Neues aus dem Vorderhaus
Inhalt
Jetzt weiß es auch Paul............................................................................................
Männerelend..........................................................................................................
Hildes Blumenkohl...................................................................................................
Feiertag.................................................................................................................
Jetzt samma beinand.............................................................................................
Ballett zwischen U1 und U2....................................................................................
Ehrlicher Neid........................................................................................................
Das Kind hat sich schon übergeben.........................................................................
Schwindliger Beton................................................................................................
Die fette Taube......................................................................................................
Ferienpass für Paul.................................................................................................
Giesinger Tauschgeschäfte.....................................................................................
Alter egal...............................................................................................................
Fremde Männerknie..............................................................................................
Wahlfreiheit...........................................................................................................
Anstich..................................................................................................................
Herr Krüger wohnt bei Hasso..................................................................................
Eine Giesinger Schande..........................................................................................
Erste Nacht............................................................................................................
Eine Leiche im Hinterhaus.......................................................................................
Iljana, es brennt.....................................................................................................
Konzert der anderen Art........................................................................................
Nachverhandelt.....................................................................................................
Ein Rätsel...............................................................................................................
Mustis Schatz.........................................................................................................
Unverschämter Frühling.........................................................................................
Märzproblem.........................................................................................................
Erbsenfrühling.......................................................................................................
Im Bmpf wird gegrillt..............................................................................................
Parken unter Beobachtung.....................................................................................
Paul und ich wären fast im Lift gestorben................................................................
Friederike vs. Bergwald..........................................................................................
Fredi ist tot. Sein Bruder auch.................................................................................
Leerer Platz............................................................................................................
Gespült, aber nicht geschleudert............................................................................
Annas Fäden..........................................................................................................
Du Depp, Sie Depp, die Deppen..............................................................................
Komödie oder Tragödie..........................................................................................
Besuch beim Wickerl..............................................................................................
Frühling jetzt..........................................................................................................
Nein!.....................................................................................................................
Ob ich noch ganz richtig ticken würde, wollte Paul gestern Abend am Aufzug von mir wissen. Selbst für meinen Nachbarn Paul, für den ein Schnalzen mit der Zunge als adäquate Begrüßung galt, war dieser Gesprächsauftakt ein wenig unfreundlich. Ich schob es auf ein Zuviel an Sonneneinstrahlung und zuckte nur mit den Schultern. Für mein Empfinden tickte ich durchaus richtig – und noch dazu in einem überaus fröhlichen Rhythmus. Ohne auf den möglichen Sonnenstich meines Nachbarn Rücksicht zu nehmen, drückte ich ihm einen Zwanzig-Liter-Sack Erde in die Arme und bat ihn, diesen zu halten, damit ich meine Post aus dem Kasten fischen konnte. Mit einem gemurmelten „Ihr spinnt doch“ erhielt ich meine Erde zurück und sah den vermeintlich Kranken ohne eine weitere Erklärung recht flott die Treppen nach oben sprinten. Wenn es nicht die Sonne war, dann war es sicher ein weibliches Wesen, das Paul die Laune verdorben hatte. Da ich zwar ein weibliches Wesen, mir aber keiner Schuld bewusst war, kümmerte es mich nicht weiter.
Als ich am Saftstand vor meiner Wohnung vorbeikam und bei meinem Nachbarsjungen brav 50 Cent für einen lauwarmen Becher abgestandenen Apfelsaft bezahlte, dämmerte mir, warum Paul an meinem Verstand zweifelte. Von seinem Fenster aus hatte er einen guten Blick auf den Laubengang vor meiner Türe, da er aber doch ein ganzes Stück entfernt im Hinterhaus wohnte, bekam er die wirklich wichtigen Dinge erst als einer der Letzten mit. Die guten Neuigkeiten hatten sich noch nicht bis zu ihm herumgesprochen.
Mit einem Glas kühlem Rosé in der Hand setzte ich mich etwas später in die Abendsonne auf die Bank vor meinem Küchenfenster. Barfuß. Neben mir ein vollbehangener Wäscheständer. Meine Wohnungstür ließ ich offen stehen. Wenn Sie sich fast sieben Jahre einen Laubengang mit Frau Obst geteilt hätten, dann wüssten Sie, dass sich das alles so verboten anfühlt, als würden Sie sich nachts nackt in die Waschküche schleichen. Ich winkte Paul, der auf seinem Balkon stand, mit meinen nackten Zehen zu, und er fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals. Eine Geste, die mir bewies, dass er erstens wirklich nichts wusste und zweitens Frau Obst genauso gut kannte wie ich. Ein paar Minuten später betrat er den Laubengang und setzte sich neben mich auf die Bank. Auf seine Frage, ob ich ihm ein Glas Rosé anbieten würde, schüttelte ich streng den Kopf und deutete auf den Saftstand des kleinen Ludwigs. Erst müsse er etwas kaufen. In diesen Laubengang verirrten sich so wenige Menschen, dass die, die ihn betraten, unbedingt etwas konsumieren mussten. Zweifelnd betrachtete Paul das rosa Tischchen und den mintgrünen Kinderhocker, auf dem strahlend der Sohn meiner Nachbarin Judith saß. Der machte das Geschäft seines Lebens. Paul bezahlte nämlich mit einem Zehn-Euro-Schein und hatte nicht bedacht, dass Dreijährige nur selten Wechselgeld in der Tasche hatten. Durch die Sonne milde gestimmt, warnte ich Paul vor dem Saft. Ludwig war selbst sein bester Kunde, und in den Saftbechern schwammen Kekskrümel. Man schluckte die Brühe besser nicht. Dafür konnte man sie bedenkenlos in die Margeritenbüsche kippen, die seit gestern Vormittag den Laubengang zierten. Jene Blumen von denen Frau Obst behauptete, sie würden nach Verwesung stinken.
Als ich mein Glas mit Wein auffüllte, brachte ich Paul eines mit. Der hellblaue Teppich unter meinen nackten Füßen fühlte sich herrlich an und war auch viel schöner als der hässliche graue Schmutzfänger von Frau Obst. Den hatte ich am Morgen in den Müll geworfen. Ich stieß mit meinem Glas gegen das von Paul und deutete auf die schönen Windspiele aus Glas, die an beiden Enden des Laubengangs von der Decke hingen. Tonlos, aber Regenbogen werfend. Zum bestimmt fünften Mal schüttelte er wortlos den Kopf und lehnte sich dann an die Wand. Lachend schloss er die Augen.
„Ich weiß nicht, was die Alte macht, wenn sie das sieht, aber sie wird durchdrehen.“ Er nahm einen Schluck Wein. „Sie verprügelt dich mit dem Besen.“ Er blinzelte zu Ludwig. „Und den Zwerg wirft sie über die Brüstung. Samt Puppenstube.“
„Saftstand“, verbesserte ich ihn, „das ist ein Saftstand“, und schloss ebenfalls die Augen.
Was Paul nicht wusste: Frau Obst wohnt nicht mehr rechts neben mir. Sie wohnt seit zwei Wochen links neben mir und hat somit im Laubengang nichts mehr zu suchen. Wenn Frau Obst jetzt ihre Wohnungstür öffnet, dann blickt sie in das sterile und kalte Treppenhaus. Der sonnige Laubengang, der wie ein weiterer Balkon ist, gehört nun Judith und mir, und eine Glastür trennt uns vom Hausdrachen. Die beiden haben nämlich die Wohnungen gewechselt. Jede wohnt nun in der Eigentumswohnung der anderen, weil der einen die Wohnung zu groß und der anderen die Wohnung zu klein geworden ist. Vor meinem Küchenfenster steht nun nicht mehr Frau Obst, die missbilligend die Wasserflecken auf den Edelstahlarmaturen in meiner Küche begutachtet, sondern es sind freundliche Gesichter, denen der Zustand meiner Küche herzlich egal ist. Seit einigen Tagen winken mir von dort Ludwig oder seine Schwester durch das Fenster zu. Die Kinder spielen im Laubengang, weil dort abends die Sonne scheint. Und genau deshalb hängen wir dort jetzt auch unsere Wäsche auf. Und abends sitzen wir draußen, halten unsere Zehen in die Sommerluft und haben es uns innerhalb kürzester Zeit sehr gemütlich gemacht. Nur das Zähneknirschen von Frau Obst, das durch zwei Türen und eine Wand bis zu uns zu hören ist, stört ein wenig. Ich denke, dass wir uns bald daran gewöhnt haben und es nicht mehr bemerken werden. Auch die Zettel in unseren Briefkästen können wir gut ignorieren. Auf dem heutigen ermahnte uns Frau Obst, dass wir bloß nicht auf die wahnwitzige Idee kommen sollen, im Laubengang zu grillen.
Paul besorgt gerade Grillkohle, und ich werde gleich reingehen, um den Nudelsalat fertig zu machen. Vielleicht übertreiben wir wirklich ein wenig. Obwohl … nein. Wir holen nur sieben Jahre verschwendeter und ungenutzter Abendsonne nach.
Ich könne froh sein, kein Mann zu sein, sagte der geduldigste meiner Freunde mit einem kaum merklichen Augenverdrehen und nahm mir einen Sack Blumenerde aus den Armen. Ächzend warf er ihn über seine Schulter und setzte sich in Bewegung. Wortlos stimmte ich ihm zu. Ich war in der Tat erleichtert. Weniger wegen der zwanzig Liter Erde, die ich auch allein in den dritten Stock bekommen hätte. Wirklich froh, kein Mann zu sein, war ich, weil mir so die Blödheit erspart blieb, den Ehrgeiz zu entwickeln, alle Einkäufe auf einmal durch das Treppenhaus zu schleppen, um nur ja kein zweites Mal gehen zu müssen. Zufrieden mit der Zuteilung meines Geschlechtes trug ich den Rest – ein einzelnes, zartes Tomaten-Pflänzchen – nach oben und sorgte mich um den Puls des schnaubenden Mannes vor mir.
Ebenfalls froh, kein Mann zu sein, bin ich, wenn ich mit Freunden auf unserer Hütte bin und das Feuer im Grill angezündet werden muss. Als Frau kann ich mich entspannt nach hinten lehnen und bei einem Glas Rotwein interessiert beobachten, wie sie es ein ums andere Mal versauen. Mein Glas ist meist schon leer, wenn sich die geballte Männlichkeit nach einer halben Stunde trollt und nach Grillanzündern zu suchen beginnt. Während sie fluchend und schimpfend das Haus auf den Kopf stellen, mache ich das Feuer an. Ohne Grillanzünder und ohne viel Tamtam. Vermutlich gelingt mir das nur, weil mir nicht so viel Testosteron an den Fingern klebt. Durch Erfahrung klug geworden, lasse ich sie in dem Glauben, dass Reste ihrer groben Holzscheite in ihrer Abwesenheit ganz zufällig doch noch in Brand geraten sind. Zu Wort melde ich mich nur, wenn einer von ihnen die Flasche Brennspiritus im Schuppen entdeckt. Seit das Krankenhaus im Ort vor zwanzig Jahren geschlossen wurde, bin ich vorsichtig geworden.
Dass ich wirklich froh sei, kein Mann zu sein, teilte ich heute Nachmittag auch meinem Nachbarn Paul mit. Der stand nämlich seit über einer halben Stunde vor den Briefkästen und versuchte einen von ihnen mit einer Nagelfeile, einer Büroklammer und einem Schraubenzieher zu öffnen. Seine aktuelle Freundin hatte den Schlüssel abgebrochen. Ich sah es, als ich vorhin zur Post ging, und fand das Gezeter und die Versicherungen, dass der Schlüssel wohl morsch gewesen war, etwas albern. Ab und zu kann man ruhig zugeben, dass man sich einfach blöd angestellt hat. Paul hätte das sicher nicht überrascht, er kennt sie ja schon. Ich kenne seine Freundin auch. Letzte Woche stand sie im Waschkeller und war kurz vorm Weinen, weil sie sich nicht traute, die Türe des Trockners zu öffnen, da sich, drei Meter entfernt, in der hintersten Ecke des Raumes, eine kleine Spinne befand. Damals wie auch heute bewunderte ich die Geduld meines Nachbarn, der den leicht hysterischen Anfall seiner Geliebten gelassen über sich ergehen ließ. Als ich von der Post zurückkam, war Paul nicht mehr ganz so gelassen. Er fluchte bereits und hatte Schweißperlen auf der Stirn. Schon blöd, dass man als Mann nicht einfach mal den Hausmeister anrufen kann, damit er das Briefkastenschloss auswechselt. So wie ich meinen Nachbarn kenne, hatte er selbst auch schon mit diesem Gedanken gespielt, wurde aber vom bewundernden Blick seiner Freundin daran gehindert. Diese stand neben ihm und versicherte ihm immer wieder, wie schön sie es fände, wenn Männer sich selbst zu helfen wüssten. Man müsse ja nicht für jede Lappalie einen Handwerker rufen. Ich glaube, Paul sah das anders, denn die kleine Ader an seinem Hals schwoll bereits etwas an. Als ich meine Wäsche nach oben holte, stand Paul noch immer vor den Briefkästen, mittlerweile flankiert von einem Gesandten der Studenten-WG aus dem Hinterhaus und Herrn Iwanow. Man diskutierte den Einsatz einer Bohrmaschine.
Als die Herren in ihren jeweiligen Kellern verschwanden, um das schwere Gerät zu holen, nahm ich Pauls Hand. Nicht, um ihm Trost zu spenden, sondern um sie sanft in den Briefkastenschlitz einzuführen.
Mein eigener Schlüssel war vor drei Jahren abgebrochen. Nicht, weil er morsch war, sondern weil ich auf hohen Schuhen stolperte und mich blöd anstellte. Das ist aber egal. Wichtig ist, dass die Briefkastenschlitze in unserem Haus groß genug sind, um problemlos ein via Amazon geschicktes Paket mit der Taschenbuchausgabe von „Krieg und Frieden“ zu schlucken. Auch für Männerhände ist es möglich, die Post herauszufischen, ohne den Briefkasten aufzusperren.
Meine pragmatische Lösung war Paul wohl zu weiblich. Im Treppenhaus war es laut geworden, und ich hörte Herrn Iwanow nach seiner Frau rufen. Da wir bei den Briefkästen keine Steckdose haben, wurde nun eine Leitung mittels Verlängerungskabel aus dem Küchenfenster der Iwanows verlegt. Ich bin wirklich froh, kein Mann zu sein. Manchmal tun mir die nämlich wirklich leid.
Eigentlich könne er ihn nicht ausstehen, den immer etwas zu matschig gekochten Blumenkohl seiner Hilde. Weil er aber die Hilde so gernhätte, äße er eben auch ihren Blumenkohl. So sei das eben, sagt Herr Mu. Wenn man jemanden gernhat, dann sähe man über die kleinen Macken im Charakter des anderen hinweg. Ich schmunzle und frage Herrn Mu, ob es denn wirklich ein charakterlicher Fehler ist, wenn man den Blumenkohl verkocht. Das erscheint mir etwas sehr streng. Auch Herr Mu schmunzelt. Nur, wenn man es aus purer Bosheit über mehrere Jahrzehnte hinweg immer und immer wieder machen würde. Dann könne man durchaus von einem unschönen Charakterzug sprechen. Herr Mu lächelt so versonnen, dass ich mir sicher bin, dass seine Hilde als Ausgleich sehr viele, sehr schöne Charakterzüge gehabt haben muss. Ich sage es, und Herrn Mu schüttelt den Kopf. Nein, seine Hilde sei ein rechtes Miststück gewesen. Den Blumenkohl zum Beispiel hätte sie nur deshalb ein ums andere Mal absichtlich verkochen lassen, weil er kurz nach der Hochzeit einmal feixend einen Scherz über die Ähnlichkeit von knackigem Gemüse und hübschen Frauen gemacht hatte. Ab jetzt sei es vorbei mit dem jungen Gemüse, meinte seine Hilde, und von da an gab es den Blumenkohl und auch den Kohlrabi eben nur noch weich und lasch.
Herr Mu und ich sitzen an der Bushaltestelle und blicken auf den sicher noch knackigen Blumenkohl, der am Straßenrand liegt. Er ist wohl jemandem aus dem Einkaufskorb gefallen, der es nicht der Mühe erachtet hat, ihn wieder aufzuheben. Als ich eben an Herrn Mu vorbeiging, hat er mich grüßend auf das Gemüse hingewiesen. Es saß niemand bei ihm, also habe ich ihm ein wenig Gesellschaft geleistet. Jetzt sitzen wir beide an der Bushaltestelle, an der heute am Samstag nur selten Busse fahren, und schauen auf einen vergessenen Blumenkohl. An einem sonnigen Vormittag ist das gar nicht so schlecht. Ich weiß noch nicht, was ich heute Abend kochen werde, und der Blumenkohl wäre eine schöne Beilage. Herr Mu neben mir raucht, und mir wird ein wenig schlecht vom Geruch seiner Zigarillos. Jetzt, wo ich einmal sitze, kann ich aber nicht mehr aufstehen. Herr Mu muss erst fertigerzählen. Es dauert nicht lange, bis er mich mit dem Ellbogen leicht anstößt und fragt, ob ich denn gar nicht wissen möchte, warum er fast vierzig Jahre mit einem Miststück verheiratet geblieben war. Ich möchte es schon wissen und erkundige mich, ob es denn wegen des Geldes gewesen wäre. Ob die Hilde auf ihn angewiesen war. Harsch brummt er ein „Schmarrn“ und erklärt, dass seine Hilde ihr Leben lang gearbeitet hat und ihn gar nicht gebraucht hätte. Aber er, fügt er nach einer kurzen Pause an, er hätte sie gebraucht, seine Hilde. „Wissen’S“, sagt er, „eine echte Liebe ist es, wenn Sie ein Weibsbild gernhaben, obwohl’s Ihnen einen solchen Blumenkohl vorsetzt.“ Sie wird schon noch andere Vorzüge gehabt haben, die Hilde, merke ich an, und Herr Mu schmunzelt. „Einige“, sagt er. „Aber kaum charakterliche.“
Ich hebe ihm den Blumenkohl auf, und er steckt ihn in seine Plastiktüte. Heute tauschen wir die Rollen. Herr Mu steigt in den ankommenden Bus, und ich bleibe noch kurz sitzen. Ohne den Blumenkohl ist der Randstein gleich viel weniger schön zu beobachten, und ich stehe bald auf.
Daheim rennt mich jemand fast um, als ich zur Tür hereinkomme, reißt mir die Handtasche aus der Hand und zieht seinen Wohnungsschlüssel heraus. Wahnsinn, raunzt er mich an, diese Tasche sei ein schwarzes Loch, das selbst das verschlingt, was nicht einmal in seiner Nähe war. Er nimmt mein Gesicht in beide Hände, sagt mir, wie unglaublich dämlich und gedankenlos ich sei, und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich denke an Herrn Mu und daran, dass es wohl eine echte Liebe ist, wenn man über die Fehler des anderen mit einem so warmen Blick und einem Lächeln auf den Lippen spricht, dass es wie ein Kompliment klingt. Dem, der gerade aus meiner Wohnung stürmt, rufe ich hinterher, dass es das nächstes Mal, wenn er kommt, Blumenkohl gibt. Dann kommt er nie, höre ich ihn noch, und schließe die Tür. Ich weiß, dass es nicht stimmt.
Ich mag es, wenn es heiß ist. So heiß, dass man glaubt, man würde gegen eine Wand laufen, wenn man vom Schatten in die Sonne tritt. Die Hitze macht mich müde und schläfrig, und ich schleiche durch die Straßen meines Viertels. Ab 30 Grad kann ich in der Sonne nicht mehr schnell gehen. Ich schlurfe so langsam, dass mich alle Rentnerehepaare problemlos überholen können. Das dürfen sie ruhig – ich hab es ja nicht eilig, und meine Langsamkeit ist Balsam für die Seele. An Tagen, die kein Sonntag und trotzdem Feiertage sind, erhole ich mich. Dann mache ich am liebsten gar nichts. Besonders gut geht das an den brüllend heißen Sommertagen. Biergarten? Nein danke, da muss ich ja erst einmal hinkommen. An den See? Fein, aber lieber an einem Samstag und nicht heute. Heute reicht mir mein kleines Viertel. Das ist genauso schläfrig wie ich.
Wer wach sein möchte, wer sehen und gesehen werden will, der geht runter an die Isar, legt sich ins Schyrenbad oder stürzt sich ins Glockenbachviertel. Wer lieber nichts tut, bleibt in Giesing oder einem der anderen Viertel, die nicht auf den ersten Seiten der Reiseführer stehen. Da ist es heute schön ruhig. Nur wenige Straßen, die mit den Cafés, Biergärten und Restaurants, sind belebt, der Rest dämmert vor sich hin. Das können wir Münchner gut. Obwohl wir auf unseren Balkonen sitzen, fast alle Bänke unter den Bäumen besetzt sind und auf den Steinmäuerchen der Vorgärten Kinder sitzen, ist es ruhig, fast schon ausgestorben. Die anderen, die die Stille stören könnten, sind alle unterwegs. Wer geblieben ist, der dämmert vor sich hin, redet automatisch etwas leiser und schlurft recht langsam durch die Straßen. Autos fahren kaum. Wo sollten sie auch hinfahren? Sie sind ja schon in den Bergen, am See oder den anderen Vierteln, in denen heute mehr los ist. Es läuft auch niemand. Es ist viel zu heiß. Hetzen ginge sowieso nicht. Wohin auch? Heut’ ist Feiertag, und alles hat zu. Gottlob. Weil Fronleichnam ist und weil ich ihm zu verdanken habe, dass hier noch keine Läden sonntags offen haben. Irgendein Nachbar hat schon das, was fehlt, und wenn er es nicht hat, dann gibt es das heute eben nicht.
An so ruhigen, fast stillen Feiertagen darf man „rumsandln“, dem Dolce Vita frönen und das Nichtstun genießen. Man kann ja nicht anders. Ich müsste saugen. Dringend. Würde ich es heute tun, Herr Meier würde an meinem Verstand zweifeln und mir noch vor Frau Obst eine Standpauke halten. Der Gute! Heut’ wäscht auch niemand. An Feiertagen hängt man die Wäsche nicht in den Innenhof. Zum Glück! Ich müsste nämlich eigentlich, aber weil ich nicht darf, muss ich doch nicht. Für die Berge und den See ist es jetzt zu spät. Ich sitze mit einem Eiskaffee – die Eisdiele hat nämlich auf – auf dem Balkon und spitze die Ohren. Heut’ hört man, was man sonst nicht hört. Jetzt gerade das Rauschen der Blätter im Wind von den drei Bäumen bei meinem Balkon, die fette Hummel, die sich auf die ersten Blüten in meinen Kästen stürzt, und das leise Murmeln von Herrn Iwanow, der sich nicht laut zu telefonieren traut. Ab und zu höre ich, wie Herr Meier unten in der Kneipe leise rülpst. Die hat zwar zu, aber er sitzt trotzdem davor und trinkt sein Radler, das er sich selbst mitgebracht hat. Irgendwo klappern Teller, und ein Skateboard schreddert durch die Straße, bevor es wieder still wird. Wenn der leichte Wind sich dreht, höre ich die Liveband aus dem Biergarten des Schinkenpeters. Aber nur ganz leise. Einschläfernd sind diese Geräusche. Und schön. Es ist das leise Murmeln der Stadt, wenn sie vor Hitze ächzt und stöhnt. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Die Stille macht mich schläfrig, und ich möchte mir noch schnell ganz langsam und gemütlich einen Eiskaffee holen.
Ich entschuldige mich gleich am Anfang bei Ihnen. Nicht für diese Erzählung, die könnte Ihnen schon gefallen. Nein, für die grausame Einleitung, mit dem Lamenti, dass früher alles besser war. War es aber wirklich. Jedenfalls die Kampagnen der Münchner Verkehrsbetriebe. Die aus meiner Kindheit kann ich noch heute auswendig zitieren. Zum Beispiel: „Aus dem Walkman tönt es grell, dem Nachbarn juckt’s im Trommelfell.“ Manchmal ertappe ich mich dabei, dass mir dieser Satz auf den Lippen liegt, obwohl seit über zwanzig Jahren kaum noch jemand einen Walkman besitzt. Vor Augen habe ich dann die herrliche Zeichnung von Ernst Hürlimann, die jeder Münchner kennt. Aus der Abendzeitung, wo sein Blasius allgegenwärtig war, aus den Büchern Sigi Sommers oder eben aus den Kampagnen der Münchner Verkehrsbetriebe, die gegen den Krach aus Kopfhörern kämpften oder die damals noch nicht verbannten Raucher auf den Bahnsteigen zur Rücksichtnahme ermahnten. Auch die Kampagnen in den Jahren danach waren ganz in Ordnung. Nicht mehr so charmant wie die Karikaturen, aber doch noch ganz okay. Ich erinnere mich an Plakate, auf denen die Fahrgäste Hand in Hand brav in Zweierreihen warteten, um geordnet einzusteigen. Oder das Bild eines Bahnsteiges, der übersät mit Schuhen war, da man diese vor dem Betreten – ganz wie zu Hause – auszieht. Freilich hatte das auch schon nicht mehr viel mit München zu tun. Aber wenigstens die Texte hatten in ihrem Hochdeutsch einen Hauch von München. Stand da „Sauber!“, dann war nicht nur die Abwesenheit von Schmutz gemeint, sondern auch ein Ausruf, der in Bayern gleichbedeutend mit „Sehr gut!“ ist. Da warf man seinen Müll doch gleich viel lieber in die entsprechenden Tonnen.
In den letzten Jahren haben sich die Kampagnen verändert. Jetzt sind sie austauschbar und bleiben kaum noch im Gedächtnis. Ich vermute, dass der Verantwortliche aus Norddeutschland kommt und ihm zu München nicht viel mehr einfiel als Brezen, Dackel und ein Liter Bier. Anders kann ich mich die Omnipräsenz dieser drei Dinge nicht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mitzi Irsaj
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2019
ISBN: 978-3-7487-0257-3
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