinsen, als sie mein empörtes Gesicht sah.
„Soll das heißen, er ist eifersüchtig, weil ich in seiner Gegenwart keine Schmerzen verspüre?“ Ich war fassungslos.
„Wenn du es so sagst, klingt es irgendwie merkwürdig.“
„Wie willst du es denn anders formulieren?“ Meine Stimme klang bissig. Aber Diana hatte keine Ahnung, was es jedes Mal für Höllenqualen waren, die ich ertragen musste, wenn Noah seinen Schild vergaß.
„Dass Liam eifersüchtig ist, weil Noah dir eine Reaktion entlockt, was ihm nicht gelingt.“ Bevor ich ihr widersprechen konnte, hob sie den Zeigefinger in meine Richtung und bedeutete mir so, dass sie noch nicht fertig war.
„Dir fällt das nicht auf, wie sollte es auch, aber du bist ein sehr verschlossener Mensch, Avery Capwell, was kein Wunder ist. Schließlich hat sich alle Welt von dir fern gehalten. Es ist ein Wunder, dass du emotional nicht total geschädigt bist. Aber gerade deswegen ist es für Liam schwer mitanzusehen, wie Noah dir emotionale Reaktionen entlockt, was anderen nicht so gelingt. Bisher reagierst du eigentlich nur auf deine Mutter und Noah so. Und das lässt Liam natürlich grübeln.“
„Und was war mit vorhin? Da habe ich euch doch richtig angeschnauzt.“ Triumphierend sah ich Diana an und mit einem Mal hatte ich keine Schuldgefühle mehr für mein Verhalten.
„Ja, aber letztendlich hast du dich nur so aufgeregt, weil Izzy und Liam hauptsächlich Noah für euren kleinen nächtlichen Ausflug verantwortlich gemacht haben.“
Ich holte Luft, klappte dann aber meinen Mund nach einem Moment des Nachdenkens wieder zu. Hatte sie Recht?
Diana lachte auf. „Du hättest dich mal sehen sollen. Wie eine Löwin, die ihre Jungen beschützt, bist du auf die zwei losgegangen und hast Noah gekonnt aus der Schussrichtung gedrängt.“
Peinlich berührt senkte ich den Kopf. Und da waren sie wieder, die Schuldgefühle.
„Ich habe gar nicht mitgekriegt, dass ich so schlimm war“, sagte ich kleinlaut. „Entschuldige.“
„Ach was, du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Aber daran siehst du, was ich meine. Es war bisher noch nicht Liam, der dir eine solche Reaktion entlockt hat.“
„Sind sie deswegen so wütend aufeinander?“ Ich wagte kaum. Diese Frage zu stellen.
„Das hast du mitgekriegt?“
„Das ist ja wohl offensichtlich.“ Als könnte man diese Spannung zwischen den beiden ignorieren.
„Vermutlich hast du Recht. Ich sehe das schon gar nicht mehr. Aber du bist nur ein Faktor. Der andere ist wahrscheinlich einfach nur ein Vaterkomplex.“ Diana zuckte die Schultern, aber ich konnte sehen, wie nahe ihr dieser Zwist ging.
„Ihr verhaltet euch, als wärt ihr in zwei Lager gespalten. Zwillingslager sozusagen.“ Mein Scherz war lahm. Aber es kam auf den Versuch an und tatsächlich verzogen sich Dianas Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns, das ihre Augen jedoch nicht erreichte.
„Kurz vor unserem Umzug gab es eine Zeit, in der Dad Noah immer mit zur Arbeit genommen hat. Er hat viel Zeit mit ihm verbracht und so sehr Liam sich auch anstrengte, er wurde ausgeschlossen. Noah hat es vermutlich gar nicht mitgekriegt, aber die zwei haben Liam ausgegrenzt und Dad hatte kaum noch Zeit für uns. Gegen Ende hat Liam Noah drauf angesprochen, aber der hat ihn abblitzen lassen und ganz plötzlich sind wir umgezogen. Ans andere Ende der Welt. Und eine richtige Erklärung haben wir nicht bekommen. Ich denke, Noah weiß etwas, aber er redet mit uns nicht darüber. Er redet überhaupt nicht sehr viel. Er hat sich verändert. Selbst Izzy kommt nicht mehr an ihn ran. Er kapselt sich ab, weil ihn irgendwas beschäftigt, das ihm Sorgen macht. Aber er redet ja nicht. Da kannst du noch so oft nachfragen.“ Dianas Stimme war lauter geworden und sie fuhr sich frustriert durch ihre Haare.
„Also Izobel ist jetzt auch nicht gerade zugänglich“, merkte ich vorsichtig an. Man konnte schließlich nie wissen, wann einer der O`Bannions das nächste Mal in Plauderstimmung ist. Die Gelegenheit musste ich einfach nutzen. Ich konnte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Diana schnaubte.
„Izzy hat einfach ein Problem damit, dass Noah sie genauso ausgrenzt wie uns auch.“
„Und wieso kann sie mich dann nicht leiden? Ich habe ihr schließlich nichts getan!“
Nachdenklich legte Diana wieder den Kopf in den Nacken.
„Vermutlich ist es ihre verdrehte Art, ihr Revier zu markieren.“
„Bitte was?“
„Na, du verbringst mehr Zeit mit Noah, als wir alle zusammen.“ Okay, das stimmte vermutlich sogar, aber…
„Aber sie konnte mich schon nicht leiden, als sie mich das erste Mal getroffen hat.“
„Hm. Ich habe keine Ahnung. Ich denke, es ist Eifersucht. Aber mehr kann ich dir nicht sagen und die Gehirnwindungen meiner Schwester sind mindestens so verknotet, wie die von Noah. Da will ich mich gar nicht hineinversetzten. Es kommt eh nichts dabei heraus.“
Ich spürte ihn, noch bevor ich ihn sah. Abwartend blickte ich in die Dunkelheit.
„Du solltest jetzt lieber leise sein“, raunte ich Diana zu, die daraufhin fragend den Kopf drehte.
„Warum?“
„Weil ich mir überlege, dich bei unserer Schwester anzuschwärzen“, ertönte Noahs dunkle Stimme aus der Dunkelheit, noch bevor wir ihn sahen.
Erschrocken fuhr Diana zusammen. Ihren Bruder ignorierte sie allerdings, als dieser jetzt aus den Schatten des Gartens in den schwachen Schein meiner immer noch brennenden Nachttischlampe trat, die ihr Licht durch die geöffneten Türen schickte.
„Du wusstest, dass er da ist, noch bevor du ihn gehört hast?“ Ihre Frage verklang unbeantwortet in der Nacht.
Langsam trat Noah näher und sein Blick wanderte zwischen uns hin und her, bis er schließlich auf mir liegen blieb. Er hatte die Brauen fragend nach oben gezogen, als wartete er ebenso auf eine Antwort, wie Diana.
„Kätzchen?“
Ich schüttelte den Kopf. Für einen Moment waren meine Gedanken wie benebelt.
Ich räusperte mich vorsichtig.
„Ja. Habe ich“, antwortete ich reichlich verspätet auf Dianas Frage.
„Cool. Wie funktioniert das? Klappt das auch bei mir?“ Begeistert sah sie mich an.
„Ähm nein, bisher funktioniert es nur bei ihm.“ Ich nickte in Noahs Richtung. „Ich weiß auch nicht, wie genau es funktioniert. Wahrscheinlich immer dann, wenn er seinen Geist nicht sicher genug abschirmt.“
„Schade.“ Diana war sichtlich enttäuscht, doch plötzlich erhob sie sich.
„Ich gehe dann mal ins Bett. Gute Nacht ihr zwei.“ Und schon war sie durch mein Zimmer wieder verschwunden und ließ mich hier mit ihrem verkorksten Bruder allein.
Beharrlich wich ich seinem Blick aus. Zu genau hatte ich Dianas Worte über die Löwin in mir in den Ohren.
„Kätzchen?“ Seine Stimme klang sanft.
„Was?“ Meine nicht so sehr.
„Ich hatte meinen Geist vollständig abgeschirmt.“
„Oh.“
„Oh?“
„Was soll ich denn sonst sagen? Ich wusste halt, dass du da warst. Das war die einzige Erklärung, die mir eingefallen ist.“
Ich wollte wirklich nicht zickig klingen. Wirklich nicht, aber ich war genervt. Und ich hatte beim besten Willen keine Erklärung.
„Na da hat aber jemand schlechte Laune.“ Wieso klang seine Stimme nur so amüsiert?
„Und sie wird von Minute zu Minute schlechter“, fauchte ich.
„Vielleicht hättest du auch ein wenig schlafen sollen“, kam der wenig hilfreiche Vorschlag.
Ich war heilfroh, dass er nicht den Platz seiner Schwester einnahm, sondern sich stattdessen an einen Baum lehnte. Jetzt musste ich zwar hochgucken, aber das war mir auch schon egal.
„Ich kann sogar jetzt nicht schlafen“, gab ich widerwillig zu.
„Das wird schon. Du musst nur vorher zur Ruhe kommen.“
Ich sah ihn an. Seine schwarzen Haare verschmolzen mit der Dunkelheit der Nacht und nur leichte Lichtreflexe ließen erkennen, dass sie noch da waren. Seine Augen hingegen schienen die Dunkelheit zu durchdringen und mir fiel wieder auf, wie groß er eigentlich war.
„Dein Blut hat übrigens geholfen“, sagte er so beiläufig, als wäre es keine große Sache.
„Wirklich?“ Ich konnte es nicht wirklich glauben, aber tief drinnen wusste ich, dass Noah mich nicht anlog, nur um mich zu beruhigen.
„Ja. Ich habe im Krankenhaus angerufen und die waren gerade dabei, ihre Entlassung vorzubereiten.“
„Wieso klingst du dann so, als wäre etwas nicht okay?“ er klang tatsächlich nicht sonderlich erleichtert, sondern – im Gegenteil – etwas zu besorgt.
„Das ging zu schnell. Die Ärzte sind misstrauisch und werden vermutlich eine Blutuntersuchung nach der nächsten machen. Ich hoffe, deine Blutzellen hatten sich schon weit genug abgebaut, als dass man sie so ohne weiteres nachweisen könnte.“
„Aber das glaubst du nicht?“ Wieder etwas, worüber ich nie nachgedacht hatte.
„Nein.“ Noahs Stimme klang endgültig.
„Das Blut von erdgeküssten lässt sich normalerweise über einen langen Zeitraum nachweisen. Es hängt immer davon ab, wie viel Blut verabreicht wurde, ob es verabreicht wurde, um Verletzungen zu heilen und wie stark das Erdgeküsstenblut ist.“
„Wie stark?“ Verwirrt sah ich ihn an.
„Ja. Je nachdem, wie rein ein erdgeküsstes Wesen ist, desto stärker ist sein Blut. Desto größer die Macht, die in ihm ruht.“
„Macht in meinem Blut. Na bravo. Fange ich demnächst von innen heraus an zu leuchten?“
„Ich hätte nichts dagegen, Kätzchen“, ging er auf meinen müden Auflockerungsversuch ein.
„Wie geht es jetzt weiter?“ Die Frage drängte sich auf.
„Wir versuchen rauszufinden, wer genau hinter dir her ist, was mein Onkel mit der Sache zu tun hat und bringen das in Ordnung. Aber vorher, Kätzchen, finden wir heraus, was das zwischen uns ist. Wenn mein Geist für dich nämlich schon durchlässig ist, was passiert dann erst in Gegenwart der Jäger?“
Ich gab es nur ungern zu, aber seine Entschlossenheit tat gut. Es war gut, ein Ziel vor Augen zu haben. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie wir das erreichen sollten.
„Und wie stellen wir das an?“
„Wir werden morgen mal eine ausgiebige Unterhaltung mit Tantchen führen.“
Die leicht euphorische Stimmung vom Vorabend, die durch die Vorstellung hervorgerufen worden war, endlich ein paar Antworten zu bekommen, war an diesem Morgen wie weggeblasen. Ich hatte höllische Kopfschmerzen.
Mit dröhnendem Kopf wankte ich in die Küche und ließ mich vorsichtig auf der Eckbank nieder. Bloß keine zu abrupten Bewegungen. Ich gab bloß ein Brummen von mir, als Diana und Liam die Küche betraten und sich eine Tasse Tee einschenkten, den Tante May wohl schon bereit gestellt hatte. Sie selber war aber nirgends zu sehen.
„Na, kleine Elfe, gut geschlafen?“ Liam rutschte neben mich auf die Bank.
„Kleine Elfe?“ Missmutig schielte ich durch meine Finger, die ich vor meine Stirn gepresst hatte.
„Er hat gegoogelt“, warf Diana trocken ein und schenkte ihrem Bruder einen resignierenden Blick.
„Gegoogelt?“ Ich war noch immer nicht schlauer, aber wenigstens konnte ich meine Kopfschmerzen etwas verbergen, wenn ich einfach zuhörte. Ich wollte nicht schon wieder, das bedauernswerte Mädchen mit ihren seltsamen Wehwehchen sein. Es wurde mir langsam peinlich. Ich war es sowieso nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen und ich hatte den Eindruck, dass ich in den letzten Tagen nur noch gerade dort zu finden war.
„Ich habe deinen Namen gesucht“, verkündete Liam strahlend, als hätte er mir damit all meine Wünsche erfüllt.
Ich konnte ihn nur anstarren. „Aha.“
Diana grinste und beobachtete ihren Bruder, dessen Wangen nun leicht gerötet waren. Oh nein!
„Dein Name“, setzte Liam erneut an, „bedeutet so viel wie Elfenrat. Zumindest stand das irgendwo. Und deshalb bist du ab heute meine kleine Elfe.“ Er lächelte mich an und ich wünschte mir den alten Liam zurück.
„Das kannst du gleich mal wieder vergessen“, sagte ich scharf und schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. Ich wollte nicht so ruppig sein, aber ich hatte momentan keinen Nerv, mich mit Liams Vorstellungen von Romantik auseinanderzusetzen.
„Keine Angst“, flüsterte mir Diana zu „das ist nur eine absurde Art von Konkurrenzdenken. Das gibt sich wieder.“
„Na hoffentlich!“
„Er nennt dich doch auch Kätzchen.“ Seine Stimme triefte vor Hohn und meine Kopfschmerzen wurden schlimmer. Ich biss die Zähne zusammen.
„Er hat auch keine Erlaubnis, mich so zu nennen, aber mit ihm kann man auch nicht vernünftig reden.“ Ich kletterte an Liam vorbei von der Eckbank und holte mir eine Tasse aus dem Schrank. Vielleicht hatte ich ja Glück und bei dem Tee handelte es sich um Tante Mays Vanillemischung. Die konnte ich wirklich gut gebrauchen. Leider war es nur eine Kräutermischung. Trotzdem umklammerte ich die Tasse mit beiden Händen, als könnte ich so den Schmerz aus meinem Kopf herauspressen.
„Vielleicht kann man mit mir auch nicht reden. Ich brauchte halt was Originelleres, als Prinzessin.“ Jetzt war er beleidigt. Na toll.
„Dann nenn mich halt so“, fauchte ich und wurde sofort mit einem dumpfen Pochen hinter meiner rechten Schläfe bedacht.
„Guten Morgen, meine Lieben.“ Tante May tänzelte in die Küche und erstickte einen aufkommenden Streit im Keim. In ihrer Armbeuge baumelte ein Korb, der gefüllt war mit allerlei Grünzeug. Dem intensiven Geruch nach zu urteilen, handelte es sich bei diesem Grünzeug um eine bunte Mischung von allerlei Kräutern.
„Störe ich etwa?“ Ihre Frage klang unschuldig, doch das kaufte ihr niemand ab. Ich war mir ziemlich sicher, dass Tante May immer ganz genau wusste, was vorging. Nur leider konnte sie mit ihrer Verschwiegenheit jedem Zauberkünstler das Wasser reichen, der eifersüchtig über seine Tricks wachte. So gewissenhaft hütete sie ihr Wissen.
„Ach was. Liam entdeckt nur gerade den Mann in sich“, stichelte Diana.
„Dass ich das noch erleben darf“, stieg Izobel in die Stichelei mit ein, die gerade die Küche betrat und den letzten Satz offenbar mitbekommen hatte.
„Wo ist Noah?“, unterbrach Tante May die Geschwister.
Izobel zuckte die Schultern, während sie sich einen Stuhl zurecht rückte.
„Der ist eben an mir vorbei getrottet. Hat irgendwas von Kopfschmerzen und Bett gebrummt.“ Sie griff nach einer Scheibe Brot.
„Wie geht es dir, Avery?“ Tante Mays Blick ruhte so wachsam auf mir, dass ich unwillkürlich die Augen niederschlug.
„Du legst dich auch nochmal hin“, befahl sie. „Ich bringe dir gleich einen Vanilletee.“
Dankbar verließ ich die Küche und kroch kurz darauf zurück in mein flauschiges Bett. Als Tante May kurze Zeit später mit einer dampfenden Tasse Tee mein Zimmer betrat, hämmerte mein Kopf immer noch. Wenigstens musste ich mich hier nicht mit Liams komischen Allüren herumschlagen. Was war nur in ihn gefahren?
„Hier, Kind, trink das.“ Tante May hielt mir die Tasse hin und ich griff dankbar danach.
„Wie fühlen sich die Schmerzen an?“
Verwirrt sah ich sie an.
„Deine Kopfschmerzen“, half sie mir auf die Sprünge.
„Ich verstehe nicht…“
„Ich möchte wissen, wie sie sich anfühlen. Ist es eher ein plötzlich stechender Schmerz, eher so einer, wie Noah ihn hervorruft oder ist es ganz anders?“
Ich runzelte die Stirn. Wahrscheinlich sparte ich mir die Frage, wozu sie das wissen wollte. Sie war sowieso so knauserig, was Antworten anbelangte.
„Ich weiß nicht“, begann ich zögernd und horchte in mich hinein. „Es ist nicht so, wie bei Noah. Da ist es eher eine Welle, die heranrauscht und mich mit sich zieht. Das hier ist eher… ich weiß nicht, eher penetrant.“
„Das dachte ich mir schon“, murmelte Tante May und hatte mich anscheinend vergessen, denn ihr Blick war ins Leere gerichtet. Hinter ihrer Stirn konnte ich es aber förmlich arbeiten sehen. Bevor ich jedoch nachfragen konnte, war sie auch schon aufgestanden und rauschte mit den Worten „Am besten du versuchst noch ein Weilchen zu schlafen“ aus dem Zimmer.
Ratlos sah ich ihr nach. Ich hatte jetzt aber auch nicht den Nerv, mich mit den Stimmungsschwankungen von Tante May auseinanderzusetzen. Vielleicht kam sie einfach in die Wechseljahre. Das wird es sein.
Als ich die Augen aufschlug, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Mit angehaltenem Atem wartete ich auf die Kopfschmerzen, doch zu meiner Erleichterung waren sie abgeklungen. Zwar spürte ich immer noch ein stumpfes Pochen, aber das war auszuhalten.
Vorsichtig kletterte ich aus dem Bett und zog mir meine Jeans an, die ich zuvor ausgezogen hatte und verließ mein Zimmer. Stimmen schlugen mir entgegen, als ich durch das Treppenhaus tappte. Anscheinend hatten sich die anderen auf dem Hof versammelt. Bevor ich mich allerdings zu ihnen gesellen konnte, wurde ich am Arm gepackt und in Richtung Treppe geschleift.
„Was soll das?“ Meine Stimme klang leicht atemlos.
„Leise, Kätzchen.“ Noah warf mir einen warnenden Blick zu und etwas sagte mir, dass ich diesmal nicht diskutieren sollte. Folgsam ließ ich mich von ihm die Treppe hinauf lotsen. Leicht außer Atem erreichte ich endlich den vierten Stock, wo Noah mich prompt durch eine offene Tür schob und sie gleich darauf hinter uns schloss.
Dass ich hier in Noahs Zimmer gelandet war, erkannte ich sofort. Im Gegensatz zu dem Gästezimmer, in dem ich untergebracht war, gab es hier die persönliche Note. Bücher und Zettel lagen herum, Kleidung und in einer Ecke entdeckte ich sogar eine reichlich angestaubte Gitarre.
Noah schob einen Stapel Bücher zur Seite und schaffte somit etwas Platz auf der Bettkannte. Mit einer nachlässigen Handbewegung bedeutete er mir, mich zu setzen. Langsam folgte ich seiner Bitte. Irgendetwas stimmte nicht. Ich konnte es zwar nicht sehen, dafür aber umso deutlicher spüren. Noah war nervös. Angespannt.
Wie ein Tiger im Käfig lief er im Zimmer auf und ab.
„Was ist los?“ Meine Frage durchschnitt die Stille. „Noah?“
Abrupt blieb er stehen. „Meine Eltern sind da“, sagte er seltsam tonlos, als versuchte er, sämtliche Emotionen aus seiner Stimme herauszuhalten. Vielleicht klappte das auch, aber ich fühlte, dass dem ganz und gar nicht so war. Noah war nicht emotionslos. Ganz und gar nicht. Er behielt seine Gefühle nur gerne für sich und betrieb keinen großen Aufwand um seine Person.
Wieder begann er mit seiner auf und ab Lauferei, bis ich schließlich aufstand und mich ihm in den Weg stellte. Kurz vor mir blieb er stehen. Ich legte den Kopf etwas in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. Das Blau war wie vom Sturm gepeitscht. Es waren seine Augen, die mich in meinen Gefühlen bestätigten. Etwas stimmte ganz und gar nicht.
„Wieso sind deine Eltern hier? Ich dachte zwischen ihnen und deiner Tante herrscht so eine Art Funkstille?“ Noah schwieg und ich überlegte weiter, bis es mir siedend heiß einfiel.
„Du meinst, dein Onkel hat dich erkannt?“
Angsterfüllt wartete ich auf seine Antwort.
„Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, warum sie sonst hier sein sollten. Die Frage ist nur, inwieweit mein Vater mit drin steckt und was für einen Plan Ben verfolgt. Mein Onkel“, fügte er erklärend hinzu.
„Na bravo.“ Unwillkürlich ließ ich mich wieder auf sein Bett fallen und in dem Moment fühlte sich das auch kein bisschen komisch an. Ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders. Wieder auf dem dunklen Parkhaus vor dem Krankenhaus. Was genau konnte dieser Ben gesehen haben? Konnte er Noah tatsächlich erkannt haben?
„Was machen wir jetzt?“ Ich schüttelte die Gedanken ab. Das Grübeln brachte uns auch nicht weiter.
„Am besten wäre es, wir würden einfach verschwinden“, murmelte Noah gedankenverloren vor sich hin und beinahe hätte ich ihn nicht verstanden.
„Du willst abhauen?“ Ich konnte nichts dafür, dass meine Stimme entsetzt klang.
Noah schmunzelte. „Wir. Wir, Kätzchen, sollten abhauen.“
„Das ist doch nicht dein Ernst. Wo sollten wir denn hin?“ Ich sah mich schon wieder bei Nacht und Nebel vor irgendwelchen finsteren Gestalten davon laufen.
„Keine Panik. So gerne ich die Konfrontation auch meiden würde, ich verschleppe dich schon nicht. Ich kann mir da angenehmere Begleiter vorstellen, als kratzbürstige Einhörner“, spöttelte er.
Ich sollte wohl eingeschnappt sein, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, erleichtert aufzuatmen.
„Wenn du nicht aufpasst, hast du bald ein Horn dort stecken, wo die Sonne niemals hin scheint“, konterte ich zuckersüß und raffte mich auf.
„Da unsere Unterredung ja jetzt wohl beendet ist, gehe ich mal runter, um deine Altvorderen zu begrüßen“, sagte ich und stiefelte hoheitsvoll an ihm vorbei aus dem Zimmer. Der konnte mich echt mal.
Als ich durch die Tür in den Hof trat, sicherte ich mir mit einem Schlag die gesamte Aufmerksamkeit. Izobel, Liam und Diana hatten sich um ein Ehepaar mittleren Alters geschart und waren wohl in ein angeregtes Gespräch vertieft gewesen. Tante May stand etwas abseits und schien mit der Situation alles andere als zufrieden zu sein. Sie war ungewöhnlich still.
„Du must Avery sein.“ Vaer O`Bannion war ein gut aussehender Mann, schätzungsweise Mitte fünfzig. Im Gegensatz zu seiner Schwester, sah man ihm das Alter an. Es sei denn, er war in Wirklichkeit schon um die neunzig, was ich allerdings bezweifelte. Dafür war er mit seiner ausgewaschenen Jeans und dem lässigen Hemd, dessen Ärmel er aufgekrempelt hatte, viel zu modisch gekleidet.
Er hatte die gleichen schwarzen Haare wie Noah. Er trug sie nur etwas kürzer und sie sahen nicht ganz so verwuschelt aus. Auch in den Gesichtszügen zeichnete sich eine gewisse Ähnlichkeit ab. Was allerdings gar nicht passte, waren die Augen. Noahs waren tiefblau und wanderten immer wachsam durch die Gegend. Sie waren sein Fenster in seine Gefühlswelt und ich konnte immer ganz genau erkennen, wann er dicht machte, um sein Innerstes vor der Außenwelt abzugrenzen.
Dieser Mann hier hatte auch blaue Augen, aber sie wirkten irgendwie leblos. Das Lächeln, das er mir schenkte, erreichte sie nicht und auch, wenn er sich den Anschein der Herzlichkeit gab, kaufte ich ihm das nicht ab.
Ich nickte zögernd und war froh, dass er mir nicht die Hand zur Begrüßung entgegen streckte. Ich bemerkte Dianas fragenden Blick und Izobels herablassendes Lächeln. Wahrscheinlich bemerkten sie meine Zurückhaltung und den Sicherheitsabstand, den ich zwischen uns aufrecht erhielt.
Auf einmal wünschte ich mir, ich hätte meine Sachen gepackt und wäre mit Noah durch den Garten getürmt. Unangenehmer als mit seinem Vater, konnte es mit ihm auf keinen Fall sein.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen“, log ich schließlich reichlich verspätet um der der Höflichkeit Willen.
„Besser spät als nie, nicht wahr?“ Mr. O`Bannion lachte und mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich wusste nicht woran es genau lag. Ich konnte das andere Gesicht bei ihm genauso wenig erkennen, wie bei den anderen Jägern, aber etwas hielt mich davon ab, mich in seine unmittelbare Nähe zu begeben.
„Ich bin übrigens Isaac und das ist meine bezaubernde Frau Evelyn“, stellte er sich nun vor und legte dabei den Arm um die Schultern seiner Frau. Im Gegensatz zu ihrem Mann, konnte ich bei ihr im ersten Moment keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Kindern feststellen. Vielleicht die Statur, die der von Izobel glich. Ansonsten war es das aber auch schon. Sie hatte dunkelrote Haare, die sich wild um ein zierliches, blasses Gesicht lockten, das von großen grünen Augen beherrscht wurde.
„Es freut mich, Avery“, sagte sie mit überraschend fester Stimme.
„Mich auch“, murmelte ich, während ich sah, wie Tante May theatralisch die Augen verdrehte.
Ich fühlte mich trotzdem unwohl und wusste nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich fühlte mich wie im Zoo. Ausgestellt wie ein exotisches Tier, das von einer Meute an Besuchern begafft wurde.
Erleichtert atmete ich auf, als ich Noahs Anwesenheit hinter mir spürte, noch bevor er ebenfalls aus der Tür trat. Ich drehte mich nicht um. Ich wusste, dass er kam und war sehr dankbar dafür, dass er einfach an meiner Seite stehen blieb. Unauffällig rückte ich etwas näher, bis ich die beruhigende Wärme spüren konnte, die er ausstrahlte.
„Ganz ruhig, Kätzchen“, murmelte er so leise, dass nur ich es hören konnte. Anscheinend hatte er meine Anspannung genauso gespürt, wie ich vorhin seine. Unheimlich, aber im Moment war ich dankbar dafür.
„Noah.“ Die Stimme von Isaac klang herablassend. Evelyn sagte gar nichts. Sie nickte bloß in Richtung ihres Sohnes und diesmal konnte ich spüren, wie sehr das Noah verletzte.
„Mum. Dad.“ Er ließ sich nichts anmerken und nickte genauso unterkühlt zurück.
Ich unterdrückte den Wunsch, mich an Noah zu schmiegen, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten. Ihm zu sagen, dass alles wieder gut werden würde. Und dieses Unterdrücken kostete mich eine enorme Kraft. Es war wie ein Band in meiner Magengegend, das mich zu ihm hin ziehen wollte. Es herrschte eine Spannung zwischen uns, die ich nicht erklären konnte. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt mochte.
Ich schluckte, was mit einem trockenen Mund gar nicht so einfach war. Es brachte auch nicht viel. Isaac öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht sagte er auch etwas, aber ich konnte ihm nicht mehr folgen, denn in dem Moment, setzte wieder dieser Schmerz ein. Wie eine Welle brandete er heran, aber diesmal beschränkte er sich nicht auf meinen Kopf, sondern bezog meinen ganzen Körper mit ein.
Neben mir hörte ich Noah unterdrückt aufstöhnen und ich fasste unwillkürlich nach seiner Hand. Unsere Finger verschränkten sich und unsere Knöchel traten weiß hervor, so fest drückten wir zu, um uns gegenseitig von dem Schmerz abzulenken.
„Was ist das?“, fragte ich erstickt.
„May, du hattest gesagt, sie sei eine freie Erdgeküsste. Sieht das für dich frei aus?“ Isaacs Stimme ging in dem Dröhnen unter, das in meinem Körper herrschte und das vermutlich nur ich hören konnte.
„Zieh die Mauer hoch“, keuchte Noah.
„Sie ist oben“, antwortete ich panikerfüllt. Tatsächlich hatte ich sie in den letzten Stunden ständig hochgezogen. Ich wollte üben und inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass ich es beherrschte. Meine mentalen Ranken hatten sich eng um meinen Geist verwoben und unzählige blühende weiße Rosen hielten die Außenwelt ab, in mich einzudringen.
„Sie ist oben“, wiederholte ich überzeugt.
„Meine auch.“ Noah sah mich an und in seinen Augen konnte ich die Schmerzen sehen, die sich vermutlich in meinen widerspiegelten.
Das Maul mit seinem rosagrauen Flaum
war leicht gerafft, so daß ein wenig Weiß
(weißer als alles) von den Zahnen glänzte;
die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.
Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,
warfen sich Bilder in den Raum
und schlossen einen blauen Sagenkreis.
Rainer Maria Rilke
„Es ist zu spät, Evelyn. Die Verbindung ist schon am Entstehen und du weißt, dass man so etwas nicht rückgängig machen kann.“
Wie durch einen Schleier hörte ich Isaacs Stimme, aber ich konnte mich nicht rühren. Ein bleierne Schwere hatte sich meines Körpers bemächtigt und trotzdem fühlte ich mich seltsam frei. Losgelöst. Als hätte ich die Trägheit meines Körpers abgeschüttelt. Himmel, das war doch keine Nahtoderfahrung? Bevor ich wieder in Panik verfallen konnte, konzentrierte ich mich auf die Stimmen um mich herum.
„Das ist unmöglich. Sie kennen sich erst ein paar Tage. Noah würde nie freiwillig eine Bindung herstellen. Was? Isaac, was verschweigst du?“
Evelyns Stimme hatte einen befehlenden Unterton. Nach wie vor klang ihre Stimme fest, aber etwas hatte sich verändert. Etwas, das ich nicht greifen konnte.
„Er weiß nichts davon.“ Isaac seufzte.
„Bitte?“
„Er weiß nichts von der Verbindung. Von der Verbindung im Allgemeinen.“
„Aber er war doch mit dir im Labor. Er hat die Versuche gesehen. Die Testobjekte.“
„Er hat die Testobjekte genau einmal zu Gesicht bekommen und du weißt, was dabei herausgekommen ist.“
Stille. Scheinbar hing hier jeder seinen Gedanken nach. Ich versuchte unterdessen, aus dem Gehörten schlau zu werden. Verbindung? Testobjekte?
„Trotzdem ist es unmöglich, dass sie so schnell eine Bindung eingehen. Du kennst unseren Sohn. Er ist alles andere als nahbar und wenn ich den Berichten glauben darf, ist die Erdgeküsste auch nicht gerade der Nabel der Welt.“ Evelyn lachte leise. Doch es war ein ironisches Lachen, bei dem ich eine Gänsehaut bekommen würde, hätte ich denn die Kontrolle über meinen Körper.
„Was, wenn sie nur einen Splitter hat?“ Isaac klang vorsichtig.
„Einen Splitter? Ist das dein Ernst?“ Evelyn ungläubig.
„Es ist schon vorgekommen.“
„Ja. Vor tausenden von Jahren. Und ausgerechnet unserem Sohn soll das passieren?“ Evelyn lachte wieder. Diesmal lauter, aber nicht weniger ironisch.
Dieses Lachen machte mir Angst. Fast so sehr wie die Tatsache, dass ich diesen Menschen, diesen Jägern, hilflos ausgeliefert war. Ich wusste nicht einmal wo ich war.
„Werdet ihr wohl aus dem Zimmer rausgehen?“ Ich war noch nie so erleichtert, Tante Mays Stimme zu hören.
„Reg dich ab, May. Ist ja nicht so, als würden wir stören. Die beiden sind noch lange nicht zurück.“ Evelyn zischte Tante May abfällig an, aber da war sie an der falschen Adresse.
„Ihr werdet jetzt sofort das Zimmer verlassen. Dies ist immer noch mein Haus. Und sie brauchen Ruhe.“ Tante May sprach gefährlich ruhig.
„May. Was, wenn sie gerade die Bindung herstellen. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“ Isaac versuchte es mit Bitten.
„Und du wirst es auch nicht sehen. Für eine Bindung ist es ohnehin noch zu früh. Sie kennen sich erst seit ein paar Tagen.“
„Da siehst du es. Selbst May ist dieser Ansicht.“ Ich hörte die Schadenfreude aus Evelyns Stimme heraus.
„Sie könnte nur einen Splitter vermissen“, wagte Isaac einzuwenden und entlockte den beiden Frauen ein Lachen, das genauso furchteinflößend klang, wie Evelyns leises Gekicher zuvor.
„Genau. Gerade ihr soll nur ein Splitter fehlen?“ May klang genauso ungläubig, wie Evelyn, aber ich glaubte ihr nicht. Sie spielte den O`Bannions etwas vor.
„Und jetzt verlasst ihr dieses Zimmer!“
Kurz nach Tante Mays energischer Aufforderung wurde es ruhig um mich herum. Trotzdem spürte ich Tante Mays Anwesenheit.
„Oh, Kinder, hoffentlich kommen wir heil aus dieser Sache heraus. Hoffentlich kommt ihr aus dieser Sache heil heraus.“ Dann war auch sie verschwunden.
Ruhe und Frieden breitete sich um mich herum aus. Ich war nicht länger an das Hier und Jetzt gebunden. Was auch immer das bedeutete. Ich fühlte es. Ich war frei. Konnte gehen, wohin ich wollte. Konnte dieses irdische Gefängnis verlassen.
Neugierig streckte sich mein Geist. Durchbrach die Rosenranken mitsamt der Blüten, die ich so mühsam erschaffen hatte und die meinen Geist schützen sollten und vor mir breitete sich die Unendlichkeit aus.
Eine Dunkelheit gespickt mit tausenden von Lichtern in allen möglichen Farben und jedes Einzelne pulsierte voller Leben. Es war ein stilles, ruhiges Feuerwerk. Ein Feuerwerk, das in Zeitlupe explodierte, um sich dann erneut zusammenzuballen und auszubrechen.
Tiefe Ruhe erfüllte mich gepaart mit einer Neugier, die mich dazu trieb, die einzelnen Lichter zu erkunden. Vorsichtig in ihre pulsierende Energie vorzustoßen. Doch etwas hielt mich zurück.
Ein strahlendes, helles Licht, dessen Wärme mich anzog. Dessen Wärme lebensnotwendig für mich war. Ohne das ich mich unvollständig fühlte. Und dieses Licht lag hinter mir. Verwob sich langsam mit meinem Geist und hüllte mich ein. Hielt mich fest und zog mich langsam zurück. Zurück durch meine zerbrochenen Rosenranken und die wunderschönen Blüten, die sich hinter mir schlossen und diese weite Unendlichkeit aussperrten.
Mir kam nicht in den Sinn, mich zu wehren. Ich wollte dieses Licht. Ich brauchte es und war bereit, alle anderen Lichter dafür aufzugeben.
„Komm zurück, Kätzchen.“ Sanft umwehten mich diese Worte. Liebkosten mich und gaben mir den Halt, den ich benötigte und ich schlug die Augen auf.
„Da bist du ja.“ Blaue Augen sahen auf mich herab. Ganz nah waren sie und ich holte zitternd Luft.
„Noah?“ Ich räusperte mich vorsichtig, denn meine Stimme klang wie ein Reibeisen.
„Wen hast du denn erwartet?“ Seine Stimme klang sanft, auch wenn sie schon wieder spöttisch wurde.
Abrupt setzte ich mich auf, als ich feststellte, dass ich auf meinem Bett lag. Und Noah neben mir. Dass ich ihm dabei fast eine Kopfnuss verpasst hätte, tat mir nicht wirklich leid. Ächzend richtete sich Noah ebenfalls auf und setzte sich an die Bettkante.
„Was zum Teufel ist da passiert?“ Eine wirklich gute Frage, lobte ich mich innerlich. „Wie lange liege ich schon hier?“
„Ich habe nicht den geringsten Schimmer.“
Wieso hatte ich nur das Gefühl, dass da gleich noch ein Aber folgen würde? Vielleicht war es die Art, wie er sich umsah. Verstohlen. Nachdenklich. Ernst. Unglaublich ernst.
„Noah?“
Unruhig wanderten seine Augen wieder zu mir. Gedankenverloren fuhr er sich mit einer Hand durch die nachtschwarzen Haare und brachte sie damit noch mehr durcheinander. Schließlich ließ er die Hand sinken und musterte mich.
„Ich weiß nicht, was das vorhin war, Kätzchen, aber wir müssen weg hier.“
„Weg?“ Ungläubig sah ich ihn an.
„Du bist hier nicht sicher. Mein Vater… seine Forschung… du bist hier nicht sicher, Avery.“ Mir entgingen der drängende Unterton und die Besorgnis in seiner Stimme nicht. Aber ich konnte es nicht nachvollziehen. Ich konnte nicht verstehen, was in Noah vorging. Was ich verstand war, dass er triftige Gründe für diesen Vorschlag, diesen Plan oder was auch immer es war, hatte. Und ich spürte, wie sich mein ganzer Körper, mein Sein, auf Flucht einstellte. Ich würde es tun. Daran zweifelte ich keinen Moment. Und es machte mir Angst.
Immer mehr drängte sich mir der Eindruck auf, dass ich langsam aber sicher die Kontrolle verlor. Die Kontrolle über mein Eigenes Handeln, meinen Willen. Ich versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, es wegzusperren, tief in meinem Innersten. Und es kostete mich eine enorme Anstrengung, ruhig auf dem Bett sitzen zu bleiben.
„Wie stellst du dir das denn vor?“, presste ich schließlich mühsam hervor.
Noah sah mich an. Eindringlich. So eindringlich, als wüsste er genau, was sich in diesem Moment in meinem Inneren abspielte und es schien ihm nicht zu gefallen. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber für einen kurzen Moment glaubte ich, den Ausdruck von Schmerz über seine ebenmäßigen Gesichtszüge gleiten zu sehen. Aber er verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.
Hastig stand Noah auf und tigerte wieder einmal im Zimmer auf und ab.
„Ich weiß es doch auch nicht“, entgegnete er scharf. „Ich weiß nur, dass wir hier nicht bleiben können. Meine Eltern sind deinetwegen hier. Es ist so“, unterbrach er mich, als ich schon zum Protest ansetzen wollte.
„Wir sind keine Bilderbuchfamilie. Wir sitzen nicht zusammen beim Essen, unterhalten uns über die Schule, die Ferien oder was man halt so beredet. Wir machen keine gemeinsamen Spielabende, wir schauen keine Filme zusammen an, wir halten uns sogar auf zwei verschiedenen Kontinenten auf. Mein Vater und meine Tante sprechen seit Jahren kein Wort mehr miteinander. Und ausgerechnet hier und vor allem zu diesem Zeitpunkt wollen sie den Kontakt wieder herstellen? Tante May hat ihnen mit Sicherheit nichts von dir gesagt. Ich bezweifle, dass es eins meiner Geschwister war. Was ist dann die letzte Alternative?“
Ich wusste worauf er hinauswollte und es gefiel mir nicht. Wieder fuhr er sich durch die Harre. Diesmal mit beiden Händen, bevor er sie antriebslos wieder sinken ließ.
„Sie müssen in engem Kontakt zu den aktiven Jägern stehen. Mein Onkel ist ein aktiver Jäger“, schnaubte er freudlos und ja, ich erinnerte mich.
Langsam stand ich auf. Noah bemerkte es nicht. Er rannte weiter eine Schneise in den Teppich.
„Ich weiß, es klingt, als würde sich das alles weit von uns entfernt abspielen. Vermutlich ist es auch so. Was interessiert uns Europa und was sie dort machen. Aber ich habe sie gesehen“, flüsterte er tonlos.
„Ich habe gesehen, was in diesen Labren gemacht wird. Ich habe gesehen, wozu mein Vater fähig ist.“ Seine Stimme brach und er blieb am Fenster stehen. Starrte hinaus in den grünen Garten und sah doch etwas ganz anderes.
Langsam trat ich zu ihm. Sachte drehte ich ihn zu mir herum, was er willenlos mit sich geschehen ließ und dann umarmte ich ihn. Ich schlang die Arme um seinen Nacken. Zog seinen Kopf sachte zu mir herunter und er vergrub ihn an meinem Hals. Tröstend strich ich ihm über den Rücken. Ich wusste nicht, wofür er den Trost brauchte, aber er brauchte ihn. Und es fühlte sich so verdammt richtig an, diesen eigensinnigen Sturkopf so zu halten. Ihm zu zeigen, dass er nicht allein war und dass es in Ordnung war, wenn man sich ab und zu einmal anlehnte.
Nicht, dass ich damit viel Erfahrung hatte. Ich verstand nichts von Familien, von Zusammenhalt und Freundschaft. Ich hatte mich noch nicht einmal richtig daran gewöhnt, dass jemand mit mir redete, geschweige denn, mich berührte und trotzdem stand ich jetzt hier und hielt Noah im Arm.
Wieder spürte ich dieses leise Ziehen in der Magengegend, doch ich drängte es zurück. Drängte es bewusst zurück und war erleichtert, als ich feststellte, dass es mir tatsächlich gelang. Im Moment galt meine Aufmerksamkeit Noah. Und der Frage, was er wohl mit sich herumschleppte. Mir fiel das Gespräch seiner Eltern wieder ein. Wortfetzen und Satzfragmente. Da war von einem Labor die Rede gewesen und von Noah und von Forschung.
Was hatte Noah nur gesehen? Mir war klar, dass er noch nicht darüber geredet hatte. Ich kannte ihn noch nicht lange und trotzdem glaubte ich, ihn zu verstehen. Er trug die Dinge mit sich herum. Fraß alles in sich hinein und machte es mit sich aus. Er beschützte seine Familie und seine Familie waren Izobel, Diana und Liam.
Er beschützte sie und ich gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass er sie vor ihren Eltern beschützte. Oder vor der Realität. Vermutlich wollte er ihren Glauben in ihre Eltern nicht erschüttern, ihre Illusionen nicht zerstören.
Inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, ob tatsächlich ich es war, die ihnen skeptisch gegenüberstand oder ob es wieder nur Noahs Gefühle waren, de sich irgendwie auf mich projiziert hatten.
Diesen Gedanken schüttelte ich jedoch schnell wieder ab. Schließlich war Noah gar nicht dabei gewesen, als ich seine Eltern das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte. Und als ich ihr Gespräch mit angehört hatte, während meiner – nennen wir es außerkörperliche Erfahrung – da war ich ich selbst. Und auch da konnte ich die Abneigung in mir spüren.
Leise seufzend richtete sich Noah schließlich auf und löste sich langsam aus meinen Armen. Sein Blick suchte meinen und mit dem Daumen strich er vorsichtig meine Wange entlang. Gleichzeitig konnte ich sehen, wie er sich wieder aus seiner Wand aus Eis verbarrikadierte. Er verbannte die Emotionen aus seinen Augen und schloss sie weg. Er wurde sofort ruhiger und ein entschlossener Ausdruck trat in seine Augen.
„Pack deine Sachen zusammen“, wies er mich an und wandte sich zur Tür.
„Wie jetzt? Einfach so? Was ist mit den anderen?“ Ich starte ihn an.
„Die kommen nicht mit. Das würde zu schnell auffallen und sie würden es nicht verstehen.“ Seine Erklärung war knapp.
„Dann rede mit uns, Noah. Erklär uns, was hier vorgeht.“ Eindringlich sah ich ihn an.
Er senkte kurz den Kopf. „Das geht nicht. Ich weiß nicht, ob sie mir glauben würden. Ich würde alles kaputt machen, was uns noch irgendwie eine Familie sein lässt.“ Er stockte, bevor er schließlich wieder aufsah. „Pack dein Zeug zusammen, Kätzchen. Und sei leise. Ich komme in zehn Minuten wieder und dann heißt es ab dafür.“ Er versuchte sich an einem Grinsen.
Doch so schnell gab ich nicht auf.
„Wo sollen wir denn hin? Deine Tante ist die einzige Person, die uns früher oder später Antworten geben kann. Außerdem ist mir dein irrer onkel auf den Fersen. Wo sollen wir hin?“
„Wir fahren zu Dave.“
„Dave?“ Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass er einen Plan hatte. Aber Dave klang nicht wirklich vertrauenserweckend.
„Dave Montgomery.“ Jetzt grinste er leicht. „Du wirst ihn mögen. Vielleicht.“ Und dann verschwand er leise durch die Tür.
Dave also.
Mir war noch immer nicht ganz klar, wie wir es geschaffte hatten, aus dem Haus zu schleichen. Ich war bis zuletzt unsicher, ob Noah mich vielleicht nur auf den Arm nahm. Ich hätte es besser wissen müssen. Spätestens, als er mit einer hastig gepackten und reichlich zerknittert aussehenden Reisetasche wieder in meinem Zimmer aufgetaucht war, wusste ich es besser und raffte meine Sachen zusammen.
Viel war es nicht. Schließlich waren wir erst angekommen und ich hatte von der Hand in den Koffer gelebt. Ich hatte dem Frieden nie so ganz getraut und wie man jetzt sieht, hatte ich da wohl eine Vorahnung. Dass wir allerdings unbemerkt aus dem Haus kommen und sogar eines der Autos genommen haben, war für mich ein kleines Wunder.
Naja, so ganz unbemerkt hatte es dann doch nicht geklappt, dachte ich sarkastisch und musterte Izobels dunklen Haarschopf, der vor mir auf dem Beifahrerplatz hin und her wippte. Ausgerechnet sie hatte uns am Auto abgefangen, mich auf die Rückbank gedrängt und kommentarlos ihren kleinen Rollkoffer hinterher gepfeffert. Wäre ich nicht rechtzeitig ausgewichen, hätten wir uns die Reise schenken können. Dann hieße es nämlich nicht Tod der Erdgeküssten durch Jäger, sondern Tod der Erdgeküssten durch pinkfarbenen Trolli.
Sie hatte noch kein Wort mit uns geredet. Sie schwieg sich aus und das bereits seit zwanzig Kilometern. Die Atmosphäre im Auto war so gespannt, dass man sie förmlich mit Händen greifen konnte. Sogar Noah hatte sich jegliche Anmerkung verkniffen. Der Gesichtsausdruck seiner Schwester reichte wohl als Warnung.
Wieso hatten wir nicht von Diana oder meinetwegen auch von Liam abgefangen werden können? Dann hätten wir jetzt wenigstens einen handfesten Streit und nicht diese klirrende Kälte im Auto.
„Noah, du weißt, dass du irgendwann mit mir reden werden musst, oder?“ Izobel war es schließlich, die das Schweigen brach.
„Du hättest auch einfach bei Tante May bleiben können“, knurrte Noah erbost.
„Ich soll bei der verrückten Tante bleiben, während mein Bruder mit einer Erdgeküssten in der Weltgeschichte herumreist, wobei wahrscheinlich schon zig Jäger auf eurer Spur sind? Ja, ganz herrlich dieser Vorschlag.“ Eins musste man ihr lassen. Den Sarkasmus beherrschte sie perfekt.
„Wissen Mum und Dad, wohin du unterwegs… Nein, vergiss es. Natürlich wissen sie es nicht.“
„Izzy, Mum und Dad sind der Grund, warum Avery und ich hier in diesem Auto sitzen.“
Für einen Moment konnte ich Izobel die Verblüffung ansehen.
„Du bist also auf der Flucht vor unseren Eltern? Bist du noch ganz dicht? Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber du riskierst hier nicht nur dein, sondern auch Averys Leben.“
Nun sah ich wahrscheinlich ziemlich verblüfft aus. Ich dachte immer, mein Leben wäre der gnädigen Frau egal. Egaler als egal.
„Richtig. Du hast keine Ahnung. Ich habe meine Gründe, Izz. Hältst du mich wirklich für so beschränkt, dass ich einfach davon laufe, wegen irgendeiner kleinen Streitigkeit?“ Noahs Stimme war laut geworden und ich rutschte unruhig auf meinem Platz herum.
Das Pochen war nicht wieder weg gegangen, aber im Moment war es zum Aushalten. Das wollte ich eigentlich nicht wieder gegen rasende Kopfschmerzen eintauschen.
Izobel merkte wohl, dass sie momentan keine Antwort auf diese Frage bekommen würde.
„Wo fahren wir eigentlich hin?“, wollte sie stattdessen wissen.
„Zu Dave.“
„David Montgomery?“ Vermutlich war diese Frage doch nicht so harmlos, wie ich gedacht hatte. Izobel sah ehrlich entsetzt aus.
„Du willst zu diesem arroganten, eingebildeten Schnösel? Warum um alles in der Welt?“
„Weil Dave der Einzige ist, der mir auf die Schnelle eingefallen ist und dem ich vollkommen vertraue. Er ist zwar eine Nummer für sich, aber ich kann mir sicher sein, dass er mit Jägern nichts am Hut hat. Und du wirst dich benehmen, okay? Ich habe keinen Bock auf eure kindischen Zickereien!“
„Kindische Zickereien? Hast du eine Ahnung, was er mir alles angetan hat?“
„Himmel, Izzy, da ward ihr Kinder. Kinder!“
Ich wusste nicht genau warum, aber bei ihrem Wortwechsel schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich wurde von Minute zu Minute neugieriger. Anscheinend kannte man sich ziemlich gut.
„Wer ist denn dieser Dave?“, wagte ich zu fragen.
„Ein Idiot“, fauchte Izobel prompt und erntete einen warnenden Blick ihres Bruders.
„Er ist nicht nur ein Idiot. Er ist auch mein bester Freund.“ Das Lächeln, das sich auf Noahs Gesicht ausbreitete, war ein echtes.
„Bester Freund.“ Izobel schnaubte. „Wann habt ihr euch denn bitte das letzte Mal gesehen?“, verlangte sie provokant zu wissen.
„Vor ungefähr einem Monat“, antwortete Noah ungerührt und nahm seiner Schwester damit offensichtlich den Wind aus den Segeln.
„Dachtest du wirklich, ich hätte Dave das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen?“ Er klang amüsiert.
Danach breitete sich wieder Stille im Auto aus. Und ich musste irgendwann eingeschlafen sein, denn ich wurde erst wieder wach, als wir auf den Platz eines Gebrauchtwagenhändlers einbogen.
„Was machen wir hier?“ Auch Izobels Stimme klang verschlafen.
„Wir werden den Wagen los“, antwortete Noah, als würde er so etwas täglich machen.
Er erstaunte mich immer wieder, dabei war es eigentlich ein logischer Schritt. Selbst Izobel verkniff sich einen Kommentar, auch wenn man ihr ansah, dass sie langsam am Geisteszustand ihres Zwillings zweifelte. Aber wer konnte es ihr verübeln? Schließlich hatten wir ihr noch nicht erzählt, dass Noah in dem Jäger ihren Onkel erkannt hatte. Vielleicht sollte er das mal langsam nachholen.
Gute fünf Stunden später tuckerten wir mit einem Batzen Bargeld in einer nicht sehr vertrauenserweckenden Karre in die Einfahrt eines kleinen, heruntergekommenen Einfamilienhauses.
Skeptisch sah Izobel aus dem Fenster. „Hier wohnt er also? Bist du sicher? Das passt ja mal gar nicht zu ihm.“
Offensichtlich erwartete sie keinen Kommentar, denn sie sprang aus dem Auto, sobald es angehalten hatte.
Ich zögerte noch. Das Haus sah ungefähr so vertrauenserweckend aus, wie dieser Schrotthaufen, den Noah erstanden hatte. Noah begegnete meinem Blick im Rückspiegel.
„Ich sollte mich vielleicht schon mal entschuldigen, Kätzchen.“
„Bitte?“
„Dave ist etwas speziell. Und er rechnet nicht mit Izzy.“
„Aha“, sagte ich nicht gerade intelligent, aber er brauchte sich nicht zu wundern, wenn er mich im Dunkel tappen ließ.
„Ach, du wirst schon sehen. Auf geht`s!“ Noah stieg aus und ich tat es ihm nach.
Wir holten unsere Taschen aus dem Kofferraum und setzten uns dann langsam in Bewegung. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das windschiefe Etwas, das sich Haus schimpfte, mit jedem Schritt, den wir näher kamen, etwas ramponierter aussah. Die Fassade war geschmückt mit einem tristen Grau, das ursprünglich vielleicht sogar mal weiß gewesen war, die Farbe der Haustür konnte man überhaupt nicht mehr erkennen, da sie vollkommen abgeblättert war und dem Dach fehlten bei näherer Betrachtung ein paar Ziegel.
Weiter kam ich mit meinen Beobachtungen nicht, weil in diesem Moment die Tür geöffnet wurde. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber definitiv nicht das.
Dave Montgomery war kein heruntergekommener Stubenhocker, der den lieben langen Tag in Schlabberhosen herumlief, die noch die Reste des Mittagessens aufwiesen und auch kein missgestalteter Krüppel, der Angst hatte, das Haus zu verlassen. Im Gegenteil. Dave Montgomery sah… einfach nur gut aus.
Er war groß. Sogar noch ein Stückchen größer als Noah, hatte dunkelblonde Haare, deren Länge dazu einlud, mit den Fingern hindurchzufahren, ohne sie damit groß durcheinander zu bringen. Seine Augen waren blau. Ein sattes, dunkles Blau. Doch im Gegensatz zu Noah, dessen Augen immer mal wieder an die aufgepeitschte See bei Sturm erinnerten, schimmerten diese sanft und gelassen. Sein T-Shirt und die locker sitzenden Jeans enthüllten den muskulösen Körper mehr, als dass sie ihn versteckten. Ich schluckte.
„Mach den Mund zu, Kätzchen“, hörte ich Noah neben mir brummen und klappte eilig meine Kinnlade nach oben, über die ich anscheinend die Kontrolle verloren hatte. Leise räusperte ich mich. Ich war heilfroh, dass ich nicht zum Erröten neigte, andernfalls hätte ich vermutlich jeder Ampel Konkurrenz machen können.
„Noah! Das wir uns so schnell wieder sehen, hätte ich ja nicht gedacht.“ Seine Stimme klang voll und warm und auf Noahs Gesicht erstrahlte eines dieser seltenen, ehrlichen Lächeln.
„War nicht geplant“, sagte er und ließ sich widerstandslos in eine Umarmung ziehen, die er sogar erwiderte. Wahnsinn. Hatte Noah in meiner Gegenwart überhaupt schon mal jemanden umarmt? Einfach so und von sich aus? Ich konnte mich nicht erinnern und für einen Moment war ich so verblüfft, dass ich gar nicht merkte, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit mir zugewandt hatte.
„Du bist also die Erdgeküsste.“ Mit reichlicher Verzögerung nickte ich, obwohl es sich dabei um keine Frage, sondern um eine schlichte Feststellung handelte.
„Avery“, sagte ich schließlich, weil mich die intensive Musterung, der mich mein Gegenüber unterzog, etwas verunsicherte. Gott sei Dank klang meine Stimme einigermaßen normal.
„Du hast mir nicht gesagt, dass sie so eine Schönheit ist“, tadelte Dave seinen Freund und schenkte mir ein aufreizendes Lächeln, bei dem ich unwillkürlich einen Schritt zurückmachte.
„Jaja. Wo können wir unser Zeug hinstellen?“ Izobel wurde es anscheinend zu bunt.
„Belle, mit dir habe ich ja gar nicht gerechnet. Immer noch die kleine Kratzbürste, wie ich sehe.“ Dave zog die Augenbrauen hoch, während sich ein leicht verächtliches Lächeln in seinen Mundwinkeln festsetzte.
„Glaub` mir, ich hätte auch nie gedacht, dass ich dich in diesem Leben nochmal wiedersehen muss.“ Irgendwie war es schön, zur Abwechslung mal nicht Ziel von Izobels Anfeindungen zu sein.
„Ich hätte auch gut darauf verzichten können. Warum hast du sie mitgebracht?“, verlangte er von seinem Freund zu wissen, ohne Izobel eine Möglichkeit zum Kontern zu geben, sodass sie ihren Mund unverrichteter Dinge wieder schloss. Das musste ich mir unbedingt merken.
„Ich hatte keine Wahl. Also sei nett.“ Noah sah Dave mahnend an.
„Dann müssen sich Avery und sie ein Bett teilen. Es sei denn, du willst lieber…?“ Daves Mund verzog sich zu einem Grinsen und Noahs Lächeln verschwand.
„Nein, will ich nicht. Das ist schon okay so.“
Okay so? Hatte der sie nicht mehr alle? Ich sollte ausgerechnet mit Izobel in einem Bett schlafen? Wollte er, dass sie mich im Schlaf erwürgte?
„Ich sehe schon“, meinte Dave, der meinen Blick anscheinend bemerkt und treffend interpretiert hatte, „das wird eine interessante Zeit. Aber jetzt kommt erstmal herein.“
Wir folgten ihm ins Haus… und erlebten eine Überraschung. Von Innen hätte es gut und gerne mit jeder Viersterne Einrichtung konkurrieren können.
„Na bitte, das passt schon eher“, murmelte Izobel und ließ ihren Blick über die Wohnzimmergarnitur und die Essecke gleiten.
Es sah aus, wie aus einem Möbelkatalog entnommen.
„Überrascht, Avery?“ Dave musterte mich lächelnd und ich schlug beschämt die Augen nieder.
„Entschuldigung. Es sieht von Außen nur so… nicht so aus.“ Ich machte eine Handbewegung und hoffte, dass er sie genauso interpretieren konnte, wie meine Blicke.
„Ich verstehe schon“, entgegnete er keineswegs verstimmt. „Alles nur Tarnung.“
„Tarnung?“ Verwirrt sah ich ihn an.
„So finden sie mich nicht so schnell.“ Bevor ich nachfragen konnte, wandte er sich schon wieder an Noah.
„Was ist passiert?“
„Meine Eltern sind aufgetaucht“, antwortete Noah schlicht und irgendwie verwunderte es mich, dass er es so einfach aussprach.
„Und du denkst, dein Onkel ist auch in der Nähe?“ Jetzt war ich wirklich verblüfft. Er hatte es erzählt?
„Was hat Onkel Ben damit zu tun?“ Nun wurde Izobel hellhörig, gleichzeitig jedoch ignoriert.
„Es muss so sein. Ich habe keine andere Erklärung.“ Noahs Stimme klang ruhig.
Er und Dave tauschten einen Blick aus, von dem ich nicht wusste, was ichhalten sollte. Izobel anscheinend auch nicht. Doch im Gegensatz zu mir, war sie nicht so zurückhaltend.
„Was wird hier eigentlich gespielt?“ Sie trat zwischen ihren Bruder und dessen Freund und sah von einem zum anderen.
„Du hast ihr nichts gesagt?“ Dave sah über Izobels Kopf hinweg Noah an, der bedächtig den Kopf schüttelte.
„Was ist hier los, verdammt noch mal?“
„Noah glaubt, dass euer Onkel der Jäger war, der uns im Krankenhaus beinahe erwischt hätte.“ Ich wunderte mich über mich selbst, aber ich dachte, dass ich die Karten besser auf den Tisch legte. Ich hatte selber genug davon, im Dunkeln zu tappen.
Wie auf Kommando wendeten sich mir drei Augenpaare zu.
„Onkel Ben war der Jäger?“ Izobel klang entsetzt. „Aber er ist nicht aktiv!“
„Anscheinend doch.“ Noah sah alles andere als begeistert aus. Aber das hätte er sich vorher überlegen müssen. Ich fühlte mich auf jeden Fall besser, dass Izobel jetzt auch Bescheid wusste.
„Deswegen sind Mum und Dad gekommen. Ich hatte mich schon gewundert, dass sie freiwillig zu Tante May kommen. Ich hatte mich gefreut, dass sie uns vermisst haben, aber das war gar nicht der Grund. Du bist der Grund.“ Ihre Augen wanderten zu mir, sahen aber eher traurig aus, als wütend.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Sie zuckte die Schultern. „Ist nicht deine Schuld“, sagte sie betont lässig, was ihr niemand abkaufte.
„Deswegen seid ihr also weg. Du glaubst, dass Mum und Dad da irgendwie mit drin stecken?“ Ihre Stimme klang gefasst, doch in ihren Augen spiegelte sich die Angst vor Noahs Antwort.
„Was haltet ihr davon, wenn ich euch jetzt erstmal eure Zimmer zeige, bevor wir hier Kriegsrat halten?“, schlug Dave vor.
„Ja. Ich denke, das wäre das Beste“, antwortete Noah langsam.
„Na dann. Mädels, ihr teilt euch ein Zimmer, Noah du schläfst bei mir. Es sei denn, eine der Damen erweist mir die Ehre?“. Ich war ihm dankbar für seinen Auflockerungsversuch. Den Blick, den er Izobel dabei zuwarf, war für meinen Geschmack allerdings etwas zu eindringlich.
„Nein, danke. Wir wollen eure traute Zweisamkeit nicht stören“, sagte ich betont locker und erntete dafür doch tatsächlich einen dankbaren Blick von Izobel.
Sachen gab es.
Nachdem wir unser Gepäck in den nicht minder luxuriös eingerichteten Schlafzimmern verstaut und uns etwas erfrischt hatten, trafen wir uns alle in der Küche.
Im Gegensatz zu Tante Mays Küche, die mit ihren schlichten Holzmöbeln einfach nur gemütlich war, wirkte diese mit ihrer Edelstahlausstattung und den Designermöbeln seltsam steril. Außerdem glaubte ich nicht, dass sie so oft genutzt wurde.
„Okay, Brüderchen, Zeit die Karten auf den Tisch zu legen.“ Izobel lenkte meine Aufmerksamkeit sehr gezielt zurück zu unseren Problemen.
Noah seufzte und nippte an dem Wasser, das Dave für jeden auf den Tisch gestellt hatte. Gespannt sah ich ihn an. Aber ich wusste, dass er mit der Wahrheit herausrücken musste.
„Ich habe Onkel Ben in jener Nacht erkannt, als wir aus dem Krankenhaus geflohen sind“, sagte er und eigentlich fiel mir erst jetzt auf, dass es gar nicht mehr zu berichten gab.
Izobel nickte mit dem Kopf. Für sie reichte dieser Satz offensichtlich aus, um genauso beunruhigt zu wirken, wie Noah.
„Ihr habt schon eine sehr seltsame Familie“, bemerkte Dave belustigt und sicherte sich gleich mal wieder Izobels Aufmerksamkeit.
Wütend funkelte sie ihn an. „Du findest das auch noch lustig? Seit Avery aufgetaucht ist, steht unser Leben Kopf!“
„Naja, eigentlich steht mein Leben Kopf, seit ihr aufgetaucht seid“, sagte ich bissig und wurde doch tatsächlich glatt ignoriert.
„Avery und Noah kippen alle Nase lang um, Averys Mutter wird angegriffen und gefoltert, wir wohnen bei Tante May, mit der wir seit Jahren nicht mehr gesprochen haben, Noah und Avery haben ihrer Mutter Erdgeküsstenblut gespritzt, sind dabei erwischt und gejagt worden und das von unserem Onkel, unsere Eltern erscheinen auf der Bildfläche und jetzt kommst zu allem Überfluss auch noch du ins Spiel. Das ist nicht lustig, David Montgomery!“
Okay, wenn man es so sagte, war doch allerhand passiert in den letzten Tagen.
„Komm mal wieder runter, Belle. Ist ja nicht so, als würde ich euch nicht helfen.“ Wahrscheinlich sollte dieser Satz versöhnlich wirken, Izobel ging noch mehr in die Luft.
„Ich soll wieder runter kommen? Hast du sie noch alle?“, brüllte sie und Dave zuckte doch tatsächlich ein wenig zusammen. Noah dagegen lehnte sich entspannt zurück und schien die Show tatsächlich zu genießen.
Dave schien eine beruhigende Wirkung auf ihn zu haben, denn ich glaube, es war das erste Mal, dass ich Noah nicht angespannt und wachsam erlebte. Ich hatte mich so daran gewöhnt, dass er sich bewegte, als würde er damit rechnen, jeden Moment reagieren zu müssen, dass sich mein Körper automatisch ebenfalls entspannte.
Es war eine Wohltat, mal nicht im Mittelpunkt zu stehen und ständig darauf achten zu müssen, bloß niemandem zu nahe zu treten.
Wann werden die endlich verstehen, dass ihre ständige Streiterei nichts anderes ist, als Balzverhalten?
Noahs Stimme klang amüsiert und seine Augen folgten dem Schauspiel. Inzwischen waren nämlich beide aufgesprungen und nun brüllte auch Dave.
Ich dachte, die hätten sich so lange nicht gesehen? Für mich sah das Ganze nämlich überhaupt nicht aus, wie Balzverhalten. Für mich sahen sie beide ziemlich sauer aus.
Du hättest sie mal erleben sollen, als sie klein waren. Ständig hockten sie aufeinander und dann…
Ich sah Noah fragend an, dessen Augen sich gerade weiteten und auch seine restlichen Gesichtszüge entgleisten. Er sprang so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte und mit einem lauten Scheppern auf dem Fliesenboden aufkam.
Absolut schockiert sah er mich an.
„Was ist los?“ Nun stand ich auch auf und sah mich um. Waren wir etwa schon entdeckt worden?
Izobel und Dave verstummten abrupt und sahen Noah fragend an. Dessen Gesicht war ganz blass geworden und seine Augen ruhten so eindringlich auf mir, dass ich mich langsam unwohl fühlte.
„Was ist los?“ Dave musterte seinen besten Freund besorgt.
„Habt ihr…“ Noahs Stimme klang seltsam rau und er räusperte sich, ehe er fortfuhr. „Habt ihr gerade irgendwas von dem gehört, was wir gesagt haben?“
Verwirrt richteten sich alle Blicke auf ihn. Auch ich starrte ihn an. Was hatte er nun schon wieder für ein Problem?
Izobel rollte mit den Augen. „Himmel, Noah, ich war gerade dabei, deinem Freund hier klar zu machen, dass er sich nicht wie das größte Arschloch aufführen soll, das auf Gottes Erdboden herumirrt. Natürlich haben wir nicht mitgekriegt, was ihr so redet.“
„Was ist los?“ Ich hätte es ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut, aber anscheinend war Dave doch etwas feinfühliger, als Izobel.
Noah zögerte. „Ich bin mir nicht sicher. Wo ist Gran, Dave? Wir müssen wirklich mit ihr reden.“
Gran? Wer war denn bitte Gran?
„Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist.“ Seinem Gesichtsausdruck nach, war er sehr vom Gegenteil überzeugt.
„Wir brauchen Antworten. Wir brauchen unbedingt Antworten. So geht das nicht weiter.“
Da gab ich ihm recht. Und anscheinend sah das auch Dave ein.
„Ich habe sie in der Nähe in einem Altenheim untergebracht“, sagte er leise.
„Du hast was?“ Noah sah ihn fassungslos an.
„Ich hatte keine Wahl. Es ging nicht mehr. Wenn sie mich hier finden, ist sie ihnen hilflos ausgeliefert. So besteht die Chance, dass sie unentdeckt bleibt und ich sie nachholen kann.“
„So schlimm?“ Izobels Stimme klang leise.
„An guten Tagen ist sie klar und bei vollem Verstand. An schlechten Tagen erkennt si emich nicht einmal mehr.“ Daves Stimme klang traurig und ich konnte Izobes Hand zucken sehen, als wollte sie nach seiner greifen. Sie tat nichts dergleichen.
„Wer ist Gran?“ Meine Stimme fühlte sich fremd an. Als würde ich die Einheit, die diese drei bildeten, zerstören.
Dave lächelte mich gequält an.
„Gran ist meine Großmutter. Sie ist eine Erdgeküsste.“
Diese zwei kleinen Sätze bauten sich wie eine Mauer vor mir auf. Eine andere Erdgeküsste. Eine andere Erdgeküsste. Eine andere Erdgeküsste, die mir vielleicht Antworten geben konnte.
„Hör zu, Kätzchen…“ Noahs Stimme verklang, als er meinem Blick begegnete.
„Es gibt eine andere Erdgeküsste und ihr sagt mir das nicht? Sie hätte Antworten für uns. Sie hätte uns vielleicht sagen können, warum wir solche Schmerzen haben und warum ich alle Nase lang umgekippt bin.“
„Kätzchen, das ist nicht so einfach. Gran ist nicht mehr sie selbst. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bei Tante May mehr erfahren, war wesentlich größer und auch nicht so gefährlich. So besteht die Gefahr, dass wir die Jäger geradewegs zu Gran führen und sie kann sich nun wirklich nicht wehren.“ Noah sah mich eindringlich an und ich wusste, dass er recht hatte. Ich wusste nicht, seit wann, aber ich vertraute ihm. Ermattet ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen. Das Pochen hinter meinen Schläfen wurde immer penetranter.
„Wir sollten uns damit beeilen, Antworten zu kriegen“, sagte ich schließlich leise und wenigstens Noah verstand, warum.
„Am besten wird es sein, wenn wir jetzt noch versuchen, ein paar Stunden Schlaf zu kriegen und morgen fahren wir dann auf direktem Weg zu Gran.“ Daves Vorschlag war vernünftig und selbst Izobel verkniff sich ein Murren.
„Kätzchen? Wie kommst den denn darauf?“ Ich hörte Daves Stimme leiser werden, als Izobel die Tür hinter uns schloss.
Wider Erwarten hatten wir die Nacht ohne größere Schäden überstanden. Izobel hatte mich nicht im Schlaf erdrosselt und sogar die Duschreihenfolge am Morgen hatte einigermaßen hingehauen. Sie durfte zuerst.
Nun saßen wir mal wieder im Auto, diesmal zum Glück in Daves Jeep und nicht in Noahs fragwürdiger Neuanschaffung, und holperten über die nicht asphaltierte Straße auf ein in sanften Gelbtönen gestrichenes Haus zu.
Ich wusste nicht, was mich erwartete. Woher auch? Bis vor Kurzem hatte ich noch nie etwas von Erdgeküssten, Jägern und heilendem Blut gehört. Aber in der kurzen Zeit hatte sich doch allerhand ereignet. Und wir brauchten wirklich dringend Antworten. Ich brauchte dringend Antworten.
Hinzukam, dass Noah seit gestern Abend total seltsam war. Immer wieder ertappte ich ihn dabei, wie er mich musterte und dann schnell den Blick abwendete, wenn er bemerkte, dass ich es bemerkt hatte.
Dave lenkte den Wagen auf einen kleinen Parkplatz, der zu dieser frühen Stunde noch nicht allzu gut besucht war und kurz darauf traten wir durch die Eingangstür der Seniorenresidenz.
Es war doch immer wieder schön, was sich die Menschen für Bezeichnungen einfallen ließen, nur um das Offensichtliche zu beschönigen. Es war und blieb ein Altenheim, dessen Einwohner zur Hälfte wahrscheinlich schon scheintot waren und nur auf ihren Tod warteten. Traurig. Viele hatten einfach den Lebensmut verloren und saßen die Tage einfach nur noch ab, schon längst bereit, sich von der Erde zu verabschieden.
Ich schauderte und rückte näher an Noah heran, der mich besorgt gemustert hatte. Die Atmosphäre in diesem Haus war ales andere als fröhlich. Und das musste schon ziemlich extrem sein, wenn ich das spürte, ohne einem einzigen Menschen hier drin begegnet zu sein.
Mir kam es vor, als würde der Tod hinter jeder Ecke lauern, bereit, seine Arbeit zu tun. Ich erschauerte. Gruselig.
Eine Krankenschwester kam uns geschäftig entgegen. Sie schob einen kleinen Rollwagen mit allerlei Tabletten vor sich her und ich musste trotz der Todesatmosphäre leicht lachen, als ich sah, wie ihre Gesichtszüge entgleisten, als Dave auf sie zutrat und uns höflich ankündigte, als die Enkel von Mrs. Margarte Theobald.
Die Schwester fing sich relativ schnell wieder, aber das zweite Gesicht hatte einen doch sehr sehnsuchtsvollen Ausdruck, als sie in eine Richtung deutete und Dave dann nachstarrte, der sich bereits zu Gehen gewandt hatte.
„Unglaublich. Sogar hier flirtet er.“ Izobel brummte noch einige Verwünschungen in ihren nicht vorhandenen Bart und folgte dem Casanova.
„Ich kann sein anderes Gesicht nicht sehen“, sagte ich plötzlich und griff abrupt nach Noahs Arm.
„Was?“ Er sah mich fragend an.
„Dave. Ich kann sein anderes Gesicht nicht sehen. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass ich es bei euch nicht sehe, dass es mir erst jetzt aufgefallen ist. Ich kann sein anderes Gesicht nicht sehen.“
Ich war ziemlich überrumpelt von dieser Erkenntnis. Noah jedoch zuckte nur die Schultern.
„Liegt vermutlich daran, dass er der direkte Nachfahre einer Erdgeküssten ist. Wahrscheinlich kannst du bei Gran auch nichts sehen.“
„Was bringt mir diese dämliche Gesichterseherei eigentlich, wenn ich es bei den Leuten, bei denen es ankommt gar nicht kann?“ War doch wahr!
Noah lächelte und zog mich nun seinerseits am Arm weiter. „Heute kriegen wir Antworten, Kätzchen!“
Wir folgten den anderen durch den langen Flur, dessen warme Sandfarbe nicht über die Sterilität hinwegtäuschen konnte. Aber der Versuch war wenigstens da.
Kurz darauf betraten wir das Zimmer, in dem unser Dreamteam verschwunden war. Sie hatten immerhin den Anstand, nur noch im Flüsterton zu streiten, seit wir diese Residenz betreten hatten.
Dave schenkte uns ein trauriges Kopfschütteln, als er bemerkte, dass wir den Raum betreten hatten.
„Ich fürchte, sie hat heute einen ihrer schlechten Tage“, sagte er zu Noah und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter und lächelte mich mitleidig an.
Mein Blick wanderte zu dem weißen Krankenhausbett, auf dem eine kleine alte Frau lag. Ihr Gesicht und ihre Hände, das Einzige, was unter der ebenfalls weißen Decke hervorragte, zeugten von ihrem Alter. Sie waren schmal und ausgemergelt. Die Haut vom Alter geschrumpelt.
Langsam trat ich an das Bett heran. Sie hatte ihre Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet. In unregelmäßigen Abständen gab sie ein leises Seufzen von sich und schien leise vor sich hin zu brabbeln. Auch ihr Atme ging unregelmäßig. Alles kleine Hinweise darauf, dass sie nicht schlief.
Leise wollte ich mich wieder abwenden, als sie plötzlich die Augen aufschlug. Ich erschrak, als mich ihr Blick aus stumpfen, milchig schimmernden Augen traf. Die alte Frau war blind.
„Eine Erdgeküsste.“ Ihre Stimme war so fest, dass wir alle zusammenzuckten und Dave geistesgegenwärtig die Tür schloss, bevor sie alle zu mir an das Bett traten.
„Granny, geht es dir gut?“ Ungläubig musterte Dave seine Großmutter.
„David. Schön, dass du mir Besuch vorbeibringst. Aber gleich zwei Jäger?“ Ihr faltiger Mund verzog sich zu einem kleinen Schmunzeln.
„Hallo, Gran“, sagte Noah leise und ergriff die Hand der alten Frau.
„Noah, dass ich das noch erleben darf. Wie lange ist es wohl her?“
„Fast sechs Jahre“, sagte er zaghaft und ich hörte in seiner Stimme, wie sehr er die alte Frau mochte. Gleichzeitig fühlte ich sein Entsetzen über ihren Anblick, als wäre es mein Eigenes.
„Dann wird die vierte im Bunde wohl meine kleine Izzy sein?“ Gran lächelte und Izobel erwiderte es spontan, bevor sie sich auf die Blindheit der alten Frau besann.
„Richtig, Granny. Und ich habe etwas gut bei dir, weil ich mich freiwillig mit diesem Idioten abgebe, den du Enkel nennst.“ Ihre Stimme war sanft und man hörte das Lächeln in ihren Worten.
„So kenne ich dich, mein Kind.“ Gran klang sehr zufrieden. „Und jetzt stellt mir doch bitte einmal unseren Gast vor. Ich bin alt und da ist es gefährlich, Zeit zu vertrödeln.“
„Gran, darf ich dir Avery vorstellen?“ Dave nickte mir aufmunternd zu.
„Hallo, Mrs. Montgomery“, sagte ich höflich und nahm zögernd die Hand, die sie mir auffordernd entgegenstreckte.
Kühl fühlte sie sich an und ich hatte Angst, sie zu fest zu drücken. Doch ihr Griff war fest und beständig und sie ließ mich nicht los. Sie hielt meine Hand weiter und schien in sich hineinzulauschen. Stille breitete sich in dem kleinen Raum aus, die keiner zu durchbrechen wagte. Ich fühlte Noah in meinem Rücken und seine Bereitschaft, mich jederzeit wegzuziehen, sollte etwas passieren.
Lächerlich. Was sollte schon groß passieren. Und doch spürte ich, dass diese Frau nicht so hilflos war, wie sie auf den ersten Blick wirkte. Ich fühlte eine fremde Präsenz an meinem geistigen Schild und verstärkte ihn sogleich, was ein weiteres lächeln auf Grans Gesicht zauberte.
Nach einer kleinen Ewigkeit ließ sie meine Hand schließlich los und legte ihre zurück auf die Decke.
„Interessanten Besuch bringst du mir da, mein lieber David.“ Sie atmete einmal tief ein und griff dann nach einer Fernbedienung, mit der sie ihr Kopfende etwas mehr aufrichtete, sodass sich eine angenehme Rückenstütze bildete, die sie in einer leicht sitzenden Position hielt.
„Eine freie Erdgeküsste mit nur einem Splitter. Dass ich das noch erleben darf.“ Granny Montgomery klang hocherfreut und ich tauschte einen unbehaglichen Blick mit Noah.
Wie gebannt standen wir alle um das Bett der alten frau herum, deren schneeweißer Haarschopf sich kaum von dem Bezug des Kissens abhob.
Noah räusperte sich und trat dichter an das Bett heran, wobei er mich ein wenig zur Seite schob. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er immer und überall bereit war, mich wenn nötig zur Seite zu stoßen. Beruhigend auf der einen, sehr beunruhigend auf der anderen Seite.
„Wir brauchen Antworten, Gran“, drängte er leise und griff nun seinerseits nach der gebrechlich wirkenden Hand, die auf der Bettdecke ruhte. „Wirklich sehr dringend.“
Vorsichtig setzte er sich auf den Rand des Bettes, seine Hand mit ihrer verschränkend. Irgendwie rührte mich dieses Bild.
Dave schob währenddessen zwei Stühle heran, wovon er mir einen mit einer einladenden Handbewegung überließ und den anderen Izobel zurechtrückte. Da er dabei allerdings die Stuhlkante gegen ihre Kniekehlen rammte und sie mehr auf den Stuhl plumpste, als dass sie sich setzte, ließ Zweifel an seiner Zuvorkommenheit aufkommen. Gott sei Dank verzichtete Izobel auf eine lautstarke Auseinandersetzung und beließ es bei einem giftigen Blick.
Dave selbst setzte sich auf die andere Seite des Bettes und wandte sein Gesicht seiner Großmutter zu. Sein liebevoller Blick sprach Bände. Er musste diese Frau wirklich lieben.
„Hat nun jeder einen Platz gefunden?“, wollte Mrs. Montgomery wissen und ich hatte den Eindruck, dass sie trotz ihrer Blindheit alles ganz genau verfolgte.
„Jawohl, Ma´m“, sagte Dave nicht die Spur zerknirscht. Im Gegenteil. Er blinzelte Izobel verschmitzt zu, die daraufhin einen sehr offensichtlichen Kampf mit ihrer Selbstbeherrschung ausführte. Und gewann. Sie beließ es nämlich dabei.
Nun richteten sich alle Blicke im Zimmer auf die kleine alte Dame, die diese Blicke förmlich zu spüren schien, denn sie hustete leicht, als suchte sie ihre Stimme.
„Nun“, begann sie, „ich bin nicht ganz sicher, wie ich diese Geschichte am besten Beginne“, sagte sie schließlich leise.
Ich wagte kaum zu atmen und auch die anderen schwiegen erwartungsvoll.
„Erdgeküsste sind so alt, wie die Welt“, fuhr sie schließlich mit gerunzelter Stirn fort. „Es hat sie schon immer gegeben. Ob es sie auch immer geben wird, sei einmal dahin gestellt. Ich wage es allerdings zu bezweifeln.“ Sie holte tief Luft und hustete dabei leicht.
„Erdgeküsste sind so reine Wesen, dass es uns schwer fällt, in einer Welt zu leben, in der wir täglich mit der Missgunst, dem Hass und der Brutalität der Menschen konfrontiert sind. Wir ziehen die Ruhe der Natur und der darin beheimaten Lebewesen, den Menschen vor. Meist ist es der Wald, der uns Zuflucht gewährt und in dem wir zur Ruhe kommen.“ Ihr leerer Blick schien in die Ferne gerichtet, als würde sie ihren Wald genau vor Augen sehen und auch ich konnte mich eines zustimmenden Nickens nicht erwehren. Es stimmte.
Ich war immer, wenn ich Angst hatte oder mir alles zu viel wurde in den Wald gegangen. Hatte mich mehr in unserem Garten, als in meinem Zimmer aufgehalten und – so dumm es vielleicht klang – ich konnte Fernsehen nicht ausstehen.
Mrs. Montgomerys Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Erdgeküsste sind sehr selten geworden. Zum einen, weil sie die Brutalität der Welt nicht lange verkraften und daran zu Grunde gehen und zum anderen sind da die Jäger, die nach wie vor Jagd auf sie machen, im Bestreben um das ewige Leben.“ Sie schüttelte sich leicht und Noah strich mit seinem Daumen beruhigend über die faltige Hand, die er nach wie vor hielt.
Mrs. Montgomery registrierte diese Berührung mit einem müden Lächeln. „Erdgeküsste Wesen in Gefangenschaft, überleben nicht lange“, sagte sie schließlich leise.
Davids Kopf ruckte bei diesen Worten hoch. „Gran?“, flüsterte er leise und ich hörte die Angst aus diesem Wort heraus.
„Keine Angst, mein lieber Junge. Mir geht es gut hier. Ich bin nicht gefangen und ich habe die Natur um mich herum. Ich werde täglich nach draußen gebracht und kann in meinem Rollstuhl die Sonne genießen.“ Sie lächelte und diesmal sah es aufrichtig aus.
„Aber ich habe Avery nichts getan. Und trotzdem leidet sie in meiner Nähe“, sagte Noah plötzlich in die entstandene Stille und er klang leicht verzweifelt.
„Und dir geht es dabei natürlich so viel besser“, parierte ich seinen Selbstvorwurf sofort. Ich setzte mich noch ein bisschen aufrechter hin und funkelte ihn wütend an.
„Hör auf, ständig die Schuld bei dir zu suchen. Vielleicht bin ja ich es, die das mit uns anstellt“, sagte ich trotzig und reckte mein Kinn angriffslustig ach vorne.
„Ja, das wird es sein. Die Erdgeküsste, deren böses Wesen, den guten Jäger umhaut.“ Noahs Stimme triefte vor Sarkasmus. Bevor ich allerdings auffahren konnte, hustete Mrs. Montgomery wieder und sicherte sich so unsere Aufmerksamkeit.
„Natürlich ist es Noah, der diese Schmerzen hervorruft“, sagte sie dann schließlich – fast schon fröhlich. „Aber“, fügte sie sogleich hinzu, „Avery ruft diese Schmerzen ebenso hervor.“
Mit einem Mal wirkte sie äußerst zufrieden mit sich und der Welt.
„Woher wissen Sie das so genau?“, fragte ich zweifelnd. Für diese Anmerkung wurde ich gleich von drei Seiten angefunkelt und ich hob entschuldigend die Hände. Entschuldigung, dass ich Fragen habe! „Ich weiß das so genau, weil es mir selber auch so ähnlich ergangen ist, als ich Bert traf.“
Nun starrten Izobel und David Noah und mich an. Noah seinerseits blickte starr auf die alte Frau.
„Ähm, wer ist Bert?“ Die Frage drängte sich mir auf.
„Das war mein Mann“, sagte Mrs. Montgomery sanft und ich verschluckte mich prompt, obwohl mein Mund plötzlich staubtrocken wurde.
„Bitte?“, krächzte ich schließlich.
„Bert war mein Mann. Der Jäger, der sich mit mir verband.“ Mrs. Montgomerys Lächeln war weich und liebevoll. Und ein wenig wehmütig.
„Sie vergleichen Noah und mich mit sich und ihrem Mann“, wollte ich ungläubig wissen und in diesem Moment hatte keiner was gegen meine Frage. Stattdessen warteten sich anscheinend gespannt auf eine Antwort.
„Aber natürlich nicht, mein Kind“, sagte sie schließlich und ich atmete erleichtert auf.
„Eure Beziehung ist mit unserer nicht zu vergleichen. Sie ist viel intensiver. Fast schon einzigartig.“ Wieso nur hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich eigentlich lieber doch keine Antworten haben wollte? Meine Augen huschten zu Noah, der seinen Blick nicht von Mrs. Montgomerys Gesicht abwandte. Ich spürte seine Angespanntheit trotzdem. Ich hätte ihm vielleicht in einer anderen Situation die Hand gereicht, ihm tröstend auf die Schulter geklopft, ihm irgendwas gesagt, um ihn abzulenken, aber im Moment schien mir nichts davon ratsam. Stattdessen sah ich hilfesuchend, zu Izobel und David, die sich gespannt nach vorne gebeugt hatten. Izobel saß schon fast gar nicht mehr auf ihrem Stuhl, so weit war sie nach vorne gerutscht und David griff nach Noahs Hand und löste sie vorsichtig von der seiner Großmutter. Anscheinend hatte Noah etwas zu fest zugedrückt, denn er murmelte eine leise Entschuldigung.
2Wie meint du das?“ Izobel war es, die diesmal die Frage stellte und ich hätte sie für ihre Neugier am liebsten an die Wand geklatscht.
Mrs. Montgomery tätschelte nachsichtig Noahs Hand und richtete ihre Augen dann in meine Richtung.
„Du bist eine Erdgeküsste mit nur einem Splitter“, sagte sie schließlich, als würde das alle Fragen dieser Welt beantworten.
„Häh?“, brachte David es auf den Punkt. Ich hätte es wirklich nicht besser ausdrücken können.
„Nun ja“, setzte seine Großmutter an und hielt dann inne. Man konnte sehen, wie sie nachdachte. Sie runzelte ihre Stirn und ihre Augen huschten unruhig hin und her.
„Ihr kennt doch bestimmt den Ausdruck ‚Seelenverwandtschaft‘, oder?“ Anscheinend war diese Frage rhetorisch gemeint, denn sie fuhr sogleich fort.
„Wenn man seinen idealen Partner gefunden hat, wird häufig der Begriff Seelenverwandtschaft benutzt, um die Besonderheit einer Beziehung herauszustellen.“
Seelenverwandtschaft? Was sollte das? Nun stand ich wirklich kurz vor einer Panikattacke und ich spürte, wie die Kopfschmerzen stärker wurden.
„Kinder, denkt an eure Schilde“, mahnte Mrs. Montgomery sanft.
„Sie sind oben, Gran.“ Noah klang genauso angespannt, wie er sich fühlte.
„Tatsächlich?“ interessiert hoben sich Mrs. Montgomerys Augenbrauen.
„Was meinst du, warum wir so dringend Antworten brauchen?“, fragte Noah leicht ungeduldig und wurde dafür von David mit einem empörten Blick bedacht.
„Willst du etwas sagen, dass Noah und Avery seelenverwandt sind?“ Izobel sprach das aus, was wir wahrscheinlich alle dachten.
„Nein, natürlich nicht.“ Mrs. Montgomery wedelte mit ihrer Hand kurz in der Luft herum, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen.
„Vielleicht war das doch nicht der richtige Anfang“, murmelte sie schließlich, als spräche sie nur mit sich selbst.
„Seelenverwandtschaft ist ein Produkt der menschlichen Romantik. Es bedeutet lediglich, dass zwei Menschen ausgesprochen gut miteinander harmonieren und diese Harmonie wird der Seele zugesprochen. Eine Seele, die der anderen so sehr ähnelt, dass sie verwandt sein könnten.“ Mrs. Montgomery schien mit ihrer Erklärung zufrieden. Ich persönlich war mir nicht sicher, ob ich verstanden hatte, worauf das hinauslief.
„Häh?“, machte David erneut und wurde mir mit jedem ‚Häh?‘ ein Stück sympathischer.
Seine Großmutter winkte ungeduldig ab, ehe sie fortfuhr.
„Der große Unterschied zwischen Erdgeküssten und Menschen ist der, dass Menschen eine an sich vollständige Seele haben.“
„Heißt das Avery hat keine Seele?“ Noah klang mehr als nur skeptisch. Er klang beinahe schon aggressiv, entlockte der alten Frau mit seinem Ausbruch aber lediglich ein weiteres nachsichtiges Lächeln.
„Oh doch. Avery hat eine Seele. Sogar eine ganz besondere. Erdgeküsste haben Splitterseelen.“
„Splitterseelen?“, fragte ich nervös und nebenbei kam ich mir vor, wie im falschen Film. Dass hier über mich gesprochen wurde, hatte ich anscheinend noch nicht so ganz realisiert.
„Ja, Splitterseelen. Erdgeküsste Wesen werden mit einer so reinen und so viel größeren Seele geboren, als die Sterblichen. In ihrer Seele liegt der Zauber ihres Wesens. Das Geheimnis um ihre Reinheit und das Geheimnis um das ewige Leben, das durch ihr Blut fließt.“
Himmel, sie klang wie eine Märchentante. Ich wollte, dass das ein Märchen war. Ich wollte es so sehr. Die Blicke der anderen wanderten über meinen Körper, als würden sie tatsächlich nach meiner Seele suchen.
„Doch ihre Seele ist nicht vollständig“, fuhr Mrs. Montgomery fort. „Die vollständige Seele eines erdgeküssten Wesens zu tragen, wäre sogar für dieses Wesen zu viel des Guten. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Sie machte eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr und ihre Stimme wirkte rau dabei.
„Aus diesem Grund wird ihre Seele gesplittert und auf verschiedene Lebewesen übertragen. Auf die Erdgeküssten und auf die Jäger. Normalsterbliche sind da ausgenommen.“
„Soll das heißen, Averys Seele ist nicht vollständig? Irgendwo laufen Jäger mit Teilen ihrer Seele herum?“ Izobel klang so ungläubig, wie ich mich fühlte.
Mrs. Montgomery nickte. „Aber wie kann das sein?“, fuhr Izobel fort. „Müssten die Jäger dann nicht gut sein?“
„Meine liebe Izzy, bist du etwa böse? Ist Liam böse? Ist Diana böse? Ist Noah böse?“ Mrs. Montgomerys Worte brachten Schweigen mit sich. Jeder hing seinen Gedanken nach und Izobel, die ihren Mund schon zu einem Protest aufgerissen hatte, klappte ihn unverrichteter Dinge wieder zu.
„Jäger sind nicht von Natur aus böse“, setzte Mrs. Montgomery schließlich erneut an. „Ursprünglich waren sie auch keine Jäger sondern eher so etwas wie Beschützer der Erdgeküssten. Sie warfen sich zwischen sie und jede noch so kleine Gefahr, immer auf ihren Schutz bedacht. Mit der Zeit änderte sich diese Einstellung jedoch.“ Ihr Gesicht verdüsterte sich.
„Ihre Seelensplitter, waren so viel kleiner, als die der Erdgeküssten. So viel anfälliger für äußere Einflüsse. Und irgendwann entdeckte man die Wirkung des Blutes. Vampirgeschichten sind nicht einfach so über Nacht entstanden“, lächelte sie grimmig. „Nach und nach wurden aus den Beschützern die Jäger, die verbissen nach der Unsterblichkeit strebten.“
„Aber wenn sie Seele des Erdgeküssten doch so rein ist und die Jäger somit auch eine reine Seele haben, müssten sie dann nicht resistent sein?“ Izobel wollte anscheinend noch nicht so schnell von ihrer Theorie abweichen.
„Das ist richtig“, wurde ihr schließlich zugestimmt, wobei ich stark ein Aber erwartete. „Aber“, na da war es ja, „nicht alle Splitter sind gleich groß. Du kannst nicht davon ausgehen, dass jeder Jäger mit einem gleich großen Splitter herumläuft. Es kann sein, dass einer einen riesigen Teil davon in seiner eigenen Seele mit sich herum trägt, während andere nur einen winzigen, mikroskopisch kleinen Splitter abbekommen haben.“
„Das ist mir alles zu hoch“, stöhnte David entnervt. „Also haben Jäger im Grunde eine eigene Seele und sich unfreiwillig einen Splitter zugezogen, so wie einen Holzsplitter im Daumen? Und Erdgeküsste sind der Baumstamm, der diese Splitter großzügig verteilt?“
Seine Großmutter schmunzelte und nickte. „Genau so kann man es zusammenfassen.“ Sie war sichtlich stolz auf ihren Enkel und streichelte liebevoll über sein Knie.
„Soll das heißen, ich bin einer von Averys Splittern?“ Noah fragte dies sehr, sehr leise und war kaum zu verstehen.
Ich sog scharf die Luft ein. Aber insgeheim war mir längst klar gewesen, worauf das hinauslief. Ich hätte nur nicht gedacht, dass ausgerechnet Noah diese Frage stellte.
„Nein.“ Das Wort peitschte durch den Raum und irgendetwas in mir lehnte sich dagegen auf.
„Du bist nicht einfach nur ein Seelensplitter Averys.“ Mrs. Montgomery holte noch einmal tief Luft. „Du bist der Seelensplitter.“ Sie hustete wieder leicht, ehe sie fortfuhr.
„Averys Seele ist nur zweigeteilt. Sie hat bei ihrer Geburt nur einen Splitter ihrer Seele verloren und diesen Splitter hast du abbekommen, mein lieber Noah.“ Nun war sie es, die zärtlich über seine Hand streichelte. Mir stockte in der Zeit der Atem. Und meiner Meinung nach, traf der Begriff seelenverwandt doch ziemlich ins Schwarze. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich das wollte. Am liebsten würde ich meine Beine in die Hand nehmen und einfach das Weite suchen.
Du bleibst schön da, Kätzchen.
Ich warf Noah einen bösen Blick zu. „Als ob ich eine andere Wahl hätte“, brummte ich missmutig.
„Häh?“ Ich ignorierte David einfach mal. Stattdessen wandte ich mich an Mrs. Montgomery.
„Und was bedeutet das jetzt? Wieso habe ich immer diese Schmerzen?“ Das interessierte mich wirklich. Vor allem interessierte mich, wie ich die wieder loswurde.
Wieder hustete Mrs. Montgomery leicht und David musterte sie mit zunehmender Besorgnis.
„Diese Schmerzen erleidet ihr, weil sich euer Verstand instinktiv gegen die Nähe des anderen sträubt.“
„Wieso? Sollte das nicht eher andersrum sein?“ Unsere Skeptikerin meldete sich mal wieder zu Wort, aber ich musste Izobel Recht geben. Diese Logik erschloss sich auch mir nicht.
Mrs. Montgomery nickte bedächtig. Zur Abwechslung verzichtete sie auf eine ausholende Handbewegung, mit der sie ihre Erzählung bisher immer untermalt hatte. Irgendwie fehlte mir das. Es verlieh der Stille mehr Bedeutung.
„Ja und nein. Instinktiv fühlen sich die beiden Seelenteile voneinander angezogen. Bestrebt, wieder eins zu werden. Je länger Avery und Noah zusammen sind, desto schwerer wird es ihnen fallen, sich gegen den jeweils anderen abzuschirmen. Ihr merkt es ja jetzt schon“, fügte sie nur an uns beide gewandt hinzu. „Das ist eigentlich nicht normal. Allerdings habe ich auch noch nie eine solche Verbindung gesehen, geschweige denn, etwas Ausführliches davon gehört. Natürlich war es immer selbstverständlich, dass solch eine Splitterverteilung vorkommen könnte, aber die Theorie ist dann doch ein wenig anders, als die Wirklichkeit, nicht wahr?“ Ihr Zwinkern hatte trotz ihrer Blindheit etwas Verschmitztes.
„Somit ist es eigentlich nur verständlich, dass ihr so aufeinander reagiert.“
„Ganz klasse“, murmelte ich leise.
Izobel verdrehte kurz die Augen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die alte Frau richtete. „Und weshalb ist es jetzt nicht so? Ich habe immerhin gesehen, wie sie zusammengeklappt ist. Und er auch!“
Wenigstens erwähnte sie, dass nicht nur ich in Ohnmacht gefallen war.
„Das liegt daran, dass es eben nicht die Seele ist, die sich gegen diese Verbindung wehrt, sondern der Verstand. Intuitiv sperrt er sich gegen diese Verbindung, aus der Angst heraus, sich selber zu verlieren.“ Mrs. Montgomery schloss kurz die Augen und man konnte die Anstrengung sehen, die sie dieses Gespräch kostete. Davids Blick wurde immer besorgter.
„Sich selbst zu verlieren?“ Noahs Stimme war ein leises Flüstern, als wollte er die gebrechliche Frau in ihrer kurzen Ruhe nur ungern stören. Wahrscheinlich war es auch so. Aber er wusste wahrscheinlich besser, als wir alle zusammen, wie dringend wir Antworten brauchten. Auch wenn sie uns nicht gefielen.
Mrs. Montgomery ließ ihre Augen geschlossen und ihr Kopf ruhte auf dem Kissen. David stand leise auf und rückte es ihr etwas zurecht, bevor er sich wieder setzte.
„Danke, mein Junge“, wisperte Mrs. Montgomery.
Eine lastende Stille breitete sich im Raum aus und ich hatte schon die Befürchtung, dass Davids Großmutter eingeschlafen war, als sie wieder begann, zu sprechen.
„Wenn die zwei Splitter sich verbinden, wird man sie eins und schafft damit eine nicht wieder lösbare Verbindung zwischen zwei Lebewesen.“ Sie machte eine kurze Pause, in der wir alle die Luft anhielten. „Und wenn ich sage nicht lösbar, dann meine ich auch nicht lösbar. Und der Verstand sträubt sich dagegen. Der Verstand ist ein merkwürdiges Ding“, sinnierte die alte Dame, als wäre die Spannung im Raum nicht mit Händen greifbar. In mir sträubte sich alles gegen diese Erklärung und wieder schrie mich mein Fluchtinstinkt förmlich an, zu rennen. So schnell und so weit ich konnte.
Ich rannte nicht. Ich verließ den Raum nicht. Ließ die anderen nicht einfach hinter mir. Nein. Ich blieb hier auf dem harten Stuhl sitzen und wartete darauf, dass die alte Erdgeküsste weiter redete und mein Schicksal verbriefte und versiegelte. Ich war wie vor den Kopf gestoßen.
„er mag nicht allein sein und sträubt sich doch so sehr gegen Gesellschaft“, philosophierte Mrs. Montgomery weiter.
„Heißt das, ich werde immer diese Schmerzen haben?“, warf ich ungeduldig ein und bemühte mich gleichzeitig um eine möglichst ruhige Stimmlage, die ich Davids gerunzelten Augenbrauen zufolge, wohl nicht so gut hin bekam, wie erhofft.
„Nein, das geht vorbei.“ Erleichtert nach dieser total klaren Aussage, stieß ich meinen Atem aus. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich ihn angehalten hatte.
„Wann?“, hakte nun Noah nach und seine Stimme klang tatsächlich gelassen.
Mich kannst du nicht täuschen, mein Lieber, dachte ich. Du bist genauso nervös, wie ich.
Bildete ich es mir ein oder zuckte Noah mit den Schultern? Er sah mich auf jeden Fall nicht an, wie mir just in diesem Augenblick auffiel.
„Sobald ihr eure Seelen miteinander vereint habt“, sagte Mrs. Montgomery, als wäre es das Natürlichste der Welt.
„Was?“ Das riefen wir nun alle. Mehr oder weniger unisono. Izobel sah ihre Wahlgroßmutter geradezu entsetzt an.
Na herzlichen Dank auch. Ich schickte ihr einen bösen blick, den sie allerdings nicht bemerkte, weil sie nach wie vor mit dem Entsetztsein beschäftigt war.
So ist sie halt. Sie ist meine Schwester. Noah klang so normal.
„Na und? Deswegen braucht sie trotzdem nicht so zu gucken, als wäre ich ein ekliges Wasweißich!“ Nun bekam Noah meinen aufgebrachten Blick ab, den er im Gegensatz zu seiner Schwester auffing und festhielt. Das Blau seiner Augen peitsche sich in meine und nahm mir die Luft zum Atmen. Schwer sog ich die Luft ein; nicht in der Lage, diesem blick auszuweichen.
Es war nicht die Aussage über seine Schwester, die ihn so aufbrachte. Es war die Situation. Ich spürte seine Aufgebrachtheit, als wäre es meine Eigene. Meine Empörung schwand dahin und ich konzentrierte mich auf ihn. Ich erkannte die Überforderung, die sich hinter der Wut über unsere scheinbare Ausweglosigkeit verbarg, die Sorge und die Angst, die mit einer erschreckenden Intensität um sich griff.
Schwankend stand ich auf und machte einen unsicheren Schritt nach vorne. Direkt an Noahs Seite. Zitternd streckte ich meine Hand aus und griff nach seiner, die sich augenblicklich mit meiner verschränkte. Dabei ließen mich seine Augen keinen Augenblick los.
Du musst dich beruhigen, beschwor ich ihn.
„Du hast gut reden“, murmelte er zurück. „Du hast keine Ahnung, in was für einem Schlamassel wir stecken.“ Ich widersprach nicht. Er wusste etwas, das ihn beunruhigte. So sehr beunruhigte, dass er vor seiner Familie Schwäche zeigte.
Tief durchatmen, befahl ich so streng ich konnte und beobachtete erleichtert, wie er sich entspannte. Langsam, aber immerhin.
Danke, wisperte er und ich lächelte unwillkürlich.
„Gern geschehen.“ Langsam ließ ich seine Finger durch meine hindurch gleiten und setzte mich wieder auf meinen Stuhl.
Erst als ich aufsah, bemerkte ich die Blicke um mich herum. Wir wurden angestarrt. Und zwar richtig angestarrt. Izobel stand sogar der Mund ein Stück weit offen. David ließ seinen Blick zwischen Noah und mir hin und her wandern und Mrs. Montgomery hatte ihre Augen wieder geöffnet.
„Was ist?“ Unwohl sah ich von einem zum anderen und hätte am liebsten wieder ach Noahs Hand gegriffen. Es war schon fast wie ein Reflex. Meine Hand zuckte schon, bevor ich sie zur Ruhe zwang. Noah brachte ein schiefes Grinsen fertig. Ich war mir fast sicher, dass er ganz genau wusste, was in mir vorging. Ich verstand meinen Verstand, wobei das Wortspiel nicht beabsichtigt war. Ich wollte wirklich nicht, dass mir jemand in die Karten gucken konnte. Manchmal konnte es ja ganz praktisch sein, aber man musste sich ja nicht mit jedem Detail mitteilen.
„Ihr habt euch unterhalten“, stellte Izobel fachmännisch fest.
„Ach, tatsächlich“, äffte ich ihren Tonfall nach.
„Aber ihr habt nicht geredet“, setzte David hinzu und nahm mir den Wind aus den Segeln.
„Natürlich haben wir geredet.“ Ich war mir sogar ziemlich sicher.
„Ihr habt geredet“, mischte sich Mrs. Montgomery ein und erstickte einen aufkommenden Streit im Keim. Ich lächelte triumphierend. „Nur nicht immer laut.“
Sprachlos sah ich sie an. Bitte was? Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die alte Dame eine ganz besondere Strategie hatte, eine Unterhaltung zu führen. Sie sagte etwas, das mich persönlich ruhig stimmte und in Sicherheit wiegte und im nächsten Augenblick riss sie dieses solide Fundament gesunden Menschenverstandes, das sie selbst gelegt hatte, mit einem Vorschlaghammer wieder ein.
„Nicht immer laut?“, fragte ich perplex.
„Eure Verbindung ist bereits stärker als ich dachte. Ihr könnt euch telepathisch verständigen.“ Sie schien geradezu entzückt von dieser Erkenntnis und setzte gleich noch einen drauf. „Bert und ich konnten das erst nach ungefähr fünfzig Jahren. Und selbst da forderte es ein gewisses Maß an Konzentration.“
Hilflos sah ich mich um und meine Augen landeten natürlich sofort bei Noah, der nicht im Mindesten erstaunt war.
„Du hast es gewusst?“ Vorwurfsvoll sah ich ihn an.
„Ich habe es vermutet“, korrigierte er sanft.
„Vermutet?“ Ich blitzte ihn zornig an. „Und da sagst du nichts?“
„Ich war mir selbst nicht sicher“, verteidigte er sich. „Und was hätte es gebracht, dich auch noch zu beunruhigen?“
Ich setzte zu einem Protest an, doch ich beließ es dabei. Es hätte sowieso nicht das Geringste gebracht. Er konnte ja so stur sein!
Noah grinste. Sein ehrliches Grinsen. Das, das seine Augen funkeln ließ und für einen Moment die Wolken darin vertrieb.
„Das hast du gehört, nicht wahr?“ Ich unterdrückte ein Fluchen.
„Laut und deutlich“, antwortete er immer noch so unverschämt grinsen.
„Was hast sie gesagt?“, fragte Izobel neugierig.
„Sie hat meinen messerscharfen Verstand und mein überdurchschnittlich gutes Aussehen bewundert.“ Noah zuckte lässig die Schultern und schenkte mir ein Zwinkern, das ich mit einem sehr undamenhaften Schnauben quittierte.
„Weißt du, mein Freund, du solltest nicht immer noch einen drauf setzen“, mischte sich David nun hilfreich in die Frotzelei ein. „An dem messerscharfen Verstand hätte Belle ein wenig geknabbert, ihn letzten Endes aber geschluckt. Das überdurchschnittlich gute Aussehen hat dich verraten.“
Jetzt schnaubte Izobel und ich konnte nicht anders. Ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen stahl.
„Was bedeutet das denn nun? Sie müssen also ihre Seelen verbinden? Wieso können sie nicht einfach wieder jeder ihrer Wege gehen?“ Izobel wandte sich demonstrativ wieder an Mrs. Montgomery. „Und wie verbindet man Seelen überhaupt?“ die Frage schob sie noch schnell hinterher. Wahrscheinlich hatte sie Angst vor einem weiteren Monolog.
„So viele Fragen.“ Mrs. Montgomery seufzte aber ihr zufriedenes Lächeln strafte sie Lügen. Tastend suchte sie nach Noahs Hand und ergriff sie.
„Ich weiß, wie sehr du nach einem Ausweg suchst, mein lieber Junge. Aber glaube mir bitte, wenn ich dir sage, dass du in dieser Angelegenheit nicht davon laufen kannst. Das ist nichts, was du entscheiden kannst. Es wurde euch von Geburt an mitgegeben. Ihr seid füreinander geschaffen worden. Noah, du hast nicht einfach nur zufällig einen Splitter abbekommen, weil du zur Verfügung standst. Avery hat einen Teil ihrer Seele an dich abgegeben. Nur an dich und an niemanden sonst. Da gibt es niemanden, der noch einen Splitter hat. Das bist nur du und es ist Schicksal, dass ihr euch überhaupt begegnet seid. Unter Umständen hättet ihr euch nie getroffen und nie diese wundervolle Erfahrung machen können.“ Mrs. Montgomerys Stimme wurde immer eindringlicher und sie hielt ihren leeren Blick fest auf Noahs Gesicht gerichtet.
„Wie?“ Noah war wieder ernst geworden und wir wussten alle, was er meinte. Ich sah mich etwas unbehaglich um. War das jetzt etwa beschlossene Sache?
„Das kann dir keiner beantworten. Ihr seid so besonders und jeder findet seinen eigenen Weg. Ich habe mich mit Bert verbunden, als ich mit ihm geschlafen habe.“ An dieser Stelle verzogen Noah, David und Izobel synchron das Gesicht. Verständlich. Schließlich war sie ihre Großmutter. Mehr oder weniger. Und wer stellte sich schon gerne seine Großeltern bei gewissen Bettaktivitäten vor?
„Aber ich denke nicht, dass das bei euch der Fall ist“, fügte sie schnell hinzu. „Ihr seid bereits dabei, den Bund einzugehen. Ihr könnt euch nicht mehr wirksam voreinander abschirmen, ihr verspürt körperliche Schmerzen in der Gegenwart des anderen und inzwischen seid ihr in der Lage, euch telepathisch zu verständigen. Habt ihr euch schon geküsst?“ Diese Frage ließ mich aufhorchen und nun starrte ich die Gestalt im Bett wie eine überirdische Erscheinung an. Oder einfach wie ein Kamel im Schwimmbad.
„Wir kennen uns doch kaum“, warf ich schwach ein. Ich konnte nicht verhindern, dass sich in meinem Bauch wieder dieses Ziehen bemerkbar machte und ich wich Noahs Blick angestrengt aus.
David und Izobel lachten leise. Wenigstens sie schienen sich im Moment köstlich zu amüsieren.
„Die zwei fauchen sich die meiste Zeit nur entnervt an“, kicherte Izobel.
„Ach tatsächlich?“ Interessiert zog David die Augenbrauen hoch.
Ich vergrub den Kopf in den Händen und versuchte mich möglichst unsichtbar zu machen.
„Oh ja. Du hättest mal hören sollen, wie die sich schon angefaucht haben“, teilte Izobel großzügig mit.
„Sie haben sich nur angefaucht?“ Mrs. Montgomery schmunzelte wissend und Izobel runzelte die Stirn.
„Nein“, gab sie schließlich höchst widerwillig zu.
„Natürlich nicht. Noah würde Avery mit seinem Leben beschützen.“ Wieso klang sie so, als würde sie das Selbstverständlichste auf der Welt erzählen? Und wieso wusste ich, dass sie Recht hatte? Ich wusste, dass Noah mich beschützen würde. Er schob mich jetzt schon immer hinter sich. Selbst vorhin, als ich so dicht vor dem Bett stand, hätte er mich ohne mit der Wimper zu zucken verteidigt und das vor seiner gebrechlichen und blinden Fast-Großmutter.
Natürlich, Kätzchen, hörte ich seine Stimme und sah auf. Ich wusste, dass nur ich ihn hörte. Nun, da ich darauf achtete, bemerkte ich den Unterschied. Die Stimme erklang direkt in meinem Kopf. Ich hörte sie, wie ich meine eigenen Gedanken hörte.
Doch es waren die Worte, die mich erschauern ließen, denn ich wusste, er meinte es ernst.
Wir haben wohl ein Problem, versuchte ich mich in unserer Gedankensprache.
Das kannst du ruhig laut sagen!
Blicklos starrte ich die Wand gegenüber meines Bettes an. Meine Gedanken rasten, aber ich war einfach nicht in der Lage, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Die Fahrt von der Seniorenresidenz zurück zu Davids Residenz, hatten wir schweigend zurückgelegt. Und auch, wenn Izobel mich mehrmals skeptisch von der Seite betrachtet hatte, als erwartete sie irgendwelche Antworten, hatte ich keine. Ich war komplett überfordert. Mal wieder. Doch ich konnte mit Sicherheit sagen, dass dieses Seelendings alles Bisherige übertraf.
Ein Teil von mir sträubte sich nach wie vor gegen die Erklärungen, die uns Mrs. Montgomery geliefert hatte. Hielt sie für komplett schwachsinnig. Ein anderer Teil, der sich leider nicht so ohne weiteres unterdrücken ließ, erkannte die Logik in den Ausführungen.
So ein Mist!
Ausgerechnet Noah sollte also ein Teil meiner Seele sein? Das hörte sich sogar komplett schwachsinnig an. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich ihn überhaupt mochte. Bei näherer Betrachtung konnte ich nicht leugnen, dass sich ein Teil von mir sich zu ihm hingezogen fühlte. Wahrscheinlich war das derselbe Teil, der die Erklärungen der alten Dame als äußerst logisch erachtete. Ein ziemlich dämlicher Teil.
Und dann gleich ein ganzes Leben miteinander verbringen? Ging das nicht etwas schnell? Ich wusste nicht einmal, was seine Lieblingsfarbe war. Wann er Geburtstag hatte. Ich wusste nichts über ihn.
Ich war so sehr in meine Gedanken versunken, dass ich Izobel erst bemerkte, als sie sich neben mir auf dem Bett niederließ.
„Er hätte es schlechter treffen können“, meinte sie schließlich, nachdem wir eine ganze Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.
Erstaunt sah ich auf. Izobels schwarze Haare, die Noahs so sehr glichen sahen noch verstrubbelter aus, als sonst.
„Danke?“ Unsicher erwiderte ich ihren ernsten Blick.
„Selbst ohne den Schwachsinn, den Gran da von sich gegeben hat – ob wir es nun glauben oder nicht – bin ich nicht blind. Ich sehe doch, wie er sich verändert, sobald du auch nur in seiner Nähe bist.“ Sie stockte kurz und wandte ihren Blick ab. Stattdessen fixierte sie nun ebenfalls die Wand, die ich zuvor schon niedergestarrt hatte. Ich konnte nur erahnen, wie schwer es ihr fiel, das gerade mir zu erzählen.
„Du kannst es ja nicht wissen, aber Noah war so verschlossen, bevor du ihm über den Weg gelaufen bist.“
Ich schnaubte.
„Schon klar, er macht nicht den Eindruck, als wäre er im Moment besonders zugänglich, aber das ist er.“ Izobel schwieg wieder und ich wagte es nicht, die Stille zu unterbrechen.
„Früher war er Liam sehr ähnlich. Lieb, nett und offen. Und dann – letztes Jahr – ist irgendetwas passiert. Von heute auf morgen war er ein völlig anderer Mensch. Ernst und in sich gekehrt. Immer in Abwehrhaltung. Er ließ nichts und niemanden an sich ran. Nicht einmal mich.“
Zaghaft tastete ich nach ihrer Hand, die sie, zur Faust geballt, auf ihrem Bein abgelegt hatte. Sie zuckte kurz zusammen, entspannte sich aber schließlich und erwiderte sogar meinen Händedruck.
„Er liebt dich, Izzy“, sagte ich leise, aber überzeugt. „Ich kenne euch alle noch nicht besonders lange, aber das weiß ich. Noah würde alles für dich und deine Geschwister tun.“
Und das meinte ich auch so. Genauso, wie ich wusste, dass er das auch für mich tun würde. Ich seufzte und entlockte Izobel damit ein Lächeln.
„Dir ist gerade aufgefallen, dass du dich in diese Schlange einreihen kannst, nicht wahr?“
„Kann schon sein“, gab ich leicht widerwillig zu und diesmal war sie es, die meine Hand drückte.
„Noah ist ein guter Kerl. Irgendwo tief in ihm drin“, stellte sie schmunzelnd fest. „Und irgendetwas ist da zwischen euch. Ihr müsst nur noch rausfinden, was das genau ist und wie ihr damit umgehen wollt. Und das möglichst schnell. Ich möchte nicht länger als nötig bei diesem Lackaffen festsitzen.“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen.
„Vermutlich sollte ich jetzt nicht fragen, was da genau zwischen dir und dem Lackaffen läuft, oder?“ Ich verbiss mir ein Grinsen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Izobel – Izzy, ich denke, ich konnte sie nun so nennen, ohne mir komisch vorzukommen – mich aufmuntern würde.
„Damit hast du ja sowas von Recht.“ Sie stand abrupt auf und stiefelte energisch in Richtung Tür und öffnete sie schwungvoll. „Komm schon, du kannst dich nicht ewig hier verkriechen.“
Als wir in die Küche kamen, ähnelte die Situation der, die ich gerade im Schlafzimmer erlebt hatte. Noah und David hatten sich an der kleinen Küchentheke niedergelassen. Das Händchenhalten hatten sie durch zwei Flaschen Bier ersetzt, die sie beide finster anstarrten.
Zögernd blieb ich im Türrahmen stehen. Noah sah nicht einmal auf. Er brütete stumpf vor sich hin.
„Ich sehe schon: Die Herren bereiten eine kleine Party vor?“ Izzy ging, als wäre sie hier zuhause, zum Kühlschrank und holte sich ebenfalls eine Flasche Bier hervor. Sie warf mir einen fragenden Blick zu und ich schüttelte eilig den Kopf. Ich wusste, was Alkohol mit Menschen anstellen konnte und machte seit jeher einen großen Bogen darum.
Zu meinem Erstaunen setzte sie sich anschließend auf den freien Hocker neben David, anstatt den neben ihrem Bruder zu wählen. Den Sinn dahinter erkannte ich erst, als sie mir einen auffordernden Blick zuwarf und mir nichts anderes übrig blieb, als zaghaft auf den letzten Hocker neben Noah zu rutschen. Er reagierte nicht einmal.
Ich hätte wirklich gerne eine Gebrauchsanweisung für den Kerl gehabt. David war es schließlich, der das Schweigen brach.
„Was wollt ihr jetzt machen?“
Noah zuckte die Schultern und hypnotisierte weiterhin sein Bier. Auch Izzy schwieg.
Ich räusperte mich. „Gibt es denn irgendeine Möglichkeit herauszufinden, ob das alles stimmt, was uns eure Großmutter erzählt hat?“ Meine Stimme war kratzig.
„Komm schon, Kätzchen, du weißt genau, dass es stimmt.“ Noah wandte den Blick keine Sekunde von seiner Bierflasche ab. Stattdessen hob er sie an seine Lippen und trank einen tiefen Schluck.
Ich wollte gerade eine schnippische Antwort geben, als wir von Davids Uhr abgelenkt wurden, die leise anfing zu piepen.
„Dein Akku ist alle“, sagte Izzy säuerlich. „Dass das bei so einer Nobeluhr überhaupt passieren kann.“
„Das ist nicht der Akku.“ Alarmiert sprang David auf und war blitzschnell beim Lichtschalter. Plötzlich war es stockfinster. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass es schon so dunkel draußen war.
„Dave?“ Noah war auch aufgesprungen.
„Das ist der Bewegungsmelder am Zaun.“ David klang angespannt.
Ich konnte nicht viel erkennen, bis plötzlich ein kleiner Monitor aufleuchtete.
„Du hast Überwachungskameras installiert?“, fragte Izzy ungläubig und trat zu David, um ihm über die Schulter zu spähen.
„Die Selbstschussanlage fand ich dann doch etwas zu auffällig.“
„Aufhören“, befahl Noah barsch. „Was ist los?“
„Sie sind dabei, das Haus zu umstellen. Bisher konnte ich sieben zählen. Alle bewaffnet.“
„Was?“ Ich keuchte entsetzt auf. „Wer?“
„Jäger.“ David verließ seinen Beobachtungsposten an dem kleinen Monitor und stürmte zu einem Wandschrank, der mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war. Er tippte eine kurze Zahlenkombination in das unauffällig angebrachte Display und einen Moment später glitt die Schranktür lautlos auf.
Sprachlos starrte ich auf das Waffenarsenal, das damit freigelegt wurde. Ich hatte keine Ahnung von Waffen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei dieser Sammlung nicht um die normalen Notwehr-Waffen handelte, die sonst in Umlauf waren.
„Meinst du nicht, dass das selbst für dich ein wenig paranoid ist?“ Izzy war hinzugetreten.
„Wenn du dir die jetzige Situation vor Augen führst, bin ich mir ziemlich sicher, dass du in spätestens zehn Minuten äußerst dankbar für meine Paranoia sein wirst“, knurrte David unwirsch und warf ihr eine Waffe zu, die sie prompt auffing.
„Eine Glock? Echt jetzt?“ Prüfend wog sie den im schwachen Mondlicht blitzenden Gegenstand in ihren Händen.
„Belle, hör auf zu motzen. Wir müssen hier weg. Wie haben die uns nur so schnell gefunden?“ Er drehte sich von Izzy weg und stattete nun sich und Noah ebenfalls mit Waffen aus.
„Und ich?“ Ich war bestimmt kein Fan von Waffen, aber im Moment hätte ich nichts gegen eine einzuwenden. Ich erinnerte mich nur zu gut an meine letzte Begegnung mit einem Jäger und das hier waren sogar ein paar mehr.
„Nichts für ungut, Avery, aber ich denke, es ist für uns alle sicherer, wenn du auf einen Waffe verzichtest.“
„Gib ihr wenigstens ein Messer. Nur falls wirklich alles schief geht.“
Ich warf Noah einen dankbaren Blick zu, den er aber gar nicht bemerkte, da er mir bereits wieder den Rücken zugedreht hatte. Na super.
Seiner Reaktion nach hätten wir uns den Besuch bei Davids Großmutter lieber schenken sollen.
„Los jetzt. Wir müssen uns beeilen.“ David drängte uns aus der Küche und in Richtung Haustür.
„Du bist ja lustig. Sollen wir jetzt einfach zur Haustür rausspazieren?“ Izzy klang kein bisschen nervös.
„Ich bitte dich, Belle. Du denkst wirklich, ich bringe Bewegungsmelder und den ganzen anderen technischen Schnickschnack an, wie Wärmesensoren und habe dann keinen Fluchtweg? Unser Vorteil ist der, dass die da draußen vermutlich denken, sie verfolgen einfach eine Horde halbwüchsiger Idioten. Dass sie die ganzen Sicherheitsvorkehrungen nicht bemerkt haben, spricht eindeutig gegen sie.“
„Ja, das ist wirklich beruhigend. Angesichts der Horde bewaffneter Männer dort draußen“, spottete Izzy.
Noah fuhr zu den beiden Streithähnen herum. „Haltet jetzt die Klappe! Und zwar alle beide. Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für eure kindischen Zickereien. Dave, du gehst voraus. Ich bin direkt hinter dir. Avery hinter mir und Izzy, du bildest das Schlusslicht.“ Es war eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass sich alle diesen Anweisungen ohne zu murren fügten. Er konnte wirklich ziemlich autoritär sein.
„Und du, Kätzchen, benutz das Messer, wenn es sein muss. Stich einmal zu und dann lauf los. Du darfst dich auf keinen Kampf einlassen, denn gegen ausgebildete Jäger hättest du keine Chance. Stich zu, nutze den Überraschungsmoment und lauf. Ich finde dich schon wieder.“
„Wirklich sehr beruhigend“, murmelte ich, war aber dann still und erwiderte Noahs eindringlichen Blick.
„Ich meine es ernst. Lauf, wenn du die Gelegenheit dazu hast und komm nicht auf die Idee, einem von uns helfen zu wollen. Wir haben gelernt, uns zu verteidigen.“
Ich konnte die tiefe Entschlossenheit spüren, die von ihm ausging, als er sich wieder umdrehte und seinem Freund zunickte.
David öffnete eine kleine Luke in der Wand unterhalb der Garderobe und kletterte ohne weitere Anweisungen hindurch. Noah folgte ihm auf den Fuß und ich erhielt von Izzy einen kleinen Stoß, damit ich mich endlich in Bewegung setzte.
Vorsichtig kletterte ich ebenfalls durch die Luke. Der schwache Schein einer Taschenlampe empfing mich und enthüllte einen Teil der Umgebung. Wir befanden uns in einem kleinen Tunnel, der mich ein wenig an einen Lüftungsschacht erinnerte. Irgendwie überraschte mich das nicht, obwohl ich eigentlich eher einen felsigen, schmutzigen Tunnel erwartet hatte. So, wie ich David einschätzte, war dieser Fluchtweg noch vor seinem Bett eingerichtet worden.
„Alle Achtung. Er hat wirklich an alles gedacht“, hörte ich Izzy hinter mir leise murmeln.
Auf Händen und Füßen krabbelte ich hinter Noah her, der sich im Gegensatz zu mir, überhaupt nicht ungelenk bewegte. Im Gegenteil. Die drei Jäger um mich herum bewegten sich, wie Raubkatzen auf der Pirsch. Leise und elegant und bereit, bei der kleinsten Bedrohung zuzuschlagen.
Hastig zog ich das Messer, das mir David schließlich doch noch gegeben hatte, aus meiner Hosentasche und klemme es stattdessen zwischen meine Zähne. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah, ich fühlte mich so einfach sicherer.
Dumpf hallten unsere – wahrscheinlich eher meine – Bewegungen in dem metallverkleideten Tunnel wider. Wir sprachen kein Wort. Selbst Izzy verkniff sich jeden ihrer ironischen Kommentare. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Das klamme Gefühl der Angst breitete sich in mir aus und ich konzentrierte mich einzig und allein auf den Weg, der vor uns lag. Blendete jeden weiteren Gedanken aus und lauschte meiner Atmung, die immer schwerer wurde. Nicht vor Anstrengung, sondern vor Anspannung.
Wenigstens bewunderst du nicht meinen Hintern.
Noahs Stimmer erklang in meinem Kopf und ich konnte mir gerade noch ein Psst verkneifen.
Sehr lustig, antwortete ich und war dankbar, dass er versuchte, mich abzulenken.
Wir sind gleich da. Bleib immer in meiner Nähe und wenn es hart auf hart komm, lauf. Ich finde dich schon wieder.
Aber…
Kein aber, Kätzchen. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich beim Kämpfen auch noch auf dich achten muss. Es ist besser, wenn ich dich in Sicherheit weiß.
Ich schluckte. In Ordnung.
„Wir sind da.“ Davids Stimme war ein leises Flüstern.
Sofort machte sich wieder die Anspannung in mir breit.
„Wir müssen durch diese Falltür klettern. Hier ist eine kleine Leiter. Ich werde sie erst anheben und sehen, ob die Luft rein ist. Dann klettere ich raus und ihr folgt mir so leise wie möglich. Wir sind hier in dem kleinen Waldstück. Dort müssen wir durch. Auf der anderen Seite verläuft eine Straße, an der ich ein Auto versteckt habe. Das müssen wir erreichen. Alles klar?“
Zustimmendes Schweigen erfüllte die Luft und David drückte vorsichtig gegen die Decke, nachdem er die Taschenlampe gelöscht hatte. Er spähte eine ganze Weile durch den schmalen Streifen, den die Luke in der Decke freilegte, bevor er sie schließlich vollständig öffnete. Mit einem Satz war er draußen und Noah folgte ihm auf den Fersen.
Ich brauchte etwas länger, aber schließlich war auch ich draußen und sah mich kurz um. Es war inzwischen noch dunkler geworden und das dichte Blätterdach der Bäume verhinderte das Eindringen des Mondlichtes.
Ich spürte Izzy hinter mir, als sie aus dem Tunnel schnellte und wirbelte herum. Ich hörte Noahs Stimme in meinem Kopf LAUF und dann traf mich etwas mit voller Wucht am Kopf.
Um mich herum tobte ein Stimmengewirr. Ein zischendes, im Flüsterton gehaltenes Stimmengewirr, das seltsam hohl klang, als würde es von kahlen Wänden zurückgeworfen. Das Bedürfnis, die Augen zu öffnen, wurde langsam übermächtig, aber ich wollte mich der Realität noch nicht stellen. Ich wusste, dass ich nicht bei Noah war, denn ich konnte ihn nicht spüren. Stattdessen klaffte irgendwo tief in mir drin eine gähnende Leere, die fast noch schlimmer war, als die wellenartigen Schmerzschübe und das dumpfe Pochen, die mich stets an seine Nähe erinnert hatten.
Ich lag, dem Gefühl nach, auf einer harten Matratze und man hatte mich mit irgendetwas zugedeckt. Unauffällig bewegte ich meine Arme und Beine, indem ich mich einmal unruhig herumwälzte und war erstaunt, als mich keine Fessel daran hinderte. Allerdings verstummten die Stimmen um mich herum abrupt, das Geräusch einer sich öffnenden und gleich wieder schließenden Tür ertönte und ich fühlte mich plötzlich ziemlich beobachtet.
„Keine Panik, du bist hier erstmal in Sicherheit“, ertönte eine brummige Bassstimme, mit der ich automatisch einen Teddybären assoziierte.
Vermutlich war das der Auslöser, dass ich abrupt die Augen öffnete und mich fast genauso abrupt aufsetzte. Das Schwindelgefühl, das mich kurz erfasste, ließ genauso schnell wieder nach, wie es gekommen war und ich war erleichtert, um ein weiteres Umkippen herumzukommen. Zumal Noah diesmal nicht der Schuldige gewesen wäre.
„Siehst du, kein Grund zur Panik.“ Der Mann, dem diese Stimme gehörte, war entgegen meiner Annahme kein stämmiger Riese mit Rauschebart, sondern ein hagerer Bücherwurm mit Nickelbrille. Seine mausbgrauen Haare waren streng aus der Stirn gekämmt und offenbarten die Geheimratsecken mehr, als dass sie sie kaschierten. Die kleinen Augen hinter den Brillengläsern huschten hektisch über meinen Körper hinweg, bevor sie wieder auf meinem Gesicht landeten und sich dort festsaugten, als wollten sie direkt hinter meine Stirn sehen. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig.
Neben ihm stand eine deutlich jüngere Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit langen, blonden Haaren, deren schlanke Figur in einen weißen Kittel gehüllt war. Mit einem silbernen Kugelschreiber machte sie sich eifrig Notizen in einem kleinen Büchlein, das dank seiner Lederoptik richtig wichtig auf mich wirkte. Außerdem wurde ich dieses dumme Gefühl nicht los, dass sich diese Notizen um mich drehten.
Irritiert sah ich mich weiter um. Anscheinend hatte ein Großteil der Menschen, die für dieses anfängliche Stimmengewirr verantwortlich gewesen waren, den Raum verlassen, denn außer Bücherwurm und Blondie war niemand mehr da.
Nun ja, zum Verweilen lud dieser Raum auch bestimmt nicht ein. Er ähnelte mehr einem Labor, das man in irgendeinem Kerker eingerichtet hatte. Die weiße Sterilität der wenigen Möbel – eigentlich waren es nur eine Handvoll Stühle, drei große Schreibtische, auf denen unzählige Monitore in unterschiedlichsten Größen vor sich hin blinkten und mein Bett, das bei näherer Betrachtung eher eine Pritsche war – stand in enormen Kontrast zu den Wänden, die den Eindruck machten, als wären sie in eine massive Felswand hineingeschlagen worden. Waren sie wahrscheinlich auch.
„Wo bin ich hier?“ Mir war klar, dass diese Frage total klischeehaft war, deswegen setzte ich noch schnell ein „Wer sind Sie?“ hinterher.
Bücherwurm trat einen Schritt näher an mein provisorisches Lager heran und mir fiel auf, dass auch er in den inzwischen recht enormen Kreis derer gehörte, deren anderes Gesicht ich nicht sehen konnte. Ich konnte nicht die kleinste Regung seiner Mimik erkennen. Inzwischen zweifelte ich ernsthaft daran, ob ich mir diese Fähigkeit nicht nur eingebildet hatte. Es war wirklich zum Verrücktwerden.
„Du befindest dich hier im Hauptquartier des Sangius unicornium Ordens, Erdgeküsste. Es ist uns eine große Ehre, dich hier zu haben.“ Perplex starrte ich ihn an. Fehlte nur noch, dass er artig einen Diener machte.
„Mein Name ist Dr. Auguste Pierre und dies ist meine Kollegin Dr. Santana Walker“, fügte er hinzu, als ich weiterhin schwieg.
Sangius. Mein Latein war zwar nicht berauschend, aber dass sangius Blut hieß, war mir durchaus bewusst. Na klasse. Ich war hier in irgend so einem komischen Blut-Orden-Hauptquartier, in einem Raum, der eine seltsame Kreuzung aus Verließ und Labor zu sein schien und zwei Menschen, die irgendwann irgendwo einen Doktortitel erworben hatten und von denen zumindest einer in einem Kittel herum lief. Frankenstein ließ grüßen.
Ach ja, und sie nannten mich Erdgeküsste!
„Woher wissen Sie…?“ Meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen, aber Bücherwurm verstand.
„Dass du eine Erdgeküsste bist?“ Bücherwurm lächelte und ich konnte die Selbstgefälligkeit dahinter erkennen. Auch Blondie schnaubte kurz.
„Es gab Hinweise, die wir dir später noch erläutern werden. Aber die Tatsache, dass du von Jägern gefangen gehalten wurdest und dass dein Blut Heilkräfte besitzt, spricht für sich.“
Erschrocken schaute ich an mir herab und erkannte tatsächlich die kleine Einstichstelle einer Nadel in meiner Armbeuge.
„Sie haben mir Blut abgenommen?“ Mein Entsetzen schwang deutlich mit und wischte das Lächeln aus Bücherwurms Gesicht und auch Blondie schaute kurz von ihrem Büchlein auf, bevor sie nur umso hektischer weiter kritzelte.
„Das ist nun mal das Procedere“, erklärte Bücherwurm betont einfühlsam.
Ich konnte ihn mit jeder Sekunde weniger leiden und das lag bestimmt nicht nur daran, dass mir ungefragt eine Nadel unter die Haut gejagt worden war. Seinen Irrtum bezüglich der O`Bannions klärte ich lieber nicht auf. Vielleicht war meine Gesichtsfähigkeit ja doch nicht so stumm, wie ich dachte, denn etwas in mir warnte mich eindringlich, dem guten Doktor und seiner Kollegin zu vertrauen.
Ich atmete tief durch und verzog kurz das Gesicht wegen des penetranten Desinfektionsgeruches.
„Was wollen Sie von mir?“ Sowohl Bücherwurm als auch Blondie zogen synchron die Augenbrauen hoch. Anscheinend kam diese Frage nicht so dankbar über meine Lippen, wie sie ihrer Ansicht nach hätte klingen müssen.
„Wir haben dich in Sicherheit gebracht. Wer weiß, was die Jäger dir angetan hätten.“ Bücherwurm kramte wieder sein Lächeln hervor.
„Was haben Sie mit ihnen gemacht?“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und gab mir wirklich alle Mühe, so unbeteiligt, wie möglich zu wirken. Ich konnte nur hoffen, dass ich nicht durchschaut wurde.
Bücherwurm verzog das Gesicht und behielt nur mit Mühe und Not sein Lächeln bei.
„Sie sind uns leider entkommen. Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen. Diese Mauern sind für Jäger unüberwindbar. Und selbst wenn sie es schaffen sollten, hier einzudringen, würden sie dich hier unten niemals finden“, fügte er rasch hinzu. Als würde mich das beruhigen.
„Und Sie konnten keinen von ihnen erwischen?“, hakte ich noch einmal nach und musste dabei das Zittern in meiner Stimme nicht einmal vorspielen.
„Sie konnten nicht das Geringste ausrichten“, meldete sich Blondie zum ersten Mal zu Wort. Ihre Stimme klang überraschend melodiös, auch wenn sie verächtlich mit dem silbernen Kugelschreiber in Bücherwurms Richtung fuchtelte.
Der hob schon zu einem Protest an, als sie auch schon fortfuhr. „Drei Kinder haben eine Gruppe erfahrener Späher ausgetrickst und auch noch entkommen können.“
„Das waren mitnichten Kinder“, empörte sich Bücherwurm, während mein Herz wie verrückt vor sich hin pochte. „Sie hätten sie sehen sollen. Die hatten auf jeden Fall Training.“ Empört funkelte er seine Kollegin an.
„Training?“, fragte ich zaghaft.
„Natürlich Training. Es ist allgemein bekannt, dass Jäger bereits in jungen Jahren ein umfassendes Kampftraining absolvieren. Wieso wohl gibt es so wenige Erdgeküsste? Du bist die erste Erdgeküsste seit Jahrzehnten, die der Orden zu Gesicht bekommt“, dozierte Blondie und wandte sich anschließend wieder ihren Monitoren zu.
„Was ist das für ein Orden?“ Diese Frage drängte sich auf.
Bücherwurm lächelte mich nun hocherfreut an, als hätte er auf diese Frage schon viel zu lange gewartet.
„Der Sanguis unicornium Orden widmet sich seit jeher dem Schutz der Erdgeküssten“, begann er und zog sich einen Stuhl heran, auf dem er sich ächzend niederließ.
„Der Orden ist fast so alt, wie die Erdgeküssten selber. Den Orden per se gab es natürlich erst später. Ab 1350 ungefähr.“ Er sah mich erwartungsvoll an, als erwartete er einen klugen Kommentar meinerseits, aber dazu war ich im Moment einfach nicht in der Lage. In meinem Kopf schwirrte alles und ich war immer noch bei Izzy, Dave und Noah. Ich hoffte inständig, dass die drei in Ordnung waren und fast noch inständiger, dass sie mich hier rausholten.
Meine Hoffnung schwand mit jeder Sekunde, in der ich Noah nicht spüren konnte dahin. Wenigstens schien ihnen nichts passiert zu sein.
„… Pest.“ Ich tauchte wieder im Hier und Jetzt auf, als Bücherwurm mich fragend ansah.
„Diese Pandemie hat fast alle Erdgeküssten ausgerottet. Doch viel weniger war es die Seuche an sich, als vielmehr das Heilmittel, das einige Jäger aus dem Blut der Erdgeküssten gewonnen haben.“ Er runzelte die Stirn.
„Ein paar Mönche sind schließlich hinter das Geheimnis des Heilmittels gekommen und haben die arme Kreatur, die sich in den Händen der Jäger befand befreit und von da an aktiv beschützt. Nicht länger im Verborgenen, wie die Jahrhunderte davor.“ Gedankenverloren strich er sich durch die grauen Haare. Dann richtete er seinen Blick auf mich.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie zeitaufwendig es ist, diese Wesen überhaupt aufzuspüren und sie von unserem Schutz zu überzeugen. Erdgeküsste sind sehr misstrauische Wesen. Und das zu recht. Leider haben wir bisher noch nicht herausfinden können, wie – ich nenne es einfach mal Gen – dieses Erdgeküssten-Gen weitervererbt wird. Es ist auf jeden Fall nicht mit der mendelschen Vererbungslehre zu erklären“, fügte er augenzwinkernd hinzu und erwartete wohl ein Lachen für seinen müden Scherz.
Als meine Reaktion ausblieb, räusperte er sich und fuhr fort: „Du kannst dir vorstellen, wie schwierig es ist, Erdgeküsste ohne jeglichen Anhaltspunkt ausfindig zu machen und sie unauffällig zu bewachen.“
Ich wurde hellhörig. „Haben Sie mich überwachen lassen?“ Ich ahnte die Antwort bereits, aber ich brauchte Gewissheit.
„Selbstverständlich. Allerdings muss ich einräumen, dass wir dich für kurze Zeit aus den Augen verloren haben, als die Jäger dich mitnahmen. Erst als ihr Mrs. Montgomery aufgesucht habt, hat sich deine Spur wieder gefunden.“ Bücherwurm schob sich selbstzufrieden seine Brille mit dem Zeigefinger auf die Nasenwurzel zurück.
„Wie?“ Ich brachte nur dieses eine Wort heraus. Die Vorstellung, dass ich mein ganzes Leben unter Bewachung stand, verschreckte mich mehr, als die Unterbringung hier in Frankensteins Labor.
In dem Moment schob sich die breite Edelstahltür auf, die ich bisher ignoriert hatte. Sie sah für einen Flucht einfach viel zu stabil aus. Die Stabilität der Tür rückte allerdings in den Hintergrund, als sich ein roter Lockenkopf durch den entstandenen Spalt schob. Ein sehr bekannter roter Lockenkopf.
„Cory?“, hauchte ich fassungslos und kämpfte mit einem Kloß, der sich in meiner Kehle niederlassen wollte. Mühsam schluckte ich die aufsteigenden Tränen hinunter. Das wurde mir alles zu viel. Ich war Cory immer so dankbar gewesen. Der einzige Mensch, der mich nicht abgelehnt hatte. Der sich mit mir unterhalten hatte und der mir ab und zu Gesellschaft geleistet hatte. Und nun erfuhr ich, dass das alles ein abgekartetes Spiel war, nur um mein Vertrauen zu gewinnen und sich unauffällig in meiner Nähe aufhalten zu können?
Nachdem Cory den Raum ganz betreten hatte, schloss sich die Tür wieder. Langsam trat sie näher. Ich erkannte ihre katzenhaft grünen Augen und die Sommersprossen auf ihrer Nase, über die sie sich stundenlang aufregen konnte. Ich erkannte ihre Art sich zu bewegen und sogar ihren blumigen Duft. Und doch war sie mir gänzlich fremd.
Ihre Augen waren seltsam reglos und distanziert. Ihr Mund, den stets ein Lächeln umspielt hatte, war verkniffen und was vielleicht am wichtigsten war, ich konnte ihr anderes Gesicht nicht sehen.
„Was ist hier los?“ Ich stellte diese Frage so beherrscht ich konnte.
„Hallo, Avery“, sagte Cory monoton.
„Sie hat die ganze Zeit auf dich aufgepasst“, strahlte Bücherwurm, ganz wie ein stolzer Vater.
Ich konnte ihn nur fassungslos anstarren, bevor ich mich wieder Cory zuwandte.
„Du warst gar nicht zufällig da, als meine Mutter angegriffen wurde“, warf ich ihr vor. Ich erinnerte mich nur zu gut an ihren scheinbar besorgten Gesichtsausdruck und ihr Reaktion auf die O`Bannions.
Bedächtig schüttelte sie den Kopf. „Nein. Als ich davon hörte, dass du im Wald ohnmächtig geworden bist, wusste ich, dass Jäger in der Nähe sein mussten. Von da an behielt ich dein Haus im Auge und stieß dazu, als deine Mutter gefoltert wurde. Ich konnte den Jäger in die Flucht schlagen, aber letztlich war es zu spät. Ich bin erkannt worden.“ Sie klang ärgerlich, doch ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung.
„Aber du hast zugelassen, dass mich die Jäger mitnehmen“, klagte ich sie an, obwohl mich diese Tatsache nicht im Geringsten störte. Alles was ich nun dachte war: Schein wahren.
Ich glaubte ihnen kein Wort. Bereits die Sache mit dem Schutz der erdgeküssten vor den Jägern hatte mich misstrauisch gemacht. Schließlich waren es doch die Jäger, die zu Beginn als Schutz fungierten. Da konnten ein paar Mönche sicherlich nicht mithalten. Und ich glaubte Davids Granny mehr, als diesem schmierigen Gelehrten, der mir hier weiß Gott was verkaufen wollte.
So, wie ich das verstanden hatte, stand also auch Mrs. Montgomery unter Beobachtung. Pardon, unter Schutz.
„Mir blieb keine Wahl. Hätte ich mich gesträubt, wären sie misstrauisch geworden und sie hätten mich umgehend aus dem Weg geräumt.“ Wo war nur die lebensfrohe, lustige Cory, die ich kannte?
Vorsichtig stand ich auf. Bücherwurm, Blondie und Cory beobachteten mich dabei mit Argusaugen.
„Ich würde jetzt gerne gehen“, verkündete ich mit fester Stimme. Einen Versuch war es zumindest wert.
Die drei Ordensmitglieder sahen erst mich, dann sich erstaunt an, bevor Bücherwurm wieder das Wort ergriff. Wer hatte ihn eigentlich zum Wortführer ernannt?
„Kind, du kannst nicht gehen.“ Er klang ausgesprochen erstaunt.
„Wieso nicht?“ Ich war richtig stolz auf mich, dass ich jegliches Zittern aus meiner Stimme verbannen konnte.
„Weil du dort draußen nicht sicher bist.“ Er sprach in einer Tonlage, mit denen er wohl auch kleine Kinder ansprach, wenn diese nicht zuvor weggelaufen waren.
„Ich werde es wohl drauf ankommen lassen.“ Ich machte einen Schritt in Richtung Tür, wurde aber prompt von Bücherwurm und Cory aufgehalten, die sich mir in den weg stellten. Blondie beobachtete wieder ihre Monitore.
„Ich fürchte, dass wir es nicht darauf ankommen lassen können.“ Bücherwurm seufzte bedauernd.
„Ich bin also Ihre Gefangene?“ Ich starrte ihn an und versuchte Cory so gut es eben ging, zu ignorieren.
„Du bist unser Gast“, korrigierte er äußerst zuvorkommend.
„Ich darf weder kommen, noch gehen, wie ich es möchte und bin trotzdem ein Gast?“ Ich bemühte mich nicht, den Sarkasmus zu unterdrücken.
Bücherwurm zuckte nur die Schultern und bedeutete mir, mich wieder aufs Bett zu setzen. Ich gehorchte widerstandslos. Was sollte ich auch machen? Ich brauchte einen Plan und für den benötigte ich Zeit, bis ich mich hier etwas besser auskannte.
„Ist vielleicht besser so“, murmelte ich vor mich hin und beobachtete aus den Augenwinkeln Bücherwurms erleichtertes Aufatmen.
Er sagte etwas, doch ich konnte ihm nicht folgen, denn in dem Moment schwappte eine Welle des Schmerzes über mich hinweg und ich konnte nur mit Mühe ein Aufschreien unterdrücken. Allerdings konnte ich ein Zusammenzucken nicht verhindern.
„Was ist los?“ Cory trat zu mir und ich bildete mir ein, einen besorgten Ausdruck in ihren Augen zu erkennen.
Ich wich ihrer Hand aus, die sie mir wohl auf die Stirn legen wollte. „Nicht weiter schlimm“, knurrte ich und fügte eine Erklärung hinzu. „Sind bloß Bauchschmerzen. Ich bekomme wahrscheinlich meine Regel.“ Endlich konnte ich auch einmal diese Ausrede benutzen. Anscheinend war sie sogar überzeugend, denn Cory nickte verstehend, während Bücherwurm das Gesicht verzog.
Ernsthaft? Eine Burg? Musste es denn ausgerechnet eine verdammte Burg sein, Kätzchen?
Noah!
Bildmaterialien: Und wieder gilt mein Dank LynMara, die mir dieses tolle Cover zusammengebastelt hat. Danke, Lyn!! Bild Mädchen: ©istockphoto.com/ValuVitaly; Bild Mann: ©istockphoto.com/ozgurdonmaz;
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2014
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