„Ich muss ins Dorf“, sagte der Müller schroff. „Wehe euch, wenn hier etwas passiert.“
Drohend hob er die Faust.
Die beiden kleinsten Kinder verzogen sich leise in den Schatten.
Der Müller stapfte zum Wandbrett und fischte aus dem weithalsigen Tonkrug mehrere Münzen heraus. Unwillkürlich seufzte die Müllerin tief. Der Mann hielt inne, drehte sich um und fixierte die Frau aus stechend blauen Augen. Dann hob er den Krug vom Brett, wog ihn in der Hand und schüttelte ihn, als wolle er den Inhalt abschätzen. Erschrocken hielt die Frau eine Hand vor den Mund. Grinsend nahm der Mann weitere Münzen und ließ sie klimpernd zu den anderen in seine Gürteltasche gleiten.
Danach nickte er seinem Ältesten zu: „Du weißt, wo du mich findest, wenn hier was schief läuft? Aber wehe es passiert ein Unglück. Und wehe einer geht an mein Geld!“
Damit verließ er das Gebäude und schlug die Tür hinter sich zu.
Sebastian lief zum Fenster und sah hinter dem Müller her: „Der kommt so bald nicht wieder, geht schnurstracks zur Brücke.“
Die beiden Kleinsten kamen aus dem Schatten und balgten sich bald lachend in einem dünnen Streifen Sonnenlicht, der in die Mühle fiel.
Sebastian holte nun selbst den Tonkrug vom Wandbrett und schüttete die restlichen Münzen in seine Hand.
„Was machst du?“, flüsterte die Mutter entsetzt.
„Den Rest zählen. Ich denke, ich werde von nun an jeden Tag einen Teil der Einnahmen draußen vergraben, damit er“, bei diesen Worten wies er mit dem Kopf Richtung Ausgangstür, „es dir nicht nehmen kann. Es ist genauso gut unser Geld, wir schuften mindestens so viel dafür wie er“, darauf folgte wieder die Geste Richtung Tür.
„Aber Sebastian, es wird ihm auffallen. Er weiß doch, wie viel er hat“, flüsterte die Mutter, als wenn der Müller sie noch hören könnte.
Sebastians Gesicht verhärtete sich: „Der? Das lass mal meine Sorge sein.“
Er nahm einen Lappen aus Rindsleder vom Tisch, ein Bauer hatte ihn wohl als Bezahlung in der Mühle gelassen. Dieser Lappen war unregelmäßig geschnitten, an einer Ecke konnte man noch den Beinansatz des Tieres erkennen. An der längsten Seite befand sich ein größerer Brandfleck. Auf dieses Tuch schüttete er fast ein Drittel der Münzen, verknotete es und verwahrte es unter seinem Kittel.
Ehe er die Mühle verließ, zog er mithilfe einer Seilwinde noch mehrere Säcke Getreidekörner auf den Treppenabsatz im ersten Stockwerk. Die Seilwinde führte durch eine Bodenklappe von der ebenerdigen Mühlenhalle bis hinauf auf den Kornspeicher im zweiten Stockwerk. Neben der Klapptür im ersten Stock, vor dem großen Zimmer, stand der Trichter, durch den das Getreide in das Steinauge des Läufersteins geschüttet wurde. Sein nächstjüngerer Bruder konnte nun die Säcke in den Trichter des Mahlwerks leeren, damit die Mühle weitermahlen konnte. Das Klappern des Rüttelschuhs, das Rumpeln und Schaben der gleichmäßig mahlenden Steine sowie das Plätschern beim Drehen des Mühlrades nahm er kaum noch wahr.
Die Söhne des Müllers wussten mit der Arbeit gut Bescheid und waren nicht böse darüber, dass der Vater die Mühle verlassen hatte. Ohne ihn war die Arbeit zwar körperlich anstrengender, aber leichter zu ertragen. Manchmal mussten sogar die Mutter und die älteste Schwester mit anpacken. Der Mutter war die Arbeit genauso vertraut wie Sebastian. Sie hatte bereits als junges Mädchen ihrem Vater, dem Müller des Nachbardorfes, helfen müssen.
Nach einem weiteren prüfenden Blick aus dem Fenster öffnete der junge Mann die Eingangstür. Heiß war es draußen, schon seit Tagen. Er schaute hinauf in den wolkenlos blauen Himmel, dem Stand der Sonne nach war es noch nicht einmal Mittag. Der Alte ging immer früher in den Dorfkrug. Nicht zum ersten Mal überlegte Sebastian, dass es höchste Zeit war, eigenes Geld zu verdienen, damit er die Kleinen und die Mutter unterstützen konnte. Aber es würde noch Jahre dauern, ehe sein Vater zugab, dass er alt genug war, eigene Wege zu gehen. Andere Jungen seines Alters waren schon losgesprochene Gesellen, nur er galt immer noch als Lehrjunge seines Vaters.
Ein paar Schritte vom Haus entfernt ließ er seine Augen über die Umgebung schweifen. Die Mühle stand gefährlich nah am Fluss, der an dieser Stelle einen Bogen nach Südwesten machte. Ein kleines Wehr trieb das Wasser auf das Mühlrad. Östlich des Gebäudes hatte die Mutter unter Mühen dem steinigen Ufer einen kleinen Nutzgarten abgetrotzt, der auf zwei Seiten durch einen Zaun geschützt war. Dort zog sie Gemüse und Kräuter.
In Sichtweite gab es kein anderes Haus. Oberhalb des Ufers, da, wo der Hang nicht zu steil war, lagen Felder und Weiden der Bauern, dahinter erstreckte sich dichter Wald. Kein Mensch war zu sehen. Das Dorf, zu dem die Mühle gehörte, lag mehr als tausend Doppelschritte entfernt auf der anderen Flussseite. Einige kleine Häuser gruppierten sich um einen freien Platz herum, weitere Häuser und Hütten standen auf den sanft ansteigenden Hügeln. Die einzelnen Häuser lagen weit genug auseinander, dass die Bewohner sich nicht unwohl dazwischen fühlten, aber doch nahe genug, um sich im Falle einer Bedrohung gegenseitig helfen zu können.
Als Sebastian um das Mühlengebäude herumging, fiel sein Blick auf das gegenüberliegende Flussufer. Dort fand er doch andere Menschen. In der Nähe des Windbruchs plantschten zwei Kinder im flachen Wasser, nur etwas älter als seine eigenen jüngsten Geschwister. Es waren ebenfalls ein kleiner Junge und ein etwas größeres Mädchen. Dünn hörte er ihre Jubelschreie, aber ohne das spritzende Wasser wären sie ihm in ihrer bräunlichen Kleidung kaum aufgefallen. Ihre Anwesenheit beunruhigte Sebastian nicht. Die Kinder konnten ruhig mitbekommen, was er vorhatte. Es war ja nichts Verbotenes, nur sein Vater durfte es nicht wissen. Falls die beiden merkten, was er tat, würden sie es dem Müller nicht verraten.
Unbekümmert prüfte der junge Mann den Hang neben der Mühle, erst nur mit den Augen, dann beugte er sich hinunter und benutzte auch die Hände. Er suchte eine Stelle, an der niemand ein Versteck vermuten würde. Sie musste so weit vom Garten entfernt sein, dass seine Geschwister sie nicht beim Bearbeiten des Bodens aus Versehen entdeckten. Außerdem sollte das Versteck auch bei Hochwasser möglichst trocken bleiben. Als er etwas Passendes gefunden hatte, begann er, mit den Fingern neben der Hauswand Erde und Steine auszuheben. Schnell wurde ihm das zu mühsam. Er erhob sich und ging um das Haus herum zum Garten. Aus den Gerätschaften seiner Mutter suchte er sich eine Pflanzschaufel, mit der ihm das Graben leichter fiel. Dabei beschloss er, in der nächsten Zeit eine Truhe zu besorgen, die sich in der Erde besser hielt als ein Ledertuch, wenn er jetzt öfter Münzen vergrub.
Die beiden Kinder am anderen Ufer achteten nicht auf den Müllersohn. Stundenlang hatten sie im Uferwäldchen Beeren gepflückt und fanden nun, sie hätten sich eine Erfrischung verdient.
Der kleine Uferwald war kaum groß genug, im Herbst die Schweine des Dorfes hineinzutreiben, damit sie sich an Eicheln und Eckern satt fressen und Fett für den beschwerlichen Winter ansetzen konnten. Jetzt im Hochsommer aber gab es die ersten frischen Brombeeren. Deshalb hatten mehrere Mütter ihre Töchter und kleineren Söhne zum Sammeln ausgeschickt.
Ungefähr zwei Dutzend Kinder hielten sich im Wäldchen auf, trotzdem wurde wenig gespielt. Die breiten, aus Weidenzweigen geflochtenen Henkelkörbe füllten sich stetig. Der Waldrand an der Dorfseite war bereits abgesucht, nun hatten sich die Kinder im Waldesinneren verteilt. Einige pflückten auf einer Lichtung, an deren Rand ebenfalls Beerensträucher standen.
Die Wagemutigeren versuchten ihr Glück beim Windbruch, dessen freie Fläche von Brombeersträuchern erobert worden war. Vor einigen Jahren hatte der Wind eine Schneise mitten hinein in den Wald geschlagen. Die Bäume, meistens Buchen, waren den Abhang Richtung Fluss hinuntergestürzt. Mühevoll hatten die Männer des Dorfes einige der besonders langen und dicken Stämme aus dem Gewirre gelöst, um sie von Pferden als Bauholz zum Dorf hinaufziehen zu lassen. Andere Bäume waren an Ort und Stelle zerlegt worden, die Stücke ließen sich leichter transportieren und von den einzelnen Dorfbewohnern zu Brennholz zerhacken. Die übrigen Stämme, an die man kaum herankam, blieben in der Schneise liegen. Ein paar nachwachsende Bäume, erst knie- oder höchstens hüfthoch, erstickten beinahe unter den Brombeerranken.
Der Duft der von der Sonne beschienenen reifen Beeren und der offenen Blüten, die teilweise an ein und demselben Strauch saßen, überdeckte fast den modrigen Geruch der verfallenden Stämme.
Natürlich sammelte Liesel, die Älteste des Töpfers, auf dem Windbruch, dort war die Ausbeute am größten. Ihre Geschwister waren in der Nähe geblieben, obwohl beide wegen ihrer kürzeren Beine mit den unter den Sträuchern liegenden Stämmen kämpften. Jörg strengte die ungewohnte Arbeit so an, dass er keine Kraft mehr zum Reden hatte und auch Bärbel pflückte schweigend. Bei jedem der Geschwister stand ein halbvoller kleiner Holzeimer. Liesel hatte den großen Henkelkorb in ihrer Nähe zwischen die Sträucher geschoben, um stets ein Auge darauf zu haben. Sie wollte eingreifen können, falls jemand etwas herausnahm. Das kam vor, zum Beispiel, wenn einer der älteren Jungen seine eigene Ausbeute zu vergrößern suchte. Die hielten Beerenlesen für Mädchenarbeit und deshalb für unter ihrer Würde. Aber natürlich wurden sie von ihren Müttern genauso wie ein faules Mädchen gestraft, wenn sie zu wenig Beeren nach Hause brachten.
Während des Pflückens unterhielt Liesel sich mit einem gleichaltrigen Mädchen und kümmerte sich kaum um ihre Geschwister. Manchmal mischte sich auch Peter, der Älteste des Nachbarn, in das Gespräch. Er war zwar nur wenig jünger als Liesel, aber seine Mutter hatte auf seiner Mithilfe bestanden. Sie meinte, ihre Töchter wären noch zu klein zum Tragen des breiten Henkelkorbs. Ohne die Beerenlese hätte er dem Vater helfen müssen, was der Junge eher für eine angemessene Tätigkeit hielt, obwohl es anstrengender war.
Zwei seiner jüngeren Schwestern pflückten in Sichtweite am oberen Rand des Windbruchs. Sie wagten sich nicht mitten hinein in das Gewirre der von Brombeeren überwucherten Baumstämme. Gleichzeitig trauten sie sich aber auch nicht ohne den Bruder auf die Lichtung.
Liesels Schwester hatte Rückenschmerzen vom vielen Bücken, ihre Hände waren verschmiert und zerkratzt. Immer wieder war sie an den Stacheln hängen geblieben und hatte sich losreißen müssen, bis ihre Haut blutige Kratzer und ihr grobes Leinenkleid neue Risse und lose Fäden aufwies. Ein paar Spinnweben klebten auch daran. Jetzt wollte sie sich im Fluss reinigen und abkühlen. Ohne eine Erklärung ließ sie ihren halbvollen Eimer neben Liesels großem Korb stehen und stieg vorsichtig den Abhang hinunter. Natürlich kletterte der kleine Bruder hinter ihr her. Damit hatte sie rechnen können. Der Kleine wollte meistens dasselbe wie sie und um einen Grund, die Arbeit liegen zu lassen, war er nie verlegen.
Liesel rief hinter den beiden her, seufzte dann und leerte die drei Eimer in den Henkelkorb. Die Eimer setzte sie ineinander, damit sie sie in einer Hand tragen konnte. Dann nahm sie den Korb in die andere Hand und folgte den Geschwistern.
Die drei kleinen Eimer aus Eichendauben waren schwerer, als der Weidenkorb und die Beeren zusammen. Trotzdem zog besonders der unbequem breite Korb an ihrem abgewinkelten Arm. Mühsam tastete sie sich den Weg zum Fluss hinunter. Unten sah sie sich um, versteckte die Gefäße im Gebüsch und streckte sich. Tat das gut!
Tief sog sie die würzige Waldluft ein. Dabei bemerkte sie, dass es nach Pferd roch. Es war kein abgestandener Dunst, wie er aus Wegefurchen aufsteigt, sondern ein frischer Geruch nach einem in der Nähe stehenden Pferd. „Wo kommt das denn her?“, fragte sie sich. Von den Beeren sammelnden Kindern hatte bestimmt keines ein Pferd mitgebracht. Es gab kaum Pferde bei den Bauern oder Handwerkern des Dorfes, und diese wenigen wurden als Arbeitstiere benötigt. Beim Pflücken konnten sie nicht helfen.
Und überhaupt, was sollte denn ein Pferd im Wäldchen? Dort fand es kaum Nahrung, während draußen herum genug Wiesen und Weiden waren, auf denen es grasen konnte. Keiner der Bauern des Dorfes würde einem müden Reit- oder Karrenpferd ein paar Maul voll Gras missgönnen, dachte sie. Es gab nur eine Möglichkeit: Jemand musste das Tier in das Wäldchen gebracht haben, um es zu verstecken.
Als sie sich suchend umschaute, fand sie zwar kein Pferd, bemerkte aber Sebastian, der sich auf der gegenüberliegenden Flussseite merkwürdig benahm. Er blickte um sich, als ob er ein Verbrechen plante, und fing an, neben der Mühle zu graben. Liesel wurde neugierig. Ohne sich um ihre Geschwister zu kümmern, verbarg sie sich hinter den Büschen und starrte zu Sebastian hinüber.
Natürlich kannte Liesel den Müllerjungen. Das ließ sich in dem kleinen Dorf kaum vermeiden, obwohl ihre Eltern ihr und den Geschwistern den Umgang mit seiner Familie verboten hatten. Und weil sie ihn kannte, wusste sie auch, dass Sebastian bei weitem nicht so übel war wie sein Vater. Interessiert sah sie ihm bei seiner Arbeit zu.
Ihre Geschwister bemerkten Liesel zunächst nicht. Bärbel stand an einer flachen Stelle nahe des Ufers im Fluss. Kichernd hielt sie mit einer Hand ihr Kleid aus dem Wasser, mit der anderen wehrte sie Jörg ab, der sie nass spritzen wollte. Als sie sich vor einer Fontäne zur Seite drehte, entdeckte sie Liesel hinter den Büschen und blieb verwundert stehen. Dann schob sie Jörg zur Seite und wandte sich Liesel zu. Verärgert patschte der Junge noch einmal besonders heftig ins Wasser, ehe auch er sich umdrehte.
„Was ’n los?“, fragte Bärbel.
Liesel raunte: „Still, ich beobachte.“
„Das sehe ich“, kommentierte Bärbel.
„Warum fragst du dann?“, zischte Liesel gereizt.
Nun mischte sich auch der kleine Bruder ein: „Was tust du da?“
In Liesels Ohren klang das so laut, dass sie fürchtete, Sebastian auf der anderen Flussseite könnte es hören und seine Tätigkeit unterbrechen.
„Ich betrachte den Müllerjungen. Und jetzt still!“
„Warum?“, fragte Jörg. War ja klar, so war er nun mal.
„Erkläre ich dir später“, raunte Liesel verzweifelt.
Zwischen den Büschen tauchte grinsend der Nachbarsjunge auf, der ihnen zum Ufer hinunter gefolgt war. Mit Unmut bemerkte er, dass Liesel keine Notiz von ihm nahm und folgte ihrem Blick. Da gab es nichts zu sehen, außer einem Jungen oder jungen Mann mit langen dunklen Haaren. Mit zornig zusammengezogenen Brauen erkannte Peter den Ältesten des Müllers. Wie Liesel mit offen stehendem Mund zu ihm hinüberstarrte, das konnte nur eins bedeuten. Aber ausgerechnet einer aus der verrufenen Müllersippe!
Kurz zögerte er, dann stimmte er einen Singsang an: „Liesel ist verliebt, Liesel ist verliebt.“
„Ach, halt den dummen Mund“, fauchte sie.
Der Neuankömmling trat einen Schritt vor, um den Jungen auf der gegenüberliegenden Flussseite johlend auf sich und die anderen aufmerksam zu machen. Er besann sich aber eines Besseren, weil Sebastians Verhalten auch sein Interesse erregte. Jetzt schauten alle vier Kinder über den Fluss. Drüben grub Sebastian erst mit beiden Händen im Boden, dann sprang er auf und verschwand hinter dem Mühlengebäude, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Nach kurzer Zeit erschien er wieder und brachte einen kleinen Gegenstand herbei, mit dem er auf dem Boden kniend weiter grub.
Liesel verstand nicht, was Sebastian am anderen Ufer tat. Verbarg er etwas vor dem Müller? Oder bestahl er ihn gar? Und was machte das versteckte Pferd im Wald? Hatte das eine etwas mit dem anderen zu tun? So überlegte sie, während sie weiter wie gebannt über den Fluss schaute.
Jörg verlor schnell das Interesse. Er plantschte noch ein bisschen im flachen Wasser und spritzte sich dabei die Beinlinge unter dem kurzen braunen Kittel nass. Dann kletterte er das Ufer hoch und setzte sich auf einen Baumstamm, um sich von der heißen Sonne trocknen zu lassen.
Bärbel wunderte sich über Liesel und Peter, die über den Fluss starrten - mehr, als über den Müllerjungen. Sonderlich interessant fand sie den nicht. Auch sie stieg aus dem Wasser und ließ sich auf einem Baumstamm nieder. Wohlig seufzend streckte sie ihre Beine von sich.
Es sah nicht so aus, als wenn Sebastian etwas von den Kindern auf der anderen Flussseite bemerkte. Sorgfältig grub er sein Loch, legte etwas hinein und füllte es wieder auf. Danach verteilte er ein paar Steine so über die frisch umgegrabene Stelle, dass sie unberührt aussah. Er blickte noch einmal kurz um sich, ohne genauer über den Fluss zu schauen, und verschwand um die Hausecke.
„Was machte der denn da?“, fragte Peter in die Stille.
„Was weiß ich, kannst ihn ja fragen, wenn du das nächste Mal mit deinem Vater zur Mühle musst“, antwortete Liesel kratzbürstig.
Sie schaute noch einen Augenblick länger auf die Stelle, an der Sebastian eben noch gearbeitet hatte. Als er nicht zurückkam, teilte sie die Eimer wieder aus und forderte die Geschwister zum Weiterpflücken auf. Schließlich war der große Henkelkorb noch nicht voll und es hingen noch Beeren an den Sträuchern. Zögernd erhoben Jörg und Bärbel sich von ihren Sitzen und kletterten den Hang wieder hinauf. Liesel nahm den Korb und folgte ihnen, Peter folgte Liesel.
Beim Hinaufsteigen mussten sie wegen des unebenen Geländes bei jedem Schritt auf den Boden blicken. Liesel entdeckte ein paar rote Walderdbeeren und legte sie zu den Brombeeren in ihren Korb.
Schweigend gesellten sie sich wieder zu den Kindern, die sie oben in den Beeren zurückgelassen hatten.
„Wohin wart ihr denn verschwunden?“, fragte das Mädchen, mit dem Liesel sich vor der Unterbrechung unterhalten hatte.
„Die Kleinen mussten sich mal ausruhen“, antwortete Liesel knapp.
„Hier hängen noch so viele Beeren, ich könnte jetzt keine Pause machen und dürfte es auch nicht“, meinte das andere Mädchen pflückend. Liesel zuckte mit den Schultern.
Peters Schwestern kämpften sich durch die Brombeerranken, um ihren Bruder zu fragen, warum er so lange weg gewesen war. Ärgerlich schob er sie zur Seite. „Ihr müsst nicht alles wissen, ihr neugierigen Weiber“, knurrte er.
Den Rest des Vormittags war Liesel ungewöhnlich schweigsam. Unentwegt ging ihr das Erlebte im Kopf herum. Deshalb war sie froh, als die Glocken zur Sext läuteten. Für die Geistlichen war dies das Zeichen zum Gebet, für die Kinder das Zeichen zum Mittagessen. Fröhlich durcheinander redend packten sie zusammen und gingen nach Hause. Nur Liesel zögerte. Sie bat Bärbel, auf die Beeren zu achten, ehe sie schnell noch einmal zu einer Stelle lief, von der aus sie über den Fluss schauen konnte. Dort gab es nichts mehr zu sehen. Die Mühle lag ruhig im hellen Sonnenschein.
Peter, der Liesel beobachtete, blieb heimlich hinter ihr. Als sie sich vom Fluss abwandte, sprang er vor und erschreckte sie, indem er wieder sang: „Liesel ist verliebt, Liesel ist verliebt.“
Die Lippen zusammengepresst, blickte sie ihn strafend an, warf den Kopf in den Nacken und eilte zu Bärbel zurück. Peter lief hinter ihr her. Liesel griff nach dem Henkelkorb und zusammen mit den Geschwistern gingen sie den Feldweg von Peters Vater entlang. Über den Feldern trillerte eine Himmelslerche immer wieder die selbe Strophe. Sebastian wurde nicht wieder erwähnt.
Zuhause drückte die Mutter Liesel den kleinsten Bruder in den Arm. Sie sollte ihm rasch vor dem Essen noch die stinkende Windel wechseln. Bald lag der kleine Junge in einen frisch gewaschenen Lumpen gewickelt zufrieden in seiner Wiege. Liesel warf die gebrauchte Windel in einen Trog, in dem schon andere schmutzige Lumpen in kaltem Seifenwasser einweichten. Währenddessen begutachtete die Mutter den Inhalt der Eichenholzeimer und des Weidenkorbes. Obwohl der Henkelkorb beinahe bis zum Rand und selbst die drei kleinen Eimer mehr als halb gefüllt waren, entschied die Mutter: „Das reicht noch nicht. Kinder, nach dem Essen müsst ihr zurück ins Wäldchen.“
Bärbel und Jörg jammerten, Liesel guckte grimmig. „Ohne die beiden gehe ich nicht“, erklärte sie kriegerisch.
„Die werden schon mitgehen“, meinte die Mutter. „Hier werden keine Faulpelze geduldet.“
Natürlich machten sich alle drei nach der größten Mittagshitze erneut auf zum Windbruch. Liesel kribbelte es in den Beinen, wieder hinunter zum Fluss zu klettern, um zur Mühle zu schauen. Sie beherrschte sich aber und pflückte bis zum Vesperläuten.
Zuhause ging die Zeit bis zum Abendessen mit dem Verlesen der Beeren dahin. Nach dem Essen räumte sie mit Bärbel zusammen das einzige Zimmer auf. Anschließend wartete keine Arbeit mehr auf die Kinder. Wie ihre Geschwister auch, verließ Liesel die Hütte. Aber dann rannte sie nicht, wie die anderen, lachend hinunter auf den Dorfplatz. Sie versteckte sich neben dem Gartenzaun und wartete. Als ihre Geschwister hinter der mühsam aus Feldsteinen erbauten Kirche verschwunden waren, huschte sie Richtung Wäldchen. Etwas zog sie zurück an den Fluss, sie konnte es sich selbst kaum erklären. Nicht einmal ihrer Schwester hatte sie Bescheid gesagt. Nur kurz wollte sie zur Mühle hinüber schauen und sofort wieder nach Hause laufen, ihre Eltern und Geschwister brauchten nichts davon zu erfahren.
So schnell sie konnte rannte sie an Peters Elternhaus vorbei und über einen Feldweg seines Vaters. Dessen Land erstreckte sich vom Dorfrand bis weit den Hügel hinauf und endete am Rand des Wäldchens. Auf den anderen Hügeln um das Dorf herum standen weitere Bauernhöfe. Obwohl der Wald Gemeingut war und nicht von Peters Familie allein bewirtschaftet wurde, hieß Peters Vater überall „der Waldbauer“, weil seine Felder und Weiden dem Wäldchen am nächsten lagen.
Nach ein paar Schritten unter den Bäumen blieb Liesel überrascht stehen. Wie unheimlich es jetzt wirkte. Tagsüber war das Wäldchen freundlich und einladend, an vielen Stellen schien die Sonne bis auf den Boden. Jetzt stand die Sonne tief und unter den Bäumen wurde es bereits dunkel. Lauter fremde Geräusche drangen an ihr Ohr, die sie im Hellen noch nie wahrgenommen hatte. Nur das Zirpen der Grillen, das zu einem warmen Sommerabend in den Feldern dazugehörte, war wie abgeschnitten.
Hastig stolperte sie am Rande des Windbruchs auf den Fluss zu. Sie fühlte sich einsam und schwach, niemals hätte sie gedacht, dass ihre Schwester ihr so fehlen könnte. Mit krauser Nase sog sie die Luft ein. Selbst die Gerüche waren fremd. Erst nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass es kaum noch nach Pferd roch. Nur ein leichter abgestandener Pferdegeruch lag in der Luft, wie man ihn alle Tage in der Nase hatte, wenn Reiter oder Fuhrwerke vorbeigekommen waren.
Unten am Abhang schlich sie geduckt so nah sie konnte an den Fluss, auf dem die letzten Sonnenstrahlen glänzten. Kein Boot war zu sehen, nur ein paar träge Enten glitten quakend über das Wasser. Sie suchte nach einem dichten Strauch, hinter dem sie sich niederlassen konnte, um ungesehen die Mühle zu betrachten. Auf der Erde sitzend bog sie ein paar Zweige zur Seite, bis sie die Mühle genau im Blickfeld hatte. Da bemerkte sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung. Interessiert wandte sie den Kopf, um der Sache auf den Grund zu gehen - und erstarrte.
Trotz der auf dem Wasser glitzernden Sonne sah sie eine Gestalt am anderen Ufer. Mühsam kroch diese Gestalt über die Steine unterhalb des Weges auf die Mühle zu. Sie war größer als Sebastian oder einer der anderen Müllersöhne, es war aber nicht der Müller auf dem Heimweg. Gespannt blickte Liesel hinüber, eine Gänsehaut lief ihr über Rücken und Arme.
Was hatte die Gestalt vor? Und wer war es überhaupt? Sie war sicher, dass es ein Mann war, ihr fiel aber niemand ein, an den er sie erinnerte. Gewandt glitt der fremde Mann neben die Mühle. Nun war er genau da, wo ein paar Stunden vorher Sebastian im hellen Sonnenlicht ein Loch gegraben und die Stelle hinterher wieder durch Steine verdeckt hatte. Der Fremde kannte sich aus. Zielstrebig entfernte er einige der Steine neben der Mühlenwand, anscheinend hatte er gegen Mittag mindestens so gut zugeschaut wie sie selbst.
Vielleicht hatte jemand in der Mühle den Fremden gehört oder aus einem Fenster heraus gesehen. Jedenfalls schoss plötzlich ein Schatten um die Ecke des Gebäudes und stürzte sich schreiend auf den Eindringling. Ein Handgemenge und gotteslästerliche Flüche. Liesel wollte sich die Ohren zuhalten, fürchtete aber, dadurch etwas Wichtiges zu verpassen. Mit Faustschlägen und Tritten gingen die Kontrahenten aufeinander los. Dann vernahm Liesel trotz des Abstands zwischen den Ufern ein merkwürdiges Knacken, dem gellende Schreie folgten. Einer der beiden Kämpfer brach zusammen und blieb am Flussufer liegen.
Schimpfend kamen auch die Müllerin und ihr zweiter Sohn um die Ecke gelaufen. Flink griff der unverletzte Kämpfer in die Erde und schwang etwas über seinen Kopf. Dann rannte er mit einem Triumphschrei davon in Richtung Brücke, die keine zweihundert Schritte entfernt südwestlich der Mühle über den Fluss führte.
Es war der Fremde.
Liesel sprang hinter ihrem Busch auf und beugte sich vor, um den Fliehenden nicht aus den Augen zu verlieren. Erst jetzt, als er über den breiten Weg lief, sah sie ihn deutlicher. Seiner Kleidung nach war er kein Bauer oder Handwerker aus der Umgebung, er war eher städtisch gekleidet. Auch sein Gang war anders als der der Dorfbewohner. Sie war sicher, den Mann noch nie vorher gesehen zu haben. Während sie dem Fliehenden hinterherstarrte, bemerkte sie, dass ein Pferd am gegenüberliegenden Ufer neben der Brückenrampe wartete. Sebastians jüngerer Bruder Severin, höchstens so alt wie sie selbst, rannte keuchend hinter dem Fremden her. Der aber war trotz des vorangegangenen Kampfes schneller, erreichte sein Pferd, schwang sich hinauf und ritt über die aus Stein gebaute Brücke davon.
Diese Brücke war deutlich breiter als ein Fuhrwerk, denn die Landstraße, die den nächsten Marktflecken mit der Reichsstadt verband, führte darüber. Gleichzeitig war es der Hauptweg zur Mühle, zu der jeder Bauer des Dorfes und der näheren Umgebung sein Getreide bringen musste. Trotz der Breite hätte der Reiter beinahe auf halbem Weg einen wankenden Mann überritten, in dem Liesel mit Abscheu den heimkehrenden Müller erkannte. Der Reiter preschte vorbei, der Müller schien keine Notiz von ihm zu nehmen.
Liesel verfolgte den Fremden weiterhin mit den Augen. Sie sah, dass der Brückenwärter die hölzerne Schranke mitten auf dem Fahrweg geschlossen hatte. Fußgänger ohne Gepäck konnten sich daran vorbeidrücken. Reiter und Reisende mit Handkarren oder auf Fuhrwerken, die Brückenzoll zahlen mussten, kamen an dem Hindernis nicht vorbei. So konnte der Brückenwärter sich in seinem Wärterhaus schlafen legen und verpasste trotzdem nicht die Zolleinnahmen. Wenn jemand den Fluss queren wollte, musste er warten, bis der Wärter aufstand und das Hindernis beseitigte. Meistens hatte der Mann ruhige Nächte, denn welcher anständige Mensch war schon des Nachts unterwegs?
Der Fremde allerdings galoppierte ohne Zögern auf das Hindernis zu und sprang trotz des Dämmerlichts elegant darüber. So etwas hatte Liesel noch nie gesehen. Ein wenig später schauten die Nachtmütze sowie eine geballte Faust des Brückenwärters aus dem Fenster und unflätige Schimpfwörter hallten hinter dem Fliehenden her.
Liesel verlor den Fremden aus dem Blick und wandte sich wieder der Mühle zu. Sie sah, dass Severin die Verfolgung als aussichtslos abgebrochen hatte, ohne seinen Vater zu bemerken. So schnell er noch konnte, lief er über das Ufergestein zurück zu seiner Mutter, die sich schreiend über die liegengebliebene Gestalt geworfen hatte.
Neugierig ließ Liesel sich wieder hinter ihrem Strauch auf dem Boden nieder und suchte eine bequeme Stellung. Gespannt verfolgte sie das Geschehen. Die Müllerin war so mit dem fruchtlosen Versuch beschäftigt, ihrem Sohn aufzuhelfen, dass sie das Herannahen ihres Eheherren nicht bemerkte.
Der war, wie Liesel sah, hinter der Mühle verschwunden, wahrscheinlich hatte er das Gebäude betreten. Kurz danach bog eine der beiden älteren Müllertöchter um die Hausecke und rief nach ihrer Mutter. Der Müller war ihr wohl gefolgt, denn nur Augenblicke später torkelte er um die Ecke des Gebäudes und machte durch Gebrüll auf sich aufmerksam. Liesel konnte nicht alles verstehen, die Aussprache war undeutlich, der Klang durch den Abstand verzerrt. Aber es hörte sich an wie: „Warum werde ich nicht begrüßt, wie es mir zusteht? Gehört es sich, dass das Weib nicht im Hause ist, wenn der Mann abends heimkehrt?“
Dann sah der Müller Frau und Kinder am Flussufer, aber auch das Loch im Boden. Trotz seines Zustands schwante ihm Übles. Er verband das Loch gleich mit seinem Lieblingsthema und brüllte los: „Was soll das Loch da? Wehe euch, wenn ihr an meinem Geld wart, ihr verfluchten Hunde!“
Liesel hätte sich wegen der Flucherei wieder am liebsten die Ohren zugehalten, aber dann hätte sie nichts von der Erwiderung der Müllerin mitbekommen. Die Frau redete leise und anscheinend verstand auch der Müller nur das Wort „Sebastian“.
Jedenfalls trat er als Antwort auf die am Boden liegende Gestalt ein. Sebastian wimmerte nur, während seine Mutter laut aufschrie. Die Schwester hielt sich die Hände vors Gesicht. Severin machte eine Bewegung, als wolle er sich seinem Vater entgegenstellen. Der versetzte dem Jungen einen Fausthieb, der ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. Severin gab auf und rannte um die Ecke des Mühlengebäudes herum fort, seine Schwester folgte ihm auf dem Fuße.
Der Müller lief vor Wut so rot an, dass Liesel es trotz der Dämmerung von der anderen Flussseite aus sehen konnte. Noch lauter als eben brüllte er: „Du Dieb! Du kommst mir nicht mehr ins Haus, verdammter Lump, du. Hast du verstanden?“
Er beugte sich vor und zerrte grob am Ausschnitt von Sebastians Kittel. Als der junge Mann vor Schmerzen aufschrie, schlug er ihn hart ins Gesicht. Anschließend durchsuchte er gründlich Sebastians Kleidung und richtete sich wieder auf.
Nach einem letzten Tritt ließ er den Verletzten auf der Erde liegen und zerrte die jammernde Frau am Arm um die Ecke der Mühle.
Liesel war es schlecht. Tapfer unterdrückte sie den Würgereiz. Die Szene mit dem Müller war noch schlimmer als das Vorangegangene. Wie konnte der Müller sich nur so aufführen?
Jedes Elternpaar schlug die Kinder mit einem Stock oder dem Reisigbesen, wenn sie nicht gehorchten, oder wenn sie besonders dumm waren. Aber das verletzte Kind treten? Ihren Eltern wäre das nicht im Traum eingefallen, selbst, wenn sie oder eines ihrer Geschwister die Verletzung aus Unachtsamkeit oder Trotz heraufbeschworen hätte!
Verstört saß sie wie angebunden und wartete darauf, was mit Sebastian geschehen würde. Sogar über den Fluss hinweg konnte sie sein Ächzen hören, als er versuchte, sich zu erheben. Aus den glaslosen Fenstern der Mühle drangen Laute, als wenn jemand mit einem harten Gegenstand etwas zerschlug. Dazu weinten ein paar Kinderstimmen, gleichzeitig brüllte die Stimme des Müllers Flüche und Verwünschungen, dazwischen Sebastians Namen.
Das Kinderweinen verstummte nach kurzer Zeit, dafür hörte es sich nun so an, als hätte die Müllerin einen Schmerzensschrei ausgestoßen und weine jetzt selbst. Liesel saß immer noch hinter dem Busch am Ufer und rührte sich nicht. Leise liefen ihr eigene Tränen über die Wangen.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber endlich war es so dunkel, dass sie Sebastian nicht mehr sehen konnte.
Selbst ächzend erhob sie sich und wischte die Tränen ab. Unbewusst zerkratzte sie ihre Haut über ein paar Mückenstichen. Der Schmerz ließ sie innehalten. Sorgfältig kühlte sie die geschwollene Stelle mit Speichel. Als sie sich vom Fluss abwandte, stellte sie fest, dass es unter den Bäumen noch dunkler war als über dem Fluss. Sie konnte kaum ihren Weg sehen, es war bestimmt schon nach Schlafenszeit. Erschrocken blieb sie stehen.
Ungebetene Gedanken drängten sich ihr auf. Wenn sie nun nicht mehr nach Hause fand? Wenn ihr etwas zustieß und nicht einmal Bärbel wusste, wo sie war? Wie sollten die Eltern sie dann finden? Hätte sie doch bloß besser überlegt, ehe sie noch einmal ins Wäldchen gerannt war. Aber es war zu spät nun, darüber zu klagen.
Sie sandte ein Stoßgebet an ihre Schutzheilige Elisabeth und überlegte, welcher Heilige zuständig war für nächtliche Wege. In ihrer Angst fiel ihr keiner ein, hastig schlug sie ein Kreuzeszeichen.
Stolpernd setzte sie sich in die Richtung in Bewegung, in der sie das Dorf vermutete. Jetzt bemerkte sie wieder die fremden Geräusche im Wald. Sie lauschte mit Unbehagen. Unsicher blieb sie stehen. In wenigen Tagen war Neumond, am Himmel über dem Windbruch standen eine schmale Mondsichel und ein paar funkelnde Sterne, die kaum den Boden beleuchteten. In dem diffusen Licht wirkten alle Unebenheiten größer. Obwohl es beinahe windstill war, schien es ihr, als bewegten die Schatten sich und drangen auf sie ein. Sie hörte sich entsetzt stöhnen. „Ich will weg hier!“, war alles, was sie noch denken konnte.
Panisch lief sie ein paar Schritte, trat gegen einen der liegengebliebenen Stämme und schlug schwer auf dem unebenen Boden auf. Einen Augenblick blieb sie weinend liegen. Sie merkte, sie musste unbedingt ruhiger werden, um sich mit Verstand an den Heimweg zu machen. Tief atmete sie durch und erhob sich mühsam. Nun wagte sie keinen großen Schritt mehr, sondern hob die Füße nur noch wenig über den Boden. Vorsichtig tastete sie, wie sie weitergehen konnte. Ein Schrittchen nach dem anderen würde sie stetig aufwärts und nach Hause bringen.
Der fremde Mann fiel ihr ein und sie überlegte, wo der jetzt war. Sie hatte Angst vor ihm. Unten vom Fluss aus hatte sie nicht verfolgen können, was er nach seinem Ritt über die Brücke getan hatte. So wusste sie nicht, ob er weitergeritten war oder ob er sich erneut im Wäldchen versteckt hielt. Sie schnupperte, aber sie roch das fremde Pferd nicht. Hoffentlich war das ein gutes Zeichen.
Während sie langsam am Rand des Windbruchs den Abhang hinaufging, erinnerte sie sich an die anderen Gefahren, die in einem dunklen Wald lauerten. Allen voran die wilden Tiere. Schweiß sammelte sich auf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5898-8
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