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Wintertag

 Der Schnee glitzerte in der Sonne, es war der letzte Tag der Ferien. Sanne und Valentin wollten das Beste aus dem freien Tag herausholen und mit dem Schlitten auf den Spielplatz. „Nein“, sagte ihre Mutter, „das ist zu gefährlich.“

Schmollend zogen Sanne und Valentin sich in Sannes Zimmer zurück und schimpften auf die engherzige Mutter.

Nach einiger Zeit schlich Sanne sich hinter dem Rücken der Mutter in die Küche und holte eine Flasche Orangensaft.

„Weißt du, was mir gerade eingefallen ist?“, fragte sie, als sie zurück in ihrem Zimmer war.

„Nein“, knurrte Valentin.

„Weißt du, was wir jetzt machen?“

„Nein“, knurrte Valentin wieder.

„Es ist so viel Schnee auf dem Balkon vor dem Wohnzimmer, wir gehen hinaus und bauen da einen kleinen Schneemann.“ Sie sah den Bruder triumphierend an.

„Ob die Mutter das erlaubt?“, fragte Valentin und trank unverdünnten Orangensaft aus der Flasche.

„Wir fragen sie nicht. Wir gehen raus, wenn sie gerade in der Küche ist“, bestimmte Sanne und nahm selbst einen Schluck Saft.

Leise schlichen die Geschwister aus Sannes Zimmer ins Wohnzimmer und öffneten die Balkontür. War das kalt draußen! Schnell gingen sie zurück ins Zimmer und holten heimlich Jacken, Schuhe und Handschuhe aus dem Flur. Damit starteten sie einen neuen Versuch.

So ließ es sich aushalten. Der Balkon war zwar vollständig mit Schnee bedeckt, aber für einen Schneemann, der den Namen verdiente, war es nicht genug. Trotzdem fingen sie an, eine Kugel zu rollen und lachten und quietschten dabei laut.

Plötzlich stand die Mutter in der Balkontür. „Ich dachte doch, es zieht in der Wohnung. Was macht ihr denn hier draußen?“

„Wir versuchen, einen Schneemann zu bauen“, erklärte Valentin.

„Passt bloß auf, dass euch nichts passiert. Und seid nicht so laut. Im Hinterhof schallt alles so weit“, ermahnte sie die Mutter.

Sanne wunderte sich, dass sie ihnen dieses Vergnügen nicht ebenfalls rundheraus verbot.

Die Mutter ging wieder zurück in die Wohnung und drückte die Balkontür von innen so fest zu, wie es möglich war, ohne sie einzuklinken.

Während Valentin und Sanne noch ihre Schneekugel über den Balkonboden rollten, kam vom obersten Balkon des Nachbarhauses ein Schneeball geflogen. Grinsend standen da Lukas und Niklas. Die beiden Balkone waren annährend auf gleicher Höhe, die Kinder hätten sich fast die Hände reichen können.

Valentin nahm die Kugel und schmiss sie als Schneeball zurück. Ehe eine richtige Schneeballschlacht ausbrechen konnte, rief Sanne: „He du, wir wollten doch einen Schneemann bauen!“

„Ist doch eh’ nicht genug Schnee hier oben“, rief Valentin und bewarf sich weiter mit Lukas und Niklas aus dem Nachbarhaus. Laut jauchzten die Kinder dabei.

Da hatte Sanne wieder eine Idee: „Werft allen euren Schnee als Kugeln auf unseren Balkon, dann bauen wir hier gemeinsam den Schneemann.“

So machten sie es. Die Jungen warfen den Schnee von ihrem Balkon auf den Nachbarbalkon. Das ging wieder nicht ohne Gelächter. An Fensterscheiben im Haus gegenüber erschienen die Gesichter von Anica und Lena. Die beiden Mädchen winkten und Sanne winkte zurück. Dann schrie sie: „He ihr, kommt rüber“, und machte dazu einladende Handbewegungen.

Kurz darauf schellte es bei Sanne und Valentin an der Wohnung. Es waren Niklas und Lukas, die lieber die Treppe genommen hatten als über das Balkongeländer zu steigen. Das wäre wohl selbst im Sommer zu gefährlich gewesen. Kurz darauf schellte es noch einmal. Diesmal waren es Anica und Lena. Die Mutter holte Aufnehmer und legte sie im Wohnzimmer aus, damit der Teppichboden nicht nass und dreckig wurde.

Mit nun sechs Kindern auf dem Balkon war es eng. Die Mutter wurde unruhig. Alle paar Minuten kam sie jetzt und schaute nach, ob sich auch keines der Kinder über die Balkonbrüstung legte oder sonst einen Unfug machte.

Nach einiger Zeit setzte die kleine Lena sich ins Wohnzimmer, ihr war es draußen zu kalt geworden. Die anderen fünf bauten den Schneemann, der allerdings trotz alle Mühe nur knapp zwanzig Zentimeter hoch und kaum als Schneemann auszumachen war. Sie stellten das Männlein auf die Balkonbrüstung, damit sie ihn besser sehen konnten.

Da kam wieder einmal die Mutter, um zu schauen, ob alles in Ordnung war mit der Kinderschar. „Früher kriegten die Schneemänner Möhren als Nasen und Eierbriketts als Augen“, erklärte die Mutter, „beides habe ich nicht.“

Die Kinder lachten. Eierbriketts: was war das denn?

„Damit wurde früher geheizt. Als ich klein war, hatten wir noch keine Zentralheizung. Da stand in fast jedem Zimmer ein Ofen in der Ecke, da drin wurde mit Papier und Streichholz ein Feuer entzündet und mit Briketts am Brennen gehalten“, erklärte die Mutter. „Kommt rein, ich habe euch Apfelsaftschorle und Lebkuchen hingestellt. Ich dachte, ich hätte auch noch eine Flasche Orangensaft, aber das war wohl ein Irrtum.“

Bei der Erwähnung des Orangensaftes sahen Valentin und Sanne sich grinsend an.

Die Einladung ließen die Kinder sich nicht zweimal sagen. Damit es im Raum nicht zu kühl wurde, schlossen sie sorgfältig die Balkontür. Dann zogen sie Schuhe und Mäntel aus und machten sich über die Lebkuchen und den Saft her. Natürlich saßen sie bald nicht mehr gesittet auf ihren Plätzen, sondern liefen durch den Raum und kicherten und lärmten dabei.

Frau Krauthaar aus der Etage untendrunter klopfte mit dem Stiel ihres Besens gegen ihre Zimmerdecke und keifte. Die Kinder störte es nicht, sie merkten es kaum.

Aus der Wärme heraus schauten sie noch einmal auf den kleinen Schneemann.

Kurz darauf schellte das Telefon. Es waren die Eltern von Lukas und Niklas, die nachfragten, wo die beiden denn blieben. Das Mittagessen warte auf sie.

„Bis morgen in der Schule“, rief Niklas.

Valentin stöhnte. „Erinnere mich nicht daran“, rief er.

Anica und Lena verabschiedeten sich kurz darauf ebenfalls. Dann nahm Anica die kleine Lena, die noch nicht zur Schule ging, sicher an die Hand und stieg mit ihr die Treppe hinunter.

Valentin und Sanne waren so voller Sauerstoff, das sie kein Verlangen mehr hatten, noch auf den Spielplatz zu gehen. Sie verzogen sich wieder in Sannes Zimmer und lasen in einem Buch. Dabei tranken sie die Orangensaftflasche leer.

Als sie am Abend noch einmal nach ihrem kleinen Schneemann sehen wollten, stand der nicht mehr auf seiner Brüstung. Ein Schneeball, der von irgendwo hergekommen war, hatte ihn wohl heruntergefegt. In der Nacht taute es, als weine der Himmel Tränen, weil die schöne freie Zeit zu Ende ging. Da wäre der Schneemann sowieso geschmolzen. 

Frühling

Die Sonne lacht, die gelben Narzissen sprießen. Scheint eigentlich jedes Frühjahr die Sonne?

Nein, letztes Jahr nieselte es wochenlang. Der Wald aus tropfenden dunkelbraunen Bäumen stand blattlos im grauen Dunst. Die nasse Erde schmatzte, als Greta darüber ging. Ihr Stiefelprofil hinterließ tiefe Abdrücke, außer an den Stellen, an denen noch feuchte und glitschige Blätter vom Vorjahr lagen. Das waren die einzigen Stellen, die etwas Farbe hatten, denn manche der heruntergefallenen Blätter waren schmutziggelb.

„Was tue ich eigentlich hier?“, dachte Greta. Sie machte sich in ihrer dicken Jacke so klein wie möglich. In der feuchten Luft war sie trotz ihres Regenschirms nass bis auf die Haut geworden. Müde und blass ging sie noch einen Schritt weiter. „Was tue ich eigentlich hier?“, fragte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 11.07.2013
ISBN: 978-3-7309-3671-9

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