»Was ist mit dem hier?«, fragte mich meine beste Freundin, während sie sich durch die Menschenmenge zwängte. Der große XXL-Beutel in meiner Hand berührte dabei fast alles, was es auf dem Weg zu berühren gab. »Warum zeigt du mir eigentlich nur Kleider, die dir stehen würden?«, fragte ich sie beleidigt.
»Ganz einfach, Poppy. Ich habe bereits Entzug. Dass meine Eltern mir das Taschengeld gestrichen haben, passt mir gar nicht in den Kram.« Ich verdrehte meine Augen. »Aber du hast doch zugesagt meine Shoppingbegleitung zu sein, um mich zu beraten.«
»Schon, weil ich es bereits vermisste. Hätte ich geahnt wie hart es sein würde, wäre ich vermutlich Zuhause geblieben.« Erin machte bei dem verspielten Blümchenkleid kehrt und drehte sich zu mir um. »Schau es dir doch nur an! Das ist vielleicht ein süßes Kleid…«
»Soll ich es dir kaufen?«, fragte ich sie genervt, weil genau das ihre Augen aussagten. Aber natürlich würde sie es niemals zugeben. »Um Gottes Willen, bloß nicht. Nicht nur, dass meine Eltern mich killen würden…« Um ihre Eltern ging es hierbei sicher nicht. »Das kann ich einfach nicht von dir verlangen.« Schon eher. Erin bekam einfach nicht gerne Almosen.
»Vermutlich sollten wir einfach gehen. Auf diesem engen Raum fang ich an zu schwitzen… und das gefällt meinem Make-up so gar nicht.« Eilig zog ich meine beste Freundin Erin zur Tür. Die Aktion war schwerer als gesagt. Kaum jemand ließ uns durch. Wir mussten sie schon mit Gewalt zur Seite drücken.
Als wir uns endlich die langersehnte Freiheit erkämpft hatten, nahmen wir die nächste Straßenbahn und fuhren heim.
◊
»Mum! Bin wieder da.« Mit angewinkelten Armen stand sie in der Türschwelle. Also ein Lächeln sah anders aus… »Ach! Und ich vermute nur noch eine Stunde?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass Heather heute Abend eine Party schmeißt. Dafür bin ich doch auch mit Erin shoppen gegangen.« »Was gefunden?«
»Ja… wenn auch nicht viel, aber ein pinkes Kleid mit einer Schleife vorne vor konnte ich noch ergattern.« Mit dem darauffolgenden Blick meiner Mutter hätte ich nicht gerechnet. »Genau, weil du ja so wenige davon schon besitzt.«
Meine Stirn kräuselte sich. Was hatte sie denn bloß? »Du weißt genau, dass ich trotz alldem jedes Kleid anziehen werde. Außerdem ist jedes Kleid in meinem Kleiderschrank ein kleines bisschen anders.«
»Wie wäre es mal, wenn du ein kleines bisschen weniger shoppen gehst oder Partys besuchst …und mir stattdessen im Haushalt hilfst? Oder noch besser: Mal zur Abwechslung wieder was für die Schule tust.« Oh, der letzte Satz erklärte alles.
»Mr. Coleman hat angerufen, oder?«, fragte ich sie gedehnt. »Wann wolltest du mir eigentlich mitteilen, dass du in Mathe bereits deine zweite sechs geschrieben hast?« Geplant war möglichst weit in der Zukunft. Aber der Plan scheint wohl nicht aufgegangen zu sein. Mr. Coleman hatte ja bereits damit gedroht meine Eltern zu informieren. Dass er es jedoch wirklich machen würde, hätte ich dann doch nicht gedacht.
»Du gehst heute nicht zu dieser Party, Fräulein!«, fuhr sie verärgert fort. Wenn sie nur verärgert gewesen wäre, hätte ich damit sogar leben können. Aber da war auch Traurigkeit und Enttäuschung in ihrem Blick zu deuten.
»Natürlich werde ich das. Jeder auf unserer Schule geht da hin.« »Jeder außer dir. Du wirst heute Abend Mathe lernen.« Ich musste mich wohl verhört haben. Meine Mutter hatte nie zu dieser Sorte gehört, die Hausarrest oder ähnliches als Bestrafung nutzten. Anders als Erins Mutter, der ja deswegen seit neustem das Taschengeld gestrichen wurde.
»Ein Scheiß werde ich! Ich kann Mathe nicht. Du müsstest mich da eigentlich verstehen können.« »Aber eine sechs? Nein, so schlecht war nicht mal ich. Im Gegensatz zu dir habe ich mich wenigstens bemüht.«
»Aber-« »Nichts aber! Du gehst nicht zu dieser Party. Ende der Diskussion.«
Beleidigt gab ich schließlich nach und rannte die Stufen zu meinem Zimmer hoch. Verdammt! Erst war ich noch schadenfroh über Erins Bestrafung gewesen. Aber jetzt… Am Ende würde sie zu der Party gehen und ich nicht.
Nachdem ich mein Handy gezückt hatte und Erin kurz und knapp mitgeteilt hatte, dass das mit der Party heute nichts wird, setzte ich mich an meinem Schreibtisch. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seitdem ich das letzte Mal hier dran gesessen hatte. Klar hatte ich schon Hausaufgaben gemacht… ab und an. Aber nur eben auf die Schnelle, kurz vorm Schlafengehen, im Bett.
Als ich die Schubladen öffnete, wo sich ein leeres Karo Heft befand, das ich vor Urzeiten mal zum Lernen erstellt hatte, flog mir eine dicke Staubschicht entgegen. Halleluja!
Nachdem sich das Karo Heft auf meinem Schreibtisch befand, fiel mein Blick auf ein Diddltagebuch, das sich ebenfalls in der staubigen Schublade befand. Ich hatte mal Tagebuch geschrieben? Wow… das muss Urzeiten her sein! Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Lächelnd öffnete ich es. Der Rechtschreibung nach zu urteilen musste ich gerade Mal in der zweiten Klasse gewesen sein. Grinsend las ich die alten Erinnerungen aus meiner Kindheit … die Zeit, wo das Leben noch einfach war. Wo die Mütter nicht zu ätzenden Alphas wurden.
Hallo Tagebuch!
Echt cool, dass mir Mami zum Geburtstag dich geschenkt hat. In der Schule können wir jetzt auch schon alle Buchstaben und so versuche ich mal mein Glück.
Hätte ich es doch nur gelassen. Echt jetzt? Glück hatte ich mit k geschrieben… ohne c.
Ich blätterte ein paar Seiten weiter. In der Hoffnung, dass es besser wurde. Fehlanzeige.
Hallo Tagebuch!
Irgendwie finde ich es blöd dich Tagebuch zu nennen. Wie findest du den Namen Lissi? Ich finde der passt gut zu dir.
Aber klar doch… Mein Tagebuch sah aus wie eine Lissi. Wenn ich das jemanden aus meiner Clique zeigen würde, die würden mich auslachen.
Also noch mal von vorne… Hallo Lissi!
Heute war ein cooler Tag. Ich war auf der Wiese gegenüber von unserem Haus. Die Wiese darf ich ja schon alleine besuchen, weil es hier keine gefährlichen Autos gibt. Und da habe ich jemanden getroffen! Jemanden den nur ich kenne! Mama und Papa und auch meine Freunde von der Schule haben ihn noch nicht kennengelernt. Hoffentlich bleibt das so. Ich finde es cool einen Freund nur für mich zu haben.
Irgendwie ist er aber komisch drauf. Er trägt eine schwarze Kapuzenjacke, die er nie absetzt. Ich weiß nicht mal, wie er aussieht! Aber das macht nichts. Mama meint nämlich, dass es auf die inneren Werte ankommt.
Genau, die inneren Werte! Die Lügen, die einem als Kleinkind immer erzählt werden. Die traurige Wahrheit ist: Kein Junge verliebt sich in ein Mädchen, weil sie hässlich ist. Andersrum vermutlich genauso…
Aber das war jetzt nebensächlich! Wer hatte das bitteschön geschrieben? Ich kann es nicht gewesen sein. An einen Jungen mit einer schwarzen Kapuze hätte ich mich doch erinnert. Doch die letzten Worte sagten etwas anderes:
Bis zum nächsten Mal, Deine Poppy
Ein nächstes Mal würde es jedoch nicht geben. Die darauffolgenden Seiten waren leer.
»Hallo? Hast du überhaupt gehört was ich gerade gesagt habe?« Schuldig im Sinne der Anklage. Ich hatte keinen einzigen Bruchteil von Erins Worten mitbekommen. Meine Gedanken waren nämlich ganz woanders. Wie konnte ein altes Diddltagebuch einen nur so in den Bann ziehen?
»Sorry. Was hast du gesagt?« Sie verdrehte die Augen und seufzte. »Wovon träumst du bitte? Was ich sagen wollte: Ich träume in letzter Zeit von einem echt süßen Typen, den ich letztens auf der total coolen Party kennengelernt habe, auf der du ja leider nicht dabei sein konntest.«
»Ja klasse, Erin. Reib mir das ruhig noch weiter unter die Nase. Bist echt ne tolle beste Freundin.« Aber ich wusste ja bereits, dass das Erins Art war. Sie prahlte immer mit dem was sie hatte. Komisch, aber dafür liebte ich sie.
»Jetzt sag endlich! Was beschäftigt dich so?« Die Neugierde in ihren Augen war nur schwer zu übersehen. »Ich habe neulich in einem alten Tagebuch von mir geblättert, das ich als Kind geschrieben habe. Da habe ich etwas von einem Typen mit einer Kapuzenjacke geschrieben. Allerdings erinnere ich mich nicht mehr an ihn. Ist das normal?«
»Naja… wenn er für dein Leben unbedeutend war, dann schon. Sonst… solltest du dich vermutlich auf Alzheimer testen lassen.« »Das ist nicht witzig. Ein Junge mit einer schwarzen Kapuze? In der zweiten Klasse? Das ist relativ selten. Klar, in meiner Pubertät gibt es eine Menge solcher komischen Kerle. Aber an den jungen Kapuzenträger hätte ich mich doch erinnert.«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Vermutlich wohnt er längst ganz woanders. Du solltest mal ein Auge auf die ganzen süßen Typen um dich werfen. Außerdem sind sie ohne Kapuze immer eindeutig attraktiver.« Zustimmend nickte ich Erin zu. Allerdings… auch wenn ich es nicht wollte, meine Gedanken gingen immer wieder zu diesem Tagebucheintrag zurück.
»Wollen wir uns am Kiosk eine Schorle holen? Vielleicht braucht dein Gehirn mal eine Abkühlung«, schlug Erin vor. Dankbar nahm ich ihr Angebot an. Ablenkung konnte ich vermutlich am besten gebrauchen. »Wahrscheinlich haben wir uns damals nur ein einziges Mal getroffen. Deshalb habe ich ihn vergessen«, fing ich wieder mit dem Thema an. Verdammt! Hör auf, Poppy!
»Das wird es sein. Und jetzt komm endlich«, sagte Erin und zog mich praktisch von der Bank.
Doch als ich sah, wer heute mit Kioskverkauf dran war – ja, das mussten bei uns leider die Schüler machen – machte ich sofort wieder kehrt. Verärgert zog ich Erin am Ärmel wieder weg. »Ach, deshalb möchtest du also eine Schorle!«
Lucas stand da. »Ich dachte, du hättest auf der Party einen süßen Jungen kennengelernt.« Erin winkte ab. »Ja, aber gegen Lucas ist der doch nichts.« Da waren sie wieder. Erins lästige Schwärmereien für Lucas. Warum mich das so aufregte? Naja. Lucas und ich waren mal die besten Freunde, bevor die Pubertät ihn verdorben hatte.
»Werde erwachsen, Erin. Früher ja, da war er mal süß und niedlich. Jetzt ist er das Arschloch höchstpersönlich.« Wer wem die Freundschaft gekündigt hatte? Oh, das war gar nicht nötig gewesen. Irgendwann hatte er einfach aufgehört meine Anrufe zu ignorieren und bevorzugte stattdessen die Anwesenheit von irgendwelchen Bitches. Seitdem herrschte Funkstille.
»Vielleicht ist er nicht mehr so süß wie früher, Poppy. Aber du musst schon zugeben, dass er viel heißer ist.« Ja, sie hatte Recht. Er ist heiß, weshalb die Mädchen bei ihm auch Schlange standen. Wenn wir früher nicht beste Freunde gewesen wären und ich somit jetzt all seine Peinlichkeiten kannte, hätte er sich wahrscheinlich auch an mich rangeschmissen. Der Grund, deshalb jemand wie Erin oder Rest meiner Clique überhaupt mit mir befreundet war: Ich war nicht unattraktiv.
Zwar hatte ich oftmals das Gefühl, dass es zwischen mir und Erin echte Freundschaft gab. Etwas, das über Cliquenbeliebtheit hinausging, aber wie so oft stellte ich mir die Frage: Wäre sie mit mir befreundet, wenn ich hässlich wäre und eine typische Streberin? Ganz sicher nicht. Woher ich das wusste? Weil es mir nicht anders ging. Wäre Erin hässlich, hätte ich sie wie den Rest der Streber ausgerecht.
Ich weiß, das klingt unfair und kalt. Aber so funktioniert das nun mal, wenn man dazugehören möchte.
»Poppy? Hallo? Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken? Er ist heiß, oder?« Ich verdrehte die Augen. »Ich schätze schon.« »Und ich sehe auch wie er dich ansieht. Ich schätze ihr wäret ein süßes Pärchen.«
»Er sieht mich so an, weil ich ihn kannte bevor er zum Arsch wurde.« Das wusste sie genau. »Eine Vorgeschichte! Ist doch sogar noch süßer.« »Ich dachte du stehst auf ihn«, erinnerte ich sie wieder.
»Schon. Aber ich stehe auf ihn… mit dieser unerreichbare Art und Weise. Wegen eurer Vorgeschichte hättest du eher eine Chance. Dich kennt er wenigstens.« »Ja, ja, ja. Genau. Als ob er dich nicht kennen würde. Hattet ihr nicht sogar kurz mal was am Laufen? Außerdem ist Lucas nicht besonders wählerisch.«
»Ein Kuss auf einer Party, wo wir beide betrunken waren zählt nicht. Und ja, natürlich kennt er meinen Namen. Aber mit kennen meine ich so richtig kennen.« »Ich kenne Lucas nicht richtig. Sonst wären wir jetzt noch miteinander befreundet. Er ist nicht so wie ich geglaubt hatte, dass er ist.«
Erin hatte wohl endlich eingesehen, dass wir uns heute keine Schorle mehr holen würden. Endlich zog sie mich wieder zurück in die Aula.
»Warum hast du nur immer so Pech mit Jungs, Süße? Die Guten willst du nicht. Du willst immer nur die Unerreichbaren.« »Tja, ich schätze das macht uns zu Schwestern. Oder hast du den süßen Typ von der Party angerufen? Nein, hast du nicht. Lucas ist und bleibt deine unerreichbare Nummer eins.«
»Jedes Mädchen braucht einen Schwarm, den sie nie haben wird. Heißt aber nicht, dass ich mich mit dem süßen Partyjungen nicht für Freitag verabredet hatte.« Okay, das kam jetzt überraschend. Sonst hieß es immer: Lucas hier, Lucas da. Man kann sich vermutlich vorstellen wie ätzend das für mich war.
»Wer ist im Moment eigentlich deine unerreichbare Nummer eins? Ich weiß genau da gibt es jemanden in deinen Gedanken.« Ja, Sebastian aus der Oberstufe. Schon seit einem guten Monat. Er war total heiß, fuhr ein total teures Auto…
Nur musste ich gerade feststellen, dass Erins beiden Sätze total unterschiedlich zu beantworten waren. Denn in meinen Gedanken war seit kurzem jemand anderes… dessen Gesicht ich nicht mal kannte.
Auf dem Nachhauseweg sollte ich eigentlich an der zweiten Abzweigung rechts abbiegen. Stattdessen trugen mich meine Füße irgendwie nach links. Schuldig… Meine Gedanken kreisten einfach nur noch um diese besagte Wiese. Jetzt kam es ja noch so, dass ich mir genau vorstellen konnte von welcher Wiese mein jüngeres Ich gesprochen haben musste.
Verständlich also, dass ich jetzt nicht anders konnte als mich dort für den Nachmittag aufzuhalten. Mein letzter Besuch ist nämlich schon eine ganze Weile her. Und wer weiß? Vielleicht treffe ich ihn ja, den Kapuzenjungen.
Quatsch. Hör auf dir falsche Hoffnungen zu machen. Vermutlich wohnt er nach all den Jahren ganz woanders. Hatte ich ihn überhaupt jemals getroffen? Immerhin hatte ich keinen blassen Schimmer wie er aussah. Ich konnte mich nicht dran erinnern. Vielleicht war das nur ein ausgedachter Freund meiner Kindheit gewesen, den niemand außer mir sehen konnte.
Was machte ich mich deswegen überhaupt so verrückt? Naja, egal. Zu spät. Jetzt hatte ich die Wiese schon erreicht. Und wenn man schon mal hier war, könnte man sich hier ja auch eine Weile aufhalten.
Lächelnd ging ich zu der Schaukel rüber, die ich als Kind immer so geliebt habe. Ob es seltsam wäre, wenn ich mich noch einmal draufsetzte? Bestimmt nicht.
Das Gefühl, das ich beim hin- und herschwingen verspürte, fühlte sich befreiend an. Hier konnte man echt alle seine Probleme für einen kleinen Moment vergessen. Barfuß wäre es hier sicherlich auch nicht schlecht. Die nackten Füße im weichen Sand…
Seufzend stand ich auf und kniete mich runter in den Sand. Mit meinem rechten Zeigefinger malte ich Worte in die Erde.
Kapuzenjunge, wo bist du?
Klar. Als würde er mir antworten. Ich drehte langsam wirklich durch. Und warum? Wegen einem dämlichen Diddltagebuch. Schnell klopfte ich mir den Dreck von den Knien und setzte mich wieder in Bewegung.
Mein Blick fiel auf das alte Bauernhaus, das hier am Rande der Wiese stand. Es passte hier einfach her. Die Gegend wirkte dadurch total idyllisch. Sonnenblumen weit das Auge reicht, die Ställe (wo natürlich keine Tiere mehr drin lebten) aus Holz waren zwar schon leicht zerfallen, jedoch auf einer schönen Art und Weise.
Einziger Haken: Die Frau, die darin lebte. Sie war das Musterbeispiel für alle Omis, die Kleinkinder nach dem Klingelstreich mit einem Kochlöffel nachjagten. Nur dass sie gerade mal Mitte vierzig war. Sie lebte trotzdem allein und war deshalb irgendwie für jeden gruselig.
Doch deshalb beobachtete ich das Haus nicht. Ich hatte keinen Respekt vor ihr und Angst schon gar nicht. Ich ignorierte ihren Wahnsinn einfach. Aber dieses Mal konnte ich es nicht. Warum?
An der Hauswand lehnte jemand. Nicht irgendjemand, sondern ein Junge mit einer schwarzen Kapuzenjacke, die sein Gesicht verdeckte. In seiner Hand hielt er… was zur Hölle… einen schwarzen Luftballon? Was war er bitte für ein Freak? Kein Wunder, dass er bei dem Haus von Mrs. Freak lehnte.
Aber das war mir jetzt egal. Meine Neugier war größer. Ich musste ihn einfach sehen. Weshalb ich auch mit schnellen Schritten auf ihn zu lief. Mein Atem beschleunigte sich enorm. Doch jetzt machte sich meine Unsportlichkeit wohl bezahlt, denn bevor ihn überhaupt erreichen konnte, hatte er mich bereits bemerkt und lief davon… über alle Berge.
»Warte doch!«, rief ich ihn nach. Wo war er nur hin? Ich drehte mich einmal um meine komplette Achse. Allerdings war es bereits am Dämmern und seine dunkle Gestallt machten ihn damit nicht unbedingt zum hellsten Stern in unserem Sonnensystem. Verdammt!
Nachdem ich eine Weile die Gegend nach ihm abgesucht hatte, gab ich schließlich auf. Schleppend machte ich mich wieder auf den Weg zurück zur Schaukel. Gerade wollte ich mich hinsetzten, doch ich hielt inne. Mir stockte der Atem. Im Sand. Er hatte geantwortet.
Weg.
Damit war die Sache wohl offiziell. Unsere Bekanntschaft in der Kindheit musste wohl kein so gutes Ende genommen haben. Er hasste mich. Er wollte mich nicht sehen.
In der Hoffnung, dass er noch in der Nähe war, rief ich: »Okay. Du willst mich also nicht sehen. Aber es wäre nett, wenn du mir verraten würdest was ich damals falsch gemacht habe.« Nicht? Wirklich gar keine Reaktion? Vermutlich kein Wunder.
Aber zumindest gab es ihn. Es war keine Fantasie von mir gewesen. Jetzt würde ich nicht aufgeben. Morgen würde ich wieder kommen und ihm auf der Wiese irgendwo unter einem Stein einen längeren Brief als diese vier Worte hinterlassen. Vielleicht konnte ich ihn ja so irgendwie überzeugen sich mit mir zu treffen.
◊
Noch am selben Abend schrieb ich:
Lieber Kapuzenjunge,
ich weiß dass du mich nicht treffen willst. Kann sein, dass ich etwas verbockt habe. Ich verbocke ständig Sachen. Vermutlich hätte mir unsere Freundschaft damals mehr bedeuten sollen… das war mein Fehler. Dass ein albernes Tagebuch mich daran erinnern muss ist dämlich. Aber seitdem denke ich ständig an dich. Ich möchte es wieder gut machen. Mich zumindest kurz entschuldigen. Wenn du mich danach in die Wüste schickst, dann habe ich dafür Verständnis.
Könnte es sein, dass du in der Schule nicht sonderlich beliebt warst? Diese Art von Leuten vergesse ich nämlich leider zu oft. Aber das möchte ich gerne ändern.
Ich schätze wenn du mir keine Chance gibst, dann könnte ich mir das selbst nie verzeihen. Also… bitte! Treff dich mit mir. Am Mittwoch um sechszehn Uhr werde ich auf der Wiese auf dich warten.
»Wirklich? Also ich denke ja, dass unsere Eltern tief in ihrem Inneren genau gleich sind«, brachte Erin unter dem Kauen ihres Brotes hervor.
»Denkst du, weil ich nicht zu der Party durfte? Ach, das war doch nur wegen Mathe. Mein Taschengeld würde sie mir trotzdem nie streichen. In Wahrheit ist sie nämlich froh, dass ich mir all diese schicken Klamotten kaufe. Ich soll doch auf den Rest der Gesellschaft einen perfekten Eindruck machen. Dass ich jetzt in der Schule so abkacke, passt ihr einfach nicht in den Plan einer perfekten und wohlerzogenen Tochter.«
»Wenn du meinst…« »Also ich meine ja immer noch, dass Poppy sich einfach rausschleichen müsste. Bei der Party hat sie echt was verpasst«, hörte ich Jess sagen. Die anschließende Diskussion an unserem Mittagstisch bekam ich nur mit halbem Ohr mit.
Noch vor der Schule hatte ich den Brief unter der Schaukel mit einem Stein drapiert. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran, ob er am Mittwoch nach der Schule wohl auf mich warten würde.
Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und öffnete unter dem Tisch das WhatsApp-Chatfenster von Erin und mir.
13:06_Erin? Ich habe ihn ja gestern getroffen! :o
Oh, Erin! Sie hatte vergessen ihr Handy auf lautlos zu schalten und jetzt ertönte ein lautes Pling aus ihrer Tasche. Die anderen an unserem Tisch fingen an zu lachen. Vermutlich konnten sie sich vorstellen, dass die Nachricht von mir war, da ich meinen Kopf im selben Moment wieder angehoben hatte.
»Wisst ihr, wir würden auch gerne erfahren, was ihr für geheime Sache zu bereden habt«, meinte Lou. »Und das ist der Grund, warum ich dir ständig sage: Schalte dein Handy auf lautlos!«, maulte ich sie an. Erin zuckte mit den Schultern. »Lou und Zoe tuscheln auch ständig. Dann dürfen Poppy und ich das auch.«
Damit hielt sie ebenfalls ihr Handy unter den Tisch, um mir zu antworten. Kurz danach blinkte mein Handy weiß auf.
13:07_ Was? Wer? Hattest du etwa ein Date mit Sebastian? ;)
Ich verdrehte die Augen. Hörte sie mir überhaupt zu, wenn ich ihr etwas erzählte? Oder hielt sie die Sache für zu lang her als dass ich die meinen könnte?
13:08_Unsinn! :/ Ich rede von dem Jungen mit der Kapuze. Ich bin rüber zu der Wiese, wo ich ihn laut meinem Tagebuch immer getroffen habe. Und da war er! Nach all den Jahren! :o Heute Morgen habe ich ihm einen Brief hinterlassen, damit er mich am Mittwochnachmittag trifft.
Nachdem sie meine Nachricht gecheckt hatte starrte sie ungläubig vom Tisch hoch. Schnell antwortete sie:
13:08_Geh da nicht hin! Ein gruseliger Kapuzenjunge? Das gefällt mir ganz und gar nicht :(
13:08_Dann ist es ja gut, dass du nicht meine Mutter bist, Erin.
Sie schaute mich mit wütenden verengten Augen an.
»Oh, oh. Die geheime Nachricht hat Erin wohl gar nicht gefallen«, lachte Jess. »Sieht wohl so aus…«, entgegnete ich. Doch Erin hatte ihren Blick bereits wieder unter den Tisch gerichtet und kurz danach blickte mein Handy auf.
13:09_Dann komm ich eben mit… zur Sicherheit.
Ich fand Erins Besorgnis ja ziemlich süß, nur leider passte mir das überhaupt nicht in den Kram.
13:09_Nein! Wenn ich nicht alleine auftauche, dann zeigt er sich sicher gar nicht erst.
13:10_Okay… Dann werde ich mich halt im Gebüsch verstecken und nur herauskommen, wenn es hart auf hart kommt. :D
13:10_Ich liebe dich auch ♥
Mit gesenktem Blick lächelte Erin ihr Smartphone an.
13:11_War das jetzt ein ja? :)
13:11_Habe ich die Wahl, Erin? :D
13:11_Nein! :D Also dann! Mittwochnachmittag… notiert!
Okay, dann hatten wir das ja geklärt. Oder… Erin hatte das geklärt.
◊
Wie konnte ein Schultag schneller rumgehen als mit einer schönen Mathematikstunde? Richtig. Mit fast allem. Unser geliebter Mathelehrer sah das allerdings anders. Hatte ich Mathe gelernt als meine Mutter es von mir verlangte? Natürlich. Für zehn Sekunden. Dann hatte ich ja das Diddltagebuch entdeckt.
Zum Glück war ich hier nicht die einzige, die durch das ganze Thema nicht durchblickte. Mr. Stewart war nämlich dafür bekannt, dass er sich immer spezielle Opfer für eine Stunde aussuchte. Die, die er dran nahm, obwohl sie es nicht wussten. Er quälte sie dann so lange bis sie ihm irgendeine richtige Antwort lieferten. Klingt simpel, wenn man dann mal eine richtige Antwort wusste…
Vorgestern, die Stunde direkt nach der Rückgabe der Mathearbeit, war ich das Opfer. Ich vermutete mal, dass meine schlechte Note dazu bei getragen hatte. Heute hatte ich Glück. Jeder hier im Raum hatte bemerkt, dass der gute Lucas dran war. Meine Schadenfreude ließ sich nur schwer unterdrücken. Lucas konnte Mathe nicht. Das heißt… vielleicht ja schon. Nur lernte und interessierte er sich generell nicht für die Schule.
»Lucas, was würden Sie mal von Nachhilfe halten? Ich denke nämlich nur, dass sie Zuhause selber nie zum Lernen kommen. Hätte jemand Interesse?«, fragte Mr. Stewart in die Runde. Natürlich nur an die Streber unter uns gerichtet. Aber selbst wenn ich den Durchblick hätte, was ich eindeutig nicht behaupten konnte, würde ich ihm nicht mal im Traum Nachhilfe geben.
Zu meiner Überraschung schoss plötzlich Erins Finger nach oben. Nicht, weil ich es mir nicht vorstellen könnte. Oh nein, Erin würde Lucas liebend gern Nachhilfe geben, wenn das bedeutete in seiner Nähe zu sein. Aber…
»Verstehen Sie mich nicht falsch Erin, aber ich glaube nicht, dass sie dafür geeignet sind. Sie blicken doch selber kaum durch.« Ganz genau. Zum ersten Mal waren Mr. Stewart und ich mal einer Meinung.
Jetzt schien sie selber zu begreifen, dass das ein Fehler war. Ihr Gesicht färbte sich so rot wie eine Tomate, während sie vor sich hin stammelte: »Äh, nein. Ich wollte… nicht… also. Ich habe mich nicht deshalb gemeldet. Ich wollte sagen… Wie wäre es denn mit einer Lerngruppe? Ich meine Lucas ist hier ja nicht der einzige, der Nachhilfe gebrauchen könnte.«
»Da haben Sie nicht ganz Unrecht. Und wie ich das jetzt verstehe möchten Sie gerne dabei mitmachen?« Daraufhin nickte sie schüchtern. »Na fein. Dann wird das jetzt für alle Schüler Pflichtprogram, die schlechter als vier stehen.« Puh! Ich hatte eine vier minus! Erin zwar auch, aber die wollte wegen Lucas ja anscheinend freiwillig mitmachen.
»Allerdings habe ich dafür keine Zeit. Würde sich dafür vielleicht ein guter Schüler bereit erklären? Selbstverständlich wird das später im Zeugnis besonders anerkannt.«
Sofort flog die Hand von David in die Luft. Er war der Streber überhaupt, wenn auch ein ziemlich hübscher Streber musste ich zugeben. Allerdings mochte ihn keiner, weil er total der Lehrerliebling war.
»Wunderbar. David, teilen Sie den speziellen Schülern dann bitte mit, wann es ihnen in der Woche passt. Die Schüler mit einer fünf oder schlechter haben zu erscheinen. Sonst wird das als Fehltag angerechnet. Ich habe die Schnauze von dieser faulen Klasse gestrichen voll!«
Erin neben mir atmete hörbar schwer aus. »Verdammt. Nicht der…«, murmelte sie so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
»Wieso? Was ist mit dem?«, raunte ich Erin zu. Klar, er nervte ab und an… wie Streber es nun mal so taten. Aber wen hätte sie denn als Lehrer erwartet? Für so einen Job meldeten sich halt Streber. »Äh«, murmelte sie nur. Als sie dann plötzlich auf ihre typische Erin-Art anfing rot anzulaufen, wusste ich Bescheid.
»Nicht dein Ernst, oder?« Meine Verwunderung konnte ich nur noch schwer zurück halten. »David ist der Typ von der Party? Unser Streber-David?« Ich versuchte wirklich leise zu sein, doch leider geling mir das nicht ganz so gut. Dazu war ich zu überrascht.
»Psst!«, zischte sie und wurde noch roter. »Ich schwöre dir, dass er auf dieser Party wie eine andere Person war. Und dass er gut aussieht ist ja bekanntlich kein Geheimnis.«
Trotzdem. Ich hätte Erin jeden Typen hier auf der Schule zugetraut. Nur David… den hätte ich als letztes vermutet.
◊
Mittwoch. Nachmittag. Vier Uhr. Mein Blick schleifte immer nervös zu dem Busch, hinter dem Erin sich versteckt hatte. Nein, man konnte sie definitiv nicht mehr sehen. Jetzt musste ich wohl einfach nur warten und hoffen, dass er auftauchen würde.
Der Brief lag immer noch auf der gleichen Stelle unter dem Stein. Entweder hatte er ihn nicht gelesen oder er hatte ihn danach einfach wieder zurückgelegt. Ich hoffe auf letzteres. Nervös tippelte ich von einem Fuß auf den anderen. Es sind schon fünf Minuten vergangen. Ob er noch auftauchen würde? Unwahrscheinlich.
Zehn Minuten. Erin rief mir aus dem Gebüsch zu: »Er wird nicht mehr kommen, Poppy.« Zehn Minuten waren natürlich noch nicht so lang, aber irgendwas in mir sagte, dass Erin Recht hatte. Aber ich wollte noch nicht aufgeben. Nicht jetzt schon. »Noch fünf Minuten, Erin. Wenn er dann nicht auftaucht gehen wir.« »In einem Busch zu sitzen ist nicht gerade angenehm, weißt du?«
Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß und jetzt leise!« Immerhin war sie diejenige, die unbedingt mitwollte.
Drei weitere Minuten vergingen und so langsam sollte mein Kopf diesen Kapuzenjungen wohl einfach vergessen. Immerhin ist mir das schon mal gelungen. Doch ich würde ihn nicht an diesem Tag vergessen, so viel stand fest. Denn im nächsten Augenblick erblickte ich wie eine dunkle Gestalt hinter dem Haus hervor trat.
Mir stockte der Atem. Auch wenn er sich kaum verändert hatte. Die Kapuze verdeckte immer noch sein Gesicht und in seiner rechten Hand hielt er einen schwarzen Luftballon. Erst dachte ich, dass er nur zufällig hier war. Dass er sich gar nicht mit mir treffen wollte. Doch dann kam er tatsächlich direkt auf mich zu. Atmen nicht vergessen, Poppy. Atmen!
Er hielt einen guten Meter vor mir an, seinen Blick abgewandt. Warum sagte er nichts? »Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich somit. »Erst wollte ich nicht. Es bringt immerhin nichts.« Wow. Seine Stimme schien vertraut, doch gleichzeitig auch so fremd.
»Aber du hast deine Meinung geändert«, stellte ich fest. »Ja, aber nicht dir zu Liebe, sondern meinetwegen.« Okay… er war ja schon irgendwie seltsam. Nicht nur wegen seinem Aussehen. »Weil ich so bin wie ich bin.«
»Na schön. Und wie bist du?«, fragte ich nach. »Ist das nicht offensichtlich?« »Für mich nicht. Nein. Wie soll ich wissen wie du bist, wenn du mich nicht mal richtig angucken kannst.«
Jetzt wand er sich komplett von mir ab. »Ich fände es besser, wenn deine Freundin da uns nicht belauschen würde.« Er zeigte auf den Busch. Verdammt! Wie hatte er sie bemerkt? Sie hatte sich am Ende doch wirklich Mühe gegeben ruhig zu bleiben.
Enttäuscht erhob Erin sich aus ihrem Versteck. »Ist ja gut. Du hast mich erwischt.« Sie wischte schnell den Dreck von ihrer Kleidung. »Bist du schüchtern? Oder warum möchtest du uns nicht dein Gesicht zeigen?«, fragte Erin auf ihrer total direkten Art.
Unerwarteter Weise fing der Kapuzenjunge plötzlich an zu lachen. »Daran liegt es sicherlich nicht.«
»Gut. Warum guckst du mich dann nicht direkt an?« Ich hätte mich sicherlich nie getraut ihn so direkt zu konfrontieren. Da hatte Erin doch mehr Mumm. »Du willst mich ansehen? Na schön. Dann tu’s.« Der Kapuzenjunge wand sich zu Erin hin und schaute sie nun direkt an. Kurz weiteten sich Erins Augen… vor Entsetzten? Keine Ahnung. Jedenfalls hielt dieser Ausdruck nur eine kurze Zeit an. Danach schaute sie ihn einfach nur gleichgültig an.
Ihr Blick richtete sich auf mich. »Okay. Dann mach ich mich mal wieder auf den Weg Nachhause. Wir sehen uns morgen, Poppy?« Wie bitte? Ich wollte sie gerade damit konfrontieren, was das bitte sollte. Ich dachte, dass sie mich nicht mit diesem mysteriösen Fremden alleine lassen wollte. Doch Erin hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Keine Chance überhaupt irgendwas zu erwidern.
»So, Poppy. Willst du mein Gesicht jetzt auch noch mal sehen?« Ich war sprachlos. Ich brachte kein Wort heraus.
Nach einer Weile schaffte ich zumindest Bruchstücke eines Satzes: »Wie… kann… Das ist doch… nicht normal… unmöglich.« »Die Art und Weise wie sie reagiert hat als sie mein Gesicht gesehen hat… Sie ist unnatürlich, nicht wahr? Willkommen in meiner Welt.«
Unnatürlich? Was zum Teufel wollte er mir damit sagen? Dass ich den Kapuzenjungen nicht vergessen habe, weil ich mich nur an die beliebtesten Jungs erinnern kann? Wer zum Teufel ist dieser Junge nur?
»Also. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du schaust mich wie deine Freundin an und verschwindest dann wie von selbst. Oder du lässt es und entscheidest dich freiwillig zu gehen.«
»Und was, wenn ich weder das eine noch das andere möchte?«, fragte ich ihn daraufhin. Er lachte bitter. »Was könntest du sonst noch wollen? Du musst dich nicht mehr schuldig dafür fühlen, dass du mich vergessen hast. Belass es einfach dabei.«
»Ich möchte es aber nicht dabei belassen.« »Warum? Was willst du denn noch von mir, Poppy?« Man konnte einen gewissen Schmerz aus seiner Stimme heraushören. Als ob er meine Anwesenheit nicht länger ertragen könnte.
»Wenn du mich unbedingt loswerden willst, warum bist du dann überhaupt aufgetaucht? Warum verschwindest du nicht einfach wieder?« »Weil ich so nun mal bin. Auch wenn ich weiß, dass es ein Fehler ist. Deshalb kann ich nur darauf hoffen, dass du klug bist.« Ja. Es war offiziell. Dieser Typ ist sowas von durchgeknallt. Aber diese Tatsache verschreckte mich nicht.
»Sorry, aber meine Noten deuten auf was anderes hin. Was ich will fragst du? Die Antwort darauf ist einfach. Ich möchte bleiben anstatt zu gehen.« Keiner von uns beiden rührte sich von der Stelle.
»Wäre ich schlauer, sagst du also, hätte ich dich verlassen?« Daraufhin nickte er. »Und weil ich immer noch so einsam wie bei unserer ersten Begegnung bin, könnte sich der Fehler wiederholen. Hoffen wir mal, dass du irgendwann so schlau bist mich wieder zu vergessen.«
»Habe ich dich deshalb beim ersten Mal vergessen? Weil ich schlauer wurde?« »Ja und weil ich damals noch Hoffnungen hatte. Hoffnungen auf eine Welt, die weniger einsam sein würde.«
»Wahrscheinlich kannst du dir vorstellen, dass ich tausende von Fragen habe«, sagte ich indem ich einen Schritt auf ihn zu machte, doch er wich zurück. »Ja, aber glaube mir: Die Antworten darauf willst du gar nicht hören.«
Ich hätte es wissen müssen. Enttäuscht war ich trotzdem. »Du wirst mir keine Antworten geben, habe ich nicht Recht?« »Du kennst mich nicht mehr, Poppy. Ich sollte dir keine Antworten geben. Ich hätte auch keinen Kontakt zu dir aufnehmen sollen. Aber ich möchte ja, dass du mich wieder kennst.«
»Aber ich brauche diese Antworten auch, um beurteilen zu können, ob ich wirklich keinen Kontakt zu dir haben sollte«, schlussfolgerte ich. »Damals hast du dich gegen mich entschieden. Warum sollte es jetzt anders sein?«
Ich schnaubte. »Da war ich doch noch ein dummes kleines Kind. Wichtige Entscheidungen konnte ich da noch nicht treffen.« Eine ganze Weile lang war es still. Ich konnte nur seinen schweren Atem hören, obwohl er natürlich mit dem Rücken zu mir stand.
»Also gut. Dann frag von mir aus.« Vor ein paar Minuten lagen mir noch unendlich viele Fragen auf der Zunge, doch mit diesem Satz hatte er mich irgendwie verwirrt. Jetzt fiel mir keine einzige mehr ein. Ach, quatsch… Poppy, denk einfach scharf nach.
»Warum habe ich dich sonst noch nirgends gesehen? Gehst du denn gar nicht zur Schule oder so?« »Nein. Ich gehöre hier nämlich eigentlich gar nicht her. Wenn ich schon hier bin, dann hier und nirgendwo anders.«
»Warum gerade hier?« Äh ja. Warum fragte ich das jetzt? Er hatte mir gerade erzählt, dass er nicht hier her gehörte. Wollte ich denn gar nicht wissen, was er damit meinte?
Der Kapuzenjunge zeigte auf das Haus neben uns, wo er das erste Mal schon gegen gelehnt hatte. »Weil dort meine Mutter wohnt.« Seine… was? Die gruselige Frau war seine Mutter? Okay, das mochte seine Art erklären. Er war ja auch ziemlich eigen. Wollte ich den Rest wirklich hören? Wenn diese Frau einen Sohn hatte, wollte ich den sicher nicht kennenlernen, oder?
Aber ich war neugierig auf diesen Jungen. Ich brauchte unbedingt erst alle Antworten, um mir ein Gesamtbild bilden zu können. Also löcherte ich ihn weiter: »Aber offensichtlich lebst du nicht bei ihr. Wundert mich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Sie ist eine echt grässliche Frau.«
Daraufhin wand er sich vollständig von mir ab. Seine nächsten Worte klangen total traurig und ich bekam Mitleid mit ihm. »Ich weiß. Dabei ist sie noch das Beste an meinem Leben.« Ich musste mich wohl verhört haben. Wie konnte so jemand das Beste im Leben sein? Was musste er für ein Leben führen?
»Warum schleppst du immer diesen schwarzen Luftballon mit dir herum?« »Er bringt mich Nachhause.« Es ist dann wohl offiziell: Ich bin voll und ganz verwirrt. Gerade wollte ich die nächste Frage stellen, da fiel mir eine viel wichtigere ein, die ich noch gar nicht gestellt habe. »Wie heißt du eigentlich?«
»Ich habe keinen Namen.« »Was? Natürlich. Jeder hat doch einen Namen.« »Ich nicht. Einen Namen zu erhalten bedeutet Zuneigung… wenigstens ein bisschen. Wenn deine eigene Mutter aber Angst vor dir hat, dann ist das etwas schwierig.«
Jetzt stand ich völlig auf dem Schlauch. Ich hatte nicht gedacht, dass Mrs. Freak überhaupt so etwas wie Angst kannte. Wenn selbst dieses Monster Angst vor dem Kapuzenjungen hatte… sollte ich dann nicht lieber über alle Berge verschwinden? Stattdessen fragte ich: »Was ist mit deinem Vater?«
»Er… ich denke er hasst mich. Akzeptiert mich nicht als seinen Sohn… und obwohl ich bei ihm lebe, habe ich mich dort nie wirklich Zuhause gefühlt.« Das hörte sich echt hart an. Aber hinter der Geschichte musste mehr stecken. Sonst hätte die gruselige Frau in diesem Haus keine Angst vor ihm.
»Mir gehen die Fragen aus. Den Rest musst du mir schon erzählen. Wie sieht dein Leben aus? Das hört sich für mich alles zu fremd an.« »Weil es fremd ist. Eigentlich sollte es mich gar nicht geben. Unsere Welt und diese Welt… dazwischen sollte es keine Verbindung geben.« Äh… ja. Andere Welt?
»Ich komm nicht mehr mit.« »Ich lebe nicht auf der Erde, Poppy. Ich lebe in einer Welt wo es keine Menschen gibt, sondern Wesen namens In-toughts.« »In Gedanken? Sind meine Erinnerungen an dich deshalb nicht mehr vorhanden?«
»Jein. In-toughts sind die Herren der Gedanken. Sie können sie lesen, aber auch kontrollieren. Dass jeder Mensch, der mein Gesicht sieht, es anschließend wieder vergisst, hat mein Vater so eingefädelt. Das kann ich ihm auch gar nicht übel nehmen. Ich halte mich zu oft auf der Erde auf. Wenn mein Gesicht ein Mensch sehen würde, wäre er schreiend über alle Berge gelaufen.«
Das waren zu viele Infos für mich. Ich konnte sie gar nicht richtig alle verdauen. »Und du bist auch ein In-toughts? Weißt du was ich denke? Kannst du meine Gedanken kontrollieren?« Der Gedanke daran versetzte mich in Angst und Schrecken.
»Und wieder muss ich mit Jein antworten. Mein Vater ist ein In-toughts, meine Mutter ein Mensch. Ich bin Halb-halb. Etwas, was es eigentlich nicht geben sollte. Um deine Frage zu beantworten: Ja, Gedanken lesen kann ich. Allerdings bin ich nicht dazu in der Lage sie zu kontrollieren.«
Langsam dämmerte bei mir was. Deshalb hatte er Erin im Gebüsch bemerkt, obwohl sie sich so gut versteckt hatte. Weil er ihre Gedanken gehört hatte.
Tja. Und in diesem Moment wusste er auch was ich dachte. Verflucht! Ich musste hier verschwinden. Ich setzte meine Füße rückwärts, wobei ich stolperte – so ungeschickt wie ich war. Schnell erhob ich mich wieder von der Erde. Weg hier, Poppy. Schnell weg.
Ich drehte mich um, dachte er würde mir folgen, mich aufhalten wollen. Immerhin kannte ich sein Geheimnis, das ich allen verraten könnte. Er hatte mein Gedächtnis mit seinem Blick ja noch nicht ausgelöscht. Da meine Überraschung in diesem Moment größer als meine Angst war, blieb ich stehen.
»Geh ruhig«, meinte er. »Wenn du deine Erinnerungen an mich behalten möchtest, behalte sie.« »Hast du denn keine Angst, dass ich dein Geheimnis verraten würde?« »Ich habe Zugang zu deinen Gedanken, Poppy. Ich weiß, dass du das nicht tun wirst. Selbst wenn… keiner würde dir glauben, wenn ich auf der Erde nicht mehr gesichtet werden könnte.«
»Du würdest aufgeben deine Mutter zu sehen?«, fragte ich verwirrt. »Eine Mutter, die Angst vor mir hat.« »Aber warum besuchst du sie denn überhaupt noch, wenn dir das bewusst ist?«
Er lachte kurz auf. »Weil du es mir gesagt hast, Poppy. Weil du mir gesagt hast, dass ich immer daran denken soll, dass ein Teil von mir auch ein Mensch ist.« Und dann, obwohl ich es eigentlich nicht vorhatte, trugen mich meine Füße wieder zu ihm… obwohl ich doch flüchten wollte.
Ich lehnte mich gegen den großen Stein. »Das ist kein Leben. Du weißt ja selbst nicht richtig wo du hin gehörst. Wie konnte das mit deinem Vater und deiner Mutter überhaupt passieren?«
»Kannst du dir das Mittlerweile nicht sogar denken?« Seine Stimme klang rau und auch ein kleines bisschen genervt. Tatsächlich konnte ich es mir wirklich ein Stück weit denken, nachdem was mir der Kapuzenjunge alles über seine Herkunft erzählt hatte. Er stammte von sogenannten In-toughts ab. Doch obwohl ich eine leise Vorahnung hatte, musste ich es hören, um es wirklich zu glauben.
»Erzähl es mir einfach«, forderte ich ihn auf. »Du musst wissen, dass mein Vater es schon immer gerne einfach mochte. Und wenn man die Gedanken von jemandem kontrollieren kann, dann ist das eindeutig einfacher. Da das aber alle In-toughts in unserer Welt können, ist es nicht ganz so einfach. Versucht man deren Gedanken zu manipulieren, können sie sich dagegen währen. Deshalb hat mein Vater lange nach Leuten gesucht, die nicht dagegen ankämpfen können. Wie er den Ballon schließlich gefunden hat ist mir immer noch ein Rätsel.«
Ich verzog mein Gesicht, weil mir klar wurde worauf das hinausführte. »Das ist doch krank.« »Für In-toughts ist sowas ganz normal. Und mein Vater hat sich nun mal irgendwann nach einer Familie gesehnt. Ohne Kontrolle wollte ihn anscheinend niemand so richtig.«
Die unheimliche Frau aus dem Bauernhaus tat mir jetzt einfach nur noch Leid.
»Aber er bemerkte irgendwann, dass er nicht dazu in der Lage war meine Mutter ein ganzes Leben lang zu kontrollieren. Es fing an mit Panikattacken in der Nacht, bis sie irgendwann völlig durchdrehte. Mein Vater sah ein, dass er einen Fehler gemacht hat und ließ sie gehen. Aber natürlich konnte sie mehr wie vor diesem Ereignis werden.«
»Und jetzt hasst er dich, weil du ihn an seinen großen Fehler erinnerst«, schlussfolgerte ich. »Ja und weil ich anders bin. Und anders ist nie gut.« »Nicht zwangsläufig. Ich finde es ganz gut, dass du meine Gedanken nicht manipulieren kannst.« »Aber was ist mit dem Gedankenlesen? Dieser kleine Vorteil in deiner Welt, macht mich in meiner Welt zu einem Schwächling.«
Ich atmete langsam aus. Unsicher, ob ich Mitleid mit ihm haben sollte. »Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde dir ganz gut stehen. Wenn du dich selber als Fehler siehst, dann werden es auch andere tun.« »Aber das bin ich! Du kannst es nicht abstreiten. Ich wurde nur wegen einem Fehler erschaffen.«
»Heißt aber noch lange nicht, dass du auch einer bist. Kennst du die Geschichte von Adam und Eva? Eva ist angeblich auch nur entstanden, weil Adam seine erste Frau nicht mehr wollte. Dann wäre die gesamte Menschheit doch ein Fehler.« Er starrte mich an als würde ich nur Bahnhof reden. Vermutlich hatte er nie was von einer Bibel gehört.
Ich erklärte trotzdem weiter: »Was ich damit sagen will: Du hast nicht mal einen richtigen Namen. Fast so als würdest du nicht existieren.« »Wenn niemand meinen Namen benutzt brauche ich auch keinen. Du kannst mir ja einen geben, wenn es dich glücklich macht.«
»Siehst du! Das ist genau das was ich meine! Ich werde das nicht tun, weil du dir selbst einen geben solltest. Pfeif auf die Einstellung von anderen!« »Das werde ich nicht tun.« »Weil…?«
»… Du die einzige Person bist mit der ich je vernünftige Unterhaltungen führen konnte. Einfach, weil ich mit den In-toughts nicht klar komme. Aber du kannst mir nicht mal in die Augen sehen!« Ich wollte etwas kontern, dass das doch nicht wichtig wäre, dass Aussehen nicht alles ist, aber dann wäre ich einfach nicht die Tochter meiner Mutter. Schon als Kind musste ich einfach perfekt sein. Das Aussehen, so die Worte meiner Mutter, zeigt erst dein wahres Selbst.
»Vermutlich hast du Recht. Das ist vielleicht das Problem. Wie kann man zu sich selbst stehen, wenn die Menschen… die Leute bei denen du sein möchtest, nicht mal sehen können wer du bist?« Er atmete erleichtert aus. Anscheinend glücklich darüber, dass ich endlich die Problematik erkannte.
»Du erkennst mein Problem.« »Ein Problem, das man sicherlich ändern kann.« »Mein Vater hat jeden kontrolliert, der mich ansieht. Kontrolle kann nur der rückgängig machen, der auch dafür zuständig ist.«
»Kannst du deinen Vater nicht dazu überreden, dass er es rückgängig macht?« Okay. Dumme Frage. Sonst hätte er es vermutlich schon längst getan. »Er hasst mich. Er würde das nie rückgängig machen, höchstens-« Abrupt brach er ab.
»Was? Wie könnte er nachgeben?«, fragte ich neugierig. »Nein. Das ist eine blöde Idee.« »Jetzt sag schon.« Genervt verdrehte ich die Augen. Der machte es sich auch nur unnötig schwer. »Naja. Menschen fand er schon immer toll. Vielleicht könntest du ihn überreden. Aber das will ich dir nicht antun. Du musst wissen, dass die Welt aus der ich komme nicht ganz ohne ist.«
Ich und in eine fremde Welt reisen? Das passte einfach nicht zusammen. Ich hatte die Vereinigten Staaten noch nie verlassen. Außerdem könnte ich auf Gedankenkontrolle verzichten. »Ne, danke. Lass mal stecken.«
Er nickte verständnisvoll. »Dachte ich mir schon. Wir stehen an dem gleichen Punkt wie damals.« Ich lachte bitter. »Als Kleinkind hätte ich da doch niemals hingehen können!« »Stimmt. Zum Glück warst du im richtigen Moment schlau genug, um das zu erkennen. Fast wärest du nämlich schon mitgekommen.«
»Also… Ist es jetzt wie damals? Nimmst du mir meine Erinnerungen?« »Gezwungen habe ich dich dazu nie. Du wolltest, dass ich sie dir nehme. Ich kann es wieder tun, wenn es das ist, was du möchtest.«
Ich überlegte eine Weile. Warum sollte ich ihn vergessen wollen? Wissenslücken können doch nur von Nachteil sein. »Ich behalte sie, herzlichen Dank.« »Okay«, murmelte er. Keine Ahnung, ob er sich über meine Entscheidung jetzt freute oder nicht. Seine Stimme war emotionslos. »Dann verschwinde ich jetzt wieder.«
»Für immer?« Ich kam einfach nicht drüber hinweg diese Frage zu stellen. »Natürlich nicht. Ich kann nicht ständig bei meiner sogenannten Familie sein. Nicht, wenn ich so bin wie ich nun mal bin.«
Bevor ich es mir anders überlegte, entfernte ich mich ein paar Schritte von dem Kapuzenjungen. »Tschüss.« Mit diesen Worten verschwand er hinter den alten Zaun, weshalb ich ihn nicht mehr sehen konnte.
Als ich über die Wiese zurück Nachhause sprintete, schwirrten die Gedanken in meinem Kopf wie wild. Ich konnte ihm nicht in seine Welt folgen. Selbst wenn ich das tat und mit seinem Vater reden würde, nachdem was ich über ihn gehört hatte, würde er mich einfach dazu zwingen nicht weiter rum zu betteln. Im bestmöglichsten Fall… wenn ich Pech hatte, würde er mich sogar zu Schlimmeren zwingen.
Auf der anderen Seite sah ich aber den Kapuzenjungen, der sich nach der Menschheit sehnte, sie aber nie bekommen könnte, weil jeglicher Kontakt mit ihnen die Menschen vergessen ließ. Er würde wohl nie glücklich werden. Tatsächlich lag es an mir, dies zu ändern. Verdammt. Denn dieser Versuch war mit jeder Menge Risiken verbunden.
»Warum hast du Augenringe weiter bis zum Nordpol?«, fragte mich Erin. Schön, dass sie mich so offensichtlich darauf hinwies. »Vielleicht weil ich die letzte Nacht überhaupt nicht schlafen konnte?« »Wie kommt’s?«, fragte Zoe. Ja… darf ich vorstellen meine überbesorgte Clique. Auch wenn ich manchmal das Gefühl hatte, dass wir ein Bilderbuchbeispiel von diesen beliebten Cliquen an der High School waren… ich konnte trotzdem auf jeden einzelnen von ihnen zählen.
Jess war, wie es sich für jede gute High School Clique gehörte, quasi unsere Anführerin. Aber sie war irgendwie nicht von der typischen Sorte. Wegen ihren rötlichen Haaren wurde sie während der Grundschulzeit oft gehänselt, so hatte sie uns erzählt. Trotzdem hat sie sich irgendwann zu einer echten Schönheit entwickelt, weshalb sich die Hänseleien einstellten. Und nicht nur das: Wegen ihres Selbstbewusstseins wurde sie ein richtiger Männerschwarm.
Seitdem hatte sie es sich irgendwie zur Aufgabe gemacht hübschen Losern zu ihrem Aufstieg zu verhelfen. Ja, ich war auch mal ein Loser. Warum? Dreimal dürft ihr raten. Wegen meines tollen Ex-besten-Freundes Lucas. Er war schon immer der Beliebtere von uns beiden gewesen, auch wo wir noch befreundet waren. Nach unserem Streit hat er dafür gesorgt, dass mich alle hassten… bis meine Freundschaft zu Jess mich in der Schulrangordnung wieder aufsteigen lies.
»Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Süße?«, fragte mich Zoe, da ich vergessen hatte auf ihre Frage zu antworten. »Ja. Das ist ja auch der Grund warum ich letzte Nacht nicht gut schlafen konnte…« Auch wenn ich es vermutlich nicht sollte, aber vor meinen Mädels hatte ich einfach keine Geheimnisse.
Besonders nicht vor Erin. Als sie neu zu uns auf die Schule kam, hatte sie sich von Anfang an total zurückgezogen. Klar war auch sie mit ihren platinblonden Haaren bildhübsch, aber ihre Verschlossenheit gegenüber allem ließ sogar Jess die Hoffnung verlieren.
Wie genau ich es hinbekommen hatte, dass sie mir vertraute, wusste ich bislang immer noch nicht. Während einer Schulveranstaltung haben wir uns ein wenig unterhalten… und wir wurden uns immer symphytischer. Bis sie mir irgendwann von ihrem Geheimnis erzählte.
Inzwischen war es kein Geheimnis mehr. Erin ging mit dieser Zeit lockerer um, weil sie für sie abgeschlossen war. Aber es hatte einen Grund gegeben, warum Erin mitten im Schuljahr umgezogen ist. Ein paar Jungs an Erins Schule waren wohl ziemlich an ihr interessiert gewesen. Dann… nach einer Party, hat sich einer dieser Jungs an sie vergriffen. Seitdem hat sie Jungs nicht mal mehr mit dem Hintern angeguckt, was ich voll und ganz verstehen konnte.
Die Zeit mit unserer schrägen kleinen Girliclique konnte ihre Wunden aber immer mehr heilen. Als sie mir dann irgendwann erzählte, dass sie Lucas heiß findet, konnte ich ihr das einfach nicht verübeln. Auch wenn sie wusste, was für ein Arsch er zu mir gewesen ist. Immer wieder betonte sie, dass heiß und lieben ja etwas total anderes wären. Aber ich habe ihr nie geglaubt, bis sie mir gestern von David erzählt hatte.
»Dann erzähl uns doch einfach davon«, bohrte Lou nach. Lou und Zoe, die beiden, die unsere Clique vervollständigten. Die beiden waren schon beste Freunde, bevor sie sich uns angeschlossen hatten. Jess hatte sie Mal gefragt, warum sie ihre Kleidung aus dem Altkleidersack hervorholten.
Eine der beiden meinte daraufhin dann irgendwie, dass sie keine billigen Tussis waren und lieber was im Köpfchen hätten. Ja, die beiden waren nämlich die typischen Vorzeigestreber. Das hatte sich heute auch nicht geändert. Jess hatte ihnen nur gezeigt, dass man sowohl ein Streber als auch hübsch aussehen konnte.
»Wenn ich euch davon erzähle, dann werdet ihr mich für verrückt halten.« »Na und? Umso besser«, sagte Jess lachend.
◊
Und ich erzählte ihnen wirklich alles. Ich hätte es selbst kaum für möglich gehalten, aber unsere Freundschaft war wohl doch stärker als es auf den ersten Blick schien.
Danach waren sie erstmal sprachlos. »Krass. Einfach nur krass«, meldete sich Zoe als Erste. Ich konnte ihnen ansehen, dass sie mir zwar glaubten… es aber dennoch nicht recht glauben wollten.
»Und ich habe diesen Typen echt schon mal gesehen? Es nur danach wieder vergessen?«, hakte Erin nach, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Daraufhin nickte ich nur. »Dann muss er wohl wirklich ziemlich hässlich sein, wenn ihn keiner sehen darf«, scherzte Jess.
Obwohl ich den Kapuzenjungen gar nicht kannte, hatte ich das Bedürfnis ihn verteidigen zu müssen. »Stimmt, Jess. In unserer hippen Clique wäre wohl kein Platz für jemanden wie ihn.« Diese Momente, wo ich dann doch an meiner Clique zweifelte… an meiner Beliebtheit allgemein.
»So habe ich das doch nicht gemeint. Ich wollte die Sache doch nur begründen, Poppy. Weil sie mir ansonsten nämlich so unverständlich erscheint.« Klar wollte Jess es jetzt wieder gut machen. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich nie richtig verstehen könnten.
»Und was hast du jetzt vor? Du ziehst doch nicht ernsthaft in Erwägung dem Typen in diese gruselige Welt zu folgen, oder?«, fragte mich Lou. »Über genau diese Frage habe ich die ganze Nacht nachgedacht.« »Das kannst du nicht machen!«, stieß Erin eindringlich hervor. Natürlich konnte ich das nicht. Weil wir nur den hübschen Losern halfen. Diejenigen, die es Wert waren.
»Wisst ihr was? Ich habe euch das nicht erzählt, um eure Meinung zu dieser Sache zu hören. Wenn ich gehen will, dann gehe ich.« »Verstehe uns doch, Poppy. Wir machen uns nur Sorgen um dich. Diese Welt könnte für dich lebensgefährlich sein«, rechtfertigte Erin ihre Panikattacke.
»Denkst du, das ist mir nicht bewusst? Diese Bewohner sind in der Lage mich zu kontrollieren, ohne dass ich mich währen könnte. Da werde ich wohl kaum Freundschaften schließen können. Aber stell dir doch nur mal das Leben dieses Typens vor. Keiner verdient das.« »Kann er nicht einfach in seiner Welt glücklich werden?«, fragte Jess gedehnt. Noch ein Grund mehr, warum ich genau wusste, dass mich keiner von ihnen verstand.
»Nein, Jess! Das kann er eben nicht. Mein bisheriges Leben war bislang viel besser als seins vielleicht je sein wird.« Als die Worte meine Lippen verließen wusste ich, dass ich meinen Grund hatte. Den Grund, den ich schon die ganze Nacht lang gesucht hatte. Der Grund, warum ich gehen sollte.
Im selben Moment wurde mir aber auch klar, dass ich das dieses Mal nicht mit meiner Clique teilen konnte. Ich musste heimlich verschwinden. Was wurde mit Schule? Mit meinen Eltern? Pah, meine Eltern! Sollte ich ruhig mal ein paar Tage vermisst sein. Der Gedanke, dass sie sich doch tatsächlich um mich sorgen konnten, gefiel mir. Und Schule? Wurde überbewertet. Würde ich der Polizei anschließend erstmal erzählen, dass man mich entführt hatte, dann brauchte ich die dummen Arbeiten sicher nicht nachschreiben.
Ich müsste die Polizei anlügen…
Ich hasste es zu lügen. Und dann auch noch so eine große Lüge. Aber aus welchem Grund konnte man sonst einfach so vom Erdboden verschwinden? Vielleicht aus Angst? Genau, das war besser! Dann würden sie mir auch keine Fragen über meinen nicht-vorhandenen-Entführer stellen. Jemand hat mich mit anonymen Nachrichten bedroht, dass ich von hier verschwinden sollte. Wer es ist, weiß ich nach meiner Rückkehr natürlich immer noch nicht…
»Hallo? Erde an Poppy! Denkst du immer noch darüber nach? Du gehst da nicht hin. Ende. Finito.« Irgendwie war es ja ganz rührend, dass Erin sich so um mich sorgte… wie sie alle sich um mich sorgten, auch wenn sie es einfach nie begreifen konnten! Ich war vermutlich einfach auf einer anderen Wellenlänge. Anders als die meisten Freundschaften… Aber dass sie trotz alldem echt ist, weiß ich jetzt.
»Die brauchst du jetzt gar nicht anzusprechen, Jess. Poppy steckt gerade in ihren eigenen Gedanken fest, wie eigentlich ständig in letzter Zeit«, hörte ich Erin sagen. Damit hatte meine beste Freundin wohl Recht. Ständig schwankten meine Gedanken zu der Nachricht, die ich dem Kapuzenjungen bei der Wiese hinterlassen hatte. Ob er sie bereits gelesen hatte? Die Zeilen, die ich verfasste, wusste ich immer noch haargenau:
Ich habe meine Meinung geändert. Ich helfe dir. Ich komme mit, um deinen Vater zu überreden. Treffe mich morgen um siebzehn Uhr genau hier.
Heute war morgen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass in ungefähr fünf Stunden soweit sein würde. Was dann kommen würde… Der Gedanke versetzte mich irgendwie in Angst und Schrecken.
»Immer noch? Hatten wir das Thema Kapuzenjunge nicht schon abgeharkt? Du wirst da nicht hingehen und dich solchen Gefahren aussetzten«, sagte Jess bestimmt. Ach so. Dann ist Jess also neuerdings meine Mutter? Hätte ich eigentlich kein Problem mit. Ich wusste jetzt schon, dass sie den Job besser machen würde.
»Warum musst du da überhaupt überlegen? Ich würde so einen Gefallen glaube ich nicht mal einer guten Freundin machen… also mich für sie in Gefahr setzten. Und der? Du kennst ihn nicht, weißt nicht mal wie er aussieht«, machte Lou mir klar.
»Da gebe ich dir Recht, Schwester«, schmatzte Zoe hervor, da sie immer noch an ihrem Brötchen kaute. Natürlich waren Lou und Zoe keine richtigen Schwestern. Sie nannten sich nur so, weil sie es wahrscheinlich gerne wären. Anschließend wand sich Zoe an mich: »Du solltest lieber versuchen, deine Beziehung zu Lucas wieder gerade zu biegen.«
»Meine Worte!«, warf Erin ein. »Ne, nicht Lucas. Der ist ein Arsch. Such dir lieber jemanden wie David«, schlug Jess vor. Ich musste lachen, als ich mitbekam wie Erin bei der Erwähnung von Davids Namen rot anlief.
»Danke, Jess. Ach, und Zoe: Witzig das gerade von der zu hören, die selber nie eine Beziehung eingeht.« »Hey! Das kommt sicher nur, weil ich diesen Kettenbrief in der Grundschule nicht weitergeschickt habe«, sagte sie lachend. »Das wird es sein, Schwesterherz. Oder einfach die Tatsache, dass Jungs nicht mit Strebern ausgehen wollen.«
»Sei nicht so pessimistisch, Lou! Ihr seid heiße Streber. Das zieht Jungs nur regelrecht an«, sprach Jess den beiden Mut zu. »Bislang liegt mein Magnet wohl falschrum«, murmelte Lou deprimiert. »Du hast ja auch gut reden. Jess, warst du eigentlich jemals Single?«, fragte ich sie. Das war eine ernste Frage. Seit der High School hatte ich sie immer nur in den Armen eines Typens gesehen.
»Natürlich Ladies. Man muss die Ware doch ausprobieren, bevor man sie dann irgendwann kauft.« »Und wie sieht es mit dem jetzigen Model aus?«, fragte Erin grinsend. Josh und Jess waren jetzt schon eine ganze Weile lang zusammen. Ich würde behaupten, die längste Beziehung, die sie je hatte. War es jetzt fast ein Jahr?
»Ohne Zweifel. Er hat auf jeden Fall Qualität. Aber Qualität ist bekanntlich auch teuer.« Hä? Was wollte sie denn jetzt? Teuer? Da ich nicht die einzige war, die sie daraufhin fragend anschaute, erklärte sie: »Ich habe langsam das Gefühl, dass er zu viele Gegenleistungen verlangt. Neulich hat er mich total lieb in ein teures Restaurant eingeladen. Gestern fragte er mich dann, ob ich auf seine kleine Schwester aufpassen könnte. Hätte ich ja auch, wenn ich an diesem Wochenende nicht schon meine Tante in New York besuchen wollte. Daraufhin meinte er dann so, dass er mich doch auch zum Essen eingeladen hätte. Das ist doch Erpressung, oder? Als würde er mitzählen, dass wir auch ja gleiche Anteile zu der Beziehung besteuern.«
Klar, dass hörte sich irgendwie nach einem No-Go für eine Beziehung an. Aber dabei sollte man bedenken, dass Josh ansonsten total der liebe Kerl ist. Jess könnte ihn darauf ansprechen, versuchen die Woge zu glätten. Einmal hatte sie mit jemanden Schluss gemacht, weil er geschnarcht hat. So findet sie doch nie den Mann fürs Leben.
Erin dachte anscheinend genauso und fragte deshalb: »Dann wirst du dich also Heute, Morgen oder spätestens Übermorgen von ihm trennen?« Jess schien darüber tatsächlich eine Weile nachzudenken. Hut ab. »Wisst ihr was? Vielleicht habt ihr Recht und ich sollte Josh vielleicht doch noch eine Chance geben.« »Echt? Warum das?«, fragte ich ironischer Weise schockiert. »Es macht gerade zu viel Spaß, um jetzt schon aufzuhören.«
Man könnte schon sagen, dass Jess die Jungs ein Stück weit ausnutzte. Wir konnten uns alle denken warum. Sie wollte vermutlich nur Gerechtigkeit. Damals wurde sie von den Jungs verarscht, jetzt war sie an der Reihe.
◊
Sechzehn Uhr siebenfünfzig. Ich erreichte die Wiese und setzte mich anschließend auf die Schaukel, nur um irgendwas zu machen. Wenn ich nervös war, dann musste ich das einfach. Sonst drehte ich noch durch. Normalerweise ließ ich meine Füße sonst nur ein wenig über den Boden schlittern, ohne richtig Anschwung zu geben. Heute war mir aber irgendwie danach.
»Das hast du früher auch immer gemacht.« Ich schreckte kurz zusammen als ich seine fremde Stimme hörte. Schnell bremste ich ab. »Ja, aber sowas mache ich eigentlich nicht mehr.« »So wie du eigentlich nicht mitkommen wolltest?« »Sieht wohl so aus.«
Ein eigenartiges Lachen ertönte. »Okay. Also…« Er spielte mit der Schnur seines Luftballons. Als er nichts weiter sagte, fragte ich: »Was jetzt? Wie läuft das ab?«
Er räusperte sich. »Du musst mit mir zusammen die Schnur umfassen. Zur Sicherheit solltest du dabei deine Augen schließen.«
Wie mir befohlen wurde, ging ich mit gesenktem Blick immer näher auf ihn zu. »Achtung! Pass auf.« Ups. Das war wohl etwas zu weit. Wie es für meine Tollpatschigkeit typisch war, rannte ich direkt in ihn hinein. »Tut mir leid.«
Vorsichtig tastete ich nach der Schnur. »Was jetzt?« »Jetzt kannst du wohl nach oben gucken.« Daraufhin hielt ich meinen Kopf in den Nacken, um anschließend die Augen zu öffnen. Was ich dort sah, war einfach nur unglaublich. Statt dem einen schwarzen Ballon befand sich dort nun ein ganzer Haufen der Sorte.
»Warum sind die Ballons alle schwarz?«, fragte ich ihn verwundert. »Weil ich so nun mal bin.« »Ich glaube ein oder zwei pinke Ballons dazwischen würden sicherlich nicht schaden.« Als diese Worte meine Lippen verlassen hatten, hoben wir ab.
»Das ist witzig«, sagte er, dieses Mal aber ohne dieses komische Lachen. Obwohl es gut zu seinem Satz gepasst hätte. »Was soll daran bitte witzig sein?« »Würde ich aus deinen Gedanken nicht das Gegenteil heraushören, dann könnte ich schwören, dass du dich erinnerst.«
Die Unmengen von schwarzen Luftballons trugen uns immer höher in den Himmel. Jetzt durfte keiner platzen. Meine Nervosität hatte er bemerkt und daraufhin zu meiner Beruhigung einen Arm um mich gelegt. Aber dass das keine normalen Luftballons waren, war sowieso schon klar. Sonst hätten meine Hände die Schur längt nicht mehr halten können.
-Zoes Sicht-
»Du solltest lieber versuchen, deine Beziehung zu Lucas wieder gerade zu biegen.« Ein Satz, der mich ausmachte. Zoe, die schlaue Schönheit, die keine Beziehung einging, weil Jungs für sie nur Wegwerfware waren. Eine Nacht, dann nie wieder. Das war die oberste Regel. Einen Schein, den ich immer bewahren musste. Keiner aus meiner Clique kannte die Wahrheit, nicht mal Lou. Eine Tatsache, auf die ich unheimlich stolz war. In all den Jahren bin ich immer standhaft geblieben… auch wenn die Mädels jetzt meine Familie waren.
»Meine Worte!«, warf Erin ein. Erin… ein Mädchen, was ich echt nicht verstehen konnte. Dabei schien ich für sie sowas wie ein Vorbild zu sein. Aber warum? Also natürlich hatte sie nicht wirklich mich als Vorbild… aber das Mädchen, was ich sein wollte. Stark und jedem Jungen überlegen. Okay… vielleicht verstand ich doch, warum sie so wie ich sein wollte. Aber ihre Schwärmerei für Lucas war da nicht der richtige Weg. Wenn, dann musste Lucas sie wollen.
»Ne, nicht Lucas. Der ist ein Arsch. Such dir lieber jemanden wie David«, warf Jess ein. Ja, ich wusste doch, warum ich ihrer Clique beigetreten war. Jess war einfach unglaublich. Ich wusste genau, dass Erin so wie ich sein wollte. Sie wollte die Jungs verführen und anschließend links liegen lassen. Aber so war sie eben nicht. Sie ist genau wie ihre beste Freundin. Insgeheim sehnt sie sich nach der perfekten Beziehung, auch wenn sie das nie zugeben würde.
»Danke, Jess. Ach, und Zoe: Witzig das gerade von der zu hören, die selber nie eine Beziehung eingeht«, sagte Poppy. Witzig… war jetzt nicht gerade das Wort, was ich wählen würde, aber ich lachte trotzdem, um den Schein zu wahren: »Hey! Das kommt sicher nur, weil ich diesen Kettenbrief in der Grundschule nie weitergeschickt habe.«
Ein Kettenbrief namens Lou. Sie war damals meine Rettung und deshalb ist und bleibt sie auch immer meine beste Freundin. »Das wird es sein, Schwesterherz. Oder einfach die Tatsache, dass Jungs nicht mit Strebern ausgehen wollen.« Lous Worte erinnerten mich an meinen ersten Tag an der High School, dem Tag wo ich Lou das erste Mal begegnet bin.
Ich hatte sie gefragt, warum sie so ziemlich das einzige Mädchen war, das nicht von den Blicken der Jungs erdrückt wurde. »Die Tatsache, dass Jungs nicht mit Strebern ausgehen, wird es sein«, hatte sie damals geantwortet. Und dann war es für mich klar: »Das ist ja echt blöd. Ich bin nämlich auch ein totaler Streber.«
Lou hatte sich damals ziemlich gefreut einen auf ihrer Wellenlänge gefunden zu haben, tat sie noch. Das war auch der Grund, warum ich ihr niemals die Wahrheit erzählen durfte. Es würde unsere Freundschaft ruinieren, die mir mehr als alles andere bedeutete.
»Naja…«, hatte sie daraufhin gemurmelt. Die Nerdbrille weiterhin auf ihre Unterlagen gerichtet. »Ich schätze, wenn man erfolgreich sein möchte, dann muss man Opfer bringen.« Mit dem Unterschied, dass ich nicht erfolgreich sein wollte, noch sah ich es als Opfer an.
Während ich so in meinen Gedanken vertieft war, bekam ich nur noch die Hälfte des Gesprächs mit. Irgendwie ging es um Jess und ihre Beziehung zu Josh. Interessierte mich sowieso nicht sonderlich.
Ja, Lou mochte mich, weil wir gleich waren. Doch die Wahrheit ist, dass wir so unterschiedlich wie Tag und Nacht sind… und wenn sie das wüsste, könnte sie es nicht verkraften. Ich mochte sie gerade, weil sie so anders als ich war. Nicht, dass man mich falsch versteht. Jess war mir im Prinzip auch sehr ähnlich. Deshalb mochte ich sie trotzdem. Deshalb hatten wir uns überhaupt ihrer Clique angeschlossen… uns zu Männermagneten verändert.
Nur ihr zur Liebe tat ich das… aber egal. Ich werde trotzdem für jeden von ihnen unerreichbar bleiben. Doch so sehr ich Jess auch mochte, sie würde Lou nie das Wasser reichen können.
»Zoe, können wir?«, erst als Lou mich direkt ansprach, hörte ich wieder mit ganzem Ohr hin. Ich nickte nur. »Gut. Wir könnten nämlich noch mal das letzte Thema in Englisch durchgehen.« Innerlich stöhnte ich, während ich nach außen hin mein Lächeln aufsetzte. Warum Englisch durchgehen, wenn wir keinen Test mehr schreiben? Langsam nervte das ständige Lernen, wenn man Dinge hatte, die man eigentlich lieber tun würde. Aber Lernen ist irgendwie ein kleines Opfer, wenn es mir am Ende sogar eine vielversprechende Zukunft einbringt. »Ich könnte mir keinen besseren Tag vorstellen, als mich mit meiner besten Freundin aufs Sofa zu mümmeln, in der einen Hand Chips, in der anderen Englisch. Grammatik kann man nicht oft genug auffrischen.«
»Meine Worte«, grinste Lou, die mir natürlich jedes Wort abgenommen hatte. Inzwischen bin ich darin schon ein Profi. »Wollen wir zu dir?«, fragte sie mich. »Können wir. Dann hätten wir sogar sturmfrei. Meine Mutter ist nämlich geschäftlich unterwegs.«
◊
-Erins Sicht-
Warum musste ich auch so doof sein und mich für diese bescheuerte Nachhilfe anmelden? Allein der Gedanke mit Lucas und David zusammen in einen Raum zu sitzen… Das ging einfach nicht. Es ging sogar noch weniger als man vermutlich ahnen würde.
Ja, allen hatte ich erzählt, dass ich Lucas auf einer Party Mal im betrunkenen Zustand geküsst hatte. Mehr nicht. Leider entsprach das nicht ganz der Wahrheit. Es war kein Es-ist-nun-mal-geschehen-und-wir-vergessen-es-einfach-wieder-Kuss. Eher ein Wir-haben-uns-geküsst-und-jetzt-liegt-dieses-ungeklärte-Schweigen-zwischen-uns-Kuss. In Wahrheit waren wir beide längst nicht so betrunken gewesen wie alle vermutet hatten.
Aber was änderte das bitteschön? Ich meine wir sprechen hier von Lucas… Poppys Lucas. Auch wenn sie mir immer wieder weißmachte, dass die beiden nichts mehr verband. Er würde trotzdem immer der sein, der nur die hübschen und beliebten Mädchen wollte. Mädchen wie mich.
Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass Lucas nur ansatzweise wie Jackson ist. Allerdings würde ein Teil von mir immer vor dieser Art von Typen zurück schrecken. Er sollte für mich einfach weiter dieser unerreichbare-Teenie-Schwarm bleiben, den ich nie haben konnte. Auch wenn das inzwischen vielleicht nicht mehr so war. Denn als ich das Klassenzimmer betrat, starrte er mich wieder mit diesem Blick an. Übrigens derselbe Blick mit dem mich David neuerdings auch anschaute. Hilfe! Sollte ich langsam doch mein altes Leben vermissen? Nein, natürlich nicht. Aber trotzdem.
Nachdem David seinen Blick von mir abgewandt hatte, räusperte er sich einmal kurz vor der Klasse. »Gut, während ich die Anwesenheitsliste durchgehe könnt ihr euch schon mal einen Arbeitspartner suchen.« Partnerarbeit? Och nö. Wenn Poppy nicht anwesend war machte das doch überhaupt keinen Spaß.
Auch sonst war niemand aus meiner Clique anwesend mit dem ich hätte arbeiten könnte. Zum Glück war es bei Lucas anders. Fast das gesamte Klassenzimmer setzte sich aus seinen Freunden zusammen.
Plötzlich spürte ich wie mir jemand auf die Schulter tippte. »Schon einen Partner?«, fragte mich eine vertraute Stimme, woraufhin ich ein kleines bisschen zusammen zuckte. Mist aber auch. Den hatte ich natürlich nicht. Da zählte man schon zu den beliebtesten Mädchen an der Schule… und was brachte es einem am Ende? Okay. Eigentlich verständlich, dass es einem den beliebtesten Junge der Schule brachte. Aber irgendwie schrie alles in mir, dass das nicht ging. Lucas und Erin… das ging einfach nicht… würde niemals gehen. Schade, dass man nicht mit dem süßen Nachhilfelehrer vor der Tafel arbeiten konnte.
Plötzlich trafen meine Füße auf sandigen Boden. Nicht diesen angenehmen Strandboden, den ich von unzähligen Urlauben an der East Coast kannte. Der Sand scheuerte rau an meinen Füßen. Von feinem Sand konnte hier keine Rede sein.
Die Unmengen an schwarzen Luftballons waren geplatzt, bis auf einen einzigen, der mir jetzt eine bessere Sicht auf meine Umgebung verschaffte. Vor uns befand sich ein Gewässer, an dem große Wälder grenzten. Es war bereits dunkel, aber das machte nichts, da es überall Öllampen gab, die uns den Weg leuchten würden.
Der Wind um uns war zu aufbrausend. Er brachte einen fremden Geruch mit sich, der mich ein wenig an denen von neuem Schreibpapier erinnerte. Aber das passte einfach nicht an diesen Ort, der Grund warum sich meine Nase irren musste.
»Doch gar nicht so schlimm hier, oder?«, fragte mich der Kapuzenjunge, nachdem ich mich eine Weile lang umgesehen hatte. Er hatte Recht. Schlimm wäre nicht das Wort wie ich sein Zuhause beschreiben würde. »So hast du es aber beschrieben«, erinnerte ich ihn.
»Nein. Ich liebe die Landschaften hier, mehr noch als die auf der Erde. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die In-toughts, vorne ran mein eigener Vater, es aber sein könnten. Ich habe dich nicht angelogen als ich meinte, dass ich keine so tolle Kindheit hatte.« Dabei bewegte er sich immer weiter auf das Wasser zu. Nicht nur das es vollkommen klar zu sein schien, von der Oberfläche ging auch ein gewisser Glanz aus.
»Wo willst du hin? Ich kann nicht schwimmen. Können wir nicht den Weg durch die Wälder nehmen, um zu deinen Vater zu gelangen?«, fragte ich den Kapuzenjungen, der jetzt immer deutlicher zeigte, dass er wirklich plante durchs Wasser zu schwimmen.
»Wir schwimmen doch gar nicht. In dieser Welt kann man sich aussuchen, ob man das Wasser zum Schwimmen oder zum Gehen nutzen möchte.«
Ich musste über seine Worte zwei Mal nachdenken bis ich sie verstanden hatte. Und selbst dann konnte ich mir immer noch nicht vorstellen, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag. »Übers Wasser gehen? Etwa wie Jesus?«
»Ich habe zwar keinen Schimmer wer dieser Jesus ist, aber deinen Gedanken nach zu urteilen liegst du mit deiner Vorstellung von der Sache ziemlich richtig.« Mir wurde klar, dass sich dieser Typ wohl niemals auf der Erde zuhause fühlen würde. Nicht nur, dass er bislang nicht in der Lage war die Menschen anzugucken. Himmel, er kannte ja nicht mal Jesus!
»Wenn es dir hier an sich eigentlich gefällt, warum bist du nicht einfach nur von deinem Vater abgehauen und hättest dir dein eigenes Leben aufgebaut?« Kaum hatte ich ihm diese Frage gestellt, wusste ich die Antwort. Denn ich musste mir dieselbe Frage auch schon unzählige Male stellen. Dass meine Mutter nicht an mich glaubte, war offensichtlich. Aber trotzdem würde sie immer meine Mutter bleiben. Ein Teil von mir fragt sich dann andauernd, ob sie nur so denkt, weil sie mich liebt. Weil sie nicht möchte, dass ich später auf der Straße lande.
»Wäre mein Vater nicht, dann würde es mich vermutlich schon längst nicht mehr geben. Er beschützt mich vor den Angriffen der anderen In-thoughts, die mich ständig kontrollieren wollen und auch könnten, wenn er nicht wäre.«
»Das tut er, weil er dich trotz alldem liebt. Deshalb können dich die Menschen auch nicht ansehen, weil dein Vater Angst hat was die Menschen dann mit dir machen würden.«
Könnte ich jetzt sein Gesicht sehen, dann wäre es vermutlich mit Zorn erfüllt. Zumindest verriet mir das seine Stimme. »Wage es nicht über ihn zu urteilen, wenn du ihn nicht kennst. Er liebt mich nicht. Er beschützt mich, weil er sich schuldig fühlt und nicht noch mehr Schuld ertragen kann. Das einzige was er in mir sieht… den größten Fehler seines Lebens.«
Mein Blick wanderte hoch in den Himmel. Irgendwo da oben mussten wohl meine Freunde und meine Heimat sein. Warum hatte ich sie für eine wildfremde Person verlassen? Vermutlich… auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hatte, weil wir uns in ziemlich ähneln. Klar, ich bin beliebt. Aber trotzdem konnte ich mich nie irgendwo zu ordnen. Ständig zweifelte ich an Freundschaften, auf die ich eigentlich nicht verzichten wollte. Und wer hatte Schuld daran? Meine Mutter.
Sie glaubte nicht daran, dass ich eine anständige Zukunft, eine Karriere, auf die Reihe bekam… jedenfalls nicht ohne den richtigen Kerl, den richtigen reichen Kerl.
Der Mond am Himmel konnte meistens auch nicht sein wahres Selbst zeigen. Ständig musste er sich im Schatten der Finsternis verstecken. Aber wenigstens hatte er den einen Tag im Monat, so wie ich diesen Kapuzenjungen hatte. Deshalb war ich mit ihm gegangen. Weil er die Sache in meinem Leben war, die nicht beliebt war, die nicht mit gutem Aussehen punkten konnte und wie er auf mich wirkte, auch nicht mit Geld.
Aber anders als bei dem Mond und mir hatte der Kapuzenjunge niemals diese Ausnahme. Sein Gesicht war Rund um die Uhr verborgen und das würde sich auch nicht ändern. Außer ich würde ihm helfen. Deshalb bereute ich es auch nicht. Nein, ich hatte die richtige Entscheidung getroffen. Das war kein Fehler.
»Was ist denn jetzt? Kommst du endlich?« Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass er bereits mit beiden Füßen auf dem Wasser stand. Er hatte anscheinend keine Probleme sich auf der Oberfläche zu halten.
Ich atmete einmal kurz durch und trat dann zu ihm. Natürlich ahnte ich, dass auch mir nichts passieren konnte. Meine Knie schlotterten aber trotzdem. Wasser blieb nun mal Wasser. Es gab einen Grund, warum ich das Schwimmen nie gelernt hatte. Ich hatte im Umgang damit keine guten Erfahrungen sammeln können.
»Was ist?«, fragte mich der Kapuzenjunge irritiert.
»Wasser war mir noch nie geheuer. Da kann man so leicht untergehen.« Die Erinnerungen an meine Kindheit bezüglich des Ausflugs an den See verdrängte ich schnell wieder.
»In diesem Wasser aber nicht.«
»Woher willst du das wissen? Nur weil du nicht untergehst? Vielleicht liegt es gar nicht an dem Ort, sondern daran, dass ich ein Mensch bin und du eben nicht.«
»Ich war in Gewässern auf der Erde, die mich nicht tragen konnten.«
»Vielleicht können Menschen hier aber trotzdem nicht übers Wasser laufen.«
Er stöhnte leise auf. »Okay. Wenn du untergehst, dann rette ich dich, verstanden?«
»Verstanden.« Und obwohl mir mein Verstand riet dieser fremden Person nicht so einfach zu trauen, beruhigten mich seine Worte und ich setzte einen Schritt nach vorne. So wie der Kapuzenjunge zog auch ich vorher noch meine Schuhe samt Socken aus. Dann traf mein nackter Fuß auf das kalte Wasser.
»Na siehst du. Ich wusste doch, dass das Wasser dich tragen wird. Würde es nämlich nur bei In-thoughts funktionieren, dann würde ich auch untergehen«, erklärte er mir. Irgendwie fühlte sich das Nasse an meinen Füßen angenehm an. Es war fast so als könnte ich so den Kampf gewinnen, den ich sonst immer verloren hatte.
»Können wir rennen?«, fragte ich, woraufhin er zu lachen anfing.
»Wieso das denn?«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich je wieder in die Nähe eines Sees kommen würde, geschweige denn ihn sogar zu berühren. Wenn man will, dann kann man alles schaffen!«
Ich konnte mir gut vorstellen, dass er mir nicht ganz folgen konnte, aber das war mir egal. Ich wollte rennen, damit ich das Gefühl von Freiheit um mich fühlen konnte.
»Ich verstehe schon.«
»Das denke ich nicht.«
»Doch. Schon vergessen? Ich kann deine Gedanken lesen.«
Vergessen nicht. Aber daran gewöhnen würde ich mich wohl nie. Ich schämte mich dafür, dass er wirklich Zugang auf all die Dinge hatte, die mir durch den Kopf gingen. Auch wenn er jetzt versuchte mich zu beruhigen: »Keine Sorge. Ich kann dich total verstehen. Manchmal renne ich einfach so hier rum, wenn mir mein Leben mal wieder über den Kopf steigt. Also… was sagst du? Wollen wir gemeinsam rennen?«
Ich antwortete nicht. Ich rannte einfach los.
»Wer als erstes bei deinem Vater ist«, rief ich ihm noch zu. Ich hatte einen klaren Vorsprung.
»Dir ist schon klar, dass das kein fairer Wettkampf werden kann, oder? Nur ich kenne von uns beiden den Weg.« Aber mir war das gerade völlig egal. Der Wind wehte durch meine Haare und fast fühlte ich mich so als könnte ich fliegen.
-Erins Sicht-
Immer noch keine Antwort. Seufzend blickte ich auf. Hier hatte sich viel verändert. Das Blumenbeet rechts neben mir wurde jetzt von einem selbstgemachten Zaun eingerahmt, über ihnen wachte ein bemalter Vogel aus Metall. Sollte das vielleicht hübsch aussehen? Warum sind wir hier überhaupt immer so gerne hingegangen?
Die große weite Wiese verlief in der Mitte zu einer kleinen Erhöhung zusammen. Früher sind wir dort immer mit unserem Schlitten runter gerodelt. Heute ist der Rand mit Steinen verschönert worden aus denen wilde Sträucher herauswachsen.
Mein Blick fällt auf die Schaukel neben mir. Sie ist leer. Das einzige was ich darauf erblicke ist weißer Vogel Kot. Die Seile sind abgenutzt, da sie die Schaukel schon eine ganze Weile tragen müssen.
Als ich das schöne Bauernhaus hinten links erblicke, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Sicherlich hatte jeder in seiner Kindheit diese angsteinflößende Oma gehabt, die einem nach einem Klingelstreich mit der Bratpfanne hinterher gerannt ist. Nun, ich hatte sie auch noch in meiner Jugend. Nicht mal, weil wir die Frau in diesem Haus verärgert hatten. Allein wenn wir lachend auf dieser Schaukel rumhingen, hatte es ihr was ausgemacht. Aber darüber musste ich mir jetzt keine Sorgen machen. Ich lachte nicht. Außerdem war der Ärger der Frau sogar immer das Beste an diesem Ort gewesen. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie mal vermissen könnte.
Poppy hätte sie am liebsten nach ihrem Gärtner gefragt, wenn sie nicht immer so gruselig gewesen wäre. Ich meine, klar, ihr Garten war echt atemberaubend. Mosaikstäbe in der Erde, … Es gab sogar ein Pavillon, der mit Wein bepflanzt wurde! Darunter stand ein Tisch mit Stühlen, die Verschnörkelungen trugen.
Die vertrocknete Nelke stand da immer noch. Auch wenn der Gärtner seine Arbeit sonst immer so perfekt machte, diese Blume hätte er doch schon längst entsorgen können.
Vor dem Fenster mit den zugezogenen Vorhängen, befand sich ein Buchenbogen, der inzwischen unglaublich dicht zugewachsen war. Fast so dicht, dass man keinen Eingang mehr fand.
Der Vogel oben auf dem Dach schaut so aus als wüsste er nicht so recht wohin er fliegen sollte. Ich beobachte ihn dort jetzt schon eine ganze Weile. Was hat er nur, dass er nicht weiterfliegen möchte? Der Arme… sicherlich fühlt er sich genauso einsam wie ich gerade.
Oh, Mist! Gerade fiel mir auf, dass die Sohle meiner schwarzen Lieblingsballerinas schon wieder lose ist. Dabei hatte ich sie schon einmal geklebt.
Gerade wollte ich den Blick wieder zu meinem verlassenen Freund auf dem Dach wenden, doch ich musste feststellen, dass auch er weg war. Was nun? Um mich irgendwie abzulenken fing ich vorsichtig zu schaukeln an. Ja, es hat sich wirklich vieles verändert.
Früher haben Poppy und ich immer gemeinsam versucht mit unseren Füßen den Apfelbaum zu erreichen. Jetzt stört er mich schon allein beim Anlaufnehmen. Das Holzbrett unter mir ist hart und drückt. Die Seile kratzen an meinen Fingern. Im linken Balken der Schaukel weht ein Spinnennetz. Eigentlich sollte sich die Sonne auf meiner Haut angenehm warm anfühlen, stattdessen ist sie brennend heiß als würde sie mir in nächster Sekunde einen Sonnenbrand bereiten.
Die Schaukel neben mir ist immer noch leer, obwohl sie minimal im Wind hin- und her wankt. Der Wind wünscht sich anscheinend auch, dass sich die Schaukel wieder füllt. Ich schaue erneut auf mein Handy. Zuletzt online: Gestern um fünfzehn Uhr elf. Nein, es musste irgendetwas passiert sein. So lange konnte Poppy noch nie ohne Handy auskommen.
Ob dieser gruselige Typ mit der Kapuze sie entführt hatte? Immerhin hatte Poppy doch versprochen nicht mit ihm zu gehen. Sie würde doch nicht- oder würde sie? Inzwischen war ich mir bei nichts mehr sicher.
»Hey.« Bei dem Klang seiner Stimme musste ich ziemlich zusammenzucken. Darauf war ich wohl nicht vorbereitet gewesen.
»Was machst du denn hier? Wie hast du mich gefunden?«
Davids Augenbraue zuckte skeptisch nach oben. »Schon vergessen? Ich habe dich per WhatsApp gefragt.« Ups. Stimmt ja. Das hatte ich total vergessen. Meine Gedanken waren zu sehr damit beschäftigt gewesen sich um Poppy Sorgen zu machen.
David setzte sich auf die Schaukel neben mir, die die sonst immer Poppy ausgefüllt hatte. »Was ist los?«
Schnell wand ich den Blick von ihm ab. »Es ist nichts.«
»Das kannst du mir nicht erzählen. Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.«
Mein Handy vibrierte, schnell zuckte ich es hervor, in der Hoffnung es wäre Poppy. Allerdings Fehlanzeige. Oh Gott, ihre Mutter! Ja, ich hatte die Nummer von ihrer Mutter eingespeichert. Sie hatte darauf bestanden, da Poppy manchmal öfter bei mir ist als bei sich zuhause. Und Poppy schaut ja so selten auf ihr Handy… Jedenfalls, wenn ihre Mutter ihr schreibt.
15:52_Könntest du mir bitte verraten wo zur Hölle Poppy steckt? Sie ist gestern nicht Nachhause gekommen! Daneben ein wütender Smiley.
Ab und an hatte ich echt Mitleid mit Poppy, wenn ich an ihre Mutter dachte. Meine war zwar um einiges strenger als die von Poppy, aber dafür zeigte sie zu mir Vertrauen. Ich würde echt nicht tauschen wollen.
15:53_Ich weiß es auch nicht!!! Ich mache mir genauso Sorgen!
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. 15:53_Was soll das heißen? Erin! Soll ich die Polizei alarmieren?
15:54_Das wäre doch mal eine Maßnahme! Vor allem, dass sie erst jetzt handelte! Natürlich liebte Mrs. Hayman ihre Tochter, nur hatte sie anscheinend nie wirklich gelernt eine gute Mutter zu sein. Unterstützung sah anders aus.
Noch wütender und verzweifelter wie vorher steckte ich mein Handy zurück in meine Tasche.
»Wer war das?«, wollte David wissen. Ich seufzte. Warum wollte er es überhaupt wissen?
»Niemand wichtiges.«
»Aber die Nachricht scheint dich irgendwie wütend gemacht zu haben.« Konnte er denn nie Ruhe geben?
»Warum ist es überhaupt so wichtig? Ich wüsste nicht, was es dich angeht.«
Nervös zupfte er an seinen Fingernägeln herum. »Äh, also. Ich hatte irgendwie gehofft, dass es mich etwas angeht. Also generell bei allen Sachen, die dich betreffen.«
Oh, Hilfe. Stimmt ja. Ich hatte ihn geküsst. Ob er jetzt automatisch davon ausging, dass er mein Freund ist? »Ich mag dich wirklich, David. Aber Beziehungen sind nicht so das Richtige für-«
»Das macht doch nichts. Ich meine damit ja auch nicht zwangsläufig Beziehung, Erin. Aber man kann sich auch so gut verstehen.«
»Und dafür musst du unbedingt alles aus meinem Leben wissen?«
»Freunde haben nämlich keine Geheimnisse voreinander. Schon Recht nicht, wenn der andere erkennt, dass es denjenigen fertigzumachen scheint.«
Er würde nicht locker lassen. Schön. Warum eigentlich nicht? Vielleicht wäre es gar nicht so verkehrt, wenn ich mit jemanden darüber sprach, der nicht zu meiner Clique gehörte. Jess, Lou und Zoe würden Poppy sofort verurteilen, dass sie so dämlich gewesen ist und mit dem Kapuzenjungen mitgegangen ist. Das konnte ich aber gerade überhaupt nicht gebrauchen. »Poppy ist weg. Sie ist gestern Abend nicht Nachhause gekommen. In der Schule ist sie ja auch nicht und per Handy ist sie auch nicht zu erreichen.«
»Was heißt weg? Denkst du, sie wurde vielleicht entführt?« Angst klang mit Davids Stimme mit. Genau die Angst die ich jetzt brauchte. Meine beste Freundin sollte für ihr Handeln jetzt nicht verurteilt werden, sondern man musste sich Sorgen um sie machen! Wer weiß, was ihr gerade alles wiederfährt?
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich sie finden werde. Egal wie.«
Wir erreichten eine Art Tümpel, der von Fröschen bewohnt war, die eindeutig eine zu große Stirn besaßen. Ihr Quaken hörte sich allerdings ziemlich normal an. Vielleicht eine Oktave zu tief, aber nichts Weltbewegendes. Die Gräser, durch die wir durch mussten, störten aufgrund ihrer Länge ziemlich. Zu unserem Übel waren sie auf noch messerscharf, sodass sie mir prima in die Haut schnitten. Hätte ich mir nur längere Kleidung angezogen...
»Könntest du die Halme vor dir vielleicht noch gründlicher platt treten? Einige streifen mich immer noch«, informierte ich den Kapuzenjungen.
»Tut mir Leid, aber ich nehme keine Sonderwünsche entgegen.« Da hatte wohl jemand schlechte Laune. Ob es daran lag, dass er gleich seinen Vater sehen musste?
»War ja nur eine Bitte...«
»Du solltest dich daran gewöhnen nicht immer das zu bekommen, was du möchtest. In deiner heilen Welt mag das anders aussehen, hier herrschen aber andere Gesetze.« Da verstand wohl jemand keinen Spaß.
»Vergiss es einfach«, murmelte ich vor mich hin.
Inzwischen hatte ich das Seitwerts gehen für mich entdeckt. So berührten meine nackten Arme nicht ganz so viele Grashalme.
»Es tut mir Leid«, kam es schließlich vorne weg vom Kapuzenjungen. »Du bist so nett und willst mir helfen. Was mache ich? Kann für dich nicht mal den Gehweg breiter machen. Eigentlich schulde ich dir viel mehr.«
Na bitte. Wer sagt's denn? Er konnte ja doch höflich sein. »Schon okay...«
»Ist es nicht. Aber manchmal bin ich meinem Vater einfach zu ähnlich.«
»Kann ich zwar nicht wirklich beurteilen. Du planst aber dich gegen ihn zu stellen, um zu dir selbst stehen zu können. Um dich irgendwann vielleicht irgendwo wie zuhause fühlen zu können. Das zeugt von Stärke... Und das, was ich bislang über deinen Vater weiß ist sicherlich nicht stark.«
Er blieb kurz in seiner Position stehen. »Danke. Warum bist du nur so nett zu mir? Da bist du irgendwie die einzige...«
»Gerade deswegen vermutlich.«
Unschlüssig ob er sich damit zufrieden geben sollte, zögerte er noch einen kurzen Moment, setzte sich dann aber wieder in Bewegung. Sein Finger schnellte nach schräg rechts auf ein gemütlich wirkendes Haus. Es sah fast wie eines dieser Landhäuser aus, die Grimms-Märchen entsprungen waren. Könnte ich hier leben, dann würde sicherlich ein kleiner Traum von mir in Erfüllung gehen.
»Da vorne ist es. Wir sind gleich da«, erklärte mir der Kapuzenjunge. Da ist er also aufgewachsen? Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Ich meine, klar unsere kleine Villa hatte auch was. Wenn dein Dad Chef einer Milliarden schweren Firma ist, dann bist du an einem Luxuspool im Hintergarten gewöhnt. Aber das hier kannte ich nicht. Gemütliche Ecken konnte unsere Villa nicht wirklich viele vorweisen.
Aber meine Oma hat mir damals als Kind immer Märchen von Schneewittchen vorgelesen, wie sie mit den sieben Zwergen im Wald lebte. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich das tief in mir auch immer gewollt. Die zwitschernden Vögel um einen herum... All das stellte ich mir unglaublich schön vor. Eine Schönheit, an der unser neues Cabrio niemals ran kam... auch wenn es natürlich auch seine Vorzüge hatte.
Ach ja. Wie ich Oma vermisste... Mit acht Jahren war ich damals unglaublich traurig gewesen als Mum mir erzählte, dass sie tot sei. »Kommst du denn jetzt, oder willst du da Wurzeln schlagen?«
Die tiefe Stimme des Kapuzenjungen holte mich aus meinen Gedanken. Er war bereits vorgegangen. Schnell lief ich zu ihm rüber.
»Auch wenn du glaubst, dass das Haus einem Märchen entspringt, solltest du wissen, dass das hier aber kein Märchen ist.« Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er meine Gedanken lesen konnte.
Ich nickte nur, während ich hinter ihm her schlenderte. Eher für mich, da er meine Geste natürlich nicht sehen konnte. »Ich weiß. Ist ja nicht so, dass meines das ist, nur weil meine Eltern viel Geld haben.« Ich wusste, dass ich ihm das eigentlich nicht erklären brauchte. Was vermutlich auch der Grund ist, warum meine Stimme so ruhig blieb. Wenn mich sonst jemand wegen meinem glamourösen Leben angesprochen hätte, wäre ich vermutlich deswegen total abgegangen.
Der Zaun zum Haus war mit einer ganzen Menge Efeu versehen. Es gab sogar ein Vogelhäuschen, in dem Spatzen fröhliche Lieder anstimmten. Man konnte sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass hier böse Leute leben sollten.
An der Tür gab es noch diesen altmodischen Griff zum Klopfen, anstatt einer elektronischen Klingel. Das Schlagen aufs Holz konnte man aber trotzdem durch das ganze Haus hören, da sie im nächsten Moment geöffnet wurde. Vor uns stand ein Mann, dessen Stirn (so wie eben schon beim Frosch) viel zu riesig war. Da sein Gesicht in meinen Augen entstellt war, konnte ich sein Alter nicht genau deuten. Aber wer weiß, in dieser Welt war das vermutlich normal und alle sahen so aus. Augenblicklich fragte ich mich, ob der Kapuzenjunge wohl auch so eine hässliche hohe Stirn hatte. Immerhin war er ja noch zur Hälfte Mensch.
Da sein Haar noch braun war, da es noch nicht an Farbe verloren hatte, tippte ich jetzt einfach mal, dass das der Vater von dem Kapuzenjungen war. Als er uns erblickte breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Du musst Poppy sein. Hodded hat schon so viel von dir erzählt. Komm doch rein.«
Äh... Ja. Ich hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, aber diese hier war keine davon. Fragend schaute ich zu dem Kapuzenjungen rüber. »Hodded?«
Er verharrte noch an der Türschwelle, anstatt seinem Vater nach drinnen zu folgen. »Ja, so nennt man mich.«
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. »Dann hast du ja doch einen Namen.« Zugegen, einen ziemlich merkwürdigen. Man nannte ihn Kapuze? Aber warum hatte sein Vater das D so komisch falsch betont?
»Ja, ein ganz toller Name.« Die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Die falsche Schreibweise soll mich jedes Mal aufs Neue daran erinnern, dass ich ein Fehler bin.« Ich schluckte. Okay, das war dann wirklich kein schöner Name. Kein Wunder, dass er mir ihn nicht verraten wollte.
»Warum ist so ein Name überhaupt zugelassen? Auf der Erde würde den keiner dulden.«
»Wir sind hier aber nicht auf der Erde, Poppy. Hier heißen wir direkt und geradeaus wer wir sind. Wenn sich im Laufe unseres Lebens unsere Persönlichkeit ändert, dann auch unser Name.«
»Wie heißt denn dein Vater?«, fragte ich neugierig. Wenn es nach mir ging, dann müssten alle Bewohner dieser Welt Bad heißen. Zumindest dann, wenn man dem Glauben schenkte, was ich von Hodded wusste. Verdammt! Nannte ich ihn etwa gerade so wie sein Vater? Wo er diesen Namen doch über alles hasste. Aber irgendeinen Namen brauchte er doch. Nannte ich ihn eben Hooded, so wie die Schreibweise richtig wäre.
Allerdings hatte der Typ an der Tür gerade ganz nett gewirkt. Ob das nur Show war?
»Sein Name ist Dusk«, erwiderte er, während er nun doch durch die Türschwelle trat. Anscheinend wollte er nur nicht, dass sein Vater mitbekam wie schrecklich er seinen Namen fand. Obwohl das irgendwie selbstverständlich sein sollte.
»Dusk? Wie Abenddämmerung? Warum das?«
»Früher hieß er mal Sun. Aber als ich geboren wurde, änderte sich das.«
»Wie kann jemand wie er den Namen Sonne getragen haben? Gut zu wissen wie leichtsinnig sie in dieser Welt Namen vergeben.«
»Wir kannten ihn früher beide nicht und sollten deshalb auch nicht urteilen. Ich habe gehört, dass er in der Vergangenheit einer der einzigen war, die andere nicht aus Eigennutz kontrolliert hatten.«
»Das hat sich offensichtlich geändert.«
»Offensichtlich.« Augenblicklich stieg mir durch den Kopf, dass er das nur getan hatte, um eine Familie mit einer Frau aufzubauen, die ihn nicht kontrollieren konnte. An sich etwas Verständliches. Wäre er an die Sache nur anders herangegangen... Aber in dieser Welt war das ja etwas ganz normales. Deswegen wurde man nicht verurteilt, denn es lag in der Natur der In-thoughts. Das ist es, was sie nun mal waren.
-Jessicas Sicht-
An Jess, Lou & Zoe: Treffen in der ersten großen Pause beim Sportplatz. Es geht um Poppy!!! -Erin
Schnell faltete ich den Zettel wieder unauffällig zusammen. Wie kam Erin auch nur auf die glorreiche Idee bei Mr. Fell Zettel rumgehen zu lassen? Der hatte seine Augen doch überall. Mein Blick richtete sich zur Tafel. Ob er was bemerkt hatte? Bei ihm konnte man das nie genau sagen.
Wozu überhaupt diese dämlichen Zettel? Okay, vermutlich wegen Lou und Zoe. Die waren nach Stundenende manchmal so schnell zusammen verschwunden, dass man gar nicht dagegen gucken konnte.
»Und das, meine lieben Schüler, ist der Grund warum die tRNA so wichtig ist. Warum nochmal, Jess?« Wie ich Bio samt Mr. Fell hasste. Immer war ich sein Opfer. Hass beruhte eben auf Gegenseitigkeit. Fast schon erwartete ich wieder dieses dumpfe Auslachen meiner Mitschüler in meinen Kopf. Doch keiner lachte, weil sie es sich mit mir nicht verscherzen wollten. Ach, wie ich diese Veränderung in meinem Leben doch immer noch liebte.
»Keinen blassen Schimmer«, sagte ich so selbstbewusst wie jetzt für mich typisch war.
»Und warum nicht?« Der Zorn in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Möglicherweise, weil Bio mir mal den Buckel runterrutschen kann.« Damals hatte ich mal weil Bio scheiße ist gesagt, woraufhin ich vor der Tür landete. Diese Wortwahl war wohl noch in Ordnung - und trotzdem hatte ich das zustimmende Gelächter der anderen noch auf meiner Seite.
»Weil sie zwischen der mRNA und den Aminosäuren vermittelt. Vermutlich sagt dir nicht mal die Code-Sonne etwas, oder?«
»Doch, die bestimmt den genetischen Code.« Sehr vielversprechend, Jess, wirklich. Sicherlich wollte er das ausführlicher haben. Aber hey, sollte er sich doch damit zufrieden geben.
»Denkst du, wir könnten diese Code-Sonne auch anwenden, um die Buchstaben auf deinem Zettel zu entziffern?« War ja klar, dass er es jetzt bemerkt hatte. Bei Lou, Zoe und Erin hatte er anscheinend noch nichts bemerkt, bei mir natürlich schon.
Das ließ dann meine Wut irgendwie überkochen. »Kann sein, dass Sie eine brauchen. Die meisten Leute können auch so lesen.« Ach ja. Wie toll es doch war, dass die Schüler jetzt mit mir und nicht mit dem Lehrer lachten.
»Das reicht, junges Fräulein! Den Zettel, jetzt!« Ohne zu zögern gab ich ihm den Zettel. Wenn er doch irgendwo ein Herz besaß, dann hätte er vielleicht sogar Mitleid mit mir. Denn... Er wusste genau dass meine beste Freundin Poppy seit gestern vermisst wurde.
»An Jess, Lou und Zoe. Treffen in der ersten großen Pause beim Sportplatz. Es geht um Poppy«, las er dann auch noch laut vor. »Das ist eine Angelegenheit, die man nicht während des Unterrichts besprechen sollte. Das wird die Polizei schon regeln.« Er war also doch ein Roboter. Zudem hatte er auch noch Unrecht. Die Polizei konnte das ganz sicher nicht regeln, wenn Poppy in einer anderen Welt mit einem gruseligen Typen fest saß.
◊
»Was macht der denn hier?«, fragte ich sofort als ich David hinter Erin auftauchen sah.
»Er will nur helfen«, entgegnete Erin zuckersüß als wüsste sie nicht, wo das Problem lag. Hatte sie etwa vergessen, wo Poppy aller Wahrscheinlichkeit nach war? War es nicht so was wie ein Geheimnis, was nur unsere Clique etwas anging?
Erin schien anscheinend zu ahnen, was ich darüber dachte, deshalb erklärte sie schnell: »Sollte Poppy wirklich dort sein, dann werden wir vier Mädels das unmöglich alleine dahin schaffen. Wir brauchen einen starken Kerl.« Starken Kerl? Und da wählte sie ernsthaft David? Sicherlich hatten die beiden was am Laufen, deswegen.
»Und sicherlich hast du ihn bereits in alles eingeweiht«, giftete ich sie an. Wir würden diesen Ort doch niemals finden. Auch nicht mit Davids Hilfe. Aber Erin hatte schon Recht. Wir mussten es trotzdem versuchen - für Poppy... falls sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch lebte. Panisch verwarf ich diesen Gedankengang.
»Pah! Natürlich nicht!« Beleidigt verschränkte Erin ihre Hände vor ihrer Brust. »Ich bespreche so was vorher mit euch. Trotzdem solltet ihr auf mich hören.« Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Erin diese Clique zu gut bekommen ist. Hatte sie etwa alles aus ihrer Vergangenheit einfach nur verdrängt? Ihre Besessenheit für beinahe jeden Typen auf dieser Schule ließ darauf schließen.
»Irgendwie könnten wir bestimmt männliche Unterstützung gebrauchen, wenn dort wirklich Gefahren auf uns lauern werden. David kann man doch bestimmt vertrauen«, überlegte jetzt auch Lou. Na toll. Keiner war auf meiner Seite.
Poppy hatte ihr Geheimnis uns anvertraut. Nicht, damit wir es an irgendwelche Leute einfach weitergaben. »Dann nehmen wir lieber Josh mit. Der hat wenigstens keine Angst im Dunkeln«, meinte ich lachend, woraufhin mich David böse anfunkelte.
Daraufhin lachte Erin mich aus. »Dein Freund Josh, der ständig auf seine kleine Schwester aufpassen muss? Der könnte es nie länger als ein paar Tage von Zuhause entfernt aushalten. Seid ihr jetzt überhaupt noch zusammen? Du hattest doch erst was an ihm auszusetzen.«
Ja, kann schon sein, dass Josh und ich uns getrennt hatten. Ich wollte ihn ja auch nicht wirklich mit haben. Nur sollte Erin ihren Typen einfach nicht mitschleppen. Das wollte ich damit nur klar machen. Ich hätte natürlich auch Neil erwähnen können, aber das war mir einfach noch zu frisch. Zudem ich ihnen noch nicht wirklich mitgeteilt hatte, dass zwischen mir und Josh Schluss sei. Sie würden mich nur wieder verurteilen.
Gerade wollte ich Erin sagen, dass David eher als Mädchen durchging anstatt als Kerl, da hörte ich ein Räuspern hinter mir. »Was genau plant ihr wegen Poppy zu unternehmen?«
Argh! Diese Stimme hatte mir gerade noch gefehlt. Lucas, auch wenn sein dämliches Fußvolk fehlte. Am schlimmsten von seinen Freunden war aber noch Dan. Der hatte Sprüche drauf. Wegen einigen von denen habe ich Nächte durchgeweint. Wegen Dan, aber auch wegen dem Rest. Die Schulhierarchie verlangte inzwischen zwar, dass sich die beiden beliebtesten Cliquen untereinander gut verstanden. Aber ich schaffte es einfach nicht. Sollte der Rest sie doch mögen, ich nicht. Auch, wenn sie sich immer wieder versuchten bei mir einzuschleimen.
»Das geht dich einen Scheiß an«, zischte ich. Die anderen schauten mich nur schockiert an, aber sie hatten auch nie das durchmachen müssen, was ich durchmachte. Jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.
»Hey, Jess! Sei doch nicht immer so mies gelaunt. Mich geht das schon was an. Poppy war früher mal meine beste Freundin. Ich sorge mich immer noch um sie.« Als ob! Irgendwann fühlte er sich zu cool für Poppy und ärgerte lieber rothaarige Hexen. Nur weil sie jetzt wieder ganz oben auf der beliebt-sein-Skalar stand...
»Also gegen Lucas kannst du jetzt nichts sagen. Er hat im Dunklen sicher keine Angst«, sagte Erin und drehte sich anschließend zu David. »Sorry, nicht persönlich nehmen.«
»Gut, nehmen wir von mir aus David mit. Aber nicht ihn.«
»Entschuldig, aber ich habe auch einen Namen. Nur weil du hier die möchte-gern-Anführerin bist, kannst du nicht so mit uns beiden spielen. Wenn zwei Männer ihre Hilfe anbieten, dann nimmt man die dankend an.« Als ob ich für irgendetwas dankbar sein sollte, was er tat. Allerdings war hier eh keiner auf meiner Seite.
Ich konnte ja verstehen, dass wir jede Hilfe gebrauchen könnten, wenn es um Poppy ging. Aber doch nicht die von Lucas! Ich sah es schon kommen. Bald war Dan auch noch mit von der Partie. Vielleicht sollte ich deswegen doch zu sagen. Lucas wäre ein besserer Kompromiss als Dan.
»Na fein. Aber Erin, du erklärst den beiden wo sich Poppy aufhält. Dann halten sie nur dich für verrückt.«
Anscheinend hatte sie damit auch kein Problem den beiden Jungs diese Story aufzutischen. Eher war es ihr unangenehm, dass sie irgendwie zurzeit mit beiden der Jungs was hatte. Warum wurde sie nicht einfach mit David glücklich? Lucas meinte es mit ihr doch eh nicht ernst. David wäre der bessere Umgang.
»Okay. Da muss ich Jess Recht geben. Das hört sich wirklich zu abgedroschen an«, meinte David, nachdem Erin alles erklärt hatte.
»Sicher, dass dieser Typ nicht doch Gedanken kontrollieren kann? Warum sollte Poppy sonst mit ihm mit?«, fragte Lucas, während er sich eine Zigarette anzündete.
»Laut Poppy kann er Gedanken nur lesen, nicht kontrollieren«, sagte Zoe.
»Ach«, Lucas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der lügt doch von vorne bis hinten.«
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Wir müssen Poppy finden. Aber wie stellen wir das an, wenn sie in einer ganz anderen Welt ist?«, hinterfragte Lou. »Wir haben alle keinen Schimmer wie wir da hinkommen.«
Lou brachte unser Problem Nummer eins ziemlich gut auf den Punkt. Vielleicht wäre es doch das Beste, wenn wir Poppy vertrauten und einfach auf sie warteten. Wäre da nicht diese Stimme in meinem Hinterkopf, die mir sagte, dass Poppys Naivität sie in Gefahr brachte. Wir müssen wohl alles Mögliche versuchen.
»Stimmt. Aber vielleicht weiß ich jemanden, der uns weiterhelfen könnte«, verkündete Erin uns. Hä? Wer sollte das bitte sein? »Da gibt es diesen Ort, wo die beiden sich immer getroffen haben. Der Kapuzenjunge war da nicht ohne Grund. Poppy meinte, er hätte da jemanden besucht. Wisst ihr? Diese komische und gruselige Frau aus dem alten Bauernhaus? Die weiß vielleicht mehr.«
Irgendwie dämmerte es bei mir gerade nicht. Sind wir da schon mal gewesen? Oder war sie da nur mit Erin? Komische und gruselige Frau fragen, hörte sich aber nicht gerade vielversprechend an, jedoch leider unser einziger Anhaltspunkt.
◊
Völlig fertig mit meinen Nerven schloss ich die Haustür auf. Was ich jetzt brauchte war eine schöne heiße Tasse Tee, eine Wolldecke mit der ich mich aufs Sofa kuscheln konnte, nebenbei vielleicht noch eine Folge Grey's Anatomy zusammen mit Mum. Etwas, was meine Gedanken von dem heutigen Tag wegbringen könnte. Ich wollte meine nächsten Tage nicht mit dem Jungen verbringen, der meiner Persönlichkeit einen kleinen Knacks verabreicht hatte.
Meine Tasche schmiss ich einfach in die Ecke, um erstmal in die Küche und zu meinem geliebten Früchtetee zu gehen. Hätte ich nicht die Stimme meiner Mum aus dem Wohnzimmer gehört: »Nein. Ich denke wir sollten noch warten. Jetzt wird sie es noch nicht verkraften.«
Nanu? Telefonierte sie oder hatte sie mal wieder Männerbesuch? Soll sie sich doch nicht so anstellen. Womit ich sie schon alles erwischt hatte... Bei manchen war ich mir nicht sicher, ob sie sich da nicht einen Landstreicher geangelt hatte. Schockieren konnte mich also gar nichts mehr.
»Ich kann das nicht mehr. Heute hätte ich es ihr schon fast sagen wollen.« Warte, diese Stimme kannte ich doch. »Wir hatten uns schon wieder in den Haaren. Am liebsten hätte ich einfach vor allen gesagt: Ich will doch nur das Beste für dich, dass deine Noten sich bessern. Gerade so habe ich mich zurückgehalten, aber ich weiß nicht wie lange ich das noch kann.«
Was?! Nein, war das etwa... Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? Meine Mum und Mr. Fell? Ich glaube mir wird schlecht. Spontan änderte ich mein Vorhaben für diesen Nachmittag und lief stattdessen hoch in mein Zimmer. Fiel auf mein Bett und weinte. So wie ich es jetzt eine ganze Weile nicht mehr getan habe, trotzdem hatte ich dieses Gefühl keinesfalls vergessen. Wenn man sich früher regelmäßig in den Schlaf geweint hat, vergisst man das nicht so schnell.
Da will mir einer sagen, ich sei verrückt weil ich Josh nur wegen einem Fehler verlassen habe. Hätte ich das nicht, dann endete ich irgendwann noch so verzweifelt wie Mum - ausschließlich von Vollidioten umgeben.
»Trinkst du Tee?«, fragte mich Dusk als wir die geräumige Küche betraten. Er hatte bereits heißes Wasser aufgesetzt. Das Wasser brodelte vor sich hin. All das wirkte fast schon normal. Wäre da nicht der Mann mit dem riesen Schädel.
»Ja, danke.« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Irgendwas sagte mir, er würde nur diese Antwort akzeptieren. Er schüchterte mich ein, aber in diesem Fall war das wohl normal. Meine Füße tippelten unruhig hin- und her. Was sollte ich jetzt nur machen?
Dusk balancierte die drei Teetassen zum Tisch, nachdem der Beutel mit Wasser übergossen war. In der Regel trank ich keinen Tee, aber wenn der gruselige Mann mir welchen anbot, dann schon. Dann würde ich selbst Ameisenpipi trinken. Immer noch unsicher setzte ich mich zu den anderen beiden an den Tisch.
»Weißt du, bis ich dich gerade eben vor der Tür gesehen habe, dachte ich noch du existierst nur in Hoddeds Fantasie.« Da ich auf seine Worte nichts erwiderte, fuhr er einfach fort: »Du hast offensichtlich Angst vor mir. Dir ist aber schon bewusst, dass obwohl Hodded eine Kapuze trägt, er mir trotzdem ziemlich ähnlich sieht. Sein Kopf ist auch größer als gewöhnlich.«
»Das Aussehen spielt doch keine Rolle! Er sollte zu sich stehen dürfen, aber dank Ihnen kann er das jetzt nicht mehr.« Hooded stieß mich warnend unter dem Tisch an. Okay, meine Worte waren vielleicht wirklich etwas übertrieben. Vor diesem Typen sollte man Respekt haben.
»Süß. Du bist anscheinend noch nicht ganz erwachsen, Liebes. Aber wie stellst du dir das vor? Wenn er unter den Menschen leben würde. Bei dir etwa? Denkst du das mit euch könnte ein Happy End nehmen?«
Ich wurde rot. Was dachte er sich da? »Das hat doch mit uns nichts zu tun. Ich möchte nur, dass er eine Chance bekommt unter den Menschen zu leben, weil er da ganz offensichtlich leben möchte. Er ist schließlich ein Halbling und sollte somit eine Wahl haben wo er lebt.«
»Was glaubst du denn, warum er in dieser Welt leben möchte? Wegen seiner verrückten Mutter sicherlich nicht. Ihre Besuche sieht er nur als Pflicht an. Aber seit er dich damals kennengelernt hat, redet er die ganze Zeit davon, dass es jemanden gibt, der keine Angst vor ihm hat. Also wenn er dort leben sollte, dann verschanzt. Denn so human du sein magst, sind es die restlichen Menschen sicher nicht.«
Hodded schnaubte neben mir auf. »Als ob es hier anders wäre. Hier laufe ich doch auch ständig mit Kapuze rum, weil auch die In-thoughts anders nicht akzeptieren.«
»Ich erinnere mich daran, dass Menschen damals Leute, die irgendwie anders waren, ermordet haben«, meinte Dusk.
Beinahe hätte ich den Tee, den ich gerade getrunken hatte, wieder ausgespuckt. »Die Zeiten sind längst vorbei. Das war im zweiten Weltkrieg.«
»Ja, aber ich kenne die Menschen trotzdem gut genug, um zu wissen, dass sie jemanden wie Hodded nie akzeptieren würden. Die In-thoughts würden das eher. Ich muss das wissen, schließlich habe ich euch quasi erschaffen.«
Bitte was? Ich musste mich wohl verhört haben. »Hatten wir nicht besprochen, dass wir ihr das nicht erzählen wollten«, erinnerte Hooded seinen Vater.
»Sorry. Ich konnte einfach nicht wiederstehen.« Sein breites Grinsen war kaum zu übersehen.
»Was meinst du mit erschaffen?« Ich war zwar nicht wirklich gläubig, glaubte nicht an diese ganze in-7-Tagen-erschuff-Gott-die-Welt. Aber dieser Volltrottel konnte es erst recht nicht gewesen sein. »Dann müssten Sie viel älter sein... Und außerdem hat man die Evolution wissenschaftlich nachgewiesen.«
»Ja, aber was glaubst du wer die Evolution erst in Gang gebracht hat? Und nur zur Info: Da wir, anders als die Menschen Kontrolle verleiht bekommen haben, können wir auch nicht sterben. Der Baum Livenus verleiht uns durch seine Wurzeln diese Kontrolle. Er ist der Meister der Kontrolle... sozusagen. Etwa wie bei euch ist er unser Gott. Solange er lebt, leben wir. Er hat mir dabei geholfen meinen Wunsch zu erschaffen: Euch Menschen, die einen nicht kontrollieren können. Natürlich hatte das seinen Preis, wie alles im Leben.«
An seiner Tonlage erkannte ich schon, dass er mir nicht verraten würde, welchen Preis er zahlen musste. Es war mir eigentlich auch egal. Er hatte jeden noch so schlimmen Preis verdient.
»Es gibt einen Grund warum Livenus für euch Menschen eine zweite Welt erschaffen musste. In-thoughts und Menschen können einfach nicht zusammen leben.«
»Das mag ja sein«, erklärte ich Dusk verärgert. »Aber wo soll Hodded leben? Er braucht doch auch ein Zuhause.«
»Tja, Schätzchen. Das Leben ist nun Mal unfair.«
»Nur wenn wir es uns unfair machen.« Krieg, Hunger... All das war wirklich unfair. Aber sollte man nicht lieber für Gerechtigkeit kämpfen, anstatt sich lang und breit zu beklagen.
»Du sagtest, du würdest die Kontrolle, die auf mich liegt, rückgängig machen, wenn ich Poppy als Beweis mitbringe«, warf Hooded ein.
»Richtig, richtig. Aber hast du nicht zugehört? Alles im Leben hat seinen Preis.«
Hooded seufzte auf. Allerdings schien er sowas von seinem hinterhältigen Vater schon erwartet zu haben. »Was willst du?«
»Ein Messer. Aber nicht irgendein Messer. Es liegt im Livenus verborgen.«
Nachdem Hooded noch einmal kurz an seinem Tee genippt hatte, sagte er:
»Und warum holst du es dir nicht selbst? Du hast mehr Kontakt zu diesem Baum als irgendwer sonst.«
»Junge, glaubst du, das hätte ich nicht bereits versucht? Aber die Worte des Livenus waren eindeutig: Des Messers Kraft entwenden, darf nur der, der Personen wert schätzen kann, egal wie sie zunächst auch scheinen.« Jetzt spürte ich nicht nur Dusk Blick auf mich, sondern auch Hoodeds. Ich hatte schon bedenken, dass ich ihn gleich wieder vergessen würde, doch wie es aussah hatte er sein Gesicht unter der Kapuze auch vermummt. Hilfe, der hatte es echt nicht einfach!
»Ach. Und jetzt schaut ihr mich so an, weil die Beschreibung zu mir passt? Warum sollte ich Ihnen ein Messer besorgen, wenn ich keinerlei Vertrauen gegenüber Ihnen hege? Am Ende haben Sie da wer weiß was mit vor.«
»Tja. Es ist ein Angebot. Du triffst die Entscheidung. Aber wisse, dass es die einzige Möglichkeit ist, dass Hodded den Menschen sein wahres Gesicht zeigen kann.«
Gerade wollte ich erwidern, dass er sich sein Messer sonst wo hin stecken könnte und wir schon einen anderen Weg finden werden. Da zog Hooded mich vom Stuhl hoch und führte mich geradewegs aus dem Haus. Wir standen wieder auf den Kieselsteinen, die von einem wunderschönen Garten umpflanzt waren.
Dieses Mal ging ich aber dichter auf Hooded zu, da ich nicht mehr diese Angst verspürte ihn sofort zu vergessen, wenn ich ihm zu nah kam. Hätte er ja auch sagen können, dass er auf Nummer sicher gegangen ist. Oder hatte er es mir extra verschwiegen, damit da weiterhin dieser Abstand zwischen uns lag? Er glaubte also immer noch, dass er den Kontakt zu mir nicht verdiente.
-Lucas Sicht-
Ich schätze, jetzt ist es offiziell. Jeder einzelne von denen war verrückt. Glaubten sie wirklich an diese Poppy-ist-in-einer-anderen-Welt-Sache? Ich tat das nicht. Ab und zu fragte ich mich wirklich, warum ich überhaupt bei der ganzen Aktion mitmachen wollte. Die Polizei würde ihre Aufgabe schon meistern.
Ja, weil sie ja immer alles richtig machen, sprach da tief in mir diese ironisch-angehauchte Stimme. Gut, vielleicht traute ich der Polizei nicht gänzlich. Deshalb war ich ja überhaupt erst auf die Idee gekommen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wir redeten hier schließlich nicht von irgendeiner Vermissten, sondern von Poppy.
Was machte ich mir vor? Alleine könnte ich sie niemals finden. Und da diese Lackaffen die einzigen waren, die Poppy auch finden wollten, musste ich mich wohl oder übel mit ihnen zusammen tun. Wenn wir erstmal bei diesem komischen Haus angekommen waren, das uns überall aber sicher nicht in eine andere Welt führen würde, werden sie ihren wunderbaren Plan schon in den Sand setzen und endlich auf mich hören.
Du hast doch selbst noch keinen Plan. Ja, weshalb ich sie bislang erstmal machen lassen hatte, aber am Ende würde ich schon noch den Einfall überhaupt haben, um Poppy zu retten.
»Ich dachte du hasst Poppy. Warum willst du sie retten?« Plötzlich ertönte neben mir die Stimme von Lou. Oder wie ich sie immer gerne nannte: Miss Unschuldig. Sie war eben die Unschuldige, neben ihrer zweiten Hälfte Zoe. An sich waren sich die beiden vollkommen gleich. Außer wenn du einen Spaß haben wolltest. Dann gingst du zu Zoe, nicht zu Lou. Im Nachhinein wunderte es mich, dass ich noch nichts mit Zoe gehabt hatte - bei ihrem Ruf.
»Nur weil wir uns zerstritten haben, heißt das doch nicht, dass ich sie wer weiß wo verrotten lasse.« Aber mich überraschte es nicht, dass Lou so was dachte. Seitdem Poppy mich für diese Sorte von Kerl hält, darf es der Rest auch.
»Irgendwie kommt mir der Ort hier bekannt vor«, überlegte Lou laut.
»Ja, kein Wunder. Bestimmt hat Poppy dich hier auch schon mal mit hin geschleppt. Hat sie bei mir ständig. Das ist quasi ihr Lieblingsort«, erklärte Erin.
Dass Erin in letzter Zeit so viel an diesem Nerd klebte, gefiel mir gar nicht. Nicht, dass ich irgendwie Gefühle für sie haben würde. Tief in mir wusste ich selbst, dass sie nur ein notdürftiger Ersatz für Poppy war. Die beiden waren sich wirklich ziemlich ähnlich. Es war eher deshalb, weil Erin für David einfach zu schade wäre. Die Traumfrau schlechthin an unserer Schule ist und bleibt nun mal Erin Moore. Wenn sie mich nicht will, dann soll sie eben wen anders von meinen Kumpels nehmen. Aber doch nicht diesen Schlappschwanz!
In Gedanken versunken zog ich an den Bändern meines Rucksacks herum. Ich wollte Abstand zwischen Erin und mir bringen, die momentan nichts Besseres zu tun hatte als mit diesem Loser zu flirten. Jetzt bildete ich die Spitze - zusammen mit Jess und Zoe.
Neben mir hörte ich Erstere missmutig auf schnauben. Nicht, dass ich diese schlecht gelaunte Jess nicht gewöhnt war, doch dieses Mal schien die Maus, die ihr über die Leber gelaufen war, etwas größer zu sein.
»Jess, was ist denn mit dir los?«, fragte ich, einfach um höfflich zu sein. Hätte ich nur meine Klappe gehalten! Wenn es überhaupt möglich war, dann wurde der Ausdruck auf ihrem Gesicht sogar noch finsterer.
»Für dich heiße ich immer noch Jessica.«
Ich lachte auf. »Was?! Niemand nennt dich so.«
»Tja, du schon. In der Vergangenheit hast du mir schon genug Spitznamen gegeben.«
Jetzt wurde es gefährlich. Wenn ich nicht aufpasste, dann hatte ich ihre langen Fingernägel in meinem Gesicht, wie sie mir die Augen auskratzten. »Kannst du die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen? Meine Jungs und ich haben sich schon tausend Mal bei dir entschuldigt.«
»Ja, wegen meinem Ruf.« Da hatte sie nicht ganz Unrecht. Das und die Tatsache, dass einige meiner Kumpels sie einfach nur in die Kiste kriegen wollten.
»Ausnahmsweise brauchst du Jess Worte nicht persönlich nehmen«, kam es links von Zoe. »Sie ist so drauf, weil wir ihr verboten haben ihre Schminksachen mitzunehmen.« An Jess gewandt fügte sie hinzu: »Du brauchtest den Platz einfach für wichtigere Sachen, Süße.« Als Antwort bekam Zoe nur ein Grummeln.
Was regte sie sich so wegen ein wenig fehlender Schminke auf? Sollten wir wirklich eine andere Welt betreten, dann wäre da eh keine Zeit zu. Zu meinem Leidwesen hatte ich schon erfahren, dass wir dann in Zelte schlafen würden. Oder... Moment mal! Was wenn... Ich würde meinen Arsch darauf verwetten, dass Jess ihre Hautprobleme gar nicht gelöst hatte, wie sie allen immer erzählte. Das Mädchen hatte lediglich gelernt sich richtig zu schminken.
Bei dem Gedanken, dass ich von nun an etwas gegen sie in der Hand hatte, musste ich grinsen. Das wird mir irgendwann bestimmt von Nutzen sein. »Hör auf so dämlich zu grinsen. Weißt du, Lucas. Du bist hier ganz alleine - ohne deine bescheuerte Gang. Sie werden hier alle zu mir halten.« Meine Güte!
»Jess, ich habe doch gar nichts gesagt. Entspann dich mal.«
»Aber du hast dir deinen Teil gedacht.« Konnte ich nicht bestreiten. Aber vermutlich würden sie Jess sowieso weiter anhimmeln, auch wenn ich ihnen erzählen würde, dass sie in Wahrheit immer noch das hässliche kleine Entlein war. Dafür war sie mit Schminke einfach viel zu heiß.
Als wir die schöne, dennoch zugewachsene Holztür erreicht hatten, hämmerte Zoe mit voller Wucht dagegen. Eine Klingel war der komischen Frau wohl kein Begriff.
Es dauerte eine ganze Weile bis sich etwas regte, aber schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit. »Wer- Wer ist da?« Ihr Gesicht wollte sie uns anscheinend nicht zeigen. Also wenn jemand den Eingang in eine andere Welt kannte, dann wohl diese abgedroschene Frau. Außer sie würde uns einsperren und bei lebendigen Leibe kochen. Himmel, ich hätte schon längst von hier verschwinden sollen.
Hilfe suchend blickte ich den Rest von uns an. Ich persönlich hatte nämlich keinen blassen Schimmer, was ich der Verrückten antworten sollte, ohne dass sie uns die Tür wieder direkt vor der Nase zu schlug.
Zum Glück hatte sich Erin die passenden Worte zurechtgelegt: »Hören Sie, unsere Freundin gilt als vermisst. Wenn wir ihr Reden für wahre Münze nehmen, dann steckt sie gerade in einer vollkommen fremden Welt fest. Laut unserer Freundin hätten Sie wohl etwas mit all dem zu tun.«
Gerade wollte sich die Tür wieder schließen, doch in letzter Sekunde schob ich meinen Fuß zwischen die Tür, sodass sie offen blieb. »Ich kann euch nicht weiterhelfen.« Jedes Kind hätte herausgehört, dass das eine schlechte Lüge der Frau war.
»Sie ist verschwunden, okay?! Wenn nicht sogar schon tot! Was für ein Unmensch wären sie, wenn sie uns in dieser Situation nicht weiterhelfen würden?« Eigentlich hatte ich nicht beabsichtigt, dass meine Stimme so schroff klang. Aber in kritischen Augenblicken gelang es mir noch nie entspannt zu bleiben.
Der Spalt weitete sich etwas, jedoch nicht genug, um das Gesicht der Frau zu erkennen. »Akzeptiert einfach die Tatsache, dass eure Freundin von euch gegangen ist. Ihr dort hin zu folgen wäre nur lebensgefährlich.« Die Warnung ihrerseits klang fast verängstigt, als könnte man sogar Mitleid mit ihr haben.
»Ich weiß ja nicht wie es mit den anderen aussieht, aber ich gehe dieses Risiko für meine beste Freundin ein.« Dabei stemmte Erin ihre Hände an die Hüfte. Von überall kam zustimmendes Gemurmel, also nickte auch ich. Jetzt bin ich schon zu weit gekommen, um einfach aufzugeben. Verrückt hin oder her.
Die Tür öffnete sich nun komplett und offenbarte eine Frau mittleren Alters. Ihre Haare hatten einen schönen Braunton. Wären sie gekämmt, würde sie allgemein mehr auf ihre äußere Ausstrahlung achten, könnte sie unter Umständen sogar richtig hübsch sein. »Dann wollt ihr also Helden spielen? Von mir aus. Aber ihr könnt mir nicht vorwerfen, ich hätte euch nicht gewarnt. Vielleicht weicht er dann ja endlich von mir.«
»Entschuldigung, aber weicht wer von Ihnen?«, fragte der nervige Kerl aus der letzten Reihe.
»Der verdammte, sicherlich verfluchte, schwarze Luftballon mit dem ihr diese Welt betreten könnt, wo sich eure Freundin befindet. Ich habe schon alles ausprobiert: Ihn einfach platzen lassen, bis hin zu vollständigem Verbrennen. Aber irgendwie hat er seinen Weg immer zu mir zurück gefunden. Vermutlich ist er daran schuld, weil er auch noch existiert.« Da haben wir es doch: Offiziell verrückt.
So verrückt, dass sie nach einer Weile tatsächlich mit einem tief dunklen Luftballon wiederkam. So was sollte gar nicht erst an den Markt gelangen. Das verschreckte doch die armen Kinder - zugegeben, sogar mich etwas. »Nehmt mir das Ding endlich weg. Wehe ihr bringt es zurück zu mir. Jetzt habt ihr den Mist am Hals.«
Und so kurzweilig wie die Tür geöffnet war, ging sie auch schon wieder zu. Tja, da standen wir nun. Ein Haufen fast erwachsener Jugendliche, die einen Luftballon bei sich trugen, in der Hoffnung, er würde sie ganz weit weg bringen. Das durfte keiner meiner Jungs je erfahren. Mein Ruf wäre ruiniert.
Innerlich verfluchte ich dieses Mädchen wieder. Warum brachte sie mich dazu solch verrückte Sachen für sie zu tun, wo ich doch genau wusste, dass sie sich nie bei mir revanchieren wird?
»Kommt alle her und umfasst diesen Ballon«, befahl uns Erin. Natürlich gehorchten wir auf Anhieb. Eine Weile standen wir alle im Kreis, in der Mitte ein großer schwarzer Ballon. Sag mal, war ich hier etwa der einzige, der das affig fand?
Als Jess dann auch noch verzweifelt »Warum funktioniert es nicht?« fragte, hätte ich am liebsten laut los gelacht. Äh hallo? Lag der Grund dafür nicht auf der Hand?
»Wir müssen alle daran glauben, dass uns der Ballon jetzt zu Poppy in eine andere Welt bringt«, erklärte Lou, als wäre ihre Idee offensichtlich. Für mich war es eher offensichtlich, dass er genau das nicht tun würde.
Aber was soll's? Dann würde ich eben für einen Moment wieder das Kind in mir hervorkramen, wenn sie dann glücklich sind. Oder ich tat es, weil es immer noch eine minimale Chance für Poppy war... Okay, mehr als minimal. Aber wenn es um Poppy ging dann tat ich wohl unüberlegte Dinge. Sonst hätte ich mich gar nicht erst mit ihrer möchte-gern-Clique eingelassen. So war es zumindest früher. Zu meinem Erschrecken hatte sich das anscheinend noch nicht geändert.
Damals wäre ich mit ihr an Orte gegangen, viel zu weit weg. Doch das wäre egal, wenn sie es nur gewollt hätte. Sie hatte es gewollt, wie sie mir höchstpersönlich mitgeteilt hatte. Diese Fantasien hatten wir damals beide gehabt. Aber die Realität sah nun mal anders aus. In der Realität hatte Poppy mich schon lange verlassen, weil es diese Fantasiewelt nun mal nicht gab. Aber es wäre schön gewesen.
Und da gab es diesen Teil in mir, der immer noch davon träumte. Einfach aus meinem beschissenen Leben rauszufliegen. In einer Welt, wo es nur uns beide gab - frei von unseren bescheuerten Eltern. Dann, als hätte der Ballon meine Gebete erhört war da nicht mehr nur dieser einzelne, sondern Tausende, die uns tatsächlich von hier weg trugen. Ein paar Jährchen zu spät, findest du nicht?
Unsicher kratzte ich mich am Kopf, unfähig zu entscheiden was ich als nächstes tun sollte. Läge es nicht an Hooded mit dem Gespräch zu beginnen? Ich hatte sowieso keinen blassen Schimmer, was ich jetzt sagen sollte. Während ich darauf wartete, dass er endlich zu reden begann, fiel mir erneut auf, wie schön es hier doch war. Der Garten, einfach alles. Man konnte sich kaum vorstellen, dass jemanden hier eine schreckliche Kindheit wiederfahren konnte.
Dickkopfvögel weit das Auge reicht, die in Vogelhäusern wohnen durften, wovon die Vögel auf der Erde nur träumen konnten. Wenn man hier sogar einen Pool zur Unterkunft gratis dazubekam, dann wäre ich auch gerne ein Vogel. Weil du Zuhause ja auch gar keinen hast. Gut, das ist was anderes. Zuhause hatte ich ja auch alles. Sauna, Fitnesscenter, Heimkino… irgendwann hing einem auch das zum Halse raus.
»Ich weiß, dass du dieses Messer nicht für meinen Vater suchen möchtest«, begann Hooded endlich das Gespräch.
»Du etwa? Wer weiß, was er damit alles anstellen will.« Hoodeds Vater konnte einfach kein guter Mensch, … ich meine In-thought, sein, nachdem was ich alles über ihn gehört hatte. Und so ein Typ mit einem mächtigen Messer… Ne, lieber nicht.
»Aber dann wird er die Kontrolle nicht von mir nehmen. Dann kann ich nicht unter den Menschen leben. Und… wenn wir erstmal von hier verschwunden sind, dann kann es uns doch egal sein, was er mit dieser Welt anstellt.« Ich schluckte. Wow, für so gleichgültig gegenüber anderen hatte ich Hooded gar nicht eingeschätzt.
»Wie kann dir das egal sein? Auch wenn du dich in dieser Welt nie wohl gefühlt hast, sie war immerhin bislang dein Zuhause.«
»Zuhause ist dort, wo man am liebsten ist. Hier ist das ganz sicher nicht.«
»Trotzdem kann ich es nicht mit mir selbst vereinbaren, wenn den Leuten hier etwas passieren wird… wegen mir.« Mein ganzes Leben schon, hatte ich strenge Moralvorschriften. Die würde ich jetzt auch nicht ändern.
»Das verstehe ich, aber den Leuten hier wird nichts passieren. Wofür er dieses Messer auch immer braucht, er wird damit sicher keinen abstechen. Er ist kein schlechter Mensch, Poppy. Nur ein schlechter Vater.« Also ich weiß nicht…
»Er kontrolliert andere. Das ist schlecht.«
»Poppy, das macht In-thoughts aus. Jeder macht das hier. Noch ein Grund, warum wir dieses Messer besorgen sollten, damit ich schnellstmöglich hier weg kann.«
»Wir finden einen anderen Weg. War nicht die Rede von einem überaus mächtigen Gottheitsbaum? Vielleicht kann der uns helfen.«
»Kann er nicht. Mein Vater kontrolliert mein Erscheinungsbild gegenüber den Menschen, nur er kann es wieder rückgängig machen. Dieses Messer ist unsere einzige Chance, wenn er es nur unter den Bedingungen macht.«
Das sah ich ja alles ein, aber… »Es ist ein Messer! Wozu soll er es sonst verwenden? Ich glaube kaum, dass er damit die Karotten klein schneidet.«
»Wir könnten ihn fragen, wofür er es braucht.«
Ich musste lachen. »Ja, genau. Weil er uns auch mit Sicherheit die Wahrheit sagen wird.«
»Poppy, du musst aufhören mein Vater als Monster anzusehen. Das darf nur ich, weil er ja auch nur mich hasst. Ich bin sein Fehler, den er nie wieder gut machen kann.«
»Eine lebendige Person als Fehler zu bezeichnen macht ihn auch für mich zum Monster.«
»Gut, aber trotz allem ist er höfflich zu dem Rest der Welt, sogar zu mir eigentlich. Als wäre ich ein schiefgeratener Auflauf, den er nur mit Würgen essen könnte, aber trotzdem noch versuchte ihn mit jeder Menge Käse zu retten.« Was zur Hölle sollte dieser schräge Auflauf-Vergleich?
»Ich mag eben gerne Aufläufe«, erklärte er mir. Ich grinste. Irgendwie hatte ich mir in meinem Kopf ein eigenes Bild von Hooded und seinem Leben gebildet, das aber gar nichts mit der Realität zu tun hatte. Er aß Auflaufe in seiner Freizeit, vermutlich sogar ohne diese lächerliche Kapuze. Ehrlich, so konnte ich mir ihn einfach nicht vorstellen.
»Na schön. Fragen wir ihn was er mit diesem Messer vorhat.« Schade eigentlich, dass Hooded nicht die Gedanken seines Vaters lesen konnte, wie er mir auf den Weg hierher erzählt hatte. Einziger Vorteil, sein Vater konnte auch nicht seine Gedanken lesen. Keiner konnte das, weil er etwas war, was eigentlich nicht existieren sollte.
»Dusk!«, schrie Hooded durchs Haus. Dass er ihn nicht Dad oder so nannte, wunderte mich überhaupt nicht. Wäre ich an seiner Stelle, würde ich es auch nicht.
Wir hatten gerade fast wieder die Küche erreicht, als Dusk uns im Türrahmen abfing. »Wo drückt der Schuh?«, fragte er, obwohl er es sicherlich schon genau wusste.
»Was hast du mit dem Messer vor? Wenn du uns das sagst, werden wir es dir besorgen.« Außer natürlich, wenn sein Plan Mord beinhaltete. Aber das ist ihm sicher klar, nicht nur aufgrund meiner Gedanken.
»Darf man etwa keine Privatsphäre haben?«, fragte er eingeschnappt.
»In diesem Fall nicht, nein.« Schlicht und direkt, wie er es verdient hatte. Er sollte sich nicht ins Hemd machen. Ich und meine Gedanken bekamen schließlich auch keine Privatsphäre.
Ein tiefes Lachen ertönte aus Dusks Kehle. »Du bist echt ein amüsanter Mensch, Poppy. Kein Wunder, warum Hodded dich so sehr mag.« Er stupste sich vom Türrahmen ab und machte einen Schritt auf mich zu. »Dieses Messer, es kann einem In-thought die Kontrolle nehmen. Ziemlich praktisch, oder? Das willst du doch auch. Andere zu kontrollieren kannst du nicht ausstehen, ich weiß es genau.«
Hä? Es konnte den In-thoughts die Kontrolle nehmen? Aber warum würde Dusk das wollen?
Gerade wollte ich ihn fragen, da antwortete er mir bereits: »Selbstverständlich habe ich mir im Laufe meines Lebens Feinde gemacht, von denen ich es gerne hätte, dass sie mich nicht kontrollieren.« Okay, das war eigentlich nichts Verwerfliches. Zwar würden sich seine Feinde dann nicht mehr währen können, aber laut Hooded würden sie das auch gar nicht brauchen. Dusk war ja angeblich kein schlechter Mensch. Ob ich dem jetzt Glauben schenken würde oder nicht, zumindest würde durch dieses Messer niemand sterben.
Außerdem… wenn selbst Hooded behauptete, dass Dusk kein schlechter Mensch … äh, In-thought … war, dann muss da was dran sein. Immerhin ist die Beziehung der beiden… nun ja, nicht gerade rosig. Ich würde nicht positiv über die Person sprechen, die ich hasste, wenn es nicht der Wahrheit entsprach.
»Fein. Holen wir dieses Messer«, entschloss ich mich.
»Und der Baum? Weißt du wo der ist?«, fragte ich an Hooded gewandt.
»Den Ort kenne ich, ja. Auch wenn ich den Baum selbst noch nie zu Gesicht bekommen habe.«
Na klasse. Das konnte ja was werden. Wenn all das hinter mir lag, dann würde ich erstmal eine monstermäßige Party veranstalten. Mit oder ohne Hooded war mir egal. Okay, das war gelogen. Ich wollte ihn dabei haben. Wollte, dass er meine Freunde kennenlernte und Teil unserer Welt wurde… mit den Menschen leben konnte. Doch bis das möglich wäre, erschien es mir noch unendlich Jahre hin zu sein. War das, was wir planten nur ein dummer Traum, der eh nie wahr werden könnte?
Möglicher Weise. Aber es lohnte sich für seine Träume zu kämpfen, selbst wenn es eine Ewigkeit dauern würde.
»Echt schade, dass ich mich jetzt schon von dir verabschieden muss, Poppy. Die kurze Zeit mit dir hat mir Spaß gemacht.« Über Dusks Worte konnte ich nur die Augen verdrehen. Es war offensichtlich, dass es ihm nur so viel Spaß mit mir gemacht hat, weil er sich sicher sein konnte, dass ich ihn nicht kontrollieren würde. Dusk und seine ach-so-tollen Menschen… Der hatte echt ein Problem. Dass der Grund für meine Existenz auf nichts anderes als diesem kleinen Problem beruhte, ignorierte ich geflissentlich.
-Davids Sicht-
Heilige Mutter Gottes, ich flog! Das einzige was mich halten sollte, war diese hauchdünne Schnur… und wir waren sechs Leute. Hatte ich schon erwähnt, dass ich unglaubliche Höhenangst hatte? Nein, gut, hatte ich aber. Wenn ich fallen würde, dann…. Nach oben gucken, David. Es ist ganz einfach. Scheiße, wir würden alle sterben.
Doch bevor ich anfangen konnte zu hyperventilieren, fingen einzige der Ballons zu platzen an und wir sanken wieder. Da konnte ich nur hoffen, dass unter uns kein Gewässer lag. Hatte ich schon erwähnt, dass ich nicht schwimmen konnte… Wasser generell fürchtete? Ich weiß, Höhenangst, Wasserangst… ich hörte mich wie ein richtiges Weichei an.
Hm… könnte daran liegen, dass ich eins bin. Ich hätte ja nicht ahnen können, dass diese Luftballons uns wirklich in eine andere Welt bringen würden. Sonst hätte ich meinen Eltern wenigstens noch einen Zettel oder so hinterlassen. Oh Gott! Sie würden gerade sicher umkommen vor Sorge!
»Ich glaube ich muss wieder zurück. Meine Eltern-« Während sich immer mehr Ballons in Luft auflösten, fing Lucas zu lachen an. »Oh weh! Du hast Mami nicht Bescheid gesagt? Vielleicht hättest du die Sache besser durchdenken sollen?« Arschloch. Am liebsten hätte ich es diesem Idioten ins Gesicht gespuckt, aber das wäre unhöflich.
»Willst du wirklich wieder zurück?« Erins Blick wirkte auf mich einfach traumatisierend, aber das war ja nichts Neues. Fast wie ein Hundeblick, der mir sagen wollte, dass sie ohne mich aufgeschmissen wäre. Verdammt! Dieses Mädchen brachte mich dazu die unmöglichsten Sachen zu tun.
»Also… Naja-«, begann ich, doch Zoe unterbrach mich: »Du kannst dich jetzt eh nicht mehr um entscheiden. Wir haben nur einen Ballon, den wir für unsere Rückkehr brauchen, falls wir Poppy nicht finden.« Wie lange würden wir sie wohl suchen, bis wir einfach aufgaben? Hoffentlich nicht länger als eine Woche. Ich machte mir gerade wirklich ernsthafte Sorgen um meine Eltern.
Als auch der zweitletzte Ballon zerplatzte, befanden sich meine Füße wieder auf festen Untergrund. Puh, glücklicher Weise kein Wasser. Wir befanden uns auf Sandboden, der meine Füße komischer Weise kein Stückchen einsacken ließ, obwohl er furztrocken war. Fasziniert nahm ich etwas von dem Sand und rieb ihn zwischen meine Hände. Wow. Zwischen meinen Fingern fühlte es sich fast so an, als wäre das Schmirgelpapier statt Sand.
Im Sand steckten Öllampen, die nur in eine Richtung zu leuchten schienen – direkt in mein Gesicht. Hinter diesen Lampen war völlige Dunkelheit, was merkwürdig war, wenn man bedachte, dass Tag war. Ob es hier anders war? Immerhin befand sich über mir ein Mond.
»Ich bin dafür wir gehen ins Licht«, meinte Erin neben mir, die in die entgegengesetzte Richtung blickte. Dieser Teil schien nicht nur aufgrund der Öllampen heller, ich schwöre, am Ende des Horizonts war sogar eine Sonne zu sehen. Verrückte Welt. Ach – und wie hätte es anders sein können, zu meinem Glück befanden wir uns direkt vor einem Gewässer. Weites Gewässer, wodurch nicht mal die besten Schwimmer schwimmen konnten, stellte ich erleichtert fest. Dann waren wir gezwungen irgendwo anders lang zu gehen.
»Was ist los, David? Du guckst das Wasser vor dir an als würde es dich gleich verschlucken«, lachte Lucas. Erin drückte beruhigend meine Hand. Ach stimmt. Sie ist ja damals auch dabei gewesen bei der Feier am See. Sie und Poppy. Damals waren Erin und ich noch Fremde gewesen, beziehungsweise einfache Schulkammeraden.
»Du warst auch auf dem Boot, oder?«, flüsterte mir Erin zu. Und da fluteten die verdrängten Erinnerungen wieder direkt auf mich zu. Poppy war nicht nur auf dieser Feier gewesen. Sie hatte mit im Boot gesessen. Wer ist damals überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, mit diesem brüchigen Ding auf den weiten See zu fahren?
»Ist doch süß, wenn er nicht schwimmen kann«, meinte Zoe nur.
»Ich würde das als armselig bezeichnen«, lachte Lucas.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich musste mich echt beherrschen nicht die Fassung zu verlieren. »Vielleicht würdest du es anders sehen, wenn du gefühlte Stunden versuchst dich über Wasser zu halten, während du hilflos zusiehst, wie andere um dich herum die Kraft verlieren und aufgeben.« Ich würde das Gesicht von Sarah und Jason nie mehr aus meinen Kopf kriegen, wie sie da reglos im Rettungsboot lagen und keiner sie wiederbeleben konnte.
Ach, wie plötzlich es Lucas plötzlich die Sprache verschlagen konnte. Wo war sein Selbstbewusstsein jetzt abgeblieben? Weshalb war dieser Kerl überhaupt mitgekommen? Dass Poppy und er befreundet gewesen waren, lang schon Jahrzehnte zurück. Laut Poppy auch hauptsächlich nur, weil ihre Väter Arbeitskollegen waren.
»Ich wäre jetzt dafür, dass wir uns alle wieder lieb haben und am Wasser entlang gehen, um irgendwann einen begehbaren Weg in diese Richtung zu finden.« Gut, dass Lou mitgekommen war. Sie war die Vernunft in Person, indem sie uns immer wieder an unser Ziel erinnerte, wenn gewisse Arschlöcher es uns vergessen ließen.
»Gute Idee. Folgt mir!«, rief uns Jess über ihre Schulter zu. Sie liebte es uns Befehle zu erteilen, das konnte man ihr ansehen. Erin war eigentlich viel zu nett, um mit so jemand wie Jess befreundet zu sein. Ich würde mir von der nichts sagen lassen. Sie hatte nichts, was Erin nicht auch hatte. Poppy und Erin wären ohne diese beliebte Clique besser dran. Klar, dann wären sie vielleicht wieder Loser. Aber mir wäre das egal. Die Leute mit denen man seine Zeit verbrachte, sollten nicht über den sozialen Status bestimmen. Dann bin ich eben ein Loser, wenigstens stand ich für mich selbst.
»Ich wäre schon lange vor der geflüchtet«, meinte ich grinsend zu Erin. Wir beiden bildeten wieder den Schluss. Vor uns trottete Lucas mutterseelend allein umher, davor Lou und Zoe, die sich ab und zu mit der Bienenkönigin ganz an der Spitze unterhielten.
Erin rammte mir spielerisch ihren Ellenbogen in die Seite. Man, wie ich diese Freundschaft hasste. Wäre ich ehrlich zu ihr gewesen, könnten wir möglicherweise sogar mehr als das sein. Aber nein. Meine Verklemmtheit hatte mir wieder alles versaut, wie immer. »Hey! Auch wenn ich dich verstehen kann, dass da vorne ist meine Freundin!«
»Ja, aber warum?« Die Frage war ernst gemeint, auch wenn Erin das nicht wirklich verstand.
»Weil sie Jess ist. Sie treibt mich tatsächlich ab und zu in den Wahnsinn. Anfangs konnte ich nie verstehen, warum Poppy mit ihr befreundet war. Aber den besten Beweis haben wir hier, wie sie sich für Poppy einsetzt, um sie zu retten. Koste es was es wolle.«
»Sie ist doch nur mit, weil sie zu eurer Clique gehört. Von alleine wäre sie darauf gekommen Poppy zu retten.«
»Was?! Natürlich wäre sie das. Sie war einer der ersten, die meinte, dass wir dringend was unternehmen müssten.« Der Unglauben darüber, wie ich so etwas nur über ihre Freundin denken konnte, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Na gut. Vielleicht habe ich Jess wirklich etwas schnell verurteilt. Nur hatte ich genug Erfahrungen mit Mädchen wie sie gesammelt. Sie verarschten dich, konnten echt gefährlich werden. Ehrlichgesagt war ich einfach nur erleichtert darüber, dass Jess mich bislang ignoriert hatte.
◊
Wir spazierten noch eine ganze Weile am See entlang. War es überhaupt ein See? Mir kam es im Moment eher wie ein Meer vor. Ich wollte ja nichts sagen, aber langsam machten meine Beine schlapp. Zudem war es unheimlich, dass wir bislang noch keiner Menschenseele über den Weg gelaufen sind.
»Was haltet ihr von einer Pause?«, sprach Zoe die magischen Worte, die mir meine Beine retten sollten.
»Hat einer von euch die Uhrzeit?«, fragte Erin. Ich starrte auf meine Ice Watch, die halb sechs zeigte. Ob die Uhrzeit auch für diese Welt galt, war eine andere Frage.
»Spät genug, um ein Lager aufzuschlagen«, sagte ich deshalb einfach.
»Wie viele Zelte haben wir mitgenommen?«, fragte Lucas.
»Drei Zelte, in denen jeweils zwei Personen passen.« Nebenbei packte Lou bereits eines der drei aus ihren Rucksack aus.
»Okay, wer schläft mit wem?«, fragte Lucas.
Jess, kramte Essen hervor, was übrigens nicht lange halten würde, weshalb wir schleunigst auf Leben treffen sollten. Jeder bekam von ihr eine Brötchenhälfte als Abendessen. »Dein Ernst? Das fragst du noch?«, lachte Jess.
Zur Abwechslung konnte ich Lucas verstehen, da mich diese Frage auch interessierte. Als er Jess nur verwundert anstarrte, meinte sie: »Du schläfst ganz sicher nicht mit Erin in einem Zelt.« Hä? Was? Wie kam sie da überhaupt drauf? Wenn hier jemand mit ihr in einem Zelt schlief, dann doch wohl ich.
»Na schön. Mit wem dann? Zoe, Interesse?«, dabei wackelte er mit seinen Augenbrauen. Klar. Jeder Junge wusste, welchen Ruf Zoe hatte. Sicherlich hatten die beiden schon mal was miteinander gehabt.
»Du schläfst mit keinem Mädchen in einem Zelt, Lucas«, sagte Jess schlicht. Wie konnte sie das bestimmen? Sie hatte vielleicht in ihrer Clique das Sagen, aber über mich bestimmte sie nicht. Ich würde mir sicher nicht mit dem da ein Zelt teilen.
»Ach komm. Wir sind hier nicht auf einem Schulausflug. Eine Jungs-Mädchen-Trennung ist nicht notwendig«, fand Lucas. War sie wirklich nicht.
»Ich könnte mir mit Erin ein Zelt teilen«, schlug ich einfach vor, auch wenn es hoffnungslos wäre, wenn Jess einen Plan hatte.
»Komm, Lou. Wir bauen unser Zelt schon mal auf, während die da noch diskutieren. Wir teilen uns nämlich auf jeden Fall ein Zelt«, sagte Zoe, in der Hand die Einzelteile eines Zeltes.
»Es gibt hier nichts zu diskutieren«, meinte Jess nur.
»Doch gibt es. Ich werde mir sicher nicht mit Lucas ein Zelt teilen.« Das musste jetzt mal gesagt werden.
»Ja. Mir ist es total egal wer in meinem Zelt schläft, nur nicht er da«, dabei zeigte er doch tatsächlich mit seinen schmutzigen Fingern auf mich. Ich müsste aufgeschmissen sein, nicht er.
»Ich kann Lucas nicht zu Erin ins Zelt lassen, um sexuelle Belästigung vorzubeugen.« Äh, was?! Ich musste mich wohl verhört haben. Das hatte Jess jetzt nicht gesagt. »Und in mein Zelt kommst du nur über meine Leiche«, maulte sie Lucas an. Huch. Das war Mal eine Ansage. »Fazit: Ihr beiden teilt euch ein Zelt.« Würde mich bitte jemand erschießen?
Im Nachhinein hätte ich daran denken können mir selber Proviant mitzunehmen. Schätze, die ganze Aktion war in dem Augenblick einfach zu überstürzt gewesen. Man konnte wohl von Glück reden, dass mir jetzt trotzdem etwas zur Verfügung steht. »War echt nett von deinem Vater, dass er uns die ganzen Sachen gegeben hat.«
»Wenn man bedenkt was wir für ihn tun, dann ist es das Mindeste.« Da hatte er wohl Recht. Er hatte wirklich an alles gedacht, nicht nur an Proviant. Dass auch ich eine Kapuzenjacke tragen sollte, darauf wäre ich im ersten Moment gar nicht gekommen. Jetzt erscheint es nur logisch, immerhin sind nicht nur Halblinge für diese Welt fremd, sondern auch Menschen. Keiner von uns wusste, wie die In-thoughts reagieren würden, wenn sie auf einen stoßen würden. Man musste vom Schlimmsten ausgehen.
Zum Glück besaß Hooded mehr als nur eine Kapuzenjacke. Sie war mir zwar einige Nummern zu groß, erfüllte aber ihren Zweck. Ich fühlte mich dennoch unbehaglich in seiner Jacke. Nicht, weil schwarze Kapuzenjacken das letzte wäre, was ich tragen würde. Einfach, weil seine Kapuze ihn immer zu etwas Besonderem gemacht hat. Zu wissen, dass sie auch ein Normalo wie ich tragen konnte, war eigenartig. Sollte es eigentlich nicht, ich weiß. Es war selbstverständlich, dass er auch nur normale Kleidung trug, aber trotzdem.
»Wir sehen komisch aus«, murmelte ich in seine Richtung, woraufhin er zu lachen anfing. Ich musste bestimmt besonders ulkig aussehen, mit meinem pinken Kleid unter der schwarzen Kapuzenjacke. Geiler Kontrast! Auf jeden Fall zogen wir alle Blicke auf uns. Sie drehten sich alle zu uns um mit ihren Megaköpfen. Ansprechen tat uns aber zum Glück einer.
»Als ich herausgefunden habe, dass du unter der Kapuze noch eine schwarze Maske trägst, dachte ich, dass das doch total unbequem sein müsste sie ständig zu tragen. Jetzt muss ich feststellen, dass sie ja total angenehm auf der Haut liegen. Man spürt sie nicht mal richtig.«
»Ja, das sind keine 0815-Masken. Dusk hat ziemlich viel riskiert als er sie besorgte… vom Gottheitsbaum.«
»Ist ja fast so als hänge euer Leben nur von diesem Baum ab.«
»Ist ja auch so.«
»Mag sein, aber … Also bei uns glaubt man an Gott. Dass wir ihm unser Leben verdanken. Trotzdem hängt deshalb nicht unser gesamtes Leben von ihm ab.«
Daraufhin sagte er nichts mehr. Was hätte er auch sagen sollen? Er selbst hatte mit diesem Baum ja nicht viel zu tun, konnte also wenn dann nur für andere sprechen.
Langsam verließen wir die Siedlungen, die Anzahl der Häuser um uns wurde auch immer mickriger, stattdessen traten immer häufiger Sumpfgebiete auf. »Warum hast du es mir eigentlich nicht gesagt?« Ich brauchte nicht präziser werden. Er wusste genau, dass ich das Tragen seiner Maske meinte.
»Es ändert ja nichts. Du kannst mein Gesicht so oder so nicht sehen.«
»Ja, aber dann hätte ich nicht immer ständig auf Abstand gehen müssen, weil ich bedenken hatte dein Gesicht zu sehen.«
Er atmete einmal tief durch, bevor er mir antwortete. »Ich weiß es echt zu schätzen, dass du mir helfen möchtest. Jeder andere hätte längst das Weite gesucht. Aber ein wenig gesundes Misstrauen würde dir ganz gut stehen. Du kennst mich nicht.«
»Ich weiß, aber bei einer Sache kann ich mir bei dir sicher sein. Bislang hat dir kaum einer vertraut, alles nur weil sie voreilig über dich geurteilt haben. Auf einer Unfair-Skala steht das ziemlich weit oben.«
Natürlich hatte ich Hooded nichts erzählt, was er nicht vorher gewusst hatte. Gruselig, dass er alles über mich zu wissen schien, ich jedoch nichts über ihn. »Ich würde dich gerne besser kennenlernen.«
Er fuhr sich mit der Hand über seine verdeckte Stirn. »Da wir noch eine Weile unterwegs sein werden, läuft es wohl am Ende darauf hinaus.« Eines wusste ich zumindest schon mal über ihn. Aufgrund mangelnder Liebe auf Seiten seines Vaters, hatte er einen Minderwertigkeitskomplex, der größer als ganz Amerika war.
»Der Baum liegt irgendwo auf der anderen Seite«, sagte er plötzlich und verharrte kurz auf der Stelle.
»Auf der anderen Seite?« Welche andere Seite? Ich ließ meinen Blick dorthin gleiten, wo ihn auch Hooded hin fixiert hatte. Doch ich sah nichts, jedenfalls nichts Außergewöhnliches. Gut, natürlich warum Frösche mit riesigen Köpfen etwas eigen. Aber, … ihr wisst was ich meine. Sie waren zuvor auch schon dort gewesen.
Wenn ich es Recht bedachte, mag sein, dass es noch mehr Tümpel geworden sind. Nicht nur die Anzahl ging drastisch in die Höhe, sondern auch die Größe und Tiefe der Tümpel. Ich war mir echt unsicher, ob man das Wort überhaupt noch benutzen durfte oder ob es schon kleine Seen waren.
»Siehst du den Mond am hinteren Horizont nicht?« Jetzt wo er es erwähnte, da war tatsächlich ein Mond. Am Tag? Hä?
»Auf dieser Seite ist immer finstere Nacht, egal welche Tageszeit wir haben«, erklärte er.
»Irgendein ungutes Gefühl sagt mir, dass wir dorthin müssen, um zu diesem Gottheitsbaum zu gelangen«, stöhnte ich.
»Und dein Gefühl hat Recht.« War ja klar, dass das hier kein Kindergeburtstag war. Aber hey, ein bisschen Dunkelheit machte mir nichts aus. Nur… etwas sagte mir, dass diese Dunkelheit unser kleinstes Problem werden würde.
»Ja, es hat schon seinen Grund, warum der Ort Rund um die Uhr dunkel ist.« Toll. Musste Hooded jetzt auch noch Salz in die Wunde streuen? Sehr einfühlsam, wirklich. »Tut mir ja Leid, aber besser als wenn du dort dann böse überrascht wirst.«
»Und was erwartet mich dort? Monster?«, fragte ich lachend. Natürlich glaubte ich nicht an Monster. Andererseits, bis vor kurzem hatte ich auch nicht an In-thoughts geglaubt.
»Nicht ganz. Dass der Baum gerade dort liegt, hat einen Grund. Wir In-thoughts sollten ihn nie finden. Die Wurzeln des Baums spenden uns genug Kontrolle, aber wie jeder in diesem Universum nun mal ist, war denen das nicht genug. Verzweifelte Leute, wie mein Vater, waren dämlich genug, um ihn trotzdem aufzusuchen. Seitdem musste der Gottheitsbaum einige Schutzmaßnahmen aufstellen, da er sich selbst schlecht wehren kann, ist er einmal gefunden.«
»Was denn für Schutzmaßnahmen?« Meine Gedanken malten sich gerade die bizarrsten Dinge aus. Hofften wir mal, dass sie sich irrten.
»Keine Ahnung. Sie sehen immer unterschiedlich aus. Als ich dort war-«, wollte er gerade erklären, doch die Frage, die auf meiner Zunge brannte, musste vorher entweichen: »Warum hast du dich überhaupt da aufgehalten?«
Er räusperte sich. War es ihm peinlich? »Also… naja. Da ist es so dunkel, dass man sich prima verstecken kann. Ich hatte einen Ort, außerhalb meiner vier Wände gefunden, wo ich ohne Kapuze rumlaufen konnte.« Oh. Jetzt tat er mir wieder Leid.
»Hm… Entschuldigung, dass ich dich unterbrochen habe. Was ist dir dort passiert?«
»Glücklicherweise nichts Schlimmes. Kann daran gelegen haben, dass ich den Baum nicht finden wollte. Da waren lediglich Stimmen in meinem Kopf, die mich zuflüsterten, dass ich etwas Besonderes bin, weil ich anders bin und dass Anders gut ist. Ganz sicher waren das nicht die Stimmen der In-thoughts, die hier leben. Die würden so etwas nämlich nicht sagen.«
Mit Stimmen konnte ich leben. Besonders, wenn sie mir Komplimente machten. »Da wir dieses Mal aber wirklich zu diesem Baum wollen, könnte die Sache anders ausfallen. Von Dusk weiß ich, dass er darin fast wahnsinnig wurde. Mag sein, dass ihn dort wirklich Monster heimgesucht haben.« Wie er es doch immer wieder schaffte meine Hoffnungen, meine kleine rosarote Wolke zu zerplatzen.
Gerade wollte ich mich wieder in Bewegung setzten, wäre dabei jedoch fast in den Tümpel/See vor mir gefallen. Mein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken, noch einmal komplett dem Wasser ausgeliefert zu sein. Auf der Wasseroberfläche erblickte ich eine Fliege, die nicht so viel Glück wie ich gehabt zu haben scheint. Ihre kleinen Beinchen zappelten hilflos umher.
Als im nächsten Augenblick eine Biene des Weges kam, direkt über die Fliege hinweg flog, traute ich meinen Augen kaum, als die Fliege es plötzlich wieder schaffte sich aus dem Wasser zu befreien. Wie war das denn bitte möglich gewesen? Hatte die Biene etwa…
»Ja. Das ist eine andere Möglichkeit seine In-thoughts-Fähigkeiten zu benutzen. Die Bessere, offensichtlich«, erklärte Hooded das Gedankenwirrwarr in meinem Kopf.
-Lous Sicht-
Ich tat so, als würde ich tatsächlich schlafen. Ignorierte die hämmernden Geräusche, die von unten zu mir hoch dröhnten. Die Hände unter meiner Decke waren schweißgebadet, noch ein Grund, warum ich einfach nicht in den Schlaf finden wollte. Irgendwas stimmte hier nicht und zwar gewaltig. Mein Griff um Mr. Teddy verstärkte sich. »Komm, Mr. Teddy. Es ist wieder an der Zeit, um nachzusehen, ob mit Mami alles in Ordnung ist.«
Die Tür, die ich gerade öffnen wollte, öffnete sich plötzlich von selbst. Nein, doch nicht. Mami stand direkt vor mir, vor sich der Kinderwagen. Wie hatte sie den denn nur? Dafür war ich doch inzwischen schon etwas zu alt. »Ich dachte schon, du würdest nie mehr ins Bett kommen, Mami. Ich hatte Angst.«
Sie antwortete nicht. Mann, da rannten wieder diese Tränen über ihre Augen, die ich nicht mochte. »Es tut mir Leid, Lou. Ich schaff das einfach nicht mehr. Ich habe es versucht.« Dann kam sie auf mich zu, wollte mich in den Kinderwagen zerren. »Mami, es ist zu spät, um spazieren zu gehen. Ich brauche ihn auch nicht-«
Da wurde mir klar, dass sie damit gar nicht fahren wollte. Er wurde zum Maxi-Cosi umfunktioniert. Der Gurt an meinem Bauch war eng und es war keine Frage, dass ich hier nicht reingehörte. Im Notfall konnte ich es jetzt gerade so aushalten, aber was-
»Was hast du vor, Mami? Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Du wirst mich einfach nie glücklich machen können.«
-
Ich schreckte hoch. Man sollte meinen, dass ich das inzwischen schon gewohnt wäre. Dennoch raste meine Atmung als gäbe es keinen Morgen. Ich drehte mich zu Zoe um, die glücklicherweise noch seelenruhig schlief. Puh, dann hatte ich sie nicht aufgeweckt.
Im Laufe der Zeit hatte sich mein Traum ständig geändert. Meine Erinnerungen sind verblasst, ohne Zweifel. Es würde mich nicht wundern, wenn das Meiste einfach nur meiner blühenden Fantasie entsprungen war. Es gab jedoch eine Ausnahme, die sich all die Jahre nie verändert hatte. Der letzte Satz: Du wirst mich einfach nie glücklich machen können.
Selbst wenn der komplette Rest nur erfunden war, ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass dieser Satz die eiskalte Realität war. Verzweifelt vergrub ich meinen Kopf in das Kopfkissen. Verdammt, Lou! Du bist krank. In deinem Leben gibt es zwei wundervolle Eltern, die dich über alles lieben. Hör auf dir über alles den Kopf zu zerreißen. Dir geht es gut. Du hast in der Schule gute Noten. Mami wäre stolz auf dich, wüsste sie, zu welchem Mädchen du herangewachsen bist.
Das war das Schlimmste daran. Nicht die Träume, sondern der Gedankenfluss in meinem Kopf, der einfach nicht verschwinden wollte. Anschließend wieder den Schlaf zu finden ist zwecklos. Ob ich draußen einen klaren Kopf finden würde? Zuhause half es mir eine Runde auf dem Crosstrainer zu laufen, nur stand der mir hier ja nicht zur Verfügung. Schaden konnte es bestimmt nicht. Besser als dieses hilflose Rumliegen.
Leise, so dass Zoe nicht wach wurde, zog ich den Reißverschluss zu unserem Zelt auf. Ich schlüpfe in meine Schuhe, die ich am Zelteingang gelagert hatte. Dann atmete ich mit großen Zügen die fremde Abendluft ein. Sie erinnerte mich an den Geruch, den man immer wahrnahm, wenn man etwas Neues beschnupperte – mein Lieblingsgeruch.
Ich hatte meine Schuhe schon wieder ausgezogen, weil ich mich spontan dazu entschlossen hatte, meine Füße etwas in das Wasser zu halten. Das entspannte bestimmt am besten. Doch dann erblickte ich plötzlich einen Schopf roter Haare, der sich auf dem Sand unmittelbar vor dem weiten Meer, niedergelassen hatte.
Ich legte meine Schuhe zurück ins Zelt, um barfuß über den Sand laufen zu können. Dass er sich hier grober unter den Füßen anfühlte, hatte etwas von einer Fußmassage. Meine Augen fixierten das weite Gewässer, während ich mich neben Jess in den Sand setzte. Diese drehte sich überrascht zu mir um. »Was machst du hier?«
»Albtraum. Jetzt kann ich nicht mehr schlafen. Und warum bist du hier?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nachdenken. Kann deshalb auch nicht schlafen.«
Ich beäugte sich skeptisch. »Du hast es gar nicht erst versucht, oder? Du hast dich noch nicht abgeschminkt.« Witzig, aber obwohl wir schon so lange befreundet waren hatte ich Jess glaube ich noch nie ungeschminkt gesehen.
Da sie mir nicht antwortete, versuchte ich es anderweitig: »Über was denkst du denn nach?«
Immer noch keine Antwort, auch wenn sie sich inzwischen zu mir gedreht hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit murmelte sie: »Hauptsächlich denke ich gerade an mein Zuhause.«
»Ja, kann ich verstehen. Ich vermisse meine Eltern auch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Kurz bevor ich von Zuhause weg bin, gab es da noch eine Sache, die ich vorher eigentlich klären sollte – habe ich aber nicht.«
»Hättest du im Nachhinein aber gerne?«
»Ich weiß es nicht.« Tja, das war eben Jess. Verschlossen wie eh und je.
Eigentlich brachte es nichts noch weiter nachzubohren, dennoch fühlte ich mich verpflichtet zu sagen: »Wenn du mit jemanden darüber reden möchtest, ich habe immer ein offenes Ohr für dich. Das weißt du.«
Sie seufzte. »Ich weiß.« Damit sollte das Thema eigentlich abgeharkt sein, doch überraschender Weise sagte sie: »Meine Mum hat einen neuen Typen: Mr. Fell.«
Mr. Fell? »Du meinst Mr. Fell wie unser Biolehrer Mr. Fell? Das Arschloch Mr. Fell?« Sie nickte. Okay, das ist wirklich hart.
»Hm… Ich glaube es war gut, dass du das jetzt erst noch ungeklärt gelassen hast.«
Verwundert hob sie die Augenbraue. Mit dieser Reaktion hatte sie wohl nicht gerechnet. »Warum das?«
»Weil du dann wüsstest, was das genau zwischen den beiden ist. Schätze, das hätte nur noch mehr Sorgen mit sich gebracht.«
»Tja, aber das ist nun Mal die Realität… voll von Sorgen.«
»Mag sein. Aber wir können uns immer noch unsere eigenen Momente kreieren, die frei von allen Sorgen sind und einfach Spaß haben.«
»Was meinst du?«, fragte sie verblüfft. Anstatt einer Antwort zog ich mir einfach mein Oberteil über den Kopf.
»Äh … Was wird das?«
»Ich gehe jetzt baden und du solltest das Gleiche tun.«
Jetzt stand ich nur noch in Unterwäsche da, bereit einfach ins Wasser zu laufen. Jess starrte mich weiterhin sprachlos an. »Was? Wir haben Wechselkleidung und sogar Handtücher eingepackt. Jetzt komm schon!«
»Nein, danke. Ich verzichte.«
»Komm schon. Irgendwann solltest du sowieso mal baden. Warum nicht jetzt? Nachtbaden ist cool. Dann kommt auch mal dein ganzer Haufen Schminken ab. Es ist nämlich nicht gut mit Schminke zu schlafen, Jess.« Als sie ihren Blick plötzlich abwand und gen Boden richtete, wusste ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
»Ach komm schon, Jess. So viel schlimmer kannst du ungeschminkt auch nicht aussehen.«
»Doch kann ich. Ich habe mir verdammt viele YouTube-Tutorials angeguckt, um diese verdammte Akne zu überdecken. Kanntest du mich als ich noch ein Loser war? Hast du dir gemerkt, wie ich da ausgesehen habe? Nun, in Wahrheit hat sich nichts geändert.«
Eine blasse Erinnerung hatte ich noch von dem rothaarigen Mädchen mit den Zöpfen, der Zahnspange (die sie offensichtlich aber losgeworden war) und der von Pickeln übersehenden roten Haut. »Aber Jess! Solltest du inzwischen nicht wissen, dass wir nicht wegen deiner Beliebtheit und deinem hübschen Aussehen mit dir befreundet sind, sondern weil wir dich mögen.«
Ein kleines Lächeln huschte über ihren Mund. »Das hoffe ich. Aber… Naja…« Sie verstummte.
»Du machst dir Sorgen wegen Lucas, oder? Dass er es in der Schule rumerzählt und du wieder zum Loser wirst.« Sie nickte eingeschüchtert. Warum noch gleich hatten wir diesen Blödmann mitgenommen?
»Weißt du was? Lass den mal meine Sorge sein. Und jetzt spring endlich mit mir in dieses verdammte Meer oder See, was weiß ich!« Ich grinste ihr zu und sie grinste zurück. Geht doch. »Okay«, sagte sie und zog sich ebenfalls um. Ihr Körper war im Gegensatz zu meinem einfach perfekt. Sie musste dafür viel trainiert haben, um so auszusehen. Jess sollte wirklich weniger Wert auf ihr Aussehen legen.
»Zusammen?«, fragte ich und streckte ihr meine Hand entgegen, die sie ergriff. »Eins, zwei, drei.« Und dann liefen wir als ginge es um unser Leben. Sprangen mit voller Karacho ins Wasser, sodass es nur so spritzte. Irgendwie fühlte sich das Wasser an meinen Beinen anders an, nicht so flüssig, obwohl es genauso flüssig schien. Es fühlte sich aber gut an.
Ich fuhr mit meinen lackierten Fingernägeln durch das merkwürdige Wasser, um Jess damit abzuspritzen.
»Hey!«, schrie sie mich an. Fing im nächsten Moment aber lauthals zu lachen an. »Das gibt Rache!«
»Oh nein!«, kreischend lief ich durchs Wasser, auf der Flucht vor Jess, die jetzt nur noch mehr Wasser auf mich los feuerte.
»Was ist hier denn los?«, ertönte plötzlich eine Stimme. Ups, verdammt! Wir hätten leiser sein sollen, hatten ganz vergessen, dass die anderen ja noch schliefen. Doch jetzt schienen wir alle mit unserem Gelächter aufgeweckt zu haben.
-Lucas Sicht-
»Hör zu. Diese Seite des Zeltes gehört mir. Damit meine ich, komplett mir. Wehe ich sehe auch nur eine Sache hier drüben, die zu dir gehört. Haben wir uns verstanden?« Jemand wie David brauchte klare Ansagen, sonst würde das Ganze irgendwann ausarten.
»Ja, das gleiche kann ich nur zurückgeben.« Er dachte, er hätte etwas zu melden? Süß.
»Ich hoffe für dich, dass du nicht schnarchst«, keifte ich, einfach nur so.
»Dito.« Mann, regte mich dieser Typ auf. Wer glaubte er, dass er war? Wäre das hier ein Schulausflug, dann würde er es sich nicht trauen diese Worte zu mir zu sagen.
»Hör auf mit der Scheiße.« Wie durch ein Wunder sagte er im Anschluss tatsächlich nichts mehr. Zufrieden, das letzte Wort gehabt zu haben, stieg ich in meinen Schlafsack und machte es mir gemütlich. Meine Augen waren geschlossen, ich war bereit in meine Traumwelt einzutauchen, als plötzlich seine verdammte Stimme neben mir erdröhnte. Kopf ab, so einfach ist das.
»Was?!«, brummte ich, weil ich wirklich kein einziges Wort von seinem Bullshit aufgenommen hatte.
»Versuche wenigstens mit mir klar zu kommen. Wir sind die einzigen Männer hier. Müssen wir deswegen nicht zusammenhalten?« Sein Ernst?
Ich richtete mich wieder aus meiner gemütlichen Position auf. »Du hast mich geweckt, weil du findest wir sollten netter zueinander sein?« Der Typ war ein Witz.
»Du hast schon geschlafen? Und nein. Ich habe dich eben gefragt, ob du mal was mit Erin gehabt hast – oder noch am Laufen hast.« Jetzt musste ich doch grinsen. Daher wehte der Wind also.
Na gut. Aber nur, weil er es so gewollt hatte. »Ja, wusstest du das nicht? Sind wir nicht das Pärchen schlechthin in der Schule?«, spottete ich.
»Oh. Das wusste ich ja gar nicht.«
»Naja, Privatsphäre ist uns natürlich sehr wichtig.«
»Seit wann denn schon?« Der konnte ja Fragen stellen. Klar, dass er selber was von Erin wollte. Ich wäre zu gerne dabei, wenn Erin ihn fallen lässt.
»Drei Monate«, meinte ich schulterzuckend. Ich denke, das wäre ein guter Zeitraum.
Plötzlich fing David an breit zu grinsen. Warum grinste er?
»Dann scheint das aber keine solide Beziehung zu sein, wenn sie andere Typen küsst.« Was? Erin hatte David geküsst? Och nö. Ich war davon ausgegangen, dass die Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhten. Immerhin redeten wir hier von Loser-David. Sie könnte doch jeden haben. Warum nimmt sie gerade den?
Etwas überfordert legte ich mich wieder hin. »Wir führen eine offene Beziehung.«
»Ah, die Art von Beziehung, die bedeutet: Ich liebe dich nicht, aber lass trotzdem zusammen sein.« Genau die, Idiot.
»Tja. Irgendwann wird sie aber jemanden finden, den sie wirklich liebt und für den wird sie dich dann verlassen«, meinte er als wäre er Mutter Theresa höchstpersönlich.
»Denkst du, dass du mich so ärgern kannst? Es kümmert mich nicht, wenn Erin mich für einen anderen verlassen würde.« Außer, wenn du es bist, aber das hat nichts mit mir zu tun.
»Also bist du einer von der Sorte, der zu keinen Gefühlen fähig ist? Das kann ich mir nämlich nicht vorstellen, sonst wärest du nicht mitgekommen, um Poppy zu retten. Sie bedeutet dir etwas.«
»Bist du irgendwie hirngestört? Ich habe nie behauptet nichts zu empfinden, sonst wäre ich ja ein Roboter. Mir wäre es nur egal, wenn Erin sich einen anderen sucht.« Eine Ausnahme bestätigt wie gesagt die Regel.
Erleichtert, dass er mich jetzt endlich in Ruhe zu lassen schien, entspannte ich mich jetzt gänzlich. Der Tag war echt anstrengend gewesen, was meine Knochen auch andeuteten. Das Liegen tat wirklich gut.
»Liebst du sie?«, fragte er plötzlich. Grrr, war das sein beschissener Ernst?!
»Hast du mir gerade überhaupt zugehört? Wenn Erin einen anderen hat, dann-«, wollte ich sagen, doch David unterbrach mich: »Ich rede auch nicht von Erin.«
Ich seufzte. Dass er ein Weichei darstellte, war mir bereits bekannt. Bestimmt sprach er in seiner Freizeit gerne über so etwas wie Gefühle und das gerade bedeutete Hobbyverwirklichung. Da hatte er sich aber das falsche Opfer gesucht. »Wieso sollte ich sie lieben, wenn sie mich immer wieder verlässt?«
»Du liebst sie also.« Sag mal, war der irgendwie taub?!
»Ich weiß es nicht, okay? Ich dachte es mal… aber jetzt bin ich mir da nicht mehr sicher.«
»Warum? Weil du jetzt zu cool bist, oder was?« Warum unterhielt ich mich überhaupt mit diesem Spinner darüber? Der hatte doch gar keine Ahnung.
»Beziehungen halten sowieso nicht. Irgendwann gibt es nur noch Streit. Man weiß, dass man sich trennen sollte, tut es aber trotzdem nicht, weil man sich irgendwie verpflichtet fühlt die Beziehung zu retten.«
Ich drehte mich auf die andere Seite, sodass ich ihn nicht mehr in die Augen gucken brauchte. »Weißt du, das gilt nicht für alle Beziehungen. Meine Großeltern haben schon goldene Hochzeit gefeiert und sind immer noch total glücklich miteinander.«
»Schön. Die Beziehungen in deiner Familie mögen halten, aber meine sind bestimmt zum Scheitern verurteilt.«
»Was hat das denn damit zu tun? Das hat was mit dem Partner zu tun und ob er der Richtige ist.«
»Und du glaubst, dass Poppy die Richtige für mich ist?«, fragte ich lachend. »Wäre sie das, dann wäre sie jetzt bei mir und nicht bei diesem gruseligen Typen mit der Kapuze.«
»Poppy ist doch nur bei ihm, weil er Hilfe braucht. Und wie Poppy nun mal ist, hilft sie. Deshalb magst du sie doch, oder?« Das wurde mir wirklich zu blöd. Der Typ glaubte von allem Ahnung zu haben, obwohl er das nicht hatte.
»Ich werde jetzt schlafen«, brummte ich.
»Na schön. Nur tu dir selbst den Gefallen und lass dein Herz nicht zu Stein werden.« Zu Stein werden? Der hatte doch irgendwas geraucht.
◊
Irgendwann musste ich trotz Davids nervigem Gelaber doch eingeschlafen sein. Auf jeden Fall war ich in der Lage durch ein schallendes Gelächter von draußen wach zu werden. David neben mir, saß plötzlich kerzengerade im Bett. »Hast du das auch gehört?«
»Ja. Vermutlich werden die uns gleich holen und anschließend essen«, lachte ich. Dieser Loser würde mir vermutlich sogar glauben.
»Das ist nicht witzig«, funkelte er mich an. Ohne weiter auf ihn einzugehen, suchte ich meine Sachen zusammen, um zu gucken, was draußen los war. Er brauchte zwar noch einen Moment, um zu schnallen was ich vorhatte, doch dann folgte er mir.
»Was ist hier denn los?«, fragte ich, als ich bemerkte woher der Lärm kam. Lou und Jess hielten es anscheinend für angebracht, jetzt mitten in der Nacht (keine Ahnung wie spät wir es wirklich hatten), baden zu gehen. Als sie uns erblickten liefen sie beschämt aus dem Wasser, um sich ein Handtuch umzulegen.
Jess huschte an mir mit gesenktem Blick vorbei. Die Schminke war ab, wie es aussah. Aber auf ihr Gesicht achtete ich im Moment auch gar nicht, musste ich gestehen. Mann, hatte die einen durchtrainierten Körper! Jetzt konnte ich Cody irgendwie besser verstehen, wenn er davon sprach wie heiß Jess ist. Klar, ihre Wimperntusche war verschmiert und das bröckelige Make-up zeigte gerötete Mittesser. Aber das sah Cody ja für gewöhnlich nicht, wenn sie alles perfekt überdeckt hatte.
Lou, die sich bereits ein Handtuch umgelegt hatte, kam mit großen Schritten auf mich zu. Es schien ihnen peinlich zu sein, weil sie in Unterwäsche baden gegangen sind. Ich würde das nie verstehen. Mit Bikini hätten sie doch genauso viel Haut gezeigt… aber naja, ein ungelöstes Mysterium.
»Ihr hättet uns ruhig Bescheid sagen können. Dann wären wir alle gemeinsam baden gegangen«, grinste ich.
Mein Angebot ignorierte sie einfach und kam direkt zum Punkt: »Ich warne dich, wenn du in der Schule auch nur ein Wort über Jess’ unreine Haut verlierst, mache ich dich einen Kopf kürzer.« Natürlich war ihre Drohung lachhaft. Die kleine Lou hätte nicht die Kraft mir auch nur ein Haar zu krümmen. Auch wenn sie ihren Standpunkt ziemlich deutlich machte.
Desinteressiert zuckte ich mit den Schultern. »Keine Sorge, ich hätte eh nichts gesagt. Die neue Jess ist mir und jedem anderen auch, viel lieber.« Jeder wusste, dass ich nicht gut lügen konnte. Das hatte sich irgendwann mal in der Schule rumgesprochen. Es stimmte irgendwie, auch wenn ich es besser konnte, als die meisten glaubten. Jedenfalls war dieses Gerücht der Grund, warum Lou nicht weiter nachbohrte und mir in der Sache einfach vertraute. Konnte sie auch. Ich sah keinen Grund, warum ich die alte Jess wieder aus der Schublade locken sollte.
All diese Unmengen an Tümpeln vereinten sich irgendwann zu dem riesigen See, über den wir bei unserer Ankunft gerannt waren. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde bei der Berührung von Wasser, keine schlotternden Knie zu bekommen.
Andererseits, je länger ich es tat, desto mehr fühlte es sich an als würde ich lediglich über eine riesige Pfütze laufen, anstatt über ein metertiefes Gewässer. Irgendwie liebte ich die Tatsache, dass ich das Wasser tatsächlich besiegen konnte… zumindest in dieser Welt. Auch wenn ich es dieses Mal nicht so sehr genießen konnte, wie beim ersten Mal. Ständig zergrübelte ich mir darüber den Kopf, was uns gleich erwarten würde.
Wäre es möglicherweise sogar lebensgefährlich? Wenn dem so sei, dann wäre ich nicht mitgekommen. Aber das wussten wir natürlich nicht. Es wäre mehr als ärgerlich, wenn wir deshalb einfach aufgeben würden und uns am Ende nur nervige Stimmen erwarteten. »Das wird schon«, versuchte Hooded mich zu beruhigen, auch wenn mir das nicht wirklich weiterhalf.
In der Ferne war jetzt endlich das andere Ufer zu sehen. Hatte ja auch lang genug gedauert. Eine Pause wäre jetzt erstrebenswert, ob die wohl drin lag? Ich traute mich nicht zu fragen, weil wir dann wegen meiner Kraftlosigkeit wertvolle Zeit verlieren würden. »Natürlich können wir eine kleine Pause machen, bevor wir da rein gehen. Ich bin ja selbst nicht unbesiegbar und brauche auch Pausen«, meinte Hooded. Ja, an dieses Gedanken-lesen-Ding würde ich mich wohl nie gewöhnen. Für Menschen war es ja auch undenkbar.
»Danke«, murmelte ich daraufhin einfach.
»Nichts zu danken. Ich kann froh sein, dass du überhaupt mitgekommen bist.« Und ich konnte vermutlich froh sein, dass ich für eine Weile von meiner Mutter weg kam. In letzter Zeit hatte sie üble Stimmungsschwankungen. Dass ich letztens nicht zu Heathers Party durfte, war das beste Beispiel dafür.
Hooded holte eine Decke aus seinem Rucksack, auf die wir uns dann niederließen. Wir drehten uns so, dass wir auf den See blicken konnten. Die Dunkelheit hinter uns bekamen wir später noch genug zu sehen. Vorsichtig zog ich die Notnägel an meinen Fingern ab. Natürlich fingen sie danach wieder weltuntergangsmäßig zu bluten an, aber ich wurde einfach kirre, wenn sie dran blieben.
»Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, was zwischen uns in meiner Kindheit passiert ist.« Keine Ahnung, wie ich jetzt gerade auf dieses Thema kam, aber irgendwo mussten wir uns ja drüber unterhalten.
»Äh, eigentlich nichts Besonderes. Also nicht der Rede wert.«
Irgendwie nervte es schon, dass er mir gegenüber so verschlossen war. Eigentlich war das eine Aufforderung dazu gewesen, mir etwas über die Zeit zu erzählen. »Ist trotzdem irgendwie schade. Ich wüsste gerne alles, was ich erlebt hatte.« Klar war das auch ohne Gedankenkontrolle nicht immer möglich. Ich wusste längst nicht mehr alle Dinge aus meiner Kindheit, dennoch die Wichtigsten. Was, wenn dieser Erinnerungsfetzen auch wichtig gewesen wäre?
»Wir haben eine Weile zusammen gespielt, bis wir festgestellt haben, dass es keine Freundschaft auf Dauer werden könnte.«
»Ganz schön tiefgründig waren wir ja für unser Alter. Ich dachte, in diesem Alter spielt man einfach, ohne lange darüber nachzudenken.«
Hooded lachte. »Ja, aber In-thoughts und auch halbe In-thoughts denken für gewöhnlich generell mehr.«
»Also lag es an dir, dass unsere Freundschaft zerbrach.«
Es zwar keine Frage, trotzdem antwortete er: »Ich schätze schon. Aber hättest du in diesem Alter schon rationaler gedacht, dann wärest du mir dankbar gewesen.«
Eine kurze Pause entstand, in der ich über seine Worte nachdachte. Ob er das wirklich einfach so beurteilen konnte? Hätte ich ihn mit aller Vernunft wirklich vergessen wollen? Konnte ich mir irgendwie kaum vorstellen. »Tja. Jetzt kann ich aber rational denken. Trotzdem bin ich noch hier, um dir zu helfen.«
»Ja, du bist schon etwas komisch, weißt du das?« Er schaute mich endlich mal wieder direkt an. Natürlich war alles, was ich sah Finsternis. Trotzdem mochte ich das Gefühl, dass er sich nicht ständig von mir abwandte. »Du bist vermutlich einfach ein hilfsbereiter Mensch und ich brauche zurzeit Hilfe. Wenn wir das erreicht haben, was wir wollten, ich keine Hilfe mehr brauche, dann könntest du deine Meinung ändern.«
Seine ständigen Zweifel nervten mich gewaltig. »Jetzt hör endlich auf alles so negativ zu sehen! Die Menschheit hat sich geändert, ist viel humaner geworden. Anders wird inzwischen akzeptiert. Wir bekommen es schon hin, dass sie auch dich akzeptieren.«
»Das wird eine halbe Ewigkeit dauern, vermutlich.«
Realistisch betrachtet, hatte er vermutlich Recht. Ich meine, wie lange hatte es gedauert, dass die Homo-Ehe legalisiert wurde? Und in den meisten Ländern war es immer noch nicht erlaubt. »Stimmt, es wird eine halbe Ewigkeit dauern. Aber es würde sich lohnen dafür zu kämpfen.«
Inzwischen hatte er seinen Blick wieder von mir abgewandt und starrte auf den sandigen Boden vor sich. Wie sehr ich mir gerade wünschte auch seine Gedanken lesen zu können. Ob meine Worte wohl bei ihm angekommen sind? Ob sie etwas in ihm ausgelöst haben?
»Haben sie«, murmelte er, als Antwort auf meine Gedanken, wie er es so gerne tat.
»Gut! Dann kämpfen wir, damit du endlich eine Heimat findest, Hooded.« Ich schmunzelte über meine Worte, weil sie sich irgendwie wie die einer Anführerin anhörten. Ein Job, in dem ich noch nie gut gewesen war. Diesen Part hatte ich schon immer liebend gern Jess überlassen.
»Ich kann’s ja gar nicht glauben! Was ist hier Heute los? Normaler Weise trifft man zwischen Licht und Dunkelheit nie jemanden.« Als ich eine fremde Stimme hörte, die ich eindeutig nicht zuordnen konnte, zuckte ich automatisch zusammen. »Ein Stück weiter westlich habe ich Zelte gesehen. Gibt es hier Heute etwas umsonst?«
Ein Blick nach hinten und ich blickte augenblicklich in das merkwürdige Gesicht eines In-thoughts. Eindeutig ein Mädchen, was mir nicht nur ihre Stimme verraten hatte, sondern auch generell ihr Erscheinungsbild.
Da waren uns die In-thoughts gar nicht so verschieden. Ihre langen Haare hatte sie hochgesteckt, trug Make-up, sogar ihre Kleidung hätte sie gerne mit mir tauschen können.
Als sie uns genauer in Augenschein genommen hatte, weiteten sich ihre Augen. »Was seid ihr den für komische Vögel, dass ihr euer Gesicht nicht zeigen mögt?«
Am liebsten hätte ich mich jetzt noch weiter in mein Mäuseloch verkrochen. Ich hatte einfach keinen Schimmer wie ich in so einer Situation reagieren sollte.
Hooded neben mir allerdings, nahm das alles total locker, war sicher auch schon ziemlich geübt mit solchen Momenten. »Es gibt auch hässliche Leute, weißt du.«
Die In-thought fing zu lachen an. »Ja, aber dazu kann man doch trotzdem stehen.«
»Wir sind halt schüchtern«, sagte er schulterzuckend.
Währenddessen starrte ich einfach in den Bereich zwischen meinen Kniekehlen. Hooded würde sie schon irgendwie abwimmeln. »Nun sagt schon. Was verschlägt euch hier her?« Ob er der Fremden wohl die Wahrheit sagte? Ehrlichgesagt hatte ich keinen blassen Schimmer, ob der Besuch dieses Gottheitsbaums etwas war, was man besser verschwieg.
Hoodeds folgenden Worte sprachen jedenfalls dafür: »Ist das nicht offensichtlich? Ich meine, warum bist du hier? Man geht nicht freiwillig hier hin, außer man möchte sich von den restlichen In-thoughts abschotten.«
Das Mädchen lächelte, wodurch ihre strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen, die ich echt beneidete. »Ja, ja. Tu nicht so. Du weißt genau, dass es auch die Sorte von In-thoughts gibt, die wegen etwas anderem hier sind. Kleiner Tipp: Es ist mehrere Meter groß, hat Wurzeln-«
»Ist ja gut. Deswegen sind wir aber nicht hier.« Hooded versuchte die Anspannung in seiner Stimme zu verdecken, was ihm meiner Meinung nach aber eher mäßig gelang. Er wusste genauso gut wie ich, dass wir schleunigst von ihr verschwinden sollten bevor…
»Ach, deshalb diese Kapuzen! Ihr seid Menschen! Du meine Güte! Wow! Ich hätte nie gedacht, dass ich mal welche persönlich treffen würde.«
… sie noch meine Gedanken lesen würde. Ganz klasse. Es würde nicht mehr lange dauern, dann wüsste sie alles. Wir sollten schnell von hier verschwinden, beziehungsweise ich durfte nicht mehr über bestimmte Dinge nachdenken, was natürlich nur schwer möglich war.
»Aber warum kann ich deine Gedanken nicht lesen?« Bitte stell nicht diese Frage! Auf Fragen musste mein Gehirn in Gedanken automatisch antworten, ob ich es will oder nicht. »Ach, du großer Gott! Auf was für zwei bin ich hier denn gestoßen?« Sowohl Hooded als auch ich hatten uns nun erhoben, eigentlich um weiterzuziehen – uns schnell von ihr zu verabschieden.
»Das könnte interessant werden«, meinte sie. Doch nachdem das Mädchen vor uns eine Strähne hinter ihr Ohr gestrichen hatte, das sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hielt sie uns ihre Hand entgegen. Da stand fest, dass sie uns nicht so schnell gehen lassen wird. »Ich bin übrigens Resistance, aber alle nennen mich Resi.« Klasse, dann konnten wir nicht mal versuchen sie abzuwimmeln, wenn sie Wiederstand leisten würde.
-Zoes Sicht-
Ich hatte nicht vermutet, dass man in einem engen Zelt tatsächlich passabel schlafen konnte. Mehr als passabel, denn ich hatte geschlafen wie ein Baby. Als ich den Vorhang aufgezogen hatte, musste ich feststellen, dass ich sogar am längsten geschlafen hatte. Alle anderen saßen bereits zusammen, um zu Frühstücken. Es gab den Proviant aus unseren Rucksäcken – und sogar Äpfel? Wo waren die denn her? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir welche mitgenommen hatten.
»Guten Morgen. Es gibt Äpfel?«, begrüßte ich den Rest von meinem Team.
»Jep. Lou und ich haben die ein Stück weiter gefunden. Irgendwie lustig, dass es hier auch Äpfel gibt, oder?«, meinte Jess. Wow, okay. Eine ungeschminkte Jess. Auch wenn ich es nicht wollte, kamen plötzlich wieder die Bilder der damaligen Jess in meinen Kopf, die dieser hier sehr ähnelten.
Um ja nicht zu lange zu starren setzte ich mich schnell in Bewegung, damit ich auch noch eine Kleinigkeit essen konnte, bevor es weiter ging. »Das ist wirklich lustig. Aber noch lustiger wäre es, wenn ihr hier auch Pizza am Baum finden würdet«, meinte ich grinsend.
»Oh ja! Das wäre geil. Pizza oder Döner«, stimmte Lucas mir zu.
»Das ist hier doch nicht das Schlaraffenland«, tadelte David.
So leise, dass nur ich und Erin es verstehen konnten, da wir neben ihm saßen, murmelte Lucas: »Stimmt. Sonst wärest du nicht hier.«
Ich weiß, dass diese Bemerkung von Lucas gemein war, aber ich kam nicht drum herum kurz in meine Hand zu grinsen. Erin auf der anderen Seite, rammte ihn dafür ihren Ellenbogen in die Seite. Sein anschließendes Stöhnen hielt er aber gekonnt zurück.
»Wie kann es eigentlich sein, dass dich Lou und Jess nicht wachgemacht haben? Ihr Gelächter hätte man selbst aus einer einen Kilometer weiten Entfernung vernommen«, fragte mich Erin.
Perplex starrte ich Lou und Jess links von mir an. »Wieso? Was habt ihr ausgefressen?«
»Ausgefressen?! Wir hatten Spaß, Schwester. Solltest du auch mal versuchen«, neckte mich Lou. Haha.
»Du und Spaß? Ich bin ein Profi was Spaß angeht. Manchmal werde ich auch Queen of fun genannt, weißt du?« Zumindest dann, wenn ich unter meinen Freunden war.
»Keiner nennt dich so. Das hast du dir gerade ausgedacht.« Tja, Lou kannte mich eben zu gut.
Das war nicht mal gelogen. Den einen Teil von mir kannte sie wirklich so gut wie kein anderer. Besser kannte mich vermutlich nur noch meine eigene Mutter.
»Wir haben übrigens beschlossen Land einwärts zu gehen. Alle haben das Gefühl, dass es nicht mehr bringt wenn wir weiter am Wasser entlang laufen«, teilte mir Jess mit.
»Land einwärts? Da, wo’s dunkel ist?« Ich hatte nicht wirklich Angst vor der Dunkelheit. Könnte mir vorstellen, dass andere da größere Probleme mit hatten, ohne jetzt irgendwelche Namen zu nennen.
»Ja, aber wir haben ja eine Taschenlampe«, sagte Lou und hielt mir das Ding vor die Nase.
»Oh, dann bin ich aber beruhigt«, meinte ich mit jeder Menge Sarkasmus in meiner Stimme.
»Hast du überhaupt vor etwas Angst?«, fragte mich David, was Lucas wieder reichlich amüsant fand. Ich konnte mir wohl vorstellen, was er gerade dachte.
»Natürlich, David. Jeder hat vor etwas Angst.« Dabei bedachte ich Lucas mit einem strengen Blick, der sagen sollte: Ja, auch du.
»Nur fürchten die meisten von uns Sachen, die auch wirklich zum Fürchten sind. Dunkelheit gehört für gewöhnlich nicht dazu«, wollte Lucas klarstellen. Okay, langsam ging mir dieser Krieg zwischen den beiden gehörig auf den Keks. Erin sollte sich verdammt nochmal für einen der beiden entscheiden! Oder hatte sie das schon?
»Wollen wir dann?«, fragte Erin, um diese komische Situation weg zu kaschieren. Das war doch mal eine Idee. Poppy wurde in der Zeit, wo wir hier dumm rum saßen, auch nicht gerettet.
So machte ich den Anfang, indem ich mich erhob und zurück zu meinem Zelt ging. Es packte sich ja nicht von selbst zusammen. Es dauerte nicht lange, bis Lou zu mir kam und mir dabei half. Während sie die Stangen löste, grinste sie mich an. »Ich glaube, David wünscht sich gerade, dass er so taff wie du wäre.«
Ich drehte mich zu dem Zelt der Jungs um. Was ich da war, war zu erwarten. David, der stumm die ganze Arbeit erledigte, während Lucas daneben stand, um David auszulachen. Äh, hallo? Das ging jetzt aber zu weit. Bislang hatte ich das alles eher mit Belustigung betrachtet, aber bei Arbeitsverweigerung hörte bei mir der Spaß auf.
Energisch warf ich ihm meinen Rucksack vor die Füße. »Hier. Du kannst gerne unser Zelt einpacken, wenn du nichts zu tun hast.« Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, war ziemlich verdutzt. Wiederspruch seinerseits blieb zumindest aus und er half Lou tatsächlich dabei das Zelt zusammenzufalten.
Ich hatte mich bereits zu David gewandt, um ihn stattdessen unter die Arme zu greifen. Dies schien allerdings nicht mehr nötig zu sein, da er bereits alles zusammengepackt hatte. »Danke, Zoe. Aber das wäre echt nicht nötig gewesen. Wenn Lucas wieder seine testosterongesteuerten Phasen hat, dann sollte man ihn vermutlich einfach ignorieren.«
Wow, da kannte sich aber einer aus. »Wenn du meinst«, erwiderte ich lachend.
Anschließend dauerte es nicht mehr lange, bis wir starten konnten. Auf Jess‘ Kommando ging es weiter mit unserer Suche nach Poppy. Neuerdings dabei: Erins Taschenlampe. Gut, dass wir eine mitgenommen hatten. Hier konnte man wirklich kaum etwas sehen.
»Du brauchst gar nicht so zu tun. Dass David ein Schisser ist, siehst du genauso.« Ich schreckte kurz zusammen, als ich plötzlich jemanden hinter mich vernahm, jedoch nicht erkennen konnte. Der Stimme nach handelte es sich aber mehr als eindeutig um Lucas.
»Das tut nichts zur Sache. Du hättest ihm trotzdem helfen sollen.«
»Hätte, hätte, Fahrradkette. Ist jetzt auch egal«, motzte er. Über seine Bemerkung verdrehte ich belustigt die Augen.
Anscheinend plante er mich mit seiner Anwesenheit noch eine Weile weiter zu beeren, da er immer noch neben mir her ging. Nachvollziehbar. War mal was anderes, als ständig hinter Erin her zu trotten. »Zoe Bonson, weißt du eigentlich, dass die Gesamtheit aller Jungs über dich spricht?«
»Ja, ist mir flüchtig zu Ohren gekommen.«
»Warum hatten wir eigentlich nie etwas miteinander?« Das hatte er gerade nicht wirklich gefragt, oder?
»Schätze, du bist nicht so mein Typ«, meinte ich schlichtweg.
»Ach komm. Als hättest du einen bestimmten Typ.«
»Naja, ist ja nicht so als hättest du es mal darauf angelegt. Du bist wegen Poppy hier, beziehungsweise wegen ihrer besten Freundin. Aber wenn es nur darum geht, dass du vor den Jungs damit angeben kannst, dann tue es. Ich habe damit kein Problem«, ratterte ich wie gewohnt runter. Ups. Vermutlich ein Fehler.
»Was?!«, stieß Lucas verwundert aus.
»Psst!«, machte ich nur, damit das hier nicht noch weiter ausartete.
»Warum solltest du damit kein Problem haben?« Jap, es würde definitiv nicht mehr lange dauern bis er von alleine darauf schloss. Drei, zwei, eins… »Warte… Das ist es, was du zu den anderen Jungs sagst. Natürlich! Sonst hättest du mit mehreren was am Laufen als ich – und das will schon was heißen, da es quasi unmöglich ist.«
»Würdest du bitte leiser reden! Es wäre echt klasse, wenn du das für dich behältst.« Warum zum Teufel hatte ich das gerade nur gesagt? Jetzt wusste Lucas davon. Ich könnte ihn sicher wie den Rest erpressen, nur würde es schwerer werden, weil er mehr als genug Geld besaß. Ich hatte echt nicht nachgedacht. »Sag mir einfach was du dafür willst.«
Er lachte auf. »Das könntest du dir eh nicht leisten. Aber hey, ich kann trotzdem dicht halten. Sag mir nur, warum. Wer könnte wollen, dass jeder von einem dachte, er wäre eine kleine Schlampe.«
»Hey! Das denkt keiner!«
»Da wäre ich mir nicht so sicher…« Musste er denn alles kaputt machen?
»Okay, aber Schlampen sind bei den Jungs für gewöhnlich nicht so beliebt wie die Unschuldigen.«
»Das würde ich nicht zwangsläufig behaupten.« Er hatte Recht. Ausnahmen gab es immer, aber im Allgemeinen war es doch so. Erin lieferte mir da das beste Beispiel, wenn ich an ihre Vergangenheit zurückdachte.
»So als Tipp: Weder dein Streber- noch dein Schlampen-getue wird dir auf Dauer etwas bringen. Was hast du eigentlich gegen das Eingehen einer Bindung?«
»Das hat dich nicht zu interessieren. Du gehst doch selber nie etwas Ernstes ein.«
»Na und? Wir sind doch noch jung. Das ist völlig normal. Bei dir allerdings-« Schnell unterbrach ich ihn, damit wir endlich von diesem Thema wegkamen: »Was ist das jetzt eigentlich genau zwischen Erin und dir?«
Überrascht starrte er zu mir rüber. »Keine Ahnung. Eigentlich nahm ich an, dass sie an mich interessiert sei, aber seit neustem hängt sie ständig am Rockzipfel dieses Losers.«
»Wenn ich dir einen Rat geben soll, dann lass die Finger von ihr. Ich will ja jetzt nichts sagen, aber sie ist schon eine ganze Weile von dir besessen. Allerdings erst, als Lexi sie darauf ansprach, dass sie die heißen Jungs nicht mal mit dem Hintern angucken würde, dass sie nicht mal bei dir ein kleines bisschen schwach werden würde. Für mich sieht das eher so aus als wollte sie sich damit selbst etwas beweisen.«
Ich bin davon ausgegangen, dass Lucas das zumindest etwas treffen würde. Es prallte stattdessen auf ihn ab als wäre er ein Stein. »Na und? Dann geht es ihr eben darum. Das zwischen uns ist doch eh nichts ernstes.« Ich sagte ja, kalt wie ein Stein. Zumindest wenn es um Erin ging. Poppys Verschwinden schien ihn tatsächlich getroffen zu haben.
»Oh mein Gott! Ihr habt mich angelogen!« Da kam die Wahrheit ans Licht. Klar, war ja auch nur noch eine Frage der Zeit gewesen. So gut wie es ging hatte ich versucht nicht daran zu denken, aber wie es immer so schön war, wenn man krampfhaft versuchte nicht an eine Sache zu denken, am Ende tat man gerade das. »Dabei habe ich wirklich gedacht ihr würdet euch auch verstecken. Aber natürlich: Immer geht es um diesen verdammten Baum.«
»Tut uns wirklich leid, dass wir das Klischee erfüllen, aber du musst uns ja nicht hinterher laufen wie ein verlassener Köter«, merkte Hooded an. Über seine Worte musste ich schmunzeln. Schön zu sehen, dass er doch sowas besaß, das man ansatzweise als Humor bezeichnen konnte.
»Falsch. Gerade das ist für mich ein Grund euch noch weiter zu begleiten. Vielleicht schaffe ich es ja euch vom Gegenteil zu überzeugen.«
»Unwahrscheinlich«, murmelte ich nur. Halbe Sachen gab es bei mir nicht. Ich hatte mich jetzt dafür entschieden Hooded zu helfen, koste es was es wolle. Hauptsache die Kontrolle, die auf ihm lag, wurde am Ende aufgelöst.
Hooded, der uns den Weg leuchtete, schwang die Taschenlampe in die Richtung der In-thought. »Was war das noch von wegen, dass wir zwei eigenartige Leute wären? Du bist doch anscheinend selbst kein Stück besser.« Erschrocken hielt sich Hooded die Hände vor dem Mund, als hätte er etwas Falsches gesagt. Hä? Was meinte er denn jetzt damit?
»Ich dachte, du könntest von In-thoughts keine Gedanken lesen«, warf ich ihm vor. Wieso sollte er lügen?
»Doch… Ich… das wollte ich gerade eigentlich gar nicht sagen. Tut mir Leid.«
»Hast du aber. Also was ist jetzt?«, giftete ich.
»Ich habe gelogen. Ich kann die Gedanken von allen lesen. Eigentlich nur gerecht, wenn ich schon niemanden kontrollieren kann.«
»Hä? Warum hast du mich denn angelogen? Was bringt dir das?« Mein Kopf schwirrte. All das ist vollkommenen ohne Sinn.
»Ich habe nicht speziell dich angelogen. Jeder denkt, ich könnte die Gedanken der In-thoughts nicht lesen. Die Lüge kam ganz automatisch. Ich schütze mich nur vor den In-thoughts. Sie behandeln mich auch so schon schlecht genug. Ich will mir nicht ausmalen was wäre, wenn sie Wind davon bekämen…« Mit diesen Worten blickte er auffordernd zu Resi rüber, bittend sein Geheimnis zu bewahren. Dass ich dicht halten würde, ahnte er anscheinend schon.
»Wenn du mein Geheimnis bewahrst, dann verrate ich auch nichts«, erwiderte diese schlicht. Jetzt wurde ich doch neugierig.
»Okay. Und jetzt noch mal für die von uns, die keine Gedanken lesen können. Was für ein Geheimnis?«, warf ich ein. Die einzige Tatsache, um die ich Hooded beneidete: Er konnte Gedanken lesen.
Resi jedoch winkte ab. »Die Story ist nicht besonders interessant und zu lang, als dass sie es wert wäre erzählt zu werden.«
»Tja. Dann ist es ja gut, dass Hooded vorhin meinte, dass es bis zum Gottheitsbaum noch ein Stückchen wäre. Ich habe Zeit.« Resigniert wand sie sich zu mir. Dabei lösten sich ein paar Haare aus ihrem Dutt. Stöhnend meinte sie: »Na fein. Dann zeig ich es dir eben.«
»Zeigen?« Ich musste mich wohl verhört haben. Oder hatte die In-thought mir nicht richtig zugehört?
»Ja, zeigen. Wir In-thoughts sind Herrscher der Gedanken. Auch wenn es oft vergessen wird, aber das beinhaltet nicht ausschließlich deren Kontrolle. Wir können unsere Gedanken auch anderen zeigen.«
Was ist aus der bewehrten Methode des guten alten Geschichtenerzählens geworden? Nicht nur, dass meine Eltern mir damals nie Märchen vorgelesen hatten, sie stattdessen mit mir am Plasmafernsehr anguckten, selbst an einem Ort wo weit und breit nichts dergleichen zu sehen war, musste mir die Geschichte gezeigt werden. Große Klasse.
»Begin? Wo bist du? Wir wollen essen. Anxiety kann auch mitessen meinte Mama.« Noch bevor ich irgendetwas aus meinem verschwommenen Umfeld identifizieren konnte, war da diese Stimme. Eine vertraute Stimme, Resis Stimme. Obwohl sich die Stimme vom Klang her so anhörte, als hätte ich selbst gesprochen.
Das verwaschene schwarz, das ich vor kurzem noch vor Augen hatte, verband sich nun mit lila-braun Tönen. Die Nuancen wurden immer präziser, da ich jetzt nicht nur mehrere Farbtöne vernahm, sondern auch Gegenstände erkennen konnte. Da war ein weißes Sofa in einem Zimmer, das eine lila Tapete mit Blümchenmuster besaß.
Mir gegenüber befand sich ein Himmelbett. Die Decke bewegte sich ein bisschen, da ganz in der Nähe ein Fenster speerangelweit geöffnet war. Auf den ersten Blick wirkte es auf mich wie ein typisches Mädchenzimmer. Es gab sogar ein Tisch, auf dem ein Schminkspiegel thronte. Das harmonische Bild wurde allerdings von den Bluttropfen auf dem Korkboden zerstört. Da lag ein Mädchen, das Resi ziemlich ähnlich sah, auf dem kalten Fußboden. In ihrer Brust steckte Holzstück, das anscheinend mal ihre Gardinen zusammenhalten sollte.
Ohne jegliche Kontrolle über meinen eigenen Körper, sackte ich zusammen, beugte mich über den toten Körper der In-thought. Auch die nassen Tränen auf meiner Wange, konnten nicht von mir stammen. Ich war Resi, was ihre (beziehungsweise meine) nächsten Worte auch bestätigten: »Begin! Oh Gott! Was-« Ihre Worte brachen und auch wenn ich keinen wirklichen Zugang auf ihr Inneres hatte, schien auch sie zu brechen.
◊
Schlag auf Schlag befand ich mich plötzlich in einer Art Büro, vor mir der typische seriöse Geschäftsmann. Okay, vermutlich würde er auf mich seriöser wirken, wenn er nicht diesen Riesenschädel hätte. Aber was soll’s. Ich bin hier schließlich nicht auf der Erde.
»Was soll es sonst sein, wenn es kein Selbstmord war, Miss?«
»Dieser Anxiety ist bei ihr gewesen. Mir war der schon immer unsympathisch. Er hat sie getötet. Begin würde sich nie umbringen, dafür ist ihr Leben einfach zu perfekt.«
»Nichts ist perfekt. Aber wie dem auch sei… Auf dem Holzstück befanden sich nur ihre Fingerabdrücke.«
Egal wie komisch ich diese Resi fand, in diesem Moment tat sie mir wirklich leid. Ich hatte nie Geschwister gehabt, wenn ich mir auch immer welche gewünscht hatte. Ihr Verlust tat weh, so viel war klar. »Dann muss dieser Idiot sie kontrolliert haben!«
Der Geschäftsmann lachte bitte. »Ach kommen Sie… Jedes Kind hätte sich gegen solch eine Kontrolle wehren können.«
»Aber ändert es etwas an der Tatsache, dass ER schuldig ist?«
»Der Junge wusste nicht was er tat. Wer kann denn ahnen, dass sich das Gegenüber dagegen nicht wehren würde?«
»Mag sein, dass Anxiety es nicht beabsichtigte. Aber das ist ja das Problem in dieser verdammten Welt! Wir kontrollieren einfach willkürlich, ohne mit den Konsequenzen zu rechnen.« Das Bild hatte sich wieder verdunkelt. Vor mir schien lediglich Hoodeds Taschenlampe. »Inzwischen weiß ich, warum meine Schwester starb. Nämlich für eine höhere Sache. Wenn erstmal alle mit dieser verdammten Kontrolle aufhören, dann wird alles leichter sein. Meine Schwester machte den Anfang, ich werde ihre Mission fortsetzten.«
»Da hast du dir ja die richtigen zum Bekennen ausgesucht. Weder Poppy noch ich besitzen überhaupt die Möglichkeit andere Leute zu kontrollieren.« Da hatte er Recht. Resi sollte sich da vielleicht lieber Hoodeds Vater vornehmen. Der könnte eine Intervention sicher gut gebrauchen.
»Ich will euch ja gar nicht bekennen. Okay, außer dass ihr zum Gottheitsbaum wollt… damit bin ich immer noch nicht einverstanden. Nein, gerade weil ihr Kontrolle in erster Linie gar nicht ausüben könnt, wäret ihr gute Verbündete.« Aha. Verbündete also.
Gerade wollte ich ihr antworten, da kam Hooded mir schon zuvor: »Danke, aber wir müssen ablehnen.«
»Ach, das sagt ihr jetzt. Ich gebe nicht so leicht auf.«
-Erins Sicht-
Es brachte schlicht und ergreifend nichts mehr. Um uns – Dunkelheit. Selbst wenn Poppy hier irgendwo rumlief würden wir es, dank der Schwärze um uns, nicht bemerken. Mein Zeitgefühl war schon lange zerstört. Meinen blutenden Füßen nach zu urteilen, sollten wir jetzt bald aber Pause machen.
»Es hat doch keinen Sinn mehr. Lasst uns die Zelte aufschlagen«, meinte ich.
»Nein, nicht hier. Wir müssen diesen Ort vorher wieder verlassen. Diese Stimmen machen mich andernfalls noch verrückt«, sagte Jess zerknirscht. Stimmen? Welche Stimmen, bitte?
»Ich höre keine Stimmen«, entgegnete David, wobei ich zustimmendes Gemurmel vernahm, jedoch nicht bestimmen könnte von wem die Äußerung nun genau kam. Schätze mal, von fast jedem – außer Zoe, da diese einwarf: »Nein, da sind wirklich Stimmen. Ich höre sie auch. Fühlt sich fast so an, als würden sie sich in mich fressen.«
»Ach. Und damit kommt ihr erst jetzt?«, fragte Lucas.
»Sie wollten nicht, dass ich darüber spreche«, murmelte Jess so leise, dass ich es beinahe nicht verstanden hätte.
David griff nach meiner Hand. Er schien plötzlich sichtlich angespannt. »Erin. Wir müssen sie vernichten.« Seine Stimme klang rauchig und passte überhaupt nicht mehr zu ihm.
»Was ist los, David?« Jetzt wurde ich doch nervös. Eigentlich machte mir Dunkelheit nichts aus und (wenn man mal die Selbstbewussten, Lucas und Zoe, beiseite nahm) ich schien als einzige noch die Fassung zu bewahren. Doch jetzt wurde mir mulmig – zweifellos.
»Die Stimmen. Sie müssen vernichtet werden.« Bevor ich realisieren konnte, was er tat, war er von meiner Seite gewichen. Ein Keuchen rechts von mir, lenkte Lous Aufmerksamkeit und somit ihre Taschenlampe, in diese Richtung. Dann erst konnte ich die Situation einordnen.
David stand direkt vor Zoe, beabsichtigt, ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Was zur…? Lucas handelte augenblicklich. Tja, da sagte noch mal jemand, wir hätten ihn nicht mitnehmen sollen. Ich hatte alles richtig gemacht. Stürmisch zog er David am Kragen seines Shirts von Zoe weg, versuchte ihn mit einem Schlag ins Gesicht auszuknocken.
Überrascht musste ich feststellen, dass er jedoch keine Chance hatte. Im Gegenteil: David schlug mit dem Ellenbogen um sich, was Lucas zu Boden warf.
»David! Lass das! Was ist denn los mit dir?«, kreischte Lou. Ihre Taschenlampe wackelte unruhig hin- und her. Sie wusste genauso gut wie ich: Jetzt wo Lucas am Boden lag, wer könnte da schon was gegen David ausrichten?
»Komm, wir alle!«, befiel Jess. Wir sollten uns alle auf David stürzen? Äh… Na gut, vermutlich gab es keinen anderen Weg. Also lief ich einfach drauf los… ziemlich hilflos. Sofort wurde ich von seinen kräftigen Armen in den feuchten Boden gedrückt. Wusste ich’s doch. Das hatte keinen Zweck.
Das war doch nicht David, der da kämpfte. War er wirklich so stark? Hätte ich nie für möglich gehalten. Obwohl er ja nicht nicht muskulös war. Erst auf Heathers Party ist mir das bewusst geworden. Früher… okay, jetzt auch noch, wenn Schule war … wusste er immer zu gut, wie er diese verdeckte. Ich fragte mich warum…
Was denkst du da nur, Erin? Deine Freundin wird attackiert, während du liegend über die Muskeln von David, noch dazu ein ziemlich Loser, nachdenkst? Ich versuchte mich wieder aufzurichten, doch bei jeder Bewegung schmerzten meine Gelenke. Das hatte keinen Zweck.
Als ich wieder einen einigermaßen klaren Überblick hatte, stellte ich verwundert fest, dass David ebenfalls am Boden lag. »Wie…?«, setzte ich an.
»Im Zweifelsfall ist es immer gut, wenn sich Mädchen selbst verteidigen können«, meinte Zoe schulterzuckend. Nicht nur ich schaute Zoe sprachlos an. Lucas, der sich langsam wieder aufrichtete, stand wortwörtlich der Mund offen.
»Was machen wir denn jetzt? David kommt sicher gleich wieder zu sich und wenn er nicht der Alte ist, dann…«, setzte ich an, doch Jess schnitt mir das Wort ab: »Wie schon gesagt: Ich denke, wir sollten von hier verschwinden.«
»Klasse Idee. Nur wie?! Wo ist der Ausgang?« Lou leuchtete verzweifelt in alle Richtungen, doch überall nur Bäume und Gestein, in Dunkelheit getränkt… kein Licht. Wären wir doch nur am Wasser geblieben. Da schien es um Weiten sicherer gewesen zu sein, auch wenn wir dort ständig im Kreis liefen.
Hier lang! Klasse, jetzt hörte ich auch schon Stimmen. Das war nicht mal alles! Vor meinen Augen erschien plötzlich eine helle Lichtung direkt am Wasser. Der Ort, von dem wir kamen! Der Ort, den wir zurück müssen! Die anderen nahmen das Bild anscheinend auch war, da sie alle in diese Richtung blickten. Allerdings war es im nächsten Moment wieder verpufft.
Da wollt ihr hin, oder? Einfach den roten Pfeilen folgen.
»Ihr hört diese Stimmen auch, oder?«, fragte Lou mit zittriger Stimme.
»Ja«, antwortete ich. Sicherlich sahen wir jetzt alle diesen roten leuchtenden Pfeil vor unseren Augen, der wie eine Projektion wirkte. Laut dem, mussten wir den Weg nach links einschlagen. Nur traute ich von nun an generell keiner Sache mehr, die an diesem Ort entsprang.
»Wo rauf wartet ihr?« Zoe hatte sich bereits zum Aufbruch bereitgemacht.
»Das könnte eine Falle sein«, mutmaßte ich.
»Natürlich könnte es das. Nur haben wir keine anderen Alternativen. Ich möchte David nicht wieder bewusstlos schlagen, ehrlich.«
David. Was machten wir jetzt mit ihm? Sein wahres Ich konnten wir nicht hier zurücklassen. Ich betrachtete ihn eine ganze Weile, bis Lucas sich zu Wort meldete: »Schon gut. Ich werde ihn tragen.«
Unbeholfen versuchte er David vom Boden zu heben, scheiterte jedoch kläglich. Ich nahm es ihm nicht übel. David musste nicht gerade wenig wiegen. »Hilfe wäre allerdings nicht schlecht.«
Lachend kam Zoe auf Lukas zu. »Und wir wollten für diesen Ausflug extra zwei starke Jungs mitnehmen. Bitte…« Eingeschnappt griff Lukas unter Davids Arme, während Zoe sich die Füße schnappte. »Du hattest vorhin nur Glück«, meinte er. »David hatte sicher nicht damit gerechnet, dass du dich wehren könntest.«
»Wenn es dein Ego beruhigt, rede es dir ruhig weiter ein«, lachte Zoe, während wir uns in Bewegung setzten, um den Pfeilen zu folgen.
Ich fragte mich, wie wohl die ganzen Mädchen an unserer Schule, die Lucas so vergötterten, reagieren würden, wenn sie hörten, dass er von Streber-David zusammengeschlagen wurde. Nein, bestimmt hätten sie eher Mitleid mit ihm gehabt. Er tat einem ja auch irgendwie leid, schließlich hatte er nur helfen wollen.
Vielleicht bildete ich es mir ja nur ein, aber gerade hatte ich wirklich das Gefühl, dass es um uns heller wurde.
Trotz der blickdichten Dunkelheit, leuchtete zwischen den Ästen der Bäume das Gesicht eines kleinen Kindes. Ihre makellose Haut schien das Licht irgendwie zu reflektieren, wie die Leuchtsterne, die ich als kleines Kind über meinem Himmelbett hängen gehabt hatte. Das Bild vor mir, total irreal, dennoch überraschte es mich nicht. Ich befand mich in einer Welt mit In-thoughts, die Köpfe größer als ein Kürbis hatten. Dann gab es da noch Hooded, was immer er darstellen mochte. Leuchtende Menschen überraschten mich da nicht wirklich.
»Mami? Wann fahren wir mit Papa mal wieder ins Disneyland?« Disneyland? So was gab es hier auch?
Das kleine Mädchen schaute mich nun direkt mit ihren großen Kulleraugen an. Ihre zwei geflochtenen Zöpfe kamen mir unheimlich bekannt vor. Herr Gott im Himmel, das war ich! Als ich noch kleiner war, gute sechs Jahre vielleicht.
»Die Leuchtwesen dieses Waldes, gewachsen aus den tiefsten Wurzeln des Baumes Livenus, konfrontieren uns mit unseren größten Problemen«, erklärte Resi lehrhaft. »Einer der Gründe, warum ihr schleunigst auf mich hören und von hier verschwinden solltet.«
»Zum millionsten Mal! Dann verschwinde einfach von hier, wenn du dich fürchtest«, zischte Hooded in Resis Richtung.
»Ich stelle mich meinen Problemen schon seit Jahren. Wenn hier jemand Angst haben sollte, dann seid ihr es«, lachte sie.
Mein kindliches Ich wirkte plötzlich unheimlich traurig. »Nicht weinen, bitte! Ich habe mich heute extra schick gemacht, siehst du?«
Wollten diese Lichtwesen mich echt mit alten Kamellen aus der Vergangenheit verängstigen? Echt nichts Neues. Diesen Problemen konnte ich mich einfach nicht stellen, weil sie mich gar nicht betrafen. Also… schlechter Scherz!
Kaum hatte ich das gedacht, verkrüppelte sich das Lichtwesen zusammen, um sich anschließend wieder aufrichten zu können. Dieses Mal war es, als würde ich in den Spiegel gucken. Obwohl die Poppy vor mir sichtlich mitgenommener ausschaute. Unter ihren Augen bildeten sich dicke, dunkle Augenringe ab. Dadurch wirkte ich um einiges älter.
»Es tut mir Leid. Ich weiß, ich hätte dich nicht einfach ohne ein Wort verlassen dürfen.« Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen worum es ging. Das war mein zukünftiges Ich, das diese Welt wieder verlassen hatte und sich nun ihren Eltern stellen musste.
Aus der Ferne erschien ein weiteres Lichtwesen, welches (was für eine Überraschung) das Ebenbild meiner Mutter war. »Es ist mir egal, dass du mich verlassen hast, Poppy. Es geht hier darum, warum du mich verlassen hast. Dieser Kapuzenjunge ist kein guter Umgang für dich. Hat er überhaupt Geld?«
»Ich wollte ihm doch nur helfen!«, schluchzte mein zukünftiges Ich bitterlich.
»Dein ständiges soziales Arrangement wird dir noch deine eigene Zukunft verbauen! Denk endlich mal an dich, Poppy, statt an andere.«
Keine Überraschung für mich, dass es ungefähr so ablaufen würde. Diese Lichtwesen waren armselig. Meinem zukünftigen Ich kamen plötzlich die Tränen und es lief dabei direkt auf mich zu. Als es sich in mir festgesetzt zu haben schien, sprach mein Körper plötzlich in sich zusammen.
»Du hattest Recht! Es tut mir Leid, dass ich es nicht früher bemerkt habe«, schrie ich die Projektion meiner Mutter an. Am Ende von all dem würde ich doch alleine da stehen. Was erwartete ich? Bestenfalls würde Hooded anfangen bei seiner Mutter zu leben. Wir waren zu verschieden, um uns überhaupt in erster Linie zu kennen. Ich gehörte zu meiner Clique und trotzdem war ich allein. Verstehen würden sie mich niemals.
Was sollte mein Leben eigentlich? Für wen lebte ich eigentlich? Sicher nicht für mich selbst.
Während ich mich am Boden räkelte, spürte ich einen Arm, der mich unsanft weiterzog. Vernebelt bemerkte ich, dass diese Person einen Ring mit einem roten Stein trug. Das musste Resi sein. Oh, verdammt! Sie wollte uns von hier wegbringen. Das durfte ich nicht zulassen.
Energisch schüttelte ich ihre Hand von meiner. »Stopp! Wir müssen zum Gottheitsbaum.«
Kaum hatten diese Worte meine Lippen verlassen, spürte ich das Lichtwesen meinen Körper verlassen.
»Wow. Das habe ich ja noch nie gesehen. Du willst so dringend zum Livenus, dass du damit sogar deine Probleme aus der Welt schaffen kannst. Witzig, dass es nicht mal du bist, sondern der Kapuzenjunge, der davon profitiert. Entweder du bist einen gewaltigen Ticken zu sozial … oder ich habe da was überhört.«
Ich streifte mir den Schutz von meiner Jacke. Hooded, scheinbar immer noch Lichtwesen-besessen, keuchte mit zugekniffenen Augen: »Es tut mir Leid. Bitte, verzeih mir!«
»Tja. Nur hat der hier etwas mehr mit seinen Problemen zu kämpfen, wie es scheint. Was schlägst du also vor?«, fragte sie gedehnt ungeduldig. Hooded zappelte ziemlich, sodass Resi etwas damit zu kämpfen hatte, ihn weiterhin mit sich zu ziehen.
»Keine Ahnung! Aber es muss eine andere Lösung geben als diesen dunklen Ort zu verlassen«, hoffte ich.
»Gibt es nicht.« Meine Einstellung kümmerte ihr einen Dreck und sie zog ihn einfach weiter.
Wütend stellte ich mir in den Weg. »Wir gehen jetzt zu diesem bescheuerten Baum, selbst wenn Hooded in diesen Zustand ist. Und du wirst mir den Weg zeigen, wenn er es nicht kann.«
Jetzt lachte sie mich aus. »Genau.«
»Du magst für etwas kämpfen, aber weißt du, wir tun das auch! Wenn wir hier fertig sind, dann kannst du so viel rebellieren wie du willst, nur nicht jetzt. Erst sind wir an der Reihe.« Ich kannte dieses Mädchen nicht. Obwohl sie dieses Gedanken-Kontrolle-Ding verachtete, war sie trotzdem eine In-thought. Man konnte ihr nicht trauen.
»Warum tust du das überhaupt? Ihm helfen, meine ich.«
Ich atmete tief durch. Schätze, richtig wurde es mir gerade erst bewusst. »Es gibt Dinge in der Welt, die man nicht mehr gerade biegen kann.« Meine Mutter, aber das behielt ich lieber für mich.
»Ich kann deine Gedanken lesen«, erinnerte sie mich. Verdammt. Ich hasse diese Welt.
»Aber das ganze Drama mit Hooded, das ist noch nicht hoffnungslos verloren.«
»Also gut. Ich werde euch helfen. Trotzdem möchte ich dich an dieser Stelle warnen: Wenn du so weitermachst, dann gibt es kein Happy End. Vielleicht für jeden anderen, aber nicht für dich.«
-Davids Sicht-
Es fraß mich von innen auf. Diese Stimmen, die unter uns weilten. Warum sahen es die anderen nicht als notwendig an, diese einfach zu vernichten? Fluchend versuchte ich mich aus Zoes und Lucas‘ Griff zu lösen, zwecklos. Sie packten so fest zu, dass es schmerzte, dabei war ich hier gar nicht das Problem.
Wie dieses Mädchen mich plötzlich niedergeschlagen hatte… das war nicht sie, ganz eindeutig! Warum erkannten das die anderen nicht, wo es doch so einleuchtend erschien. Die Zoe, die wir kannten, hätte solche Kräfte niemals aufbringen können – nicht ohne Hilfe, ohne dämonische Hilfe.
Dieser Ort! Ich wusste gleich, dass es ein Fehler war mitzukommen. Meine Eltern hatten mich besser erzogen, als dass ich sie jetzt einfach ohne ein Wort zurückließ. »Lasst mich verdammt noch mal los!«, versuchte ich es erneut, auch wenn es nutzlos war. Zoe war nicht sie selbst und Lucas… naja, der hörte mir eh nie zu.
Die beiden lachten gerade über irgendetwas. War ja klar, dass sich Lucas mit der dämonischen Zoe verstand. Er war quasi selbst einer, auch wenn er keine Stimmen hörte. Möglicherweise, wenn ich einmal ganz fest zutrete…
»Ah, verdammt!« Unglücklicher Weise hatte Zoe mit ihren monsterhaften Superkräften schneller wieder zugepackt als ich gucken konnte. »Wie lange ist es denn noch?«, fragte sie verzweifelt. Sie plante irgendetwas, so viel stand fest. Ich wollte die anderen warnen, doch sie würden mir eh nicht zuhören. Ich musste selbst handeln.
Tausende Bücher hatte ich gewälzt, doch keines in dem beschrieben wurde, was zu den ist, wenn jemand von Stimmen besäßen ist. Die wichtigen Dinge im Leben ließen sie einfach aus – unglaublich. Ich fühlte mich genauso hilflos wie damals im See. Es gab kein Entkommen.
»Da! Die Lichtung«, bemerkte möchte-gern-Jess. Als wir wieder vollständig im Lichtpegel standen, beäugte ich die beiden Mädchen skeptisch. Zoe hielt mich immer noch fest, während Lucas mich bereits losgelassen hatte. Monster waren eben im Allgemeinen misstrauisch.
»David?«, fragte mich Erin unsicher. »Bist du wieder der Alte?«
»Was meinst du? Ich war immer ich. Die bessere Frage wäre, ob Zoe und Jess wieder sie selbst sind.« Auch wenn ich mir bei Zoe gerade noch unsicher gewesen war, sie wirkten schon wieder normal… irgendwie.
»Falls du diese Stimmen meinst, die sind weg. Auch wenn sie mich nicht verändert haben«, meinte Jess beiläufig. Doch. Sie haben dich verändert, wollte ich sagen. Das hätte aber nichts genützt. Sie würden es nie wahrhaben wollen. Im Moment zählte nur, dass die Stimmen in ihrem Kopf zerstört wurden. »Dann ist ja gut«, murmelte ich und erhob mich, als Zoe mich endlich losließ.
»Man verlässt diesen Wald nicht einfach ohne Folgeschäden davonzutragen.« Die fremde Stimme ließ mich hoch schrecken. Bitte, Gott. Nicht ich auch noch! Müsste ich mich dann selbst zerstören?
Doch die anderen schienen es auch gehört zu haben. Ich drehte mich um und erblickte einen Jungen mit einem Kopf, der unheimlich groß war. Hoffentlich nicht deshalb, damit dort all seine Stimmen Platz fanden.
»Oh Gott, ihr seid diese berühmte Spezies von Dusk, nicht wahr? Menschen? Wie kommt ihr hier her?« Jeder von uns betrachtete den Fremden mit skeptischen Augen. Auch wenn er uns gerade den Weg aus dieser Hölle gezeigt zu haben schien, mussten wir vorsichtig sein. Sein großer Kopf könnte ein Zeichen für Stimmen sein.
»Nun guckt nicht so schräg. Ich habe euch gerade gerettet! Was kommt ihr auch auf die grandiose Idee gerade dort in die Dunkelheit zu gehen? Und dann noch als schwache Menschen, die gar nicht die Fähigkeit des Kontrollierens besitzen.«
»Entschuldige bitte, schwach?«, pustete Jess. »Wenn wir schwach wären, dann hätten wir uns in erster Linie gar nicht darein getraut.« Ja, manchmal ist es besser einfach ein Loser oder Feigling zu sein. Dann wäre das Schlamassel mit den Stimmen nicht passiert.
Der fremde Typ grinste Jess an, als würde er eine Verbündete erkennen… eine Stimmenverbündete! Ich hatte mit ihm also doch Recht gehabt. »Ich bin Same.«
»Jess«, antwortete sie ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Und wer seid ihr?«, fragte er den Rest von uns. Jeder stellte sich nacheinander vor. Ich tat das nicht. Monstern verriet ich meinen Namen ganz sicher nicht.
Belustigt schaute er zu mir. »Dann eben nicht.« Zu den anderen meinte er: »Auch wenn euer Freund wieder er selbst ist, die ganze Sache hat Schäden davon getragen.« Pah! Klar, dass er das als Monster behauptete. Die anderen waren sicher so dumm und würden ihm sogar glauben… einem Fremden. Mich kannten sie viel länger, trotzdem waren meine Worte für sie bedeutungslos. Meine Familie hätte mir geglaubt. Warum bin ich nicht Zuhause geblieben? Weil ich helfen wollte. Erin war so eine liebe Person, die sich einfach nur die falschen Freunde suchte.
»Wird das wieder?«, fragte Erin diesen Same verängstigt.
»Keine Ahnung. Es wird auf jeden Fall dauern.« Klar, wird es das. Rede ruhig schlecht über mich, Monster. Ich stehe ja nur direkt neben dir.
»Also… wie kommt ihr hier her? Was wollt ihr bei uns?«, fragte er uns. Das war der Augenblick wo wir am besten flüchten sollten. Warum sahen das die anderen denn nicht?
»Unsere Freundin ist hier und wir wollen sie retten«, erklärte Erin Same. Sie brachte es über die Lippen, als wäre es etwas völlig Normales und Selbstverständliches. Es war ja nicht so als ob ich an der Schule nicht auch Freunde hatte. Fred und… Okay, ich hatte Fred. Der war ganz nett. Aber ich würde nie auf die Idee kommen mich für ihn solchen Gefahren auszusetzen. Also… warum war ich noch gleich hier?
»Hast du hier noch einen anderen Menschen gesehen… zufällig?« Erins Gesicht brach mir fast das Herz. Sie wirkte verzweifelt und setzte nun jegliche Hoffnung in dieses Monster mit den Stimmen in seinem Kopf. Ach, richtig. Deshalb war ich mitgekommen.
Was genau versprach ich mir hier eigentlich? Erin hatte mir bereits vor dieser Reise klipp und klar erklärt, dass wir nur Freunde sein werden. Tja, jetzt musste ich für meinen kranken Wahnsinn den Preis zahlen.
»Nein, tut mir Leid. Aber hier würde ich auch als letztes suchen.«
Genau, weil hier kein Schwein freiwillig hingehen würde. Die Frage aller Fragen ist nur: Was machte Same hier, wenn er nicht selbst eine Kreatur des Grauens war? Warum bin ich der einzige, der sich diese Frage stellt? Wegen meinem 1,3-Notendurchschnitt? Ich konnte es mir kaum vorstellen. Hier waren Kräfte im Spiel, die sich keiner von uns auch nur ansatzweise vorstellen kann.
Zumindest konnte man ihn wieder ansprechen, auch wenn er vollkommen neben der Spur war. Ständig raunte er mir zu: »Wir brauchen einen Plan B… für alle Fälle.« Ich sage es ja. Völlig weggetreten. Sonst wüsste er, dass es keinen Plan B gibt. Es waren seine eigenen Worte gewesen, die mir mitteilten, dass das hier unsere einzige Chance wäre.
»Wenn ich mir einmischen darf: Was ich inzwischen so über den Typ rausgehört habe, scheint Hoddeds verrücktes Ich Recht zu haben. Es scheint nicht abwegig, dass er euch trotzdem nicht hilft, selbst wenn er dieses Messer in seinen Händen hält. Die einige Lösung, da rede ich aus Erfahrung: Der Feind muss ausgelöscht werden. Kopf ab, würde ich ja sagen, aber In-thoughts sind unsterblich. Trotzdem gibt es in der Geschichte der In-thoughts Fälle, wo altes Leben ausgelöscht wurde und der Baum neues gebar. Ihr müsst nur herausfinden wie.« Ich verdrehte meine Augen. Ihre Ratschläge halfen herzlich wenig. Sorry, aber es stimmt.
Hooded, so durchgeknallt er gerade auch sein mochte, stand mir in seiner Meinung sogar bei: »Das geht nicht. Wenn er stirbt, dann die Menschheit mit ihm. Sie sind verbunden.«
Resi seufzte laut auf und murmelte, sodass wir es mitbekamen: »Ja, aber doch nur, weil er mit der Menschheit verbunden sein möchte. Da gehe ich jede Wette ein.« Über ihre Vermutung dachte ich nicht länger nach. Mord kam für mich eh nicht in Frage, egal wie grausam Hoodeds Vater auch sein mochte.
»Wisst ihr beiden den Weg zum Baum noch?« Es war mir ein Rätsel wie sich in dieser Dunkelheit orientieren konnten.
»Natürlich. In-thoughts, und anscheinend auch Halb-In-thoughts, haben eine spezielle Verbindung zum Livenus. Diese Verbindung lässt uns seine Präsenz spüren.«
Klar, dass es so eine abgedroschene Erklärung für die perfekte Orientiertheit der beiden gab. Was denn sonst? Wenn ich wieder Zuhause bin, dann werde ich Pflanzen sicher mit ganz anderen Augen wahrnehmen.
»Na guckt euch das an«, schnaubte Resi amüsiert. Sie hatte Recht: Direkt vor uns befand sich anscheinend eine Mauer, denn kurz nachdem sie uns warnte, bekam auch meine Nase das Vergnügen der harten und schmerzenden Dunkelheit.
»Ist das normal?«, fragte ich die beiden Profis.
»Was weiß ich. Ist ja nicht so als ob ich schon mal beim Livenus gewesen wäre. So eine Art In-thought bin ich nicht«, zwitscherte sie zuckersüß. »Wenn wir Glück haben, ist Hodded gerade mit seinem Verstand bei uns und verrät uns, was zu tun ist.«
»Hey! Das ist auch mein erstes Mal. Oder denkst du, sowas mache ich gerne in meiner Freizeit?«, fragte er gereizt. Anscheinend hatte er sich wirklich wieder erholt.
»Und da müssen wir wirklich lang? Gibt es keinen anderen Weg?«, wollte ich wissen.
»Naja, das wäre zumindest der Kürzeste«, meinte Hooded.
Mit einer Hand an der nichtsichtbaren Mauer, tastete ich mich weiter links rum. Selbst das Licht der Taschenlampe machte hier nichts aus. Es war einfach nur pechschwarz hier. Hoodeds Luftballons waren im Vergleich dazu ein heller Sommertag im Juli.
»Leute, ich glaube ich bin drüben«, ertönte plötzlich Resis Stimme. Ein Wink mit der Taschenlampe, bestätigte ihre Aussage. Keine Resi weit und breit. »Wie hast du das gemacht?«, fragte ich gedankenverloren. Ich versuchte mich weiterhin irgendwie durch diese Materie zu drücken. Nein, das hatte doch alles keinen Sinn.
»Gar nichts. Hat gleich beim ersten Mal geklappt, als ich es versucht habe. Entweder bin ich einfach nur talentiert oder…, was ich eher vermute, diese Mauer soll den Livenus schützen vor Leute, die ihn benutzen wollen – wie euch zwei.
»Das ergibt keinen Sinn. Mein Vater schafft es auch jedes Mal zu ihm, trotz seiner unreinen Weste.« Da hatte Hooded Recht. Ist tatsächlich ziemlich unlogisch das Ganze.
»Ach kommt schon. Als ob man seine eigenen Gedanken nicht austricksen könnte«, lachte Resi. Also wenn wir mit dem Gedanken rangehen, dass wir gar nicht zum Baum wollen, dann…
Tatsächlich! Meine Hand bahnte sich durch die Wand, die vor wenigen Sekunden noch vor mir war. Aber das war nicht das einzige was sich änderte: Die grausame uns umgebene Dunkelheit, war nicht länger vorhanden.
Stattdessen umkreisten uns unzählige Meter hohe Gesteinsfelsen. Zwischen ihnen plätscherte ein Wasserfall, der aufgrund seiner einzelnen Schichten breiter als durchschnittlich war. Andererseits, was ist in dieser Welt schon durchschnittlich? Meine Füße waren umgeben von vielen kleinen gelben Blümchen. Wenn ich sie sah, musste ich an meinen ersten Sommerurlaub in Frankreich denken.
Mit diesem Urlaub waren so viele wunderbare Erinnerungen verknüpft. In Frankreich hatte ich tatsächlich das Gefühl gehabt, irgendwohin zu gehören. Familiengefühl. Natürlich war mir auch ohne diesen Urlaub bewusst, dass mich meine Eltern liebten. Nur zeigten sie es manchmal viel zu selten, wenn sie ständig in ihrer Arbeit festsaßen.
Obwohl mich diese Blumenwiese schon fesselte, das Highlight war dennoch die glasartige Kuppe an der Spitze des Wasserfalls. Die Glaskugel umhüllte einen riesigen Baum. Nur so eine Vermutung, aber ich befürchte, dass wir Livenus erreicht hatten. Die Frage ist nur: Wie kommen wir da hin?
»Hooded? Warum dauert das so lange?« Er war immer noch nicht aufgetaucht. Generell hatte sich die dunkle Wand komplett aufgelöst. Weit und breit erblickte man nur gelbes Jakobskraut. »Wir haben unser Ziel erreicht! Nicht nur das. Die Dunkelheit hat sich aufgelöst und wir stehen mitten in einer Blumenwiese.«
»Was für eine Blumenwiese?«, fragte Resi verdutzt. Hä? Ist sie blind?
»Was? Kannst du die Blumen denn gar nicht sehen?«
Sie schüttelte den Kopf, sichtlich skeptisch darüber, möglicherweise sogar verängstigt.
»Ich mag diesen Ort nicht«, murmelte sie. »Wenigstens kann ich die Kuppe mit dem Livenus sehen, der auf den Wasserfällen hervorragt.
»Ich schaff’ es irgendwie nicht«, brüllte Hoodeds Stimme plötzlich zu uns rüber.
»Schrei doch nicht so. Auch wenn du uns nicht siehst, stehen wir direkt neben dir – anfällig für ein Platzen des Trommelfells«, erwiderte Resi.
Das wurde hier ja immer besser. Weshalb kam Hooded nicht rüber und wir schon? Vielleicht weil er immer noch nicht ganz bei klarem Verstand war? Ich hatte gehofft schon, aber im Moment sah es nicht danach aus.
»Geht es wirklich nicht? Denk einfach nicht an diesen blöden Baum und was wir vorhaben«, riet ich ihm verzweifelt.
»Nein, keine Chance! Ich hab’s jetzt schon unzählige Male versucht – ohne Erfolg.« Himmel, ich brech’ ins Essen! Am liebsten hätte ich ihm an den Kopf geworfen: Selbst dein baumbesessener Vater hat es irgendwie hingekriegt, nicht mehr an ihn zu denken. Warum du nicht?! Aber was würde es bringen? Die Schwelle konnte er dennoch nicht überschreiten.
-Jess’ Sicht-
Ich hockte mich ans Meer, in der Hand mein Top, das ich gestern angehabt hatte. In der anderen Hand die Seife, für die der Platz im Rucksack glücklicher Weise noch ausgereicht hatte. Missmutig starrte ich in das Dreckswasser vor mir. Wie sollte mein Oberteil nur je sauber werden? Bei diesem grünalgigen Gebräu würde auch nicht die nach Vanille duftende Seife den Tag retten.
Vorsichtig beugte ich mich rüber, bedacht ja nicht vorne rüber zu kippen. Wir wollten die Sache ja nicht noch komplizierter machen als sie schon war. Mit Fingerspitzen packte ich den Träger und ließ das Top ins Wasser. Als ich es wieder hoch zog sah es sogar noch besser aus als vorher.
Unbeholfen hielt ich es nahe meiner Knie. Meine Hose durfte nicht auch noch dreckig werden. Langsam scheuerte ich mit der glitschigen Seife über das paillettenbesetzte Top. Wenn ich zu stark rieb, könnten sich die die Pailletten unter Umständen lösen. Ich ließ diese somit aus, versuchte sie anschließend mit den Fingern glatt zu polieren.
Das hatte doch keinen Sinn. Irgendwie musste sich die Seife wieder lösen und mir blieb hier bedauerlicher Weise nur das schmutzige Gewässer. Ich riss mich zusammen und tauchte mein lila Top erneut in den Fluss. Hallo Algen, schön euch wieder zu sehen.
In meiner Not zupfte ich die Dreckreste, die sich angesetzt hatten, mit meinem Fingernagel ab. Schnell strich meine Hand über die rauen Pailletten auf dem Top. Gut, noch alle dran. Einmal noch schütteln, dann müsste es einfach gehen.
Zum Trocknen wären Äste nicht schlecht gewesen. Bedauerlicher Weise gab es die nur im dunklen Gebiet, wo ich ungern zurück wollte. Kurzentschlossen legte ich es über meinen Rucksack, auch wenn dieser nass werden würde, nur hatte ich keine andere Wahl.
Ein man es positiv sah, irgendwie sah mein Top jetzt auch wieder nach etwas aus. Den leichten Graustich ignorierte ich geflissentlich, immerhin gab es keine Algen mehr.
»Ich will ja jetzt nichts sagen, aber findest du nicht, dass du dir Kleidung hättest mitnehmen sollen, die … naja, weniger ausgehfein ist? Immerhin sind wir hier in der Wildnis, wir campen. Dachte, das wäre dir wohl klar gewesen.« Lucas höhnisches Gelächter ignorierte ich schlicht, wie immer.
Er trug seinen Rucksack wieder, während er nebenbei noch schnell, ein Brötchen in sich hineinstopfte. Ich fragte mich, wie lange unser Proviant noch halten würde. Während Lucas anscheinend noch aß wie ein Scheunendrescher, hatte ich angefangen mir mein Essen einzuteilen. Na gut, im Zweifelsfall würden wir eben ohne Poppy kurz wieder heimkehren. Nur würden wir dann Same aus den Augen verlieren und ich hatte das Gefühl, dass er vielleicht weiterhelfen konnte. Er kannte sich hier zumindest ein bisschen aus.
Da er einfach weiter vor mir rumstand und grinste, fauchte ich giftig: »Was willst du?«
»Bescheid sagen, dass es gleich weitergeht. Aber wenn du so undankbar bist, dann kann ich auch wieder gehen.« Ich würde mich ganz sicher nicht bedanken. So viel stand fest.
»Ich bin ja gleich bei euch«, meinte ich mit gedehnter Stimme. Was hatten wir überhaupt vor? Weiter entlang des Meers zu gehen, erschien mir unlogisch. Nun gut, Same kannte wahrscheinlich einen Weg.
In der Hoffnung er würde wieder von hier verschwinden, wand ich mich meinem Rucksack zu, um selbst noch eine Kleinigkeit zu essen.
Es stellte sich jedoch heraus, dass dieser Gedanke wohl zu schön wäre, um wahr zu sein. Er stand mir jetzt direkt gegenüber mit hochgezogener Augenbraue. »Dann ruinierst du also neuerdings gerne deine beste Kleidung.« Pah, genau! Ist mein neues Hobby, oder was dachte der sich?
»Sie ist nicht ruiniert. Wenn ich sie Zuhause dann richtig-«
»Das tut doch nichts zur Sache. Hast du Zuhause nicht noch genug hässliche Kleidung, die du hättest mitnehmen können. Ich erinnere mich, dass-« Als er meinen zornigen Blick vernahm, hielt er inne. Gut für ihn.
Eisig verkündigte ich: »Die habe ich alle verbrannt.«
-Lucas’ Sicht-
»Die habe ich alle verbrannt.« Wie hatte sie sich nur so verändern können? Und das meine ich nicht positiv, zumindest jetzt gerade nicht. Vor ihren Worten bekam man jetzt richtige Angst. Die Leere in ihren Augen war das einzige, was ich an ihr wiedererkannte.
Als sie an jenem Tag mit ihrer Rundumerneuerung in die Schule spazierte, hätte ich sie fast nicht identifizieren können. Wären da nicht ihre kalten, blauen Augen gewesen, die mir erst jetzt wirklich Angst machten. Ich hatte mir immer eingeredet, dass mir diese Jess besser gefiel, weil jeder nun Mal so dachte. Ist ja im Prinzip auch so.
Aber in Momenten wie diesen… naja…
»Und jetzt verschwinde endlich! Ich brauche hier keinen Babysitter.« … wäre es praktisch gewesen, wenn sie noch diesen Omarock besaß, mit dem ich hätte kontern können. Bevor die Situation eskalierte, lief ich zurück zu den anderen.
»Sie kommt jeden Augenblick«, verkündete ich.
»Gut. Wenn sich dann nämlich alle erholt haben, zeige ich euch den Weg in die Siedlung. Wenn ihr Glück habt, dann erinnere ich mich möglicher Weise sogar daran, wo Dusk wohnt. Hoddeds Vater. Euren Gedanken nach zu urteilen, wollt ihr zu ihm.« Sames Stimme klang irgendwie schnöselig. Auch wenn die anderen von unserem Retter total begeistert schienen, ich mochte ihn nicht. Außer David, der funkelte ihn auch böse an. Aber der zählte nicht, weil sein Gehirn zerdeppert wurde und er auch Jess und Zoe noch diese Blicke zuwarf. Zumindest wurde er nicht mehr handgreiflich.
»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wo sollen wir bitte lang?« David hatte Recht. All das wirkte wie eine einzige Sackgasse.
»Na, über das Meer natürlich«, sagte er wie selbstverständlich.
»Über? Tut uns ja Leid, aber wir Mensch sind zu so etwas nicht in der Lage«, keifte David.
»Wir In-thoughts haben doch auch keine übernatürlichen Fähigkeiten. Außer ihr bezeichnet das mit den Gedanken als solche. Sicher kann euch das Wasser auch tragen. In dieser Welt scheint es eine andere Konsistenz zu besitzen.«
»Aber… Es kann uns nicht tragen! Jess und ich waren in dem Meer doch schon schwimmen«, erinnerte sich Lou.
»In diesem Meer kann man beides. Je nachdem für was ihr euch entscheidet.« Der Typ hatte doch eine Schraube locker. Natürlich war es nicht auszuschließen, dass er Recht hatte. Mein Unterbewusstsein hatte vermutlich noch nicht ganz kapiert, dass wir hier in einer anderen Welt waren.
»Ich will hier nicht die Stimmung verderben, aber ich schätze, dass der Kapuzenjunge hier bleiben muss«, stellte Resi fest, ganz der Blitzmerker.
»Hey! Ich bleibe hier ganz sicher nicht alleine in der Dunkelheit zurück… bei all den Dingen, die hier lauern könnten«, schimpfte er.
»Schon gut«, winkte ich ab. »Ich schaff das auch alleine. Die Umgebung hier sieht wirklich deutlich ungefährlicher aus.«
»Sicher?«, bohrte Resi mit hochgezogener Augenbraue nach. Ich nickte ganz von selbst, automatisch, ohne ihre Worte noch mal zu überdenken.
Wahrscheinlich hielt sie mich für verrückt, weil ich all das für Hooded tat und er mich nicht mal begleitete. Aber es war nicht verrückt. Meine Hilfsbereitschaft ist ein Teil von mir, der mich ausmacht. Dieser Teil würde mir erlauben das Messer aus dem Baum zu entwenden. Also sollte sie lieber nichts einwenden.
»Ich bin bald wieder zurück«, meinte ich und verabschiedete mich von den beiden. Es konnte jetzt nicht mehr lange dauern. Klar, der Livenus lag ganz oben auf dem Gesteinsberg. Ein bisschen Wandern sollte dennoch kein Problem mehr darstellen, wenn man mal bedachte, dass Hooded seins immer noch nicht los war.
Zielstrebig machte ich mich auf den Weg. Durch die Blumenwiese hindurch, bis ich die Berge am Wasserfall erreicht hatte. Währenddessen kreisten meine Gedanken. Es schien, als hielt es jeder in meinem Umfeld für merkwürdig, dass ich Hooded einfach so half. Dusk und auch Resi schienen der Meinung, ich half ihm, weil ich es für uns tat. Hatten sie womöglich sogar zum Teil Recht? Was hatte Hooded im Sinn? Deutete er meine Hilfsbereitschaft falsch?
Auf der Erde kannte er niemanden außer mir. Und seine Mutter, aber die wollte nichts von ihm wissen. Nein, bestimmt nicht. Er wollte einfach nur unter den Menschen leben. Es gab noch andere an die er sich dann halten könnte. Oder… war es gar nicht mal so schlimm? Ich meine, Hooded schien nett, auch wenn ich nicht einmal wusste wie er überhaupt aussah. Aber das sollte keine Rolle spielen, nicht wahr?
Mein Kopf schien zu explodieren. Meine derzeitigen Beziehungen waren bislang alle zum Scheitern verurteilt gewesen. Könnte daran gelegen haben, dass sie alle streudoofe Spinner waren, die es im Leben zu überhaupt gar nichts bringen würden. Das schien mein Problem. Ich hielt mich ständig an Loser, die es alleine zu nichts brachten.
Bei Hooded war es irgendwie anders. Er erschien mir nicht blöd. Das einzige, was ihm im Weg stand, war er selbst. Ach, ich wusste mir doch selbst nicht mehr zu helfen! Woran merkt man denn überhaupt, dass man verliebt ist? Dass mir etwas an Hooded liegt, steht fest. Aber Liebe? Die wurde doch überbewertet. Vielleicht liebte ich ihn, vielleicht auch nicht. Wenn ich Glück hatte, dann fand ich es zu gegebener Zeit heraus. Oder ich endete als alte Jungfer mit hundert Katzen, unschlüssig darüber ob ich den Typen liebte oder nicht.
Ich musste grinsen, weil mich die Sache mit den Katzen an Erin denken ließ. Sie hatte das mal zu mir gesagt, als wir beide die Schnauze voll von Jungs hatten. Dann werden wir eben zusammen alt… mit hundert Katzen. Was sie wohl gerade machte? Ich hoffe, sie sorgte sich nicht zu sehr um mich. Vielleicht hatte sie ja gerade ein Date mit David. Ich fand es immer noch urkomisch, dass sie den Schulstreber auf der Party geküsst hatte. Die Erin, die normaler Weise Idioten wie Lucas anhimmelte.
Aber das war gut so. Ich fand schon immer, dass sie sich Lucas aus dem Kopf schlagen sollte, weil sie viel zu nett für ihn war. Lucas und Erin, das war ja sowieso nie etwas Richtiges gewesen. Ein bisschen Anhimmeln hier, ein bisschen da… jedoch ständig im Hinterkopf, dass aus den beiden eh nie was werden würde. Fast so wie die Liebe zu einem berühmten Star. Nur, dass Erin in dem Falle der Star war, weil Lucas für diese Rolle einfach zu unterqualifiziert wäre.
Der Felsvorsprung war erreicht und mit Kraft drückte ich mich ab, um an Höhe zu gewinnen. Der Hang war zwar steil, glücklicherweise aber nicht so steil, dass man ein Seil oder ähnliches gebraucht hätte, damit man nicht runterfiel.
Der Livenus schien nicht mehr weit von mir entfernt zu sein. Die Kuppe befand sich nur wenige Meter über mir. Zu Fuß nicht mal mehr fünf Minuten, schätzte ich ab. Doch kurz bevor ich einen Fuß Richtung Baum und Kuppe setzten konnte, erschien wieder mein älteres Selbst vor meinen Augen. Ganz klar eine Geistergestalt, die dem Livenus entsprang. Die wollten mich nur aufhalten. Am besten durfte ich denen einfach keine Beachtung schenken.
»Nein, keine Warnung. Dafür ist dieser Ort nicht mehr ausgelegt. Du hattest Zeit genug die richtige Entscheidung zu treffen, aber du wolltest ja nicht hören.« Was wollte der Geist dann von mir, wenn er nicht wegen einer Warnung vor mir trat?
»Der Grund, warum du gleich den Livenus betreten willst. Was ist deine Absicht?«
Was für eine Frage. Das wusste der Geist doch sicher schon. »Ich brauche das Messer.«
»Damit wir uns richtig verstehen: Dein Wort war gerade eine offizielle Bindung. Wäre hilfreich gewesen, wenn dir das vorher jemand verraten hätte. Denn wenn deine Absicht das Messer ist, wirst du den Livenus erst wieder verlassen, wenn du dein Ziel erreicht hast.« Gut, mehr wollte ich doch gar nicht! Allerdings… was, wenn ich dieses Messer nicht finden würde? Irgendwann musste ich dann doch wieder zurück.
»Du hilfst einem Fremden, den keiner akzeptiert. Wenn jemand Personen wertschätzen kann, dann du – sonst kann es keiner.« Der Geist kannte die Regel für die Entwendung des Messers anscheinend auch. Das war ja an sich gar nicht so eigenartig. Eher die Tatsache, dass er mir doch gerade tatsächlich Mut gemacht hatte. Ich konnte es schaffen!
»Danke«, murmelte ich verlegen.
»Dank mir nicht. Das sollte dich nicht motivieren. Es war lediglich eine Feststellung.«
»Egal. Hoffnung macht es mir trotzdem.« Ohne ein weiteres Wort löste sich mein möchte-gern-Ich wieder in Luft auf. Tja, da stand ich nun. Alleine, nervös und vor mir mein langersehntes Ziel. Oder war es Hoodeds langersehntes Ziel? Möglicherweise doch das von Dusk? Egal wessen Ziel es war, ich stand davor.
Nur noch wenige Schritte und ich hätte die Kuppe erreicht. Mit schlotternden Knien setzte ich mich in Bewegung. Die durchsichtige Wand erinnerte mich an Wasser… oder an eine riesige Seifenblase. Na dann… Augen zu und durch.
-Erins Sicht-
Tief in mir wollte ich wohl schon mein ganzes Leben lang über Wasser laufen. Nur hatte ich es bis vor kurzem noch nicht geahnt. Jetzt wo ich dazu tatsächlich in der Lage war, fühlte es sich unbeschreiblich an. Leider hatten wir das Meer viel zu schnell überquert. Vom Strand hatte all das Wasser viel weiterläufiger gewirkt.
»Das war einfach unbeschreiblich!«, fand auch Lou. Daraufhin musste Same lachen, da es für ihn anscheinend zum Alltag gehörte, weshalb er es wohl ganz und gar nicht als atemberaubend bezeichnen würde.
»Ja, ganz klasse. Nasse Hosenbeine ist genau das, was ich jetzt brauche«, nörgelte Jess.
Augenverdrehend ging ich auf sie zu und schlang meinen Arm um ihre Schulter. »Entspann dich mal. Deine Hose trocknet schon wieder.«
»Bestimmt genauso gut wie meine restlichen Sachen. Bald habe ich nichts mehr zum Anziehen mit.«
»Also ich hätte ja nichts gegen die Abmachung, wenn wir hier alle nackt rumlaufen würden«, meinte Lucas lachend. Ich atmete tief durch. Jess’ Blick nach zu urteilen, war das nicht der richtige Augenblick um Scherze zu machen. Ob es daran lag, dass es mit ihrem aktuellen Freund nicht sonderlich gut lief? Dieses Verhalten war für Jess ja nicht sonderlich untypisch, aber gerade schien es dann doch extrem.
»Ach hör doch auf, Schätzchen. Wir sind nicht in der Schule. Zicke kannst du wann anders spielen«, richtete ich mich an Jess.
»Das ist doch das Problem, Erin«, mischte sich Zoe ein. »Es ist kein Spiel, sondern die Realität.«
Es sollte ein Scherz von Zoe sein, doch jeder wusste, dass auch ein Stück Wahrheit mitschwang. Jetzt stahl sich doch ein Lachen auf Jess’ Gesicht und sie zeigte Zoe ihren rechten Mittelfinger. Ich nutzte ihre gute Laune aus und fragte: »Warum ist dir das Ganze überhaupt so wichtig? Früher warst du anders.«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Witzig, dass gerade du das fragst.«
»Was?«
»Naja. Du warst früher auch anders. Erst als jemand eine hitzige Bemerkung über deine Abwesenheit gegenüber Jungs machte-«
»Hey! Das war nicht deswegen. Ich bin einfach über meinen Schatten gesprungen und habe mit einem Leben weitergemacht.«
»Klar doch.« Die weite Graslandschaft löste sich auf und wir gelangten auf einen kleinen Schotterweg. Vereinzelnd sah man sogar schon Häuser. Nach einer kurzen Pause fuhr Jess fort: »Wenn du mit David zusammen sein willst, dann sei’s doch verdammt noch mal.« Sie hatte Glück, dass ihre Stimme gesenkt war, sodass er es nicht mitbekommen hatte.
»Ich will nichts von David!«, zischte ich energisch zu ihr rüber.
»Genau. Aber wenn du wirklich was von Lucas wollen würdest, dann wäret ihr jetzt zusammen«, mutmaßte sie.
»Ich-« Verdammt. Ich hatte nichts, womit ich kontern könnte. Es stimmte ja. Ich hatte mich um ihn nicht gerade bemüht.
»Als ob ich je was mit dem anfangen könnte. Der lässt sicher keinen an sich ran. Für ihn wird es immer Poppy sein.«
Kopfschüttelnd sagte Jess: »Mag sein, aber die Tatsache, dass du es mir nicht mit Sicherheit sagen kannst, bedeutet, dass auf beiden Seite kein Interesse besteht. Verdammt, es kann doch nicht so schwer sein einfach glücklich zu sein!«
Ich fragte mich, ob sie die letzten Worte nicht vielleicht auch an sich gerichtet hatte. In gewisser Weise waren Jess und ich uns gar nicht so verschieden, auch wenn ich das immer gedacht hatte. »Denkst du, wir finden Poppy Heute bei Hoddeds Familienhaus?«, fragte ich.
»Ich hoffe. Wo sollte sie sonst sein?«
»Ich weiß es nicht.« Missmutig kickte ich ein paar Steine über den Schotterweg. »Eigentlich war ich überhaupt nicht darüber begeistert, mir mit dir ein Zimmer zu teilen. Ich hätte mir im Normalfall mit Poppy ein Zelt geteilt, aber… naja.«
»Schon gut«, unterbrach Jess mich. »Das verstehe ich doch. Sie ist deine beste Freundin und du vermisst sie.«
»Ich wollte sagen, dass du schlussendlich gar nicht so schlimm bist als Zeltgenossin.« Scherzend stupste ich gegen ihre Schulter, woraufhin sie leicht lächelte. »Schätze, du bist auch gar nicht so übel.«
Unterwegs kamen wir an zwei In-thoughts vorbei, die uns sprachlos anstarrten. Same wechselte kurz ein Wort mit ihnen, das zwar nichts an ihrer Ungläubigkeit änderte, doch sie kehrten uns zumindest den Rücken zu.
»Die Straße rechts rein ist es. Gleich das zweite Haus auf der linken Straßenseite«, erklärte Same.
»Kommst du denn gar nicht mit?«, wollte Zoe wissen.
Dieser schüttelte resigniert den Kopf. »Wir… naja, Dusk und ich sind nicht allzu gut aufeinander zu sprechen. Wollt ihr gar nicht wissen…« Doch, eigentlich schon. Nur machte Same den Eindruck, als würde er uns die Geschichte eh nie erzählen.
»Alles klar. Bis dann. Vielleicht sieht man sich ja noch mal«, verabschiedete sich Jess.
»Bestimmt. Bei uns gibt es das Sprichwort: Man sieht sich immer zwei Mal im Leben«, sagte Same.
»Das gibt es bei uns auch«, meinte sie grinsend.
»Na dann muss ja etwas Wahres dran sein.«
Als ob. Wenn wir Poppy gefunden hatten, würden wir auf der Stelle von hier verschwinden. Jeder hier wusste das, nur wollte es keiner laut aussprechen. Same hatte einen freundlichen Eindruck gemacht. Er hatte ja auch nichts Gruseliges an sich gehabt – anders als der Kapuzenjunge.
»Endlich sind wir den los«, knurrte David.
»Hätte nicht gedacht, dass ich mal mit dir einer Meinung bin, aber du hast Recht«, merkte Lucas an. Die Jungs mochten ihn doch nur nicht, weil sie sich in ihrer Männlichkeit bedroht fühlten… oder so ein schwachsinniges Zeugs.
»Er war doch nett«, sprach Jess das aus, was ich dachte.
»Naja, sein Kopf war schon etwas abnormal«, grinste Zoe.
»Müsst ihr die Leute denn immer auf das Äußere reduzieren?«, stöhnte Jess.
Zoe hatte immer noch ihr breites Grinsen im Gesicht. »Ja, weil du es uns beigebracht hast.«
Immer diese kindischen Gespräche, die zu nichts führten. »Jetzt kommt schon. Lasst uns diesen komischen Dusk kennenlernen.« Mit den Worten ging ich einfach vorne weg, zuversichtlich, dass mir die anderen folgen würden.
Und damit behielt ich dann auch Recht. Hinter mir vernahm ich ihre Stimmen: »Ich bin nicht oberflächlich. Für hässliche Leute mobben ist hier jemand anderes zuständig.« Ging das wieder los…
»Doch bist du«, lachte Lucas. »Du ignorierst sie. Das ist mindestens genauso schlimm. Gebe es ruhig zu: Wir sind uns gar nicht so verschieden.«
»Wer hässlich ist, kann eben nicht beliebt in einer High School sein. Ich sehe es nur realistisch. Und es ist nicht genauso schlimm. Lass es dir von jemand gesagt sein, der damit Erfahrungen gemacht hat.« Daraufhin sagte Lucas nichts mehr.
Früher, bevor ich in dieser Clique war, haben mich die anderen auch ignoriert. Zugegeben, da war ich nicht ganz unschuldig dran. Trotzdem war es ab und an ziemlich hart gewesen, wenn wir Gruppen bilden mussten und mich die Mitschüler einfach vergessen hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es für Jess gewesen sein musste.
Da stand es, das Haus. Ein unglaublich Schönes, was mich glatt neidisch machte. Na dann wollen wir mal…
-Resis Sicht-
Gedanken lesen stand bei mir ethisch immer im Zwiespalt. Einerseits war es natürlich nicht so schlimm wie andere zu kontrollieren, dennoch griff man dabei in die Privatsphäre ein. Keine Ahnung, ob man es irgendwie stoppen könnte. Bestimmt, wenn man es nur genug wollen würde. Doch nicht mal ich war dazu in der Lage. Dazu waren wir In-thoughts einfach zu neugierig.
Aber verglichen mit meiner jetzigen Neugier, waren die anderen Male nichts. Dieser Typ mit der schwarzen Kapuzenjacke schien ein einziges Rätsel zu sein und gerade seine Gedanken konnte niemand lesen.
Inzwischen hatte ich die Grenze wieder überschritten und befand mich in vollkommener Dunkelheit. Hodded hatte sich anscheinend wieder etwas abgeregt. Zumindest wirkte es so. »Du konntest die Grenze echt nicht überschreiten? Selbst diejenigen, die nach der Kraft des Livenus süchtig sind, können es. Was bist du dann? Hypersüchtig?«
»Der Baum ist mir egal. Ich will nur, dass die Kontrolle, die auf mir liegt, aufgehoben wird. Warum ich da nicht hin konnte, kein Schimmer.« Irgendwas stimmte mit dem nicht.
»Oder du wolltest es gar nicht, weil du Angst hattest?«
Daraufhin schnaufte er verärgert. »Natürlich nicht! Wie könnte ich-«
»Ja wie könntest du! Poppy riskiert da drin vermutlich gerade ihr Leben für dich.«
»Tut sie nicht. Aber trotzdem. Ich habe keine Angst.«
Genau. Das könnte ich auch sagen. Seit wann war es so schwer für mich geworden, zu durchschauen, ob jemand lügt? Vermutlich, seitdem ich die Gedanken nicht mehr lesen kann. Haha. Mein Hals wurde ganz trocken. Es machte mich wirklich kirre vor jemandem zu stehen, der alles sein konnte. Ein Psycho, ein Idiot, … okay, vielleicht wurde er auch einfach nur missverstanden, weil er anders ist. Aber… ich weiß nicht. Irgendwas störte mich an ihm.
»Hör auf mich so anzuglotzen als wäre ich ein Tier in einem verdammten Zoo.« Gruselig. Er hatte mir nicht mal sein Gesicht zugewandt. Woher wusste er, dass ich ihn anguckte?
»Das ist nicht schwer zu durchschauen.« Sein Tonfall klang mit Mal total angepisst, seitdem Poppy nicht mehr unter uns war. Die beiden schienen ja etwas total Verrücktes am Laufen zu haben…
»Entspann dich mal. Wenn du es einfach durch diese Mauer geschafft hättest, wären wir jetzt nicht an diesem Punkt.«
Wütend erhob er sich und stapfte auf mich zu. »Ich konnte es aber nicht, okay? Und das ist, glaube es oder nicht, ganz sicher nicht meine Schuld!« Leise vor sich hin murmelnd fügte er hinzu: »Genau deshalb kann ich so nicht weitermachen. Nichts als Vorurteile…«
»Es ist kein Vorurteil, wenn man sich bereits eine Meinung bilden konnte«, meinte ich spöttisch.
Wäre sein Gesicht nicht verdeckt gewesen, dann könnte ich es jetzt sicherlich glühen sehen. »Du kennst mich überhaupt gar nicht!«
Das mochte sein. Trotzdem machte er auf mich einen komischen Eindruck, seine Art im Allgemeinen.
»Und was jetzt?« Missmutig kickte er mit seinem Fuß die Erde einige Meter weit. Der konnte vielleicht Fragen stellen!
»Was denkst du denn? Dass wir jetzt eben noch einen Imbiss zu uns nehmen, während Poppy sich da drinnen mit wer weiß was rumschlägt?«
»Natürlich nicht! Ich bin nur nicht der Typ dafür einfach nichts tuend in der Gegend rumzusitzen«, versuchte er sich zu rechtfertigen.
»Dann würde ich vorschlagen, dass du deine Zeit damit verschwendest durch diese Mauer zu gelangen.«
Er setzte sich wieder an den Baumstamm von vorhin. »Ach, nein. Das hat doch überhaupt keinen Sinn. Selbst wenn es mir gelingen würde, inzwischen ist sie sicher längst beim Livenus. Ich kann da eh nicht helfen. Nur Poppy kann da etwas ausrichten.«
»Wow, du bist ein echt klasse Held. Würde deine Geschichte verfilmt werden, ich würde den Streifen sofort kaufen.«
Auf der Erde sitzend, hob er seine rechte Hand, um mir den Mittelfinger zu präsentieren.
»Hey! Wenn sich jemand als dein erster Fan outet, dann zeigt man ihm nicht Mittelfinger. Hat dir das denn keiner beigebracht?«
»Ich fürchte nicht.«
Das könnte sich ja noch eine Weile hinziehen. Jeder, der schon mal mit einem Miesepeter festsaß, konnte mich da verstehen. Provozierend setzte ich mich direkt gegenüber zu ihm auf den Laubboden. Sein Blick senkte sich augenblicklich, obwohl er unter seine Kapuze auch noch eine Maske trug.
»Diese Kontrolle… liegt sie nicht nur auf den Menschen, wenn sie dich angucken?«
»Ja, aber die In-thoughts reagieren bei meinem Anblick genauso.«
»Ach komm schon. So hässlich kann niemand sein…«
»Ich werde dir mein Gesicht nicht zeigen!«, fuhr er mich an.
»Und warum nicht?«
»Du suchst doch nur nach weiteren Gründen dich über mich lustig zu machen.«
»Warum denkst du von allen eigentlich immer gleich das Schlechteste?«
»Weil ich damit meistens Recht habe.«
»Meistens?«, hakte ich nach, obwohl ich mir schon fast denken konnte, was er meinte.
»Ich schätze, Poppy bildet die Ausnahme.«
»Du schätzt?« Dieses Mal wollte ich ihn das tatsächlich fragen.
»Hör mit diesen doofen Fragen auf, die nur das wiederholen, was ich bereits sagte.«
»Sorry. Ich bin nur überrascht, weil ich gedacht hatte, du hättest Poppy von dem Augenblick an vertraut, als du sie zum ersten Mal gesehen hast.«
Er lachte. »Wie kommst du denn auf diese bescheuerte Idee?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe das irgendwie aus Poppys Gedanken geschlossen.«
»Ach? Die Gedanken unserer ersten Begegnung, die sie wieder vergessen hatte?« Da war natürlich etwas Wahres dran.
»Dann ist das ganze also gar nicht so kitschig wie es auf mich wirkt? Poppy, der einzige Grund für ich weiterzuleben… mit ihr auf der Erde… Ist es nicht das Ziel?«
Er brummte verärgert, weil ich mich, zugegeben, wieder über ihn lustig machte. »Ich möchte der Menschen wegen auf der Erde leben. Poppy ist nur einer der Gründe. Also danke, dass du mir gerade nur wieder einen Grund gegeben hast, warum ich die In-thoughts so verabscheue.«
»Okay, tut mir Leid. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Dein Denken kann ich teilweise sogar verstehen. Die Menschen kontrollieren sich wenigstens nicht gegenseitig. Ich weiß also wie du dich fühlst.«
»Nein, tust du nicht. Aber das hätte ich auch nicht erwartet.«
-Lous Sicht-
Die Tür öffnete sich und wie zu erwarten, stand vor uns jemand, dessen Schädel mindestens genauso riesig wie der von Same war. Allerdings stand sein Mund um weiten offener. Er starrte uns fast an, als wären wir Alien. Ob er gar nicht von der Existenz von Menschen wusste? Oder hatte sich Same im Haus geirrt?
Wie sein Blick mich durchbohrte, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. »Wow. Jahrelang keine Menschen gesehen und jetzt so direkt hintereinander. Hallo, ich bin Dusk. Ihr sucht wohl Poppy, richtig?« Puh, Glück gehabt. Dann hatten wir uns also doch nicht im Haus geirrt.
»Ja, wir sind Freunde von Poppy«, erklärte Jess. Auch sie schien vor diesem Dusk mehr Respekt zu haben.
»Aber natürlich seid ihr das. Tut mir Leid euch enttäuschen zu müssen, aber sie ist nicht hier.«
»Reden Sie keinen Bullshit. Natürlich ist sie hier. Sonst würden Sie ihren Namen doch gar nicht kennen«, merkte Lucas an.
»Sie war hier. Hodded und Poppy sind inzwischen aber sicherlich über alle Berge.« Verdammt! Das hatte uns gerade noch gefehlt.
»Und wann kommen sie wieder?«, bohrte Zoe neben mir nach. Sie schien noch vollkommen die Fassung bewahren zu können. Anders als bei mir, musste ich zugeben.
»Das kann ich euch leider nicht genau sagen. Ihr könnt gerne hier warten, wenn ihr wollt.« An sich schien er ja einen netten Eindruck zu machen. Nur wussten wir es besser.
»Nein, danke. Irgendeine Idee wo die beiden hin wollten?«, fragte Zoe weiter.
»Zum Livenus, der für euch allerdings unmöglich zu finden wäre, da ihr keine In-thoughts beziehungsweise Halb-In-thoughts seid. Ihr müsst wissen, dass es dort nämlich ziemlich dunkel ist. Man könnte kaum seine eigene Hand vor Augen erkennen.« Na klasse.
»Super. Von dort sind wir gerade gekommen…«, meinte ich gedehnt.
Wenn ich an diesen Ort zurückdachte, dann wollte ich da ganz sicher nicht wieder zurück. David musste dort ganz schön was einstecken. Möglich, dass ich das nächste Opfer der Dunkelheit, samt ihren komischen Wesen, wurde.
»Ich würde sagen, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ihr macht es euch in meinem bescheidenen Heim gemütlich, bis sie wieder zurück sind. Oder… ja, ich bin so nett… ich könnte euch zum Livenus hinführen.«
Verwundert hob ich meine Augenbrauen. Das war doch sicher eine Falle, oder?
»Ja, klasse. Wenn Sie das tun würden, dann nichts wie los. Deswegen sind wir doch hier.« So selbstsicher wie Jess fühlte ich mich nicht. Klar, er war unsere einzige Chance, um Poppy zu finden. Doch sein schadenfrohes Grinsen dabei, gefiel mir ganz und gar nicht.
»Natürlich geht das auch nur, wenn damit alle einverstanden sind. Nur die Hälfte reicht mir nicht.« Okay, doppelt gruselig. Woher wusste er …?
»Mir scheint, euch ist noch nicht ganz klar, was wir In-thoughts so drauf haben. Euer nette Reisebegleiter Same-« Bei seinem Namen verzog er das Gesicht. »-hat wohl wichtige Details ausgelassen. Und dann hält man mich für gemein! Wir In-thoughts können nämlich Gedanken lesen.«
Mir schockte der Atem. Das alles war ja noch schlimmer, als ich vermutet hatte. Es gab Sachen, die hatte ich nicht mal Zoe erzählt und dieser Typ…
»Ja, ich kenne alle eure Geheimnisse«, erklärte er auch noch grinsend. Für mich war das ganz und gar nicht zum Lachen.
Die anderen starrten ihn auch einfach nur sprachlos an. Wie sollte man darauf auch vernünftig reagieren?
»Na schön«, ergriff Dusk wieder das Wort. »Dann werde ich die anderen drei eben überzeugen müssen. Ich bin hier nämlich auch nur das Opfer.«
Ah ja. Mir egal. Konnte er von mir aus auch sein, immerhin kannte ich ihn gar nicht. Bis Same uns etwas anderes erzählte, wusste ich ja nicht mal, dass Hodded überhaupt einen Vater hatte. Ich hatte lediglich automatisch von Sohn auf Vater geschlossen. Im Allgemeinen wollte ich mich ungern länger bei jemandem aufhalten, der meine Gedanken lesen konnte.
Doch bevor ich auch nur irgendetwas hätte erwidern können, löste sich das hübsche Haus aus roten Ziegelsteinen vor meinen Augen auf und wurde durch einen kleinen Springbrunnen ersetzt. Eine Umdrehung um dreihundertsechzig Grad verriet mir, dass ich mich in einem Park aufhielt. Die anderen waren verschwunden. Dafür konnte Dusk auf einer Bank sitzen sehen, zusammen mit einem anderen Mädchen (natürlich ebenfalls eine In-thought)
»Ich verstehe das nicht. Gestern meintest du doch noch, alles was du bräuchtest wäre Zeit. Dazwischen sind nicht mal vierundzwanzig Stunden verstrichen. Wie kannst du dir dann plötzlich so sicher sein, dass du ihn mehr liebst?«
Auch wenn Same im nächsten Moment nicht aufgetaucht wäre, hätte ich ahnen können, dass er von ihm sprach. Wie er seinen Namen aussprach, ähnelte der Art von Abscheu wie er sie auch vorher benutzte. »Ganz einfach. Weil ich mehr drauf habe als du.«
In dem Moment schaute Dusk Same genauso verwirrt an wie ich selbst. Die In-thought neben Dusk nickte schlicht weg. Ihre Augen bedachten Same mit so einem verliebten Blick, wie es sich jeder wünschte angeguckt zu werden. Mich würde wahrscheinlich niemand je so angucken.
»Was soll das heißen? Hast du sie etwa kontrolliert?«, fragte Dusk mit scharfer Stimme.
Same lachte. Sein Lachen hörte sich nicht mal fies oder gemein an. Es war so harmonisch wie wir ihn vor kurzem auch kennengelernt hatten. »Du kannst es ja auch versuchen. Aber wir wissen beide, dass du mich nicht übertrumpfen kannst.«
»Aber… Das kann doch nicht sein! Sie hätte sich dagegen wehren müssen.«
»Wozu denn? Wir kämpfen nur dagegen an, wenn wir uns entscheiden möchten. Sun ist bestimmt mehr als erleichtert, dass ich ihr diese lästige Entscheidung abgenommen habe.«
»Ich habe mich dazu entschieden, weil es die richtige Entscheidung-« Mehr konnte ich nicht mehr verstehen, weil sie sich bereits aufgelöst hatten. Allerdings konnte ich mir den Rest denken.
Kaum stand ich wieder mit meinen Füßen auf der Steintreppe, meinte Lucas hinter mir: »Wie rührend. Nur leider interessiert das hier keinen. Wir hätten längst bei den Tümpeln sein können.«
»Außerdem, woher wissen wir, dass Sie nicht lügen?«, warf Erin ein.
»Wenn wir unsere Gedanken offenbaren, dann können wir nicht lügen. Aber das wisst ihr natürlich nicht. Egal, es stimmt. Ihr müsst mir einfach glauben.«
»Ganz ehrlich? Wer nicht mit will, der bleibt eben hier! Wir gehen jetzt einfach los, verdammt nochmal«, verkündete Jess uns in ihrem typischen Tonfall. Drehte sich auf dem Tritt um und stapfte davon.
»Ihr habt eure Bienenkönigin gehört. Auf geht’s!« Und auch Lucas, gefolgt von Zoe, die mich einfach mit sich zog, liefen Jess hinterher. Auch wenn Lucas für uns alle behauptet hatte, dass uns Dusks Geschichte nicht interessiere, musste ich feststellen, dass das nicht ganz stimmte. Dass ihm einst das Herz gebrochen wurde, das war mir wirklich herzlich egal. Es ging eher um die Tatsache, dass er überhaupt jemanden geliebt hatte. Das machte diese Fremden irgendwie menschlicher. Vielleicht waren sie uns gar nicht so verschieden.
Als ich meine Augen öffnete, lag ich auf einer Wiese. Nicht irgendeine Wiese, nein. Es waren die gelben Blumen, die aus Frankreich. Wie von selbst legte sich mein Körper ins Gras. Für einen kleinen Augenblick konnte ich alles vergessen, was wichtig war und mir Probleme bereitete.
Der Geruch war mir vertraut, leider hatte ich ihn beinahe vergessen gehabt, solange lag der Urlaub in Frankreich jetzt zurück. Ich lag mit dem Rücken in den Blumen und ließ Seifenblasen in die Luft steigen. Neben mir auf der Picknickdecke Mum und Dad, die …. Plötzlich zerplatzte die ganze Vorstellung vor meinen Augen. Aus einem einfachen Grund: Das Bild passte nicht hierher. Familienurlaub mit meinen Eltern hatte immer anders ausgesehen, wenn man mal Frankreich ausklammerte.
Eine Kreuzfahrt mit einer Yacht, … Warum hatten wir uns in Frankreich keine Luxussuite in Paris genommen? Meine Mum würde mich nie auf einer schmutzigen Wiese liegen lassen. Irgendetwas stimmte nicht. Auch wenn ich es zutiefst bereute, erhob ich mich. Schlagartig wurde mir auch klar, warum ich in erster Linie hier war: Ich musste doch das Messer finden!
Auch wenn mich die grelle Mittagsonne blendete, konnte ich noch gerade so eine Schaukel auf dieser weiten Wiese erkennen. Auf ihr saß ein Junge mit einer schwarzen Kapuzenjacke. Er war gekommen! Ich konnte es kaum glauben! Ich wusste doch, es könnte die Barriere doch noch überwinden.
»Hooded!«, rief ich und sprintete auf ihn zu. Er wusste ganz sicher, was zu tun war. Mit ihm konnte ich dieses verdammte Messer sicher finden. »Du bist hier!«
Wie es für ihn typisches war, hatte er mir den Rücken zugekehrt und das obwohl er zusätzlich eine Maske trug. Ich musste grinsen.
Plötzlich fiel mir auf, dass er in seiner rechten Hand einen Gegenstand hielt, den er wie eine Art Spielzeug hin und her drehte. Das Messer! Er hatte es ja bereits. Von wegen, nur ich konnte es entwenden. Hooded hatte anderen Leuten gegenüber auch keine Vorurteile, eben gerade weil er wusste wie es war, wenn man voreilige Schlüsse zog. Er konnte die Aufgabe fiel besser lösen als ich!
»Komm! Wenn wir da hinten hinrennen, treffen wir sicher wieder auf die Kuppe und können von hier verschwinden.« Keine Antwort. Was hatte er denn? Hatte er es sich anders überlegt und wollte das Messer gar nicht mehr für seinen Vater? Entschlossen machte ich einen Bogen um die Schaukel, um ihn direkt ins Gesicht sehen zu können. Die Maske war weg!
Alles in mir bereitete sich darauf vor ihn augenblicklich wieder zu vergessen, dass ich beinahe vergessen hatte, mir sein Gesicht überhaupt einzuprägen. Es war das Gesicht eines Kindes! Höchstens sieben, wenn überhaupt. Ich war ständig davon ausgegangen, wegen seiner Stimme und allem, dass er mindestens so alt wie ich sein musste. Aber das…
Nein, halt! Ich kannte dieses Gesicht. Das war nicht Hooded, sondern Lucas in dem Alter, als er noch erträglich war. Das hier war gar nicht real. Ich war immer noch alleine in der Kapsel gefangen. Allerdings wusste ich jetzt wo das Messer war und Klein-Lucas durfte doch nicht so schwer zu überzeugen sein.
»Das sagst du nur so. Du würdest nicht mit mir von hier verschwinden«, sagte er und sprang von der Schaukel wie ein Profi. Ich erinnerte mich, dass er das wirklich gut konnte… damals.
»Du kannst nicht von hier verschwinden, Lucas. Aber nur weil du nicht real bist. Ich aber schon und das habe ich auch vor, sobald du mir dieses Messer gegeben hast.«
»Es ist einfach, Poppy. Ich kann dir dieses Messer nicht geben, weil du mich nicht mitnehmen würdest.«
»Das darfst du nicht persönlich nehmen. Ich kann dich nur nicht in die reale Welt entlassen, weil das nicht du bist. Du bist gerade wahrscheinlich in irgendeiner Ecke auf dem Schulhof und steckst dir mit deiner Gang eine Zigarette an. Nichts für ungut, Kleiner.«
»Wirst du jetzt völlig verrückt, Poppy? Warum sollte ich nicht real sein, wenn ich direkt vor dir stehe?« Mit jedem Wort kam er ein Schritt näher auf mich zu. »Kennst du mich überhaupt?« Seine Augen weiteten sich, was ihn fast wie einen süßen Teddybären aussehen ließ. Kaum zu glauben, dass aus solch einem süßen Jungen mal so ein Arschloch werden konnte.
»Natürlich kenne ich dich, Lucas. Aber du bist inzwischen fast erwachsen, so wie ich. Wir sind gleich alt, erinnerst du dich? Das kann also nicht real sein.«
»Wäre es nicht real, dann wäre ich jetzt nicht hier«, behauptete er und blieb felsenfest bei seiner Meinung.
Natürlich war er nicht real, doch in einem Punkt konnte ich ihm nicht wiedersprechen: »Ja, warum bist du überhaupt hier? Ist nämlich nicht so, als ob du hier drinnen etwas verloren hättest. Und… warum zur Hölle trägst du Hoodeds Kapuzenjacke?«
»Wenn du möchtest kann ich dir zeigen, dass ich real bin.«
Mir zeigen? »Der Lucas, den ich kenne, kann niemanden seine Gedanken offenbaren, weil er ein Mensch und kein In-thought ist.« Beweis Nummer zwei, warum all dies vollkommen an der Wirklichkeit vorbei schleifte.
Er nickte leicht. »Vermutlich hast du Recht. Ich kann dir gar nichts zeigen. Aber wenn du meine Hand nimmst, dann kann ich helfen dich zu erinnern, dass ich eben doch real bin.«
Unsicher betrachtete ich die Hand, die er mir jetzt entgegen streckte. Ob ich seine Berührung tatsächlich spüren konnte, wo er doch nicht real war? »Wie wäre es mit einem Deal? Du darfst mich versuchen zu überzeugen, dass du real bist-« Himmel, war dieser Deal idiotisch. Aber Klein-Lucas war sicher nicht besonders hell in der Birne. War er auch jetzt nicht. »-und dafür gibst du mir dein Messer.«
»Nimm meine Hand und der Deal gilt.« Irgendwie klang dieser Satz mit einer Tonart mit, wie sie Lucas auch heute noch verwenden würde. Am wahrscheinlichsten ist es, dass der kleine Kerl einfach nur eine Einbildung aus meinem Kopf war. Das würde auch seine veränderte Tonlage erklären. Doch warum sollte ich mir in diesem Moment Lucas einbilden, wo er mir doch schon seit Jahren nicht mehr durch den Kopf geht?
Endlich griff ich nach seiner Hand, fest davon überzeugt nichts zu spüren. Allerdings nahm ich die Wärme, die seine kleinen Händchen ausstrahlten, eindeutig wahr. Und dann waren wir fort.
-Zoes Sicht-
Es war Mitten in der Nacht und ich konnte nicht schlafen. Der Grund dafür lag in diesem Moment auf einer Picknickdecke unter den Sternen, während er sich vermutlich gegen uns verschwor. Gerade jetzt, wo er unbeobachtet war. Was, wenn er uns im Schlaf niederstach?
Er sollte uns begleiten, ja, aber auch nur, weil es unsere einzige Chance wäre zu Poppy zu gelangen. Ob er wirklich schlief? Zugern würde ich mich leise aus dem Zelt schleichen und… Nein, ich bin nicht paranoid! Ich habe es lediglich gerne, wenn ich bei allem und jeden auf den neusten Stand bin.
Vorsichtig drehte ich mich zu Lou, die zu schlafen schien, obwohl sie sich ständig hin und her wälzte. Es konnte nicht schaden. Selbst wenn er mich erwischte, na und? Was wollte er tun? Kurz frische Luft schnappen war nicht verboten. Und das ich nicht schlafen kann, wäre nicht mal gelogen.
Möglichst geräuschlos streifte ich beide Beine aus meinem schwarzen Schlafsack, was hervorragend funktionierte. Dank meiner Mum, die mir dieses coole gefütterte Teil zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich konnte mich drehen und wenden wie verrückt, es wäre trotzdem nichts zu hören gewesen.
Das Aufziehen des Zelteinganges war hingegen nicht ganz so einfach. Ich zog den Reißverschluss etappenweise auf, was ziemlich zeitaufwändig erschien, aber wenigstens wurde Lou nicht wach. Ich hatte nur die Hälfte geöffnet und mich versucht hindurchzuzwängen. Trotzdem kam es mir vor wie eine Ewigkeit, ehe alles wieder ordnungsgemäß verschlossen war.
Ich wusste, dass Dusk seine Decke hinter unseren Zelten ausgebreitet hatte. Zum Glück – dann konnte er mich nicht auf Anhieb sehen, falls er nicht schlafen sollte. Als ich die Picknickdecke erreicht hatte (immer noch erleichtert, dass es im Moment Sommer war – was hätten wir im Winter getan?), stellte ich erleichtert fest, dass er tatsächlich schlief.
Um mir hundertprozentig sicher zu sein, beugte ich etwas weiter vor, trotzdem genug Abstand zum Zelt haltend. Ich keuchte kurz auf, überrascht, dass dort gar nicht Dusk mit seinem dicken Schädel schlief. Wer immer das war (David oder Lucas) schien mich gehört zu haben, denn er drehte sich unruhig auf die Seite.
»Zoe?«, zischte er und richtete sich auf. »Was ist los?« Lucas rieb sich verschlafen über die Augen und gähnte ausgiebig. »Geht’s schon weiter?« Wow, er schien wirklich verschlafen zu sein, wenn er nicht mal realisierte, dass es noch mitten in der Nacht war. Ich umrundete das Zelt und ging auf ihn zu.
»Nein. Ich dachte… also… Warum hast du mit Dusk getauscht?« Nur weil er uns half, besaß er noch lange keinen Anspruch auf unsere Zelte.
Er zuckte mit den Schultern. »Als der Idiot neben mir wieder zu röcheln angefangen hat, dachte ich mir: Hey, es ist warm draußen und du bist allein und ungestört. Besser als neben Schnarch-David ist es auf jeden Fall.« Er setzte sich auf die Decke und deutete mir an, dass ich mich zu ihm gesellen sollte. »Und warum bist du jetzt hier?«
Ich sah keinen Grund ihn anzulügen. »Naja, Dusk ist nicht gerade vertrauenswürdig, oder? Wie kannst du schlafen, wenn er im Zelt direkt neben dir schläft?«
Lucas fing zu lachen an. »Wenn ich bedenke, wie du heute Morgen in dem dunklen Wald David zu Boden geschlagen hast, sollte er kein Problem darstellen.«
»Du weißt nicht, was er alles drauf hat.«
»Stimmt. Dann müssen wir entweder hoffen, dass er ein Schwächling ist… oder er tatsächlich ehrlich mit uns ist und uns zu Poppy führt. Die Chancen für letzteres stehen gut, immerhin hätte er uns längst abmurksen können, wenn er es wollte.«
»Oder er wartet nur auf den perfekten Moment, wenn wir…« Ich hielt inne, weil ich selbst bemerkte wie schwachsinnig sich das eigentlich anhörte. Wie immer, machte ich mir einfach zu viele Gedanken. »Ich weiß, das klingt gerade schwachsinnig.«
»Wieso denn schwachsinnig? Dass du skeptisch bist, ist doch ganz normal. Ich traue dem Typen übrigens auch nicht«, meinte er. Ob es gerade wohl wirklich mitten in der Nacht war? Zuhause, meine ich. Schnell verdrängte ich den Gedanken wieder, da ich das besorgte Gesicht meiner Mum vor meinen Augen nicht ertragen konnte.
»Ich habe mich noch gar nicht bedankt«, fiel mir plötzlich ein. Seine Augenbrauen hoben sich auf verwunderter Weise. »Warum bedanken?«, fragte er.
»Dafür, dass du den anderen nichts über… du weißt schon… meine Lüge erzählt hast.«
Er zuckte mit den Schultern. »Liegt ja nicht an mir es ihnen zu sagen.«
»Du hast mich gefragt, warum ich nicht einfach einen auf einfach-zu-haben mache. Weil das doch viel effektiver wäre. Als ich mit der ganzen Sache angefangen habe, war ich noch ziemlich jung und habe an Jungs gar nicht gedacht. Ich war schon immer lieber Einzelgänger. Als sich Lou Jess’ Clique anschließen wollte, war ich aus gutem Grund dagegen.«
»Aha. Aber trotzdem hast du nachgegeben?« Ja, aber…
»Ich bitte dich. Mitglied einer Highschool-Clique zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, dass lebenslange Freundschaften entstehen. Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht.«
Er lachte. »Und doch seid ihr alle mitgekommen, um Poppy zu retten.«
»Und doch sind wir alle mitgekommen, um Poppy zu retten«, bestätigte ich.
»Alleine kommt man nicht unbedingt besser durchs Leben, weißt du?«
»Meine Mum schon«, rutschte es mir heraus. Keine Ahnung, warum ich das gerade gesagt hatte. Nicht mal mit Lou redete ich darüber.
Ich bereitete mich darauf vor, dass er mich nur so mit Fragen durchlöcherte, stattdessen sagte er seufzend: »Ja, ich denke so oft, wenn sich meine Eltern wieder streiten, dass sie ohne einander besser dran wären. Aber… keine Ahnung. Ich hoffe trotzdem, dass ich eines Morgens aufwache und sie sich einfach mal vertragen.«
»Als ich noch klein war, ist meine Mum mit mir abgehauen. Mein Vater war Rund um die Uhr besoffen und ich denke, dass er meine Mum auch geschlagen hat.« Warum erzählte ich das hier gerade?! Ich konnte so etwas nicht durch die Welt posaunen, wenn ich mir nicht mal selbst sicher war. Mum hatte mir gegenüber nie etwas erwähnt, auch wenn ihre blauen Klecken dafür sprachen.
Lucas Augen weiteten sich. »Oh… das tut… mir Leid.« Er schien verunsichert, wie er jetzt reagieren sollte. Ich tat so, als wäre es in Wirklichkeit kein heikles Thema. »Das ist lange her. Mum geht es gut, mir geht es gut. Was mit meinem Vater ist, keine Ahnung. Ist mir ehrlich gesagt auch egal. Könnte gut sein, dass er an einer Alkoholvergiftung gestorben ist – ohne dass wir es mitbekommen haben.« Ich sollte jetzt einfach meinen verdammten Mund halten.
»Würdest du ihm verzeihen, wenn du ihn Heute wiedertreffen würdest und er wäre ein vollkommen anderer Mensch?«, wollte er wissen. Fragte er das etwa, weil er hoffte, dass Poppy ihm verzieh? Ganz genau wusste ich ja nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Aber laut Poppy zumindest, hatte er es ganz schön verbockt.
»Kommt drauf an, ob er seine Entschuldigung aufrichtig ernst nimmt«, log ich, falls es ihm tatsächlich darum ging. Würde ich dieses Arschloch wiedertreffen, hätte er erstmal ein hübsches blaues Auge.
»Ich könnte ihm vermutlich nicht verzeihen«, sagte er schlicht weg und ohne jegliche Emotionen. Okay, vielleicht hatte er doch nicht wegen Poppy und sich gefragt.
Als die Wanduhr drei Uhr schlug, öffnete ich meine Augen. Ich schlug meine Sandaletten unruhig gegeneinander.
»Noch ein Stück Kuchen, Poppy?«, lächelte mir Mrs. Bagehot entgegen. Nichts auf der Welt war schöner als das Lächeln dieser Frau. Meine Mami lächelte viel zu selten.
»Vielen Dank, sehr gerne.« Ich reichte ihr meinen Teller mit dem Blümchenrand entgegen. Deshalb verbrachte ich das Wochenende so gerne bei Lucas und seiner Familie.
»Müsst ihr denn gar nicht in den Kindergarten?«, fragte Mr. Bagehot, der gerade in seiner Zeitung vertieft war.
»Es ist Wochenende, Papa!«, meinte Lucas lachend. »Bald gehen wir in die Schule, Poppy. Dass Schule nicht samstags ist, weiß Papi dann zum Glück.«
Dieser fing nun auch zu lachen an. »Es ist einfach unlogisch! Es gibt nämlich ziemlich viele Leute, die samstags auch arbeiten müssen.«
»Apropos arbeiten«, setzte Mrs. Bagehot an und reichte ihrem Mann eine braune Tasche. »Käsebrot und Apfel sind eingepackt.«
Mr. Bagehot grinste von seiner Zeitung auf. »Dann hat der Tag ja doch noch etwas Schönes an sich. Trotzdem würde ich am liebsten bei euch bleiben.« Er stand auf und küsste seine Frau sanft auf die Lippen.
»Iiiih, Papa! Du kannst Mama auch woanders küssen.« Während er dies sagte, stibitzte er sich schnell ein Stück von meiner Torte.
»Hey! Das ist meine! Vielleicht solltest du einfach Mal langsamer essen?«, und schlug dabei nach seinen Fingern. Er konnte manchmal ganz schön frech… Moment, nein! Das hier ist Lucas! Der ist immer frech, nein, nicht frech – einfach ein Vollidiot. Und das hier bin auch nicht ich. Ich habe keine Schuhgröße achtundzwanzig oder was auch immer… Ich bin fast volljährig! Das hier war gar nicht real.
Als die Wanduhr drei Uhr schlug, öffnete ich meine Augen. Ich schlug meine Sandaletten unruhig gegeneinander.
»Komm, Poppy. Wir gehen zu Riley. Mama und Papa können uns hier gerade nicht gebrauchen.« Lucas zog mich von meinem Stuhl, weg von dem verführerischen Kuchenstück. Schade aber auch.
»Tut uns sehr Leid, Poppy. Du siehst ja, es gibt noch so viel Arbeit zu erledigen. Schade, dass heute kein Kindergarten ist. Sonst könntet ihr da jetzt spielen.«
Die letzten Worte von Mrs. Bagehot, nahm ich nur noch ganz schwach wahr. Lucas und ich waren bereits ins Nebenzimmer abgehauen, wo Rick mit Bauklötzen spielte.
»Wolltest du kein Kuchen?«, fragte ich ihn. Er hatte nämlich eindeutig etwas verpasst.
»Ich spiele lieber mit meinen Bauklötzen.«
Lucas gähnte. »Langweilig. Gut, dass wir sowas nicht machen, oder Poppy?«
»Möchtest du mit uns nach draußen gehen? Wir könnten uns ein cooles Geheimversteck bauen, das nicht nur aus Bauklötzen besteht.« Lucas Worte ignorierte ich einfach, weil er nicht besonders nett zu seinem einzigen Bruder war. Warte… nicht nett. Verdammt! Ich bin wieder drauf reingefallen, oder?
»Lucas! Lass das verdammt nochmal! Wie oft willst du mich diese Szene noch durchleben lassen? Dadurch wird sie nicht realer.«
»Wenn das hier nicht real ist, Poppy, dann muss es in deinem Kopf stattfinden. Ich würde sagen, dann entscheidest du, was passiert – nicht ich.«
Als die Wanduhr drei Uhr schlug, öffnete ich meine Augen. Ich schlug meine Sandaletten unruhig gegeneinander.
Mir war der Appetit vergangen, als ich die Nachrichten sah, die im Hintergrund mitliefen. Ich blickte von meiner Torte hoch und schaute in das grinsende Gesicht von Rick.
»Wo ist Lucas?« Ich schaute mich im Raum um, doch er war nirgends zu entdecken.
»Er hatte keinen Hunger. Hast du das etwa vergessen?«, hakte seine Mutter nach.
»Ja, stimmt. Aber dann hätte er mir doch zumindest Gesellschaft leisten können…«, murmelte ich.
»Scheint, als wäre er gerade lieber bei seinen Bauklötzen als bei seiner besten Freundin. Warum bist du überhaupt mit ihm befreundet? Wenn du möchtest können wir zusammen nach draußen gehen und dort etwas spielen. Dann musst du nicht ständig mit Lucas in der Bude hocken.«
Gerade wollte ich mich wieder laut stark über Lucas aufregen, dass Rick schon immer der bessere Bruder gewesen ist und ich mehr Zeit mit ihm hätte verbringen sollen. Da erkannte ich ein Muster. Nicht das Muster, dass sich diese Küchenszene im Hause der Familie Bagehot ständig wiederholte. Ja, ich erinnerte mich.
»Was hast du denn, Poppy? War doch nur ein Vorschlag.«
»Das wäre jetzt eigentlich der Punkt, an dem ich sagen sollte, dass das hier nicht real ist. Doch dann würde das hier immer so weitergehen. Denn die Wahrheit ist: Das hier ist die Realität. Es stimmt, dass Lucas früher einmal der wichtigste Bestandteil meines Lebens war. Möglicherweise war er sogar der einzige, der damals für mich da war.«
»Der einzige? Jetzt übertreibst du aber! Wir haben uns auch ziemlich gut verstanden.«
»Nimm es mir nicht übel, Rick, aber du warst nun mal nur der Bruder meines besten Freundes. Tut mir Leid, aber ich muss dringend zu ihm. Wo ist er jetzt?«
Rick hob skeptisch die Augenbraue. »In seinem Zimmer vermutlich?«
Ohne weiter auf Rick einzugehen (ich weiß, sehr unhöflich), sprintete ich aus der Küche, die Treppen hoch. Als ich die Tür zu Lucas Zimmer aufschlug, sah ich ihn auf dem Fußboden kauern. Neben ihm lagen Bauklötze, die er immer höher und höher stapelte. Die Situation wirkte an sich so real, wäre neben ihm nicht das hässliche spitze Messer. Es zerstörte das Bild.
»Jetzt weiß ich, dass es real ist, Lucas! Bitte, du musst mich die Küchenszene noch einmal erleben lassen. Dieses Mal aber bitte die reale Version.«
»Dir ist schon klar, dass ich in der realen Version kein Messer bei mir tragen werde, oder?« Das Messer! Irgendwo in meinem Hintertürchen dämmerte es mir, dass es wichtig war. Andererseits konnte nichts so wichtig sein, als endlich die Wahrheit herauszufinden.
»Mir egal. Bitte, setze alles auf Anfang. Ein letztes Mal.«
Er nickte zufrieden. »Ich wusste doch, dass du mich dieses Mal nicht im Stich lassen wirst. Wenn du willst, kann es so bleiben… für immer.«
Als die Wanduhr drei Uhr schlug, öffnete ich meine Augen. Ich schlug meine Sandaletten unruhig gegeneinander…
-Resis Sicht-
Unruhig ging Hodded auf und ab, während ich ihn belustigt beobachtete. Ich wette, dass er es inzwischen bereute, nicht mit ihr gekommen zu sein. Ja, ich war immer noch der festen Überzeugung, dass wenn er es nur gewollt hätte, diese Mauer überschritten hätte. »Sie hätte inzwischen längst zurück sein sollen«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Er hatte beschlossen, mich einfach zu ignorieren. Warum auch nicht?
»Ich könnte dir jetzt sagen: Hab’s dir ja gleich gesagt, aber das würdest du eh stumpf ignorieren.«
»Nein! Wer sollte dieses Messer sonst besorgen können, wenn nicht Poppy?« Was das wohl für ein Messer war? Laut Poppys Gedanken, konnte es anscheinend Wunder vollbringen. Den In-thoughts die Kontrolle nehmen, war das, wofür ich stets gekämpft hatte. Kaum vorstellbar, dass ein einziger Gegenstand die Welt so einfach machen könnte. Was wenn er Poppy angelogen hatte…? Immerhin schien der Grund, den sie glaubte, ziemlich abwegig.
Wiederwillig gab ich den Zugang zu meinen Gedanken für Hodded frei. Da ich grundsätzlich wenig über hatte, wenn es ums Kontrollieren ging, schaffte ich es auch nicht lange meine Gedanken vor anderen zu verbergen. Der einzige schwerwiegende Nachteil des Ganzen…
»Vielleicht ist es ja so. Schon mal daran gedacht, dass es Gegenstände gibt, nie man nie in die Finger bekommen kann?« Typisch In-thoughts, dass sie glaubten, alles stehe ihnen zur Verfügung. Dabei war er hier nicht mal der In-thought von uns beiden.
»Aber-« Darauf fiel ihm wohl nichts mehr ein, weil ich ganz einfach Recht hatte. Davon ging ich aus, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Hodded hatte nämlich mitten im Satz abgebrochen, weil er etwas gehört hatte. Auch ich nahm jetzt das Knacksen von Ästen hinter mir wahr. Neugierig, und leider auch etwas ängstlich, drehte ich mich um meine eigene Achse. Konnte nur hoffen, dass es nicht Lichtwesen oder ähnliches waren. Schließlich befanden wir uns immer noch an diesem grausamen Ort.
»Papa?!«, stieß Hodded überrascht aus. Dann sah ich ihn auch: Den In-thought, der in Begleitung von weiteren Menschen war! Verrückter Tag Heute, aber echt! Zwar versuchte dieser In-thought vor mir natürlich seine Gedanken zu verbergen, doch in mir breitete sich eine Vorahnung aus. Ich gehörte zu meiner Familie, weil sie mich damals bei sich aufgenommen hatten, als die Wurzeln des Livenus mich formten. Irgendwas sagte mir, dass diese zwei noch viel mehr miteinander verband, als es für gewöhnlich üblich war.
»Ah! Guckt an, wie schnell wir sie gefunden haben«, sagte Hoddeds Vater zu den Menschen.
Einer von ihnen kam mit großen Augen auf mich zu. »Poppy? Bitte sag nicht, dieser Kerl hat dich bereits in einen von ihnen verwandelt.«
Ich musste lachen. »Verwandelt?! Als ob jemand so große Kräfte wie der Livenus besitzen könnte. Nein, ich bin Resi, die Begleitung.« Ich streckte ihm höfflich die Hand entgegen, die er allerdings nicht ergriff. Auch gut. Auf jeden Fall schien er über meine Aussage ziemlich erleichtert zu sein. Verständlich. Inzwischen hatte er bestimmt genug In-thoughts kennengelernt, um zu wissen wie die meisten tickten.
»Wo ist Poppy?«, fragte ein blondes Mädchen, das neben dem Jungen stand.
Ich kam nicht umher, daraufhin schadenfroh in Hoddeds Richtung zu grinsen. »Ja, genau. Wo ist Poppy, Hodded? Warum seid ihr nicht mehr zusammen unterwegs.«
Auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen konnte, seine Augen waren nicht schwer zu verfehlen. Diese starrten mich jetzt direkt an und sprühten nur so vor Zorn. Fast hätte ich Angst vor ihm bekommen. Er wollte auf mich losgehen, ohne Zweifel. Doch auch diese Vermutung schien sich nicht zu bewahrheiten. Okay, vielleicht hätte er es wirklich gerne gemacht, doch im Moment schien er eher das Bedürfnis zu haben, dies bei seinem eigenen Vater zu tun.
»Sie ist schon seit Ewigkeiten beim Livenus! Kannst du mir sagen, warum sie noch nicht zurück ist?«, fuhr er den In-thought an. Dieser, sichtlich überrascht von Hoddeds Tonlage, zuckte mit den Schultern.
»Es war lediglich eine Vermutung, dass Poppy es schaffen könnte.«
»Was soll das jetzt heißen? Was ist mit Poppy?, fragte ein leicht dunkelhäutiges Mädchen.
»Naja«, setzte Hoddeds Vater an. »Das kommt ganz darauf an mit welcher Absicht Poppy den Livenus betreten hat. Ein Grund, warum man sie nicht all zu starr festlegen sollte. Möglich, dass man dort nie mehr wegkommt.«
»Ach? Und das hättest du uns nicht vorher mitteilen können?«, fragte Hodded, in einem Ton wie ich niemals mit meinen Eltern reden würde.
»Der Livenus meinte, es wäre möglich…«, murmelte er als Antwort vor sich hin. Ohne Zweifel, dass das anscheinend nicht ganz gestimmt hatte.
»Worauf wartet ihr dann noch? Wir müssen Poppy da rausholen!«, erklang die Stimme eines rothaarigen Mädchen, das ich bislang noch gar nicht bemerkt hatte.
»Das würde ich an eurer Stelle nicht versuchen. Ihr braucht, wie gesagt, einen Grund. Ihr könnt in eurem Fall nicht ausweichen, da eure einzige Absicht ist, Poppy zu retten. Das wird euch aber nicht gelingen und auch ihr werdet auf ewig dort festsitzen«, warnte Hoddeds Vater.
»Na super…«, brummte Hodded. »Toll hingekriegt.«
Der blonde Junge drehte sich zu den anderen Menschen um. »Ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich werde jetzt nicht einfach aufgeben. Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass wir Poppy daraus bekommen, dann sollten wir diese nutzen.«
»Oh, aber die gibt es nicht«, warf Hoddeds Vater ein. Die Menschen taten mir gerade total Leid.
Der blonde Junge tat so, als hätte der In-thought überhaupt nicht gesprochen und starrte seine Freunde weiterhin erwartend an. Obwohl… laut seinen Gedanken, war ich mir nicht mal sicher, was die anderen für ihn waren.
»Kaum zu glauben, dass ich das Mal sage, aber ich denke Lucas hat Recht. Warum sind wir sonst hier?« Inzwischen hatte ich das rothaarige Mädchen genauer in den Augenschein genommen. Anscheinend hatte sie hier das Sagen.
»Ich… also. Ich bewundere es ja, dass ihr das für Poppy tun wollt. Aber… das ist doch Wahnsinn! Hat das nicht etwas von Selbstmord?«, fragte der andere blonde Junge, der etwas schlaksiger war.
»Keiner verlangt, dass du mitkommst, Nerd. Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, Poppy interessiert dich doch einen Scheißdreck. Du hast sie nie wirklich gemocht, oder? Weil sie eingebildet-«
»Hey! Das stimmt nicht!«, der Junge wirkte wütend. Offensichtlich, dass sich die beiden Jungs nicht besonders mochten. Dafür musste man keine Gedanken lesen können. »Nur denke ich realistisch! Müssen wir uns denn alle ins Unglück stürzen? Was ist mit unseren Eltern? Sie würden nicht wollen, dass wir so blind handeln. Mich haben sie so zumindest nicht erzogen.«
»Okay, David. Meine Mum hat mich dazu erzogen, meine Freunde niemals im Stich zu lassen und dass man gemeinsam immer stärker ist«, meinte die Dunkelhäutige, die mir irgendwie am sympathischsten ist. Und ja, wenn man Gedanken lesen kann, kann man darüber so schnell urteilen. Denke ich…
»Möchte noch jemand bei David bleiben?«, fragte sie in die Runde. Als niemand antwortete, wand sie sich ein letztes Mal an David. »Wenn wir in fünf Stunden nicht zurück sind, dann gehst du ohne uns Nachhause. Hier bitte, der Luftballon.«
-Erins Sicht-
Dass David sich dazu entschieden hatte, uns nicht zu begleiten, enttäuschte mich nicht. Im Gegenteil: Ich war erleichtert. Ständig führte ich mir wieder ins Gedächtnis, dass Dusk sich irren konnte und wir tatsächlich eine Chance hatten, Poppy daraus zu holen. Ein Teil von mir hoffte immer noch, dass das alles nur ein Traum war, aus dem ich bald erwachen würde. Obwohl sich das hier alles viel zu real anfühlte…
Während wir jetzt nach und nach auf die andere Seite wechselten, hörte ich noch wie das In-thought-Mädchen zu dem Kapuzenjunge sagte: »Guck dir das an! Die schaffen es tatsächlich alle.« Und dann war ich drüben. Hier war es eindeutig heller, trotzdem nicht zwangsläufig angenehmer. Unter mir war hässlicher Teerboden, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
»Ich mag diesen Ort nicht«, murmelte ich. Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt, wenn Poppy hier nicht irgendwo festsaß.
»Ach, komm. Der dunkle Wald eben war schlimmer«, meinte Lucas. Da konnte ich ihm nicht ganz zustimmen. Aber das ist vermutlich Ansichtssache.
»Auf welchen Untergrund steht ihr gerade? Kommt mir nämlich so vor, als würde er hier gar nicht hergehören«, fragte uns Jess. Nicht, dass ich es mir nicht vorstellen konnte, dass es auch hier Teerboden gab. Doch Jess hatte Recht. Dieser Teerboden gehörte nur an einen Ort.
»Schätze, dass jeder von uns etwas anderes sieht«, mutmaßte Zoe.
»Wahrscheinlich. Lass uns aufhören darüber zu diskutieren und einfach weitergehen. Hier finden wir Poppy ganz sicher nicht«, meinte ich und zeigte auf den großen Baum, der sich oben auf dem Berg in einer Glaskugel befand. »Da muss sie sein.«
»Gut geraten, Erin«, lachte Lou. »Wenn wir erst mal oben angekommen sind, dann bin ich mit meinen Kräften wohl am Ende.«
»Und das, Schätzchen, ist der Grund, warum ich dir ständig eintrichtere mehr Sport zu treiben«, tadelte Zoe ihre Freundin.
»Hey! Ich kann nichts dafür, dass ich unsportlich geboren bin.«
»Ach Lou, ich wurde doch auch unsportlich geboren«, stellte Jess grinsend klar. »Trotzdem solltest du wenigstens versuchen, dich etwas fit zu halten. Kann nie schaden.«
»Ist ja gut. Ich werde ja trotzdem durchhalten.«
Ich zog mir meinen Rucksack zu Recht und folgte den anderen Richtung Wasserfall. Es sah irgendwie witzig aus, dass das Wasser den Boden nicht mal mit einem einzigen Tropfen durchnässte. Oder… möglicherweise tat es das ja, nur konnten wir es nicht sehen.
»Es könnte gut sein, dass wir nie wieder zurückkehren, weißt du?«, ertönte plötzlich eine Stimme neben mir. Eindeutig Jess.
»Ach, was du nicht sagst.«
»Macht dir das keine Angst?«, fragte sie, offensichtlich, weil sie selbst am ganzen Körper zitterte.
»Natürlich. Warum auch nicht?«
»Naja, wenn wir wirklich nicht zurückkehren… Es gibt einfach noch so viele Dinge, die ich klären müsste.«
Wem sagte sie das. Das Gefühl, nicht wirklich zu sterben, dennoch möglicherweise nie mehr Heimzukehren, war grausam. Würden wir wenigstens noch einander haben? Nicht mal das konnten wir garantieren.
»Bevor wir aufgebrochen sind, um Poppy zu retten, habe ich mich heftig mit meiner Mum gestritten. Ich könnte es nicht ertragen, sie nie wieder zu sehen. Sie ist das Wichtigste in meinem Leben.«
Auch wenn ich mich mit meinen Eltern nicht wirklich gestritten hatte, konnte ich Jess nur zu gut verstehen. »Warum bist du dann mitgekommen? Du hättest bei David bleiben können.« Am liebsten wäre es mir, wenn sie alle bei David geblieben wären. Doch dass sie das niemals zulassen würden, lag sowas von auf der Hand.
»Keine Ahnung. Weil ich es Poppy schulde? Vielleicht habe ich auch Angst nach allem was passiert ist, meiner Mutter unter die Augen zu treten. Sie macht sich gerade bestimmt ziemlich große Sorgen.« Ich wollte gar nicht daran denken. Poppy ist meine beste Freundin, aber meine Familie ist meine Familie… und es brach mir gerade fast das Herz.
»Wenn wir je wieder zurück zur Erde gelangen, dann werde ich Josh noch eine Chance geben«, sagte Jess plötzlich, woraufhin ich lachen musste.
»Ach ja? Wieso das denn auf einmal? Hatte er nicht irgendwas falsch gemacht?« Was immer das auch gewesen sein musste.
»Stimmt, das hat er zwar. Aber ich schätze, dieser Fehler war nicht so schwerwiegend, als dass ich ihm dafür nicht verzeihen kann. Dieser Ausflug hat mir vor Augen geführt, dass ich jemanden in meinem Leben brauche, der immer an meiner Seite steht. Irgendwann hatte ich eh geplant mich zu binden. Vielleicht sollte ich langsam anfangen ernst zu machen.« Wow. Diese Worte von Jess. Wow.
»Und Josh ist da tatsächlich der Richtige?«, neckte ich sie.
»Vielleicht«, sagte sie grinsend. »Wird man sehen.«
»Wow, allein das ist schon ein Grund, warum wir unbedingt wieder von hier verschwinden müssen.«
»Ganz sicher. Der wichtigste überhaupt.«
Dieser Ausflug schien Jess tatsächlich verändert zu haben. Im positiven Sinne, meine ich. Ihre sarkastische Bemerkung war zum Beispiel ein Zeichen dafür. Jess machte eigentlich nie sarkastische Bemerkungen.
Als wir den Wasserfall erreicht hatten, schlugen wir den Weg ein, der sich direkt dahinter befand. Sicher einleuchtend, dass wir dabei etwas nass wurden. Bei diesem Wetter, das einen ohnehin schon zittern ließ, sicherlich nicht Vorteilhaft. Rational betrachtet, hatten wir im Moment aber größere Probleme.
»Warum muss das so steil hoch gehen?«, fragte Lou stöhnend.
»Ich will ja jetzt nichts sagen, aber ich hab’s dir ja gesagt. Sport, Liebes«, tadelte Zoe.
Lou streckte Zoe scherzhaft ihre Zunge raus und kämpfte sich weiter nach oben – buchstäblich gesprochen. Sie stützte sich bei jedem Schritt auf ihre Beine ab. Ich meine, so steil war das wirklich nicht. Selbst ich schaffte es irgendwie.
»Poppy sollte das hier wirklich zu schätzen wissen«, brummte Lou. Ja, wir waren eine ziemliche komische High-School-Clique. Das konnte keiner mehr leugnen.
Mit gesenktem Blick betrachtete ich den Kuchen, direkt vor meinen Augen. In meiner Hand die Gabel, doch irgendwie wollte sie ihren Weg nicht in meinen Mund finden.
»Du hast sie also nicht in den Kindergarten geschickt, weil du eh Zuhause bist?! Mitten in der Woche! Wie soll das werden, wenn sie erst zur Schule gehen. Das dauert nicht mehr lange. Sicher dürfen Lucas und Rick dann auch einfach so die Schule schwänzen. Wie unverantwortlich von dir!«
»Du kannst Schule und Kindergarten doch nicht miteinander vergleichen!« Der Appetit war mir spätestens in dem Moment vergangen, als Mrs. und Mr. Bagehot sich wieder zu schreiten anfingen. Ich hätte einfach bei Lucas bleiben können. Aber Mrs. Bagehot machte einfach den besten Kuchen überhaupt! Da konnte man nur schwer wiederstehen.
Rick tippte mir vorsichtig an die Schulter. Mit seinem Daumen deutete er hinter sich. Anscheinend wollte er auch wieder zu Lucas. Ich nickte und schob den Erdbeerkuchen von mir weg. Dann verließen wir den Raum. Lucas’ Eltern hatten es nicht mal bemerkt. »Tut mir Leid. Ich dachte wirklich, dass sie sich beherrschen würden, wenn du da bist.«
»Das muss dir doch nicht leidtun, Rick«, sagte ich lachend und klopfte an Lucas’ Zimmertür. Ich wartete auf kein Herein, sondern öffnete die Tür einfach so. Hier war mein zweites Zuhause, deshalb verhielt ich mich auch dementsprechend.
»Wow, habt ihr schnell gegessen«, begrüßte uns Lucas.
»Du kennst uns doch. Will jemand mit mir Schaukeln gehen?«, fragte Rick. Fragend schaute ich in Lucas’ Richtung. Ich würde nur mitkommen, wenn er auch ging. Rick ist mir ab und zu einfach zu anstrengend mit seinem Batzen an Energie.
»Ich wollte diesen Turm hier eigentlich noch fertig kriegen«, meinte er zu seinem Bruder. Dieser nickte und verließ das Zimmer. Auf meine Antwort hat er gar nicht mehr gewartet. Er wusste, dass ich nicht mitkommen würde, wenn Lucas hier blieb.
Wie er da mit seinen Bauklötzen saß, erinnerte er mich so sehr an mich selbst. Deshalb verbrachte ich meine Zeit so gerne mit ihm. Auch ich konnte mich stundenlang mit einer einzigen Sache beschäftigen. Meine Mum verstand nicht, wie ich in der Badewanne sitzen konnte, in der Hand nur eine Ente. Klar, wie denn auch, wenn sie Ernie und meine Abenteuer gar nicht kannte. Wir waren schon an so vielen verschiedenen Orten.
Apropos…
»Lucas, was wäre, wenn wir die Chance hätten zusammen von hier zu verschwinden?«
»Rede keinen Blödsinn. Unsere Eltern würden uns eh finden.«
»Nein. An diesem Ort nicht. Vertrau mir.«
»Was ist das für ein Ort?«, wollte er wissen.
»Ein Besserer. Vielleicht treffe ich auf Einhörner und du besitzt dein eigenes Schloss. Eines, was du allein gebaut hast.«
Er schaute neugierig von seinen Bauklötzen hoch. »Das hört sich fast zu schön an, um wahr zu sein.«
»Ist es aber! Ich kann es dir sogar beweisen. Du musst nur mit mir mitkommen. Nach draußen.«
Er zögerte. »Vertraust du mir nicht genug, um mit mir zu kommen?«
»Das ist es nicht. Ich würde dir überall hin folgen. Aber… was wenn wir am Ende enttäuscht sind? Wenn es dort gar nicht so schön ist.«
»Dann können wir doch immer noch Heimkehren, Lucas.« Ich nahm seine Hand und zog ihn von seinen Bauklötzen weg. »Also gut. Wo soll’s hin gehen?«
Ich öffnete die Vordertür und blickte auf die Wiese, die vor dem Haus der Bagehots stand. Jetzt gerade, im Sommer, blühten die gelben Blümchen besonders schön. »Da! Von dort werden wir starten. Warte dort auf mich.«
»Wo willst du hin?«
»Wir brauchen doch jemanden, der uns in diese Welt bringt, Lucas. Nur ist er etwas schüchtern. Wenn wir dort zusammen aufschlagen, zeigt er sich womöglich nicht. Aber ich werde anschließend mit ihm zu dir kommen.«
Lucas wirkte etwas verunsichert. Trotzdem hatte er nichts dagegen und ging rüber zur Wiese. Ich umrundete die Villa der Bagehots, denn hinter dem Haus befand sich noch eine andere Wiese, die wo ich Hodded finden würde. Die Wiese, die unser Haus von Lucas’ Familie trennte.
◊
»Da bist du ja endlich! Aber wo ist unsere Reisebegleitung?«
»Reisebegleitung?! Warum sollte ich mit dir irgendwo hin wollen?« Lucas Augen weiteten sich. In ihnen lag plötzlich eine unendliche Traurigkeit. Es war fast so, als würde ein Teil von Lucas in Zwei brechen.
Nein! Schnell setzte ich einen großen Schritt auf ihn zu. »Nein! Dieses Mal verlasse ich dich nicht. Ich bin schuld! Ich allein! Wegen mir bist du so geworden, wie du bist. Ich dachte die ganze Zeit, du hättest unsere Freundschaft beendet. Aber ich habe dich vergessen, weil ich ihn vergessen habe. Natürlich nicht vollständig, denn ihr seid ja nicht ein und dieselbe Person. Doch als kleines Mädchen konnte ich euch zwei nicht richtig auseinander halten. Wie denn auch, wenn ich zu Hooded kein Gesicht parat hatte. Kann schon sein, dass ich ihn ab und an mit dir verwechselte.«
»Wurde aber auch Zeit, dass du dich erinnerst«, grinste er. Das war das Problem. Ich erinnerte mich eben nicht. Den Teil, den ich wirklich vergessen sollte, die Vergangenheit mit Hooded, war mir immer noch fremd. Ich hatte nur gelernt, diese von der mit Lucas zu trennen.
»Und wie es Zeit wurde. Aber weißt du was? Dieses Mal werde ich dich nicht verlassen. Jetzt sollst du die Chance auf eine Zukunft bekommen, die du wirklich verdient hast.«
»Eine Zukunft mit dir?«, fragte er mich, woraufhin ich nickte.
»Nein. Eigentlich verdienst du sogar etwas Besseres.«
»Aber ich will nichts Besseres, Poppy, sondern dich.« Wie hatte ich das all die Jahre nicht bemerken können? Lucas war es eigentlich gewesen, den ich hätte retten müssen.
Ich tippelte auf ihn zu und zog ihn ganz fest an mich. »Dieses Mal werde ich dich nicht verlassen. Ich bleibe hier. Für immer. Wir werden gemeinsam alt und grau werden.« Er lächelte und das Messer, was ihn zu einem bösen Jungen gemacht hatte, löste sich endlich auf. Wir waren endlich frei.
-Lucas’ Sicht-
»Na endlich!«, pustete Lou, als der Baum in unser Sichtfeld trat. Von so nah wirkte er nur noch größer und mächtiger. Ich versuchte Poppy durch die durchsichtige Kuppe zu erblicken, doch nichts konnte man erkennen. Da war nur dieser monströse Baum.
»Dann wollen wir mal, oder?«, sagte Zoe und trat vor bis kurz vor der Kuppe.
»Naja, wollen ist hier vielleicht etwas unangebracht. Müssen würde ich eher sagen.« Zoe hatte die Kuppe bereits betreten und Jess folgte ihr. Auch ich setzte jetzt ein Schritt Richtung XXL-Seifenblase.
Bevor ich diese jedoch betreten konnte, tauchte vor mir eine vertraute Gestalt auf. Das war ich! Nur irgendwie viel älter… Ich konnte nur hoffen, dass ich später nicht wirklich so aussehen würde, denn diese Version von mir sah ziemlich mitgenommen aus.
»Mit welcher Absicht betrittst du den Livenus?«, fragte mich mein zukünftiges Ich, das in Wirklichkeit wahrscheinlich einfach eine Geistergestallt darstellte.
»Ich möchte Poppy retten«, antwortete ich.
»Dachte ich mir schon. Dann gilt diese Aussage als bindend, sobald du den Livenus betreten hast. Nur lass mich dir eins sagen: Deine Zukunftsaussichten sehen ohne Poppy um einiges besser aus.«
Dachte ich mir schon, dass jetzt eine bescheuerte Warnung kommen würde. »Danke für den Hinweis.« Ich durchkreuzte anschließend trotzdem die unsichtbare Blase.
◊
Langsam rieb ich mir meine Augen. Plötzlich fühlte ich mich unendlich müde… warum auch immer. Ich erhob mich von den Fliesen, die eindeutig die unseres Hauses waren. Dabei hätte ich mir den Kopf beinahe an der Glastür gestoßen, die in unseren Garten führte. Draußen, in unserem Garten, sah ich sie – Poppy.
Schnell öffnete ich die Tür und rief ihr zu: »Poppy! Wir müssen von diesem Ort verschwinden. Wir müssen wieder Nachhause.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Für mich sieht das hier ziemlich nach deinem Zuhause aus.« Deshalb kam sie also nicht wieder. Sie dachte, sie wäre bereits wieder daheim. Ich musste mich wohl beeilen, ehe ich noch dasselbe glaubte.
»Nein, Poppy! Das hier ist nicht real!«
»Ach, das dachte ich mir schon, dass du es nicht für real halten würdest. Als ich dir damals von diesem anderen Ort erzählt habe, dachtest du auch, ich spinne. Deshalb wollte ich dich nicht mehr dabei haben.«
Wie kam sie denn jetzt da rauf? Das ist Jahre her…
»Komm einfach mit mir mit Poppy. Schnell.«
»Also gut. Werde ich. Aber vorher nimmst du im Gegenzug meine Hand, damit ich dir zeigen kann, warum ich es mir damals wirklich anders überlegt habe.«
Ich seufzte. »Na schön.« Es interessierte mich eh schon immer, warum sie ihre Meinung plötzlich geändert hatte.
Nachdem ich ihre Hand ergriffen hatte, konnte ich spüren, dass ich geschrumpft war. Nicht nur ich: Vor mir saßen plötzlich Klein-Poppy und Klein-Rick. Vorsichtig stapelte ich einen Bauklotz auf den nächsten. Die Burg nahm langsam Gestalt an.
»Jetzt komm schon, Lucas! Poppy würde bestimmt gerne mal mit nach draußen kommen. Hier drinnen ist es doch ziemlich langweilig.«
Da hatte Rick allerdings Recht mit. Früher mochte ich es, Heute war es mir ehrlich ein Rätsel wie ich hier so lange rumhocken konnte. Die arme Poppy! Ich war früher echt ein totaler Langweiler gewesen. Kein Wunder, dass sie mich nicht mitnehmen wollte. Vorsichtig berührte sie mich am Arm. »Es ist nie zu spät für zweite Chancen, Lucas.«
Ich warf einen Blick auf Rick. Schon immer wollte ich mehr wie er sein. Wäre Rick in Poppys Alter und nicht ein Jahr jünger, dann hätte sie sich sicherlich mit ihm angefreundet. Wegen unseren Eltern und weil wir gleichaltrig waren, sonst verband uns nichts. Poppy liebte das Abenteuer, wie Rick.
»Jetzt ahnt ihr es vielleicht noch nicht, aber später, in der Zukunft, würden so manche Leute gerne ein Abenteuer mit mir erleben.« Okay, das hätte ich jetzt wirklich nicht sagen dürfen. Doch Rick und Poppy schien das überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil: Poppy meinte sogar: »Genau. In Wirklichkeit bist du nämlich jemand ganz anders. Ein Held, der gekommen ist, um mich zu retten.«
Da fiel es mir wieder ein! »Poppy! Wir müssen von hier verschwinden. Wie du doch sagtest: Ich muss dich retten.«
»Du rettest mich, wenn du jetzt schon akzeptierst, wer du wirklich bist.«
»Ja, das akzeptiere ich doch!«
Rick klopfte mir stolz auf die Schulter. »Wusste ich’s doch, dass du kein Langweiler bist. Und jetzt kommt endlich mit nach draußen.«
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Wir folgten Rick in den Garten. Wir sogar spielten Fußball. Wenn sie nur wüssten, dass ich später mal in einem Verein spielen würde. Danach holten wir uns Decken, um unser eigenes Geheimversteck zu bauen. Dieser Teil machte mir, zugegeben, etwas mehr Spaß. Fußball spielte man eben für den guten Ruf. Ein Opfer, das nicht besonders schwer einzugehen war.
Während wir gerade Kirschen vom Baum pflückten, um Weitspucken zu veranstalten, hätte mein Kern fast jemanden getroffen. Poppy, aber nicht die junge, sondern die alte Poppy. Ihre Augen schauten wie hypnotisiert zu mir hinüber. »Ich wäre sowieso nicht mitgekommen. Gebe es ruhig zu, wir haben als Kinder besser funktioniert.«
Und dann löste sie sich vor meinen Augen in Luft auf. Ob ich mich darüber ärgern sollte? Keine Ahnung. Ich tat es jedenfalls nicht. Denn früher haben wir wirklich besser funktioniert. Und dieses Mal konnte ich es endlich richtig machen, sodass es in Zukunft auch noch so sein würde. Mein zukünftiges Ich meinte, dass eine Zukunft mit Poppy mich zerstören würde.
Mich. Es stimmte. Es zerstörte mich gerade tatsächlich. Es zerstörte die Seite an mir, die keiner mochte und machte mich zu einem besseren Menschen. Wenn das hier das Ende sein sollte, dann hatte ich nichts dagegen. Es fühlte sich nämlich verdammt gut an.
-Davids Sicht-
»Ist es okay, wenn ich zu dir komme? Ich ertrage es nicht länger bei den beiden Streithähnen.« Es war die Frau mit dem riesen Schädel. Oder Mädchen, das Alter konnte ich bei ihrem Aussehen irgendwie ganz schlecht einschätzen. An sich schien sie ja einen sympathischen Eindruck zu machen. Jedenfalls sympathischer als die anderen drei Gestalten, die ich kennenlernen durfte. Also nickte ich einfach.
»Du gibt wenigstens zu, dass du zu ängstlich bist, um zum Livenus zu gehen.« Was sollte das denn heißen? Dieser Satz hatte ihr gerade ein paar Sympathiepunkte gekostet.
»Ach? Und du wärest natürlich gegangen?«
»Nein, gebe ich offen zu. Einfach, weil ich nie im ganzen Leben den Livenus um Rat fragen würde. Eher würde ich sterben.«
»Könnt ihr das überhaupt? Sterben meine ich. Dusk hat uns erzählt wie alt er ist…«
»Natürlich können wir sterben. Dass wir unsterblich sind, heißt lediglich, dass wir nicht an Altersschwäche oder durch Mord sterben werden. Durch Unfälle oder Selbstmord und so weiter… können wir dennoch sterben. Obwohl der Livenus Waffen in sich tragen soll, mit denen man jemanden umbringen kann. Ist vielleicht auch nur ein Gerücht.« Ihr Blick senkte sich. Anscheinend hatte ich einen Nerv getroffen. Am besten sollte ich dieses Thema wohl meiden.
»Dann würdest du dort auch nicht reingehen, um jemanden zu retten, der dir viel bedeutet?«, harkte ich neugierig nach.
»Nein, weil … sorry, aber wer zum Livenus geht hat selbst schuld und muss mit den Konsequenzen leben.« Ich konnte nicht wirklich beurteilen, ob ihre Meinung weise oder einfach nur herzlos war. Ich kannte diesen Baum schließlich nicht.
»Denkst du, sie werden wieder kommen?« Eigentlich wollte ich diese Frage nicht stellen, weil ich Angst vor der Antwort hatte. Jetzt konnte ich irgendwie nicht anders.
»Ehrlich? Vermutlich nicht, nein. Deine Freunde sind keine Profis in Sachen Livenus. Sie werden ihre Absicht sicher nicht überlisten können.« Ich schluckte. Hätte sie nicht lügen können?
»Ich hätte nie mitkommen sollen. In diese Gruppe passe ich sowieso nicht rein.«
»Und warum bist du dann mitgekommen?« Ja, gute Frage, nächste Frage. Wegen Erin? Wegen meinen Schuldgefühlen, dass ich Poppy nie mochte und sie plötzlich vom Erdboden verschwand?
»Ich wollte mir etwas beweisen. Doch am Ende habe ich nur vorgegeben jemand zu sein, der ich nicht bin.«
»Wie meinst du das?«
»Naja, das hier. Ich bin kein Held. Ich rette niemanden. Ich habe meine Bücher und gut.«
Sie lachte. »Niemand wird als Held geboren. Wir werden Helden, wenn uns eine Sache so viel bedeutet, dass wir dafür kämpfen müssen.«
»Tja, dann bin ich wohl zu gefühlskalt, um ein Held zu sein.«
»Das dachte ich früher auch. Meine Schwester, sie war so tapfer, im Gegensatz zu mir. Vermutlich wird sie immer tapferer sein. Jeder wird das, dachte ich mir. Ich bin schließlich nur die kleine Resi. Meine Eltern gaben mir den Namen nur, weil ich nie das machte, was sie von mir verlangten. Inzwischen hat mich dieser Name jedoch stark gemacht und ich habe angefangen an mich zu glauben.«
Interessant. »Ich weiß ja nicht mal was David bedeuten soll. Sicher wurde der ganz zufällig von meinen Eltern gewählt.«
»Bestimmt haben sie dir diesen Namen gegeben, weil sie dich lieben.« Oh, wie weise. Natürlich lieben mich meine Eltern, aber was hat das mit mir zu tun?
»Irgendwann wirst du schon eine Sache finden, die dich zu einem Helden macht.« Mein Vater war ein angesehener Professor. Das machte ihn irgendwie zu einem Helden. Dass mein Ding auch irgendwie in diese Richtung ging, stand außer Frage. Was also hatte ich hier zu suchen? Mein Platz war bei den Büchern. Die würden mich irgendwann zu einem Helden machen… indirekt. Hoffentlich.
Eigentlich wollte ich darüber gar nicht weiter nachdenken. Über meine Zukunft und was damit in Verbindung stand. Stattdessen kreisten meine Gedanken wieder zu dem Satz hin, den Resi eben ausgesprochen hatte: Obwohl der Livenus Waffen in sich tragen soll, mit denen man jemanden umbringen kann. Er ließ mich einfach nicht mehr los. Ob sie aus Erfahrung sprach?
»Denkst du, in bestimmten Situationen ist es gerechtfertigt jemanden zu töten? Wenn es der Feind überhaupt ist… von allen und jeden«, setzte ich vorsichtig an.
Sie lachte. »Du denkst, ich habe jemanden umgebracht.« Ich wollte wiedersprechen, aber es wäre wohl sinnlos, also nickte ich zögernd und setzte ein »Möglich ist immerhin alles.« hinzu.
»Ich habe niemanden umgebracht. Klar, es gibt Personen, da würde es einem leichter fallen als bei anderen. Aber… schlussendlich ist es immer falsch – aus welchem Grund auch immer.« Natürlich ist es das, klar. Trotzdem fragte ich mich ab und an, ob Leute, die selber töteten, nicht auch unter die Erde gehörten.
»Themenwechsel.« Irgendetwas verschwieg sie mir doch. Was genau, würde ich wohl nie erfahren.
»Ich hab’s leider nicht so mit Gesprächsthemenfindung, weißt du? Mit meinen Freunden ist das einfach: Wir reden ständig über Schule, Wissen und was mich sonst so interessiert.«
»Für was interessierst du dich denn?«, wollte sie wissen.
»Selbstverständlich lese ich gerne. Aber noch lieber schreibe ich oder spiele Poker.« Sie wusste sicher nicht mal was das ist. Sonst hätte ich es auch nicht verraten. Keiner aus meiner Familie wusste, dass ich pokere. Wenn dann würden sie es mir sicher verbieten.
»Wirklich? So richtig mit Geld und so?« Verdammt. Warum musste diese Welt unserer nur so ähnlich sein?
»Ich bin ziemlich gut. Warum sollte ich dann ohne spielen?« Wahrscheinlich stellte sie sich gerade einen Haufen Nerds vor, die miteinander pokerten – war ja auch so. Deshalb musste sie jetzt auch lachen, vermutlich.
»Die Frage war nicht ernst gemeint, beziehungsweise diente nur der Konversation. Wenn wir keine Gedanken lesen könnten, würde es dieses Spiel bei uns vielleicht auch geben, aber so ist es ziemlich langweilig.« Ach ja. Schon fast wieder vergessen. Aber diese Resi gab einem, anders als Same, auch nicht das Gefühl als könnte sie Gedanken lesen. Deshalb war sie mir auch symphytischer.
»Dieses Pokern würde ich unglaublich gerne mal ausprobieren.«
»Aber nicht mit mir. Dann gewinnst du ja eh.«
»Das ist doch der Sinn.« Grinsend schüttelte ich den Kopf. Was für eine Frechheit!
Oh Gott! Das durfte doch nicht wahr sein! Da war man einmal unachtsam und schon rutschte mir der verdammte Ballon aus den Fingern. Schnell sprang ich auf, um ihn zu greifen, doch er war bereits zu weit oben. Ach du Scheiße! War meine einzige Chance je nach Hause zu gelangen, gerade einfach davon geflogen?
»Keine Angst. Der kommt wieder. Er kommt immer wieder«, sagte der Kapuzenjunge, der jetzt hinter mir getreten war.
-Lous Sicht-
Wer hätte ahnen können, dass mich meine kleinen Füße so weit nach oben gebracht haben? Hatten sie das überhaupt? Ich konnte mich nicht daran erinnern, geklettert zu sein. Andererseits, ab dem Moment, wo ich die Kuppe betreten hatte, war sowieso alles total verschwommen. Es war, als konnte ich erst hier oben wieder klar sehen.
Dann jedoch, wickelten sich plötzlich die Äste dieses Baumes um meine Handgelenke, woraufhin ich definitiv Panik bekam. Du solltest keine Angst haben. Die, die Angst haben sollten, sind deine Freunde da unten. Sie stehen auf meinen Wurzeln und kontrollieren sie somit.
Warum dachte ich das gerade? So einen Schwachsinn hatte mein Verstand lange nicht mehr zusammengebraut.
Weil du es nicht denkst, sondern ich – der Livenus. Moment mal… Livenus, wie der Gottheitsbaum Livenus, auf dem ich gerade hockte? Bäume können doch gar nicht sprechen!
Können sie ja auch nicht. Oder sieht das hier wie sprechen aus? Du denkst nur das, was ich dir zu sagen versuche.
Ich wurde langsam aber sicher verrückt. Sollten wir es je hier rausschaffen, dann sollte ich mich womöglich einweisen lassen.
Du wirst nicht verrückt. Dir passiert gerade nur etwas, was ich in der Regel nie zulasse. Du kannst mit mir kommunizieren, obwohl ich für die In-thoughts eine Gottheit bin. Und warum lässt du es zu, wenn sich das für Gottheiten nicht gehört? Totaler Schwachsinn, was hier gerade abgeht.
Du hättest nie herkommen dürfen. Das beantwortet meine Frage ja wohl nicht. Ich habe mir selbst geschworen, dich nie zu kontrollieren. Alles klar. Aber sicher. Mein dummer Verstand glaubte jetzt also noch, ich wäre was Besonderes. Die anderen durchlebten vermutlich gerade das gleiche Szenario.
Ich kann dich nicht kontrollieren. Du kannst also zu ihnen gehen und sehen, was sie durchleben. Allerdings solltest du dich für einen deiner Freunde entscheiden. Sie sind alle miteinander verbunden. Wird einer von ihnen in die Realität zurückgerissen, dann alle. Ich hatte ja schon immer gewusst, dass meine Fantasie grenzenlos ist, aber das – das war eine Spur zu abgedreht.
Gut, dann halte es eben für eine Einbildung deiner Fantasie. Soll mir am Ende egal sein. Mein Blick fiel nach unten. Dort standen sie wirklich alle, jeder einzelne von ihnen. Aufgestellt wie Figuren eines Schachfelds. Sie redeten, allerdings nicht miteinander. Sah eher so aus, als würden sie Selbstgespräche führen. Vermutlich sollte ich nicht darauf hören, was dieser Baum mir vorschlug. Er wollte uns alle sicher mit all seiner Kraft hier behalten.
Wo ist dieses Messer überhaupt? Das war vielleicht der Schlüssel. Poppy brauchte es und wenn ich es ihr übergab, dann könnten wir alle von hier verschwinden.
Du kannst das Messer nicht finden, weil es nie deine Absicht war. Schon vergessen? Du wolltest Poppy hier rausholen. Strenggenommen, wollte ich sie alle hier rausholen. Aber ich gab mich mit dem zufrieden, was ich kriegen konnte. Wir hätten wirklich nicht mit so vielen Leuten hier reinplatzen sollen. Was, wenn wir nicht mal die Hälfte wieder rausbekamen?
Zuhören scheint nicht ganz deine Stärke zu sein, oder? Ich sagte doch: Holst du einen in die Realität zurück, dann alle. Jetzt musst du nur noch entscheiden, wer von deinen Freunden sich am besten von Träumen lösen kann. Ich wurde nervös. Kannte ich sie wirklich so gut, um darüber urteilen zu können? Lucas zum Beispiel, kannte ich eigentlich gar nicht.
Entscheide einfach nach Bauchgefühl. Jetzt gerade konnte ich nicht mal sagen, ob dieser Satz von mir oder vom Livenus gedacht wurde. Trotzdem ging ich diesem Ratschlag einfach nach. Und wie gelange ich bitte nach unten, wenn dieser dämliche Baum mich an seinen Ästen festhielt?
Einfach springen! Oh, weiser Rat! Der kam ganz sicher nicht von mir. Ich hatte ohnehin Höhenangst und…
Ach verdammt, Lou! Hier geht es um Leben oder Für-immer-verloren-sein. Etwas mehr Mut würde dir jetzt gut stehen. Auch wenn diese Worte gut vom Livenus stammen könnten, wusste ich dieses Mal, dass es meine eigenen waren. Also gut…
Mit meinen Händen drückte ich mich vom Livenus weg. Langsam lösten sich nun auch die Äste, die meine Handgelenke vorhin noch fest umschlungen hielten. Mein Körper landete mit voller Wucht auf der Erde, dabei tat der Aufprall nicht mal weh.
»Wir könnten von vorne anfangen, als eine große und glückliche Familie. Dann wandle nicht nur ich mich zum Besseren. Du könntest endlich zu dir selbst stehen, ohne alle in deiner Umgebung anlügen zu müssen.« Verwirrt vom Klang der Stimme, rappelte ich mich auf. Wer war dieser Mann, der da neben Zoe stand? Und wo waren die anderen abgeblieben.
»Woher weiß ich, dass du dich geändert hast?« Zoes Stimme klang gebrochen. So hatte ich sie ja noch nie erlebt. Fühlte sich fast so an, als kannte ich meine beste Freundin gar nicht richtig.
»Zoe!«, rief ich ihr schließlich zu. »Wer ist das?«
Keine Antwort ihrerseits, dafür aber von dem Mann persönlich: »Ich bin ihr Vater. Ich werde endlich alles wieder gut machen, was ich verbockt habe.«
»Verbockt hast?! Seine eigene Frau schlagen, das ist nicht verbocken, das ist… Das geht einfach unter die Gürtellinie!« Warte… was?!
»Hör zu, Zoe. Deine Familie ist nun mal zerbrochen. Daran wird sich nie etwas ändern. Aber das macht nichts, weil du mich hast. Ich bin real und stehe wahrhaftig vor dir.«
Sie betrachtete mich eine Weile skeptisch. »Aber ich würde zu gerne…«
»Ich weiß, was du willst. Aber ich weiß auch, dass du der Realist in unserer Gruppe bist. Und das konnte uns allen jetzt den Arsch retten. Also bitte: Sehe der Realität ins Auge. Du hast vielleicht keine heile biologische Familie, ich doch auch nicht. Dafür hast du eine viel bessere Familie: Du hast uns.«
Alles in meinem Leben fühlte sich in diesem Moment perfekt an. Der Geruch nach Sommer und meine nackten Zehe, die sich in den Blumen verfangen hatten.
»Könnten wir hier einfach für immer liegen bleiben?«, fragte ich Lucas, der neben mir im Gras lag.
»Das waren zumindest deine Worte: Wenn du daran glaubt, dann kannst du alles tun.«
Bei seinen Worten musste ich grinsen und überlegte dabei, welches Muster diese Wolke da oben wohl darstellte. Doch meine Euphorie hielt nicht lange an. Die Stimme, die plötzlich durch meinen Geist drang, schickte sie fort – Lous Stimme. »Ja, Poppy. Natürlich kannst du hier bleiben. Aber ist es das wirklich wert? Deine Familie verlassen, deine Freunde? Die, die dich dringend brauchen.«
Ich schreckte hoch. Das Messer! Hooded brauchte es, er brauchte mich. Dafür bin ich hier! Lucas starrte mich an, als wüsste er nicht, was plötzlich mein Problem wäre. Mein Problem war, dass ich die Vergangenheit nicht ändern könnte. Ich hatte damals Lucas verlassen. Wenn ich es wieder gerade wollte, dann bei dem richtigen, gegenwärtigen Lucas, den ich nicht ausstehen konnte.
In seiner Hosentasche schimmerte immer noch jenes Messer, nur erschien es jetzt etwas versteckter. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, griff ich danach. Lucas’ verärgerter Blick verschwand in wenigen Augenblicken vor meinen Augen. Stattdessen vernahm ich ein ohrenbetäubendes Knacken. Die Kugel über mir riss allen Anschein nach ein! Als sie dann in Milliarden von Teilchen zersprang, legte ich mich reflexartig auf alle Viere. Dabei erreichte mich schlussendlich nicht mal ein einziges Partikelchen.
Vorsichtig hob ich meinen Blick vom Boden. Nein, das konnte nicht sein. Ich schluckte. Wie es aussah, hatte mich der Baum immer noch nicht freigegeben. Anders würden jetzt nicht meine Freunde vor mir stehen. Und dass das hier nicht die Erde ist, dürfte selbst mir klar sein. Das Messer hielt ich in meinen Händen – Auftrag erfüllt. Was musste ich denn noch tun, um dieser Gefängniswelt zu entkommen?
»Wir haben es geschafft … oder?«, fragte Einbildungs-Erin. »Wenn mir auch nicht ganz klar ist wie.«
»Wichtig ist jetzt erstmal nur, dass wir es geschafft haben«, meinte Lou. All meine Halluzinationsfreunde starrten mich jetzt erwartungsvoll an. Tut mir ja leid, aber mir war immer noch nicht klar, was ich zu tun hatte.
»Vielleicht ist dir ja nicht klar, was wir mit dieser Reise alles auf uns genommen haben, aber ein einfaches Dankeschön wäre jetzt theoretisch schon angebracht«, meinte Lucas, der inzwischen ordentlich in die Höhe geschossen war.
»Wofür soll ich mich bedanken? Danke lieber Livenus, dass du mich immer noch hier festhältst?«
»Poppy, die Kuppe ist explodiert. Du bist frei! Siehst du das nicht?«, fragte Jess.
Ich schüttelte heftig meinen Kopf. »Nein.« Ich schaffte es gerade noch so meine Tränen zurückzuhalten. »Dann wärt ihr nicht hier. Das muss ein Trick sein.« Ich hatte sie alle so sehr vermisst. Dass sie nun vor mir standen, andererseits wiederrum auch wieder nicht, tat unglaublich weh.
»Wir sind hier, weil wir dir gefolgt sind. Was dachtest du? Du bist einfach so in diese fremde Welt abgehauen – ohne dich überhaupt zu verabschieden!« Erins Worte trafen mich Schlag auf Schlag. Ihre Reaktion hätte ich mir nicht herbeifantasieren können. Hieß das…
»Ihr seid wirklich hier?«
»Natürlich sind wir das, du Schlaumeier!«, lachte Zoe. Jetzt, wo ich sie genauer betrachtete, erschien es umso logischer. Sie sahen echt mitgenommen aus. So hätte ich sie mir garantiert nicht vorgestellt. Verdammt, jetzt konnte ich die Tränen doch nicht mehr aufhalten. Doch nicht aufgrund von Verzweiflung, sondern vor Erleichterung und Glück.
Ich stand auf und lief ihnen Arme, zog sie alle auf einmal an mich. Sie sind gekommen – um mich zu retten! »Lucas! Jetzt komm schon her! Du hast mich auch gerettet, also hast du dir diese Gruppenumarmung selber eingebrockt.«
Er verdrehte die Augen. »Nur weil ich euch begleitet habe, macht mich das zu keinem Mitglied eurer bescheuerten Clique.« Ich hatte schon erwartet, dass er sich weigern würde. Das hier ist schließlich der reale Lucas.
Zoe allerdings, schien sich damit nicht zufrieden zu geben. Grob zog sie Lucas einfach zu uns, sodass er klein bei geben musste. »Wie habt ihr mich gefunden? Wie seid ihr überhaupt in diese Welt gelangt?« Hatte Hooded nicht behauptet, das würde nur mit dem Ballon funktionieren?
»Den Ballon hat uns diese gruselige Frau geliehen oder vielleicht auch geschenkt. Sie schien sehr froh darüber ihn loszuwerden«, erklärte Lou.
Ich schaute mich um, doch keiner von ihnen hielt einen schwarzen Ballon in den Händen. »Und wo ist er?« Nicht dass wir ihn noch brauchten. Hoodeds Ballon konnte uns genauso gut Nachhause bringen. Es machte mich dennoch stutzig.
»David hat ihn. Er ist auch mitgekommen, nur wartet er unten. Weil … naja, keiner wusste, ob wir zurückkehren würden und-« Erin brach ab.
»Ich verstehe schon. Ihr hättet euch wegen mir nicht in Gefahr begeben dürfen.«
»Aber sonst wärest du da jetzt immer noch gefangen«, gab Lou zu bedenken.
»Da ist was Wahres dran. Ich weiß sowieso nicht, wie ich das je wieder gut machen soll.«
»Du könnest jetzt mit uns von hier verschwinden«, schlug Jess vor.
»Nichts lieber als das.« Schnell steckte ich mir noch das Messer in die Hosentasche.
»Mir wäre es um einiges lieber, wenn du die Mordwaffe hier lässt«, meinte Zoe noch.
»Das ist keine Mordwaffe. Sie wird Hooded mit seinem Vater helfen. Außerdem kann man damit niemanden töten. Es nimmt einen In-thought lediglich die Macht andere zu kontrollieren. Das ist etwas Gutes.«
Erin schlang von hinten ihren Arm um meine Schulter. »Ich liebe dich, aber du bist manchmal ganz schön naiv.«
»Nicht naiv. Ich glaube an das Positive in der Welt.« Und das rentierte sich ja auch ab und zu. Sonst hätte ich diese Kuppe sicher nie verlassen. Wunder oder nicht, wenigstens für diesen Moment war mir das vollkommen egal. Der Abschluss meiner Mission rückte unweigerlich näher und näher. Und das war etwas Positives – zweifellos.
-Davids Sicht-
»Sie werden nicht mehr kommen.« Nicht nur Resi, jetzt auch Dusk, traten der ganzen Sache wenig optimistisch gegenüber. Ich blendete ihre Stimmen einfach aus. Sie mussten es einfach schaffen, sonst … keine Ahnung, was ich dann mit mir anfangen sollte. Wie sollte ich ihren Eltern unter die Augen treten, als der Feigling, der ihre Kinder ins offene Messer laufen ließ?
»Wenn du jetzt nicht ruhig bist, dann-«, drohte Hodded, verstummte aber, als von der unsichtbaren ein dumpfes Geräusch ertönte. Bitte, lieber Gott im Himmel! Eigentlich glaubte ich an die Wissenschaft, nicht an übersinnliche Dinge. Im Moment hätte ich gegen göttliche Hilfe jedoch nichts einzuwenden. Die Wissenschaft brachte mir Erin und die anderen nämlich nicht zurück.
»Schade. Ich dachte, wenn ich zurück komme, ist dieser Ort heller geworden.« Poppy! Ich glaube, ich war noch nie so erleichtert ihre Stimme zu hören. Den anderen drei schien es wohl genauso zu ergehen. Erleichterung, aber auch jede Menge Unglauben, spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder. Vielleicht sollte ich doch öfter in die Kirche gehen.
»Ihr konntet entkommen? Aber wie-« Dusks huschte nach rechts. Ungefähr dorthin, wo Lou und Zoe standen. »Interessant.«
»Was ist interessant? Vielleicht noch mal zur Erklärung für die, die nicht Gedanken lesen können«, sagte ich genervt, wissend, dass ich vermutlich auch für den Rest der anwesenden Menschen sprach.
»Es gibt leider keine Erklärung, warum sie entkommen konnten – zumindest keine Ersichtliche«, erklärte Dusk schlichtweg.
Hodded ging nun einen Schritt auf Poppy zu. »Ich wusste, dass du es schaffst und du hast das Messer!«
»Nein, nicht ich habe es geschafft. Ohne meine Freunde säße ich immer noch da fest. Lous Stimme hat mich in die Realität zurückgeholt.«
Hoddeds Blick huschte Richtung Lou. »Danke.« Dann hatten wir es also geschafft! Wir konnten endlich Nachhause zurück. Poppy hatte gerade den selben Gedanken: »Und jetzt, bitte, bevor wir wieder gehen: Halten Sie ich an ihren Deal und heben Sie die Kontrolle, die auf Hooded liegt, wieder auf.«
»Aber natürlich«, lachte Dusk. Seine Antwort überraschte mich irgendwie. Ich hätte erwartet, er würde Poppy hintergehen. Poppys Vertrauen hatte sie am Ende also doch weitergebracht. Das sollte ich mir vielleicht für die Zukunft selbst hinter die Ohren schreiben. An sich war ich leider zu paranoid, musste ich zugeben.
»Sobald ich das Messer ausprobieren konnte. Selbstverständlich muss ich vorher wissen, ob es das Richtige ist.« Aber natürlich hatte die Sache einen Haken.
»Ausprobieren? Etwa an mir? Weil ich die einzige In-thought bin?« Resi klang etwas entsetzt, obwohl sie ihre Fähigkeiten doch sowieso nie einsetzte. Was würde sie vermissen?
»Tut mir Leid, Schätzchen. Ich habe keinen Schimmer, wie oft man dieses Messer wirksam einsetzen kann. Nehme es mir nicht übel, aber an dir wäre es eine Verschwendung. Ich habe mir bereits einen In-thought ausgeguckt.« Klasse, dann kamen wir also doch noch nicht heim?
»Wie lange müssen wir denn noch bleiben?!«, entfuhr es mir. Die hielten mich bestimmt alle für ein Kleinkind, das Heimweh nach Mami hatte.
»Keine Sorge. Wenn wir auf der anderen Seite des Ozeans sind, geht es ganz schnell«, sagte Dusk. Aha, also noch eine Übernachtung… wie wunderbar. Glücklicherweise setzten wir uns augenblicklich in Bewegung, anstatt Löcher in die Gegend zu stehen.
Aus Neugierde bewegten sich meine Füße zu Lou hin. »Du hast sie also gerettet? Wie das?«
»Habe ich nicht. Alle haben irgendwie dazu beigetragen.«
Zoe neben ihr, legte stürmisch den Arm um ihre Freundin. »Jetzt sei nicht so bescheiden. Nicht nur Poppy hat deine Stimme gehört – ich auch. Irgendwas musst du gemacht haben.«
Lou entzog sich Zoes Umarmung. Nanu? Irgendwas hatte sie doch… »Tja, tut mir leid, Zoe, aber ich kann dir mein Geheimnis nicht verraten, weil ich es selbst nicht weiß.« Dann stapfte sie uns davon.
»Vielleicht hat sie ja ihre Tage«, überlegte ich. Sollte ein Witz sein, nur lachte Zoe nicht.
»Denkst du? Wenn ja, dann kann ich sie verstehen. Gerade in unserer jetzigen Situation. Ich meine, wir zelten…« Mit Mädchenproblemen kannte ich mich eindeutig nicht aus. »Aber nein, dann hätte sie mir das bestimmt gesagt«, fiel Zoe nach einer kurzen Überlegung ein.
»Sollte auch nur ein Scherz sein…« Vermutlich sollte man es einfach lassen, wenn man es nicht konnte.
»Ach, bestimmt überinterpretiere ich das gerade.«
»Bestimmt. Wir sind ja auch schon eine Weile unterwegs.«
Zoe grinste. »Genau und Lou hasst Bewegung.« Sie hielt kurz inne und wand sich dann direkt an mich: »Du hast es übrigens richtig gemacht, dass du nicht mitgekommen bist. Ich wurde im Livenus mit Problemen konfrontiert, an die ich gar nicht denken wollte. Andererseits hielten gerade diese mich davon ab zu gehen.«
»Ist das nicht immer so? Wir klammern uns an Probleme, in der Hoffnung sie lösen zu können.« Vielleicht machte das ja Helden aus. Das würde zumindest erklären, warum ich so ein Feigling bin. Problemen ging ich grundsätzlich aus dem Weg.
»Da hast du wohl Recht. Das macht unser Leben erst so richtig spannend.«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn mein Leben gerade etwas weniger spannend ist.«
Zoe lachte. »Aber David, das Abenteuer hat doch gerade erst begonnen!« Für euch vielleicht, aber nicht für mich. Diese Worte brachte ich allerdings nicht über meine Lippen. Mir war bewusst, dass Zoe mit Abenteuer nicht Ausflüge wie diese meinte. Bald schon hatte sich die Schose erledigt.
Trotzdem hatte sie Recht. Abenteuer gab es nicht nur hier, sondern auch auf der Erde. Das ganze Leben war ein reinstes Abenteuer, wenn man es so wollte. Erins Clique besuchte ständig irgendwelche Partys, da erlebte man sicher jede Menge. Für mich war das nichts. Ich brauchte keine Abenteuer, um ein erfülltes Leben zu führen. Einmal hatte ich es versucht. Heathers Party, meine erste Party überhaupt. Nie wieder! Man konnte ja sehen, wo mich das hingeführt hatte.
»Stimmt, das Abenteuer hat gerade erst begonnen. Aber ich arbeite nach Plan, um den Kampf zu gewinnen und lebend wieder rauszukommen. Wie gerade eben: der Plan nicht in die Kuppe zu gehen. Ich habe überlebt.«
»Wir anderen haben’s auch geschafft.«
»Stimmt, aber die Wahrscheinlichkeit war geringer als bei mir.«
»Och, David. Gut, dass du jetzt Erin hast. Du musst noch viel lernen.«
Ich starrte sie entgeistert an. Was dachte sie sich da? »Erin und ich sind nicht-«
»Zusammen?«, beendete sie den Satz für mich. »Ich weiß, noch seid ihr es nicht. Aber ich bin da ziemlich zuversichtlich.« Zwar hatte Erin es mir schon irgendwie angetan, nur wusste ich von ihr persönlich, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Da hatte ich vielleicht gerade noch mal Glück gehabt.
-Erins Sicht-
Es stand, na endlich! »Nein, ehrlich. Mir macht das nichts aus an der frischen Luft zu schlafen.« Poppy war ganz schön hartnäckig.
»Ich muss eh noch wo hin. Der Platz wäre also frei«, versuchte ich es weiterhin erbarmungslos.
»Du kannst mir nicht erzählen, dass du die ganze Nacht weg bist. Wenn du wieder da bist, dann tauschen wir.«
»Also gut«, ab ich nach, da Poppy bekanntlich ihren eigenen Kopf hatte.
Wir hatten mal wieder am längsten gebraucht. Alle anderen hatten es sich im Zelt bereits gemütlich gemacht. Nervös tippelte ich zum Zelt der Jungs rüber. Auch wenn mir bewusst war, dass sie noch nicht schliefen, zog ich den Reisverschluss möglichst leise und langsam auf. Da lagen sie, bereits in ihre Schlafsäcke eingepackt.
»David?«, flüsterte ich automatisch. »Kann ich kurz mit dir reden?«
Er richtete sich langsam auf, während Lucas neben ihm zu grinsen anfing. »Was ist denn los?« Er klang fast besorgt.
Schnell sagte ich: »Nichts Wichtiges. Ich dachte nur, falls du gerade auch nicht schlafen kannst…«
»Bitte, nehme ihn mit! Vielleicht bekomme ich dann Heute mal ein Auge zu.« Ohne Lucas auch nur den Hauch von Beachtung zu schenken, kroch er aus seinem Schlafsack, um mir nach draußen zu folgen. »Was gibt’s?« Ob er wohl doch schon beinahe geschlafen hatte? Irgendwie hörte er sich zumindest danach an…
Mein Blick fiel auf den Kapuzenjungen, der sich zusammen mit seinem Vater, einen Platz unter den Sternen reserviert hatte. Auch wenn sie uns vermutlich nicht hören konnten, fühlte ich mich dennoch beobachtet. »Lass uns runter ans Meer gehen. Dort sind wir ungestört.« David schien unschlüssig, was er von meinem Vorschlag halten sollte, folgte mir trotzdem.
»Tut mir leid, dass ich nicht den Mumm hatte, mit euch mitzugehen. So bin ich nun mal.«
»Was? Nein, ich war erleichtert, dass du nicht mitgekommen bist.«
Er hob verdutzt seine Augenbraue. »Dann bist du nicht sauer? Aber was willst du dann?« Er schaute augenblicklich zu Boden. Diese abweisende Geste zeigte mir, dass er sich sehr gut vorstellen konnte, was ich von ihm wollte. Augenblicklich nachdem die Frage seinen Mund verlassen hatte.
»Fast hätten wir diesen Ort nie wieder verlassen können. Da wurde mir klar, dass man Dinge nicht aufschieben sollte.«
»Aufschieben? Aber Erin, ich dachte … Wir hätten das bereits besprochen. Lass uns nur Freunde bleiben waren deine Worte.« Mit dieser Reaktion hätte ich ehrlichgesagt nicht gerechnet. Ich dachte, er würde sich freuen, dass sich meine Meinung geändert hat.
»Ja damals, aber-«, setzte ich an, doch David ließ mich gar nicht ausreden.
»Wegen Lucas, oder? Er will dich nicht mehr und ich bin deine zweite Wahl.« Was?! Wie konnte er so etwas auch nur im Entferntesten vermuten? Damit beleidigte er mich gerade zu tiefst.
»Nein, David, nein. Das mit Lucas war nie echt. Ich wollte es, um mir selbst etwas zu beweisen. Aber schlussendlich empfinde ich etwas für dich – nicht für ihn.« Das Ganze sollte viel leichter sein. Unser Ausflug zum Livenus, der sollte so schwierig wie das hier sein. Doch anscheinend wollte das Schicksal das Blatt mal unerwartet wenden.
»Du empfindest nichts für mich, Erin. Du fühlst dich nur zu der Sorte von Jungs angezogen, die ich darstelle: Lieb, harmlos – ein Loser eben.«
»Du bist doch kein Loser.«
»Wie auch immer. Trotzdem habe ich Recht.«
»Spielt es denn eine Rolle, ob ich mich in dich oder in einen anderen Streber an unserer Schule verliebt habe? Tatsache ist doch, dass ich es habe.« Okay, das hätte ich so nicht sagen dürfen.
»Nein, Erin. Dann ist das keine Liebe. Mich, mich als Individuum kennst du nämlich kein Stückchen.«
Doch, wollte ich sagen, aber ich bekam irgendwie keinen Ton heraus. Du willst Professor werden. Du kannst Mädchen wie Poppy und mich eigentlich nicht ausstehen, weil sie dich an deine ehemalige Freundin Heather erinnern, die du verloren hast. Aber du meintest, dass ich anders wäre. Familie geht bei dir über alles, genau wie bei mir. Deshalb mag ich dich. Nicht wegen deinen guten Noten. Okay, deshalb vielleicht auch.
All das wirrte durch meinen Kopf, doch Davids nächsten Worte, ließen mich innehalten: »Ist sowieso egal. Wir sind einfach zu verschieden, Erin. Ich habe mich stets an der Seite einer erfolgreichen Wissenschaftlerin gesehen. Vielleicht hatte der Plan in meinem Kopf einen guten Grund zu existieren. Das alles hier-« Er zeigte um sich. »Das ist was für dich und deine Freunde, aber nicht für mich.«
Dann wollte er mich also nicht. Wäre es nämlich so, dann wäre ihm dieser Unterschied egal. »Macht ja nichts. Nur komm mir nicht mit so doofen Entschuldigungen, bitte.«
»Was? Das sind keine Entschuldigungen. Du weißt, dass ich dich mag, nur-«
»Lass es einfach gut sein, David.«
Meine Worte schienen ihn zu verletzten. Dabei sollte ich diejenige sein, die all das hier zusetzte. Gerade jetzt war ich nur unglaublich wütend. »Möglicherweise ist der Zeitpunkt einfach ungünstig. Wenn ich erstmal einen Job sicher habe, könnte die Sache anders aussehen.«
»Möglicherweise.« Es lag also wirklich nicht an mir. David hatte allgemein Angst sich zu binden. Das hörte man deutlich heraus. Meine Wut klang ein wenig ab und Enttäuschung machte sich breit.
»Okay, dann sollten wir jetzt vermutlich schlafen gehen.«
»Vermutlich.« Und dann ging er einfach. Er kam nicht mal auf die Idee auf mich zu warten. Falls mich jetzt wilde Tiere mit XXL-Schädel anfielen, dann trug David allein die Schuld. Schnell wischte ich mir die kleine Träne weg, die sich über meine Wangen geschlichen hatte. Es war albern deswegen jetzt zu weinen.
Gedankenverloren machte ich mich auf den Weg zurück zum Zelt. Diese Seite des Ozeans ist schwarz wie die Nacht und er konnte nicht mal auf mich warten! Doch als ich die Zelte dann erreichte, war der Gedanke wie weggeblasen. Da war man kurz mal weg, schon schien die halbe Welt unterzugehen? Wie hatten wir in dieser kurzen Zeit so viel verpassen können? Wie ist es überhaupt so weit gekommen?
-Lucas’ Sicht-
Es musste an dieser neuen Welt liegen. Anders konnte ich es mir nicht erklären. In der Regel schlief ich wie ein Murmeltier, wenn wir nicht gerade Vollmond hatten. Die Tatsache, dass wir zelteten, war es jedenfalls auch nicht. Als ich mal mit ein paar Freunden in den Bergen gezeltet habe, konnte ich prächtig einschlafen.
Oder es lag daran, dass mir einfach zu viel im Kopf herum spukte. Irgendwann musste ich mich wohl zwangsläufig mit Poppy unterhalten. Erin hatte David jetzt auch aus dem Zelt geholt. Vielleicht sollte ich jetzt auch mit ihr reden. Dann hatte ich wenigstens Ruhe und musste nicht länger darüber nachdenken. Schlaf fand ich im Moment eh nicht.
Mühsam rappelte ich mich aus dem Schlafsack. Vielleicht wollte sie ja gar nicht mit mir reden, aber dann hatte ich es zumindest versucht. Die Nachtluft fühlte sich immer noch angenehm warm an, als ich das Zelt verlassen hatte. Was sollte ich ihr überhaupt sagen? Tut mir Leid, dass ich mich die letzten Jahre wie ein Idiot benommen habe. Leider musstest du erst vom Erdboden verschwinden, damit ich erkannte, dass das ein Fehler war.
Ja, genau. So was in der Art. Trotzdem sollte ich mich zumindest ein wenig für mein Verhalten rechtfertigen. Sie ist ja auch nicht gerade mit offenen Armen auf mich zugegangen.
Ich wollte weiter gehen, doch irgendwie wollten meine Füße nicht so, wie ich es geplant hatte. Ob ich träumte? Das Muster passte nämlich perfekt. In meinen Träumen rannte ich regelmäßig vor etwas davon, ohne dass ich mich vom Fleck bewegte. Aber da konnte ich sie zumindest bewegen, was jetzt auch nicht möglich war.
Nein, das war sicher kein Traum. Dazu fühlte sich das hier viel zu real an. Dann hätte ich nicht den warmen Wind auf meinen Armen gefühlt. Hier stimmte doch etwas nicht – und zwar ganz gewaltig. »H-«, setzte ich an, doch meine Zunge spielte nicht mit. Nicht mal um Hilfe schreien konnte ich. Meine Füße ließen sich dafür aber anscheinend wieder bewegen.
Schnell drehte ich mich um meine eigene Achse, in der Hoffnung etwas Auffälliges zu entdecken. Und tatsächlich! Sie standen direkt hinter mir: Der Dickschädel mit dem Kapuzenjungen.
»Warum kann er sich wieder bewegen?«, fuhr Hodded Dusk an.
»Ich kann nur eine Sache kontrollieren. Entweder er schweigt oder steht still. Wir müssen uns entscheiden.«
»Dann versuche beides, indem du ständig wechselst.«
Ich hatte doch sofort geahnt, dass man den beiden nicht trauen kann. Aber auf mich wollte mal wieder keiner hören. Solange wie ich es noch konnte, setzte ich meine Füße in Bewegung. Nur um Sekunden später auf die Fresse zu fallen. »Hilf-!«, brüllte ich so laut ich konnte. Fraglich, ob man überhaupt etwas verstehen konnte mit dem Gesicht zum Boden gerichtet.
»Ich würde vorschlagen, du beeilst dich«, hörte ich Dusk sagen. Was hatten die beiden denn vor? Seit wann bin ich in deren Augen der Feind? Behauptete Dusk nicht total menschenfreundlich zu sein?
»Oh, das bin ich doch auch. Dass Hodded dir dieses Messer jetzt ins Herz rammen muss, tut mir wahnsinnig Leid. Das kannst du mir glauben.«
Das Messer?! Ins Herz?! Panik stieg in mir auf. Da ich wieder keinen Mucks herausbekam, versuchte ich aufzustehen, nur um kurz darauf wieder hinzufallen. Wenn dieses Messer wirklich dazu da war, um den In-thoughts ihre Kontrolle zu nehmen, warum würden sie es an mir verschwenden wollen?
»Gut, dass er so dämlich ist. Das macht die ganze Sache nicht ganz so grausam.« Hoddeds Stimme wurde immer lauter, was nur bedeuten konnte, dass er näher kam. »Nehm das hier nicht persönlich, ja? Du bist nur Mittel zum Zweck.«
Plötzlich nahm ich von irgendwoher eine weitere Stimme wahr: »Das ist aber persönlich!«
Ich blickte auf und sah Lou und Zoe hinter den beiden stehen. Zoe hielt in der Hand einen Stein, mit dem sie Hodded anscheinend gerade eins übergebraten hatte. Alle Achtung! Trotzdem schien sie nicht fest genug getroffen zu haben, da er sich nach kurzem Kopfreiben wieder erhob.
»Müsst ihr die Sache nur noch komplizierter machen? So war das nicht geplant. Ein sauberer Stich durchs Herz, während alle schlafen. Es hätte so einfach sein können. Wir hätten doch noch eine Weile warten sollen«, überlegte Hodded laut.
»Dann hätten wir riskiert, dass David mit wachgeworden wäre. Der Moment war eigentlich perfekt«, antwortete Dusk. »Natürlich wäre er noch perfekter gewesen, wenn wir Poppy genommen hätten, die draußen alleine unter freiem Himmel schläft.«
»Nein, nicht Poppy. Das hatten wir doch schon.« Jetzt drehte Hodded sich zu den beiden Mädchen um. »Einer von euch muss dran glauben. Ich war so nett und dachte mir, ihr hättet es alle am liebsten wenn er ins Gras beißt.«
»Tja, falsch gedacht«, zischte Zoe.
»Lieber würden wir euch beide tot sehen«, erklärte Lou, als ginge es um eine Schulaufgabe und nicht um eine Mordankündigung.
Dusk lachte. »Ihr seid Kinder, dazu noch Menschen. Ich könnte euch alle ins offene Messer laufen lassen, wenn ich es wollte.«
»Tut er aber nicht. Wir brauchen nur ein Opfer.« Hodded glaubte anscheinend, dass das was er tat vollkommen in Ordnung war.
»Dann schlachte doch deinen Alten ab!«, gelang es mir zu sagen. »Ich dachte, du könntest ihn eh nicht leiden.«
»Das Messer ist nur für Leute bestimmt, die andere nicht kontrollieren können.«
»Ach? Ich meintet ihr erst nicht noch was anderes?«, fiel Lou ein.
»Tja, wir haben offensichtlich gelogen.«
Immer noch am Boden liegend, sah ich schließlich wie David wieder kam. »Was ist hier denn los?« Pyjamaparty, sieht man das nicht?
»Lou! Ich kann mich nicht mehr bewegen. Du musst für mich zuschlagen.« Jetzt kontrollierte er anscheinend Zoe, weshalb ich noch zu flüchten versuchte.
Da ich es geschafft hatte, mich aufzurappeln, konnte ich mit ansehen, wie Lou hilflos den Stein auf Hodded zielte.
»Au!« Der Stein traf seinen Kopf, mehr aber auch nicht. Er drehte sich zu ihr. »Das ist aber nicht nett. Morgen habe ich bestimmt eine Beule.« Langsam streifte er mit den Händen über das Messer. »Jetzt will ich umso schneller handeln. Danke!«
Und dann warf er das Messer auf mich. Ich versuchte auszuweichen, doch meine Beine wollten nicht.
»Lucas!«, hörte ich plötzlich Erins Stimme hinter mir.
»Hast du das gehört?« Jess schreckte neben mir hoch. Ups, da war ich beinahe eingeschlafen, obwohl ich auf Erin warten wollte. Gut, dass Jess mich noch gerade im richtigen Augenblick geweckt hatte.
»Erin kommt bestimmt wieder.« Ich schnappte mir die Picknickdecke, um endlich schlafen zu gehen. So müde war ich vermutlich lange nicht mehr gewesen.
Es ging sogar so weit, dass ich draußen mit jemandem zusammenkrachte. »Resi?«, fragte ich verdattert. »Ich dachte, du wärst weitergezogen.«
»War ich. Doch die nach Hilfe schreienden Gedanken deines Freundes waren nur schwer zu überhören.«
»Was?« Erst jetzt nahm ich langsam die Umgebung um mich herum wahr. Sie waren alle hier draußen versammelt.
»Mag sein, dass der erste Versuch daneben ging, aber der Zweite ganz sicher nicht.« Was zum Teufel tat Hooded da?
»Hooded!«, rief ich und rannte zu den anderen rüber.
Hinter mir konnte ich noch hören, dass Jess inzwischen auch von der Sache Wind bekommen hatte: »Was ist hier denn los?«
»Warum willst du Lucas mit dem Messer abstechen, wenn er sowieso niemanden kontrollieren kann?«, fragte ich.
»Ja, jetzt noch mal für alle, da es anscheinend so schwer zu begreifen ist. Wir haben gelogen! Mit diesem Messer erreicht man etwas anderes. Es ermöglicht, dass ich ein richtiger In-thought werde. Dazu muss ich nur einen Menschen opfern und meine menschliche Seele kann sich endlich vollständig von mir lösen.«
Das fühlte sich gerade alles eher wie ein Albtraum an. »Warum solltest du das wollen? Wir hatten doch einen Plan! Wenn du erstmal dein wahres Gesicht-«
»Hätte es doch nichts genützt! Tut mir Leid, Poppy, aber du kannst dich kein Stück in meine Lage hineinversetzen. Als Halbling gibt es für mich nie ein Happy End. Ich werde mich immer ausgeschlossen und anders fühlen.«
Ich konnte es nicht verhindern, dass mich nun Tränen übers Gesicht rannten. »Deshalb brauchtest du mich. Nicht, um deinen Vater zu überreden. Du wolltest mich opfern.«
»Ja, aber-« Dass seine Stimme gebrochen klang und Reue mitschwang, machte die Sache nur noch schlimmer. »Selbst wenn ich all diese Menschen nicht als Ersatz gehabt hätte, musst du mir glauben, hätte ich dich nicht getötet. Nicht, nachdem ich dich richtig kennenlernen durfte.«
Er sollte einfach still sein. »Du kontrollierst mich doch nur! Auch wenn du kein richtiger In-thought bist, benimmst du dich genauso!«
»Was erwartest du? Ich wurde von einem großgezogen.«
Da hatte er natürlich Recht. Wieder hatte ich versucht etwas zu retten, was ich nicht mehr retten konnte.
Jetzt musste ich es allerdings versuchen. Ein menschliches Leben hing davon ab. »Aber muss deswegen wirklich einer sterben? Gibt es keinen anderen Weg?«
»Alles im Leben hat nun mal seinen Preis.«
Dusk, der sich bislang bedeckt gehalten hatte, trat nu hervor. »Oder wir fragen sie doch mal?« Fragen?
»Nein! Ich habe es statt zu warten. Ich habe mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet.«
»Aber, Hodded. Wenn es klappt, dann würde es ein Leben retten. Ist es das nicht wert?« Über Dusks Worte schien er eine Weile nachdenken zu müssen. »Warum sollte es eine einfachere Methode geben, wenn der Livenus uns nur diese hier vermitteln konnte?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist das etwas Größeres. Etwas, was über den Livenus hinausgeht«, überlegte Dusk.
»Etwas Größeres als der Livenus, unser Gott? Das kann nicht sein«, meinte Hodded, obwohl er dabei nicht wirklich sicher klang. Wenn es um übersinnliche Dinge ging, konnte man sich nie sicher sein. Wer wusste schon, ob unser Universum nicht nur eines von unendlich vielen ist?
»Außerdem… hatten wir nicht festgestellt, dass es deine Handschrift ist? Und erlaube mir diese Feststellung, aber du bist definitiv nicht größer als der Livenus.«
Handschrift? Wovon redete Hodded da bitte?
»Ich erinnere mich aber auch daran, dass ich gesagt hätte, diesen Brief nicht geschrieben zu haben. Himmel, wie denn auch, wenn ich diese Sprache nicht mal spreche?«
Jetzt reicht’s mir aber. »Würdet ihr bitte Klartext mit uns reden? Was für ein Brief? Und wie soll er nützlich sein?«
»Er ist nicht nützlich«, beharrte Hodded weiterhin.
»Das weißt du nicht«, hielt Dusk dagegen.
»Würde mir bitte jemand antworten?!« Das konnte doch nicht so schwer sein. Warum konnten die beiden nie einer Meinung sein? Ob der Hass zwischen den beiden aufhören würde, wenn Hodded erstmal ein In-thought wäre? Das erhofften sie sich wahrscheinlich. Diese Idioten! Deshalb konnten sie noch lange nicht sowas wie Liebe empfinden.
»Es geht um diesen Brief.« Dusk holte einen Zettel aus seiner Hosentasche. »Vor langer Zeit habe ich ihn mal irgendwo zwischen meinen Sachen entdeckt.«
Er hielt ihn mir entgegen. »Lese ihn. Wenn du Glück hast und die geschriebenen Worte verstehst, dann könnte er die Rettung für dich und deine menschlichen Freunde sein.«
Meine Hand zitterte. Texte interpretieren zählte noch nie zu meinen Stärken. Und hierbei konnte ich mir auch keine erfundene Interpretation aus der Nase ziehen. Das große Problem, wenn dein Gegenüber zu Gedanken lesen fähig war. Innerlich betete ich, dass Hodded und Dusk einfach noch viel schlechter in Textanalyse waren. Dass das der einzige Grund war, warum sie ihn nicht verstanden und es eigentlich Pipifax wäre.
Hodded lachte. »Na dann viel Spaß.« Ich nahm den Brief entgegen und entfaltete ihn:
Yoarjla Yupa,
Gavv bi bej coat yoajl, bevv ojl boa Gayl cunnavlyokc aov rajjatat Utl. Ivb bemi cera okc jact gucy Evvecha. Bejj hevkca Ov-Lcuifclj hact Zuvltuyya rajolmav eyj evbata, ojl ivneot. Bukc aj zuavvla niat ivj aov Cessx Avb farav. Wabat zavvl boa Gitmayv, boa eij ivjatat Atba gekcjav. Bukc zaovat ryaorl jlacav ivb patgaoyl rao ocvav.
Roj ein hot. Okc get gafav haovat Yoara mi bot patmgaonayl favif. Aofavlyokc guyyla okc joa bemi zuvltuyyoatav hokc mi sekzav ivb ivlat boa Atba mi moacav – ov bav Erftivb. Erat gaojjl bi gej, Yupa? Bat Erftivb ojl zaov Erftivb, juvbatv bej Seteboj. Haova Kcevka ein aov Cessx Avb hol bot.
Ov Yoara,
Bijz
Ja, ne. Versteht sich ja wie von selbst.
Ganz ruhig, Poppy. Nur nicht zu viel denken. Konzentriere dich auf die Wahrheit, die dich weiterbringt.
»Dieser Brief ist ganz offensichtlich in einer anderen Sprache verfasst.«
Dusk lachte. »Du bist ja eine ganz Schlaue.«
»Aber nicht schlau genug, um diese Sprache zu beherrschen«, stellte Hodded fest. »Also… machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben?«
»Kann schon sein, dass ich die Sprache nicht beherrsche. Das gilt allerdings für die meisten Sprachen auf der Erde. Es gibt so unglaublich viele, doch ich habe leider nur Englisch und Spanisch gelernt. Aber der Übersetzer könnte mir eventuell eine Übersetzung liefern.« Das war nicht mal gelogen. Auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich schien, war es dennoch möglich.
»Warum sollte es auf der Erde eine Sprache geben, die es hier nicht auch gibt? Und diese Worte in sämtliche Übersetzungsmaschinen einzugeben, haben wir bereits versucht.« Hodded hielt felsenfest an seiner Meinung fest.
»Auch wenn es aussichtslos erscheint, könnte es möglich sein, dass es in unserer Welt mehr Sprachen gibt.«
»Was verlangst du jetzt? Dass wir euch einfach so gehen lassen, damit ihr den Brief in diesen blöden Übersetzer eingeben könnt?« Das traf es so ziemlich auf den Punkt, ja.
Dusk nickte. »Ich wäre bereit das Risiko einzugehen. Dieser Brief ist ungeheuer wichtig.«
»Aber klar würdest du dieses Risiko eingehen! Der Brief ist dir ja auch wichtiger als ich!«
»So sollte das jetzt nicht rüber kommen, aber-«
»Lass es gut sein, Dusk.« Er wand sich von seinem Vater ab, hin zu mir. »Du weißt gar nicht, was du da verlangst. Lasse ich euch gehen, dann entgleitet ihr mir. Auf der Erde kann ich kein In-thought werden. Es muss auf dem Baum geschehen.«
»Auf dem Baum?« Wollte er das Opfer tatsächlich vorher noch auf den Livenus schleppen, oder wie?
»Unsere Welt heißt so – Baum.« Ich musste lachen. Baum? Was für ein bescheuerter Name für eine Welt.
»Ach und Erde ist besser? Ihr benennt eure Welt nach dem Dreck unter euren Füßen.« Stimmt, da ist schon was Wahres dran.
Dass ich jetzt überhaupt erst den Namen der Welt erfuhr, in der ich mich die ganze Zeit aufhielt, ist armselig. Ich versuchte mir von alles ein Bild zu machen: Von Hodded und seinem Leben. Aber Fakt ist doch, dass das hier alles total fremd ist. Ich wusste rein gar nichts.
»Tja, Hodded. Jetzt musst du dich wohl zwischen dem leichten, aber falschen oder den richtigen und schweren Weg entscheiden.«
Er richtete sein schwarzes Gesicht direkt auf mich. »Du nennst mich jetzt Hodded.«
Obwohl es keine Frage war, hatte ich das Bedürfnis darauf zu antworten: »Ja, es hat eine Weile gedauert, aber jetzt verstehe ich, warum die so heißt wie du heißt.«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich habe keinen Namen.«
»Doch, den hast du. Du bist Hodded. Aber soweit mir bekannt ist, kann sich in eurer Welt der Name im Laufe des Lebens ändern.« Ich hoffte inständig, dass meine Worte etwas bei ihm auslösten.
Es dauerte eine Weile, bis er sich aus seiner Starre löste. »Ich würde gerne mit Poppy unter vier Augen sprechen.«
»Bitte! Nichts lieber als das«, meinte Lucas. »Wenn du mich dann in Ruhe lässt.« Ich folgte ihn bis ans Wasser.
»Du bist in diese Welt gekommen, um mich zu retten.«
»Ja, aber doch nicht so.«
»Dusk würde nie die Kontrolle aufheben. Nur als In-thought habe ich die Chance auf ein Happy End.«
»Ich mochte dich, weil du anders bist. Weil du das eben nicht bist.«
»Ich bin immer noch anders.« Ja, aber du hast mich enttäuscht.
»Wäre ich ein In-thought, dann hätte ich dich bestimmt nicht hintergangen.« Dusk hatte mich als In-thought auch hintergangen.
»Dusk ist Dusk. Er tut Dinge, die er nicht tun sollte. Aber so schlimm sind wir In-thoughts gar nicht.« Er sagte »wir«, wow.
»Ich werde euch gehen lassen, Poppy, damit du weißt, dass ich keine schlechte Person bin.« Oh, wie überaus großzügig. Jetzt hielt ich ihn natürlich mit einem Mal für Mutter Theresa. »Ich werde dich und deine Freunde retten. Kann ich auf dich zählen, dass du mich dann auch nicht aufgibst?« Ich zögerte. Eigentlich wäre es nur fair. Allerdings wollte ich ihn auf eine andere Art und Weise helfen, mit der er nicht einverstanden war.
»Du weißt, was ich von der Idee halte. Ich finde immer noch, du solltest zu dir selbst stehen – als der Halbling, der du nun mal bist. Aber ich kann dir versprechen, dass ich weiterhin versuche dir zu helfen. Allerdings mit Mitteln, die ich für richtig halte. Ich versuche diesen Brief zu übersetzen. Und sollte es einen humanen Weg geben, wie du zum In-thought werden kannst, dann bitte. Ich stehe dir jedenfalls nicht im Weg.«
Etwas anderes konnte ich nicht sagen. In dieser Welt fühlte ich mich irgendwie unglaublich machtlos. Es wurde Zeit, dass wir wieder Heim kehrten. »Dann ist das hier jetzt wohl der Abschied.«
»Weißt du, du könntest mich all das vergessen lassen. Denn könnte ich ein drittes Mal auf deine Tricks reinfallen.« Meine Wut auf ihn war zu groß. Ich musste diese Worte einfach loswerden.
»Tu nicht so, als würdest du mich verstehen! Du wolltest unbedingt mit mir gehen, schon vergessen?«
»Weil ich nicht wusste, was mich hier erwarten würde.«
»Genau. Deswegen ließ ich dich das erste Mal laufen. Doch dann traf ich auf mein Schattenwesen. Es meinte, wir würden dich hier brauchen. Du wärest eine Schlüsselfigur in einer Sache, die uns alle betreffen würde.«
»Ach… und dieses Schattenwesen hat Ahnung?«
»Es entstammt aus den Wurzeln des Livenus. Natürlich hat es Ahnung. Licht- und Schattenwesen kommunizieren für den Livenus.«
»Da hat sich euer Gottheitsbaum wohl geirrt. Ich gehe jetzt – bedeutungslos. Ich war weder das Opfer, das dich zum In-thought machen könnte, noch irgendeine andere Schlüsselfigur.«
»Deshalb wollte ich dich erst nicht gehen lassen.«
»Lass mich raten… Dann hat das Schattenwesen dir geflüstert, du solltest es doch tun. Kannst du denn keine eigenen richtigen Entscheidungen treffen?«
»In eurer Welt gibt es doch auch einen Gott, oder?«
Ich nickte verwirrt. »Zumindest habe ich früher an einen geglaubt. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Natürlich gibt es einen. Und damit meine ich nicht meinen Vater, nur weil er euch erschaffen hat. Egal wie Gott auch immer aussehen mag, er ist immer dafür, dass wir einen freien Willen haben.«
»Weise Worte. Und jetzt hast du beschlossen wie ein Gott zu handeln und mich selbst entscheiden zulassen? Ein bisschen spät, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Niemand kann wie Gott sein. Menschen sind auch selbstsüchtig und lassen sich von ihren Gefühlen steuern. Deshalb solltest du verstehen, warum ich auch an mich denken musste. Immer nur an andere denken, kann auf Dauer nicht gut sein, Poppy.« Sprach er jetzt direkt zu mir? »Wir sollten im Gleichgewicht leben. Und da du in letzter Zeit zu viel an andere gedacht hast, anstatt an dich selbst, werde ich das jetzt für dich übernehmen. Auch wenn das bedeutet, dass wir dich als Schlüsselfigur in unserer Welt verlieren werden.«
Die Rückkehr mit dem Ballon hatte ziemlich an Reiz verloren. Das unglaubliche Gefühl von Fliegen hatte sich gelegt. Mein ganzer Körper fühlte sich einfach nur noch ausgelaugt. Die Luft war kalt, so dass ich allen Übels auch noch zitterte. Wie ein kleines Kind, sehnte ich mich augenblicklich einfach nur nach einer Umarmung meiner Mutter. Als wir endlich landeten, fragte Lou: »Was wird mit dem Ballon passieren?«
Ich musste nicht lange überlegen, sondern ließ ihn einfach los. Er stieg auf und flog davon. So einfach war das.
»Er wird seinen Weg zurück finden. Das tut er immer«, meinte David.
»Aber nicht zu uns. Wir alle sollten mit der ganzen Sache eigentlich nichts am Hut haben.« Auch wenn ich es ihr nicht wünschte, war es mir andererseits auch egal, wenn er zurück zur verrückten Frau kehrte.
»Dann sehen wir morgen in der Schule – so wie immer«, verabschiedete ich mich. Im Moment wollte ich nur noch Nachhause. »Ihr kennt alle noch die Geschichte, die wir unseren Eltern und der Polizei auftischen werden, oder?«
Sie nickten.
»Ich denke, ich werde bis heute Abend mit meiner Heimkehr warten. Ist ja nicht mehr lange hin. Wenn ich Glück habe, schlafen meine Eltern dann schon. Dann muss ich mir nicht die Vorwürfe mitanhören, die sie einander an den Kopf werfen«, erklärte Lucas.
Ich bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. In der Schule würde ich mit ihm reden müssen – mich entschuldigen. Aber das hatte Zeit bis Morgen. Ich winkte den anderen noch einmal kurz zum Abschied und überquerte dann die Wiese, die zu meiner vertrauten Luxusvilla führte, die ich gleichzeitig liebte und hasste.
Nur schwach nahm ich noch die Worte von Jess wahr: »Keine schlechte Idee. Ich überlege die ganze Zeit, was ich meiner Mum gleich sagen soll. Nicht, was mit dir passiert ist, sondern auch-« Den Rest verstand ich nicht mehr. Egal. Ich konnte sie ja noch Morgen fragen.
Als ich dann die Klingel unserer Haustür drückte, musste ich mich um Tränen nicht mal bemühen. Die liefen mir von ganz alleine über die Wangen. Während ich wartete, tippelte ich ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich dann endlich die Tür. »Poppy?!«, meine Mum starrte mich sprachlos an, als wäre ich eine Art Geist.
»Mum!« Sofort fiel ich ihr in die Arme und zog sie ganz fest an mich. Verdammt, jetzt musste ich nur noch mehr schluchzen. »Wir haben dich überall gesucht. Wo bist du nur gewesen?«
Und dann erzählte ich ihr meine ausgedachte Geschichte, die sogar zum Teil der Wahrheit entsprach. Vermutlich viel zu undeutlich, als dass sie es verstanden hätte. »Wir wurden entführt. Erst ich, dann auch meine Freunde. Es war schwer, aber irgendwie gelang es uns dann zu entkommen.«
»Oh Gott! Entführt?! Kannst du denjenigen beschreiben, der euch das angetan hat?«
»Nein, keine Ahnung. Er trug eine Kapuze, die sein Gesicht verdeckte. Und… Am Ende erschien das Entkommen fast zu einfach. Fast so, als wollte er, dass wir irgendwann wieder entkommen. Das würde seine geheime Identität erklären.«
»Schätzchen. Das ergibt nicht wirklich Sinn. Ich würde vorschlagen, dass du erstmal rein kommst.« Ich nickte und klopfte meine Schuhe ab.
»Habe ich mir das nur eingebildet oder-« Kaum zu glauben, aber wahr. Da stand wirklich Dad in der Türschwelle. Ohne Telefon am Ohr oder Aktenkoffer – und im Büro hielt er sich auch nicht auf. »Poppy! Du bist es ja wirklich.«
Als er mich dann auch noch in die Arme zog, glaubte ich zu träumen. »Sie wurde entführt, Keith. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein. Ich kann mir generell nicht vorstellen, dass meine Poppy einfach vom Erdboden verschwindet.«
»Ach? Du hast es also bemerkt?«, entfuhr es mir. Auch wenn es mir im Anschluss Leid tat.
»Die letzte Woche war die schlimmste meines Lebens. Ich habe mir die Schuld für all das gegeben. Ich dachte… tut mir Leid… aber ich dachte, du seist abgehauen, damit ich dir mehr Aufmerksamkeit schenke.« Ich entzog mich seiner Umarmung. Toll, was er von mir dachte.
»Es war ein Fehler. Ich habe es vermutlich nur gedacht, weil es wahr ist. Ich bin nicht genug für meine Prinzessin da.«
Prinzessin. Als ob ich noch sechs Jahre alt wäre.
»Was hältst du davon, wenn ich für uns alle ein Drei-Gänge-Menü zubereite?«, fragte er, immer noch mit Schuld im Blick.
»Du kannst kochen?«, fragte Mum verwundert.
»Es ist schon Ewigkeiten her, aber früher konnte ich das ziemlich gut. Das ist sicher wie Fahrrad fahren.«
»Okay, mach das«, murmelte ich. Die Situation gerade überforderte mich, ehrlichgesagt. Also tat ich das, was ich immer tat. »Wenn ihr mich sucht, ich bin oben.«
Ein gemeinsames Familienessen. So richtig, wo Dad nicht noch halb mit Gedanken bei der Arbeit ist. Wie lange hatte ich auf diesen Augenblick gewartet? Ich sollte gerade glücklicher sein.
Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, startete meinen Laptop und legte den komischen Brief direkt daneben. Mein Blick fiel auf die Schublade unter meinem Schreibtisch. Ich seufzte ich öffnete sie. Es lag immer noch dort. Natürlich tat es das. Meine Finger griffen danach und schlugen die letzte beschriebene Seite auf: Mama meint nämlich, dass es auf die inneren Werte ankommt. Bis zum nächsten Mal.
Es entsprach meiner Einbildung. Dass Mum mir so etwas je gesagt haben sollte, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich holte das Feuerzeug aus meinem Rucksack, das ich gelegentlich auf Partys benutzte. Ja, Gruppenzwang war schon eine gemeine Sache. Sauber trennte ich die Seiten aus dem Tagebuch und hielt sie ans Feuer. Die Tinte verbrannte, als wäre sie nie da gewesen.
Schon auf der Treppe hörte ich Gelächter durch meine Ohren dringen, das nicht in dieses Haus gehörte. Von der Küchentür aus konnte ich beobachten, wie Mum gerade etwas aus der Schublade kramen wollte. Dad stand hinter ihr und die Arme um ihre Taille gelegt. Mum wirkte glücklich wie schon lange nicht mehr. »Es tut mir Leid, dass du deine Dummheit, was Schule betrifft, von mir vererbt zu haben scheinst. Aber das macht nichts, Schätzchen. Alles, was du brauchst, ist ein reicher Mann.« Ihre Worte nach der misslungenen Matheklausur.
Nein, wir waren ganz sicher keine perfekte Familie. Nicht wegen Mums Worten oder Dads langen Arbeitszeiten. Das gerade war ein Schauspiel, was mich für einen Moment glücklich machen sollte. Im Moment war mir das egal und ich ließ mich einfach erneut kontrollieren.
-Jess’ Sicht-
»Keine schlechte Idee. Ich überlege die ganze Zeit, was ich meiner Mum gleich sagen soll. Nicht, was mit mir passiert ist, sondern auch was vorher alles zwischen uns abgelaufen ist.«
Erin, die genau wusste wovon ich sprach, sagte ermutigend: »Das schaffst du schon, Jess. Das Schwierigste haben wir doch überstanden.« Ich hoffte, dass sie damit Recht behielt.
Missmutig lehnte ich mich an den Felsen, der am Rand der Wiese stand. Ich sah zu, wie meine Freunde ihren Heimweg antraten – und dachte erneut über alles nach. Sie würde sicher glauben, dass ich entführt wurde, weil ich vorher abgehauen bin. Auf der Flucht vor ihr und Mr. Fell. War ja im Prinzip auch so.
»Ich weiß was du jetzt denkst, aber das kannst du knicken. Ich habe als erstes gesagt, dass ich noch bleiben möchte.« Da wurde mir plötzlich wieder bewusst, dass Lucas ja auch noch hier war.
»Du denkst, ich will, dass du dich verziehst? Ich bitte dich. Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Außerdem… ich muss zugeben, dass du deine Sache in unserer Mission Rettet-Poppy ziemlich passabel gemeistert hast. Vielleicht wirst du ja tatsächlich endlich erwachsen.«
Er trat jetzt neben mir und legte sich ebenfalls gegen den Fels. »Und weshalb kneifst du?«
Was soll’s. Bald wusste es eh die ganze Schule. Mit Sicherheit. »Meine Mum datet Mr. Fell.«
»Moment… Mr. Fell aus Bio?«
»Genau, der. Mr. Am-liebsten-stell-ich-Jess-vor-allen-in-der-Klasse-bloß. Das ist glaube ich sein Hobby.«
»Okay. Das ist wirklich hart. Dann sollen meine Eltern sich lieber bekriegen, ehe einer von denen etwas mit einem meiner Lehrer anfängt. Mein Ruf ist bei denen nicht gerade toll. Außer Dad fängt was mit der hübschen Sportlehrerin an. Ich glaube, die steht auf mich. Obwohl, nein. Das wäre zu schräg.«
»Ms. Fields steht nicht auf dich! Sie ist zu allen nett.«
Lucas schmollte. »Und mein Traum ist zerplatzt, danke.« Da er danach zu lachen anfing, sollte das wohl ein Scherz sein. Ein Schlechter noch dazu.
»Ich habe dich nur vor einer Katastrophe bewahrt.«
»Oh ja. Das hast du. Bei mir scheint Pech in der Liebe in den Genen zu liegen.«
»Nicht nur bei dir.« Sofort musste ich wieder an Mum und Mr. Fell denken und an Josh, der inzwischen vielleicht sogar zu gut für mich war.
»Ach komm schon. Du hast wenigstens richtige Beziehungen. Kann mich nicht daran erinnern dich mal Single erlebt zu haben.«
»Tja, bin ich aber. Ich kann nicht anders als dass ich jede meiner Beziehungen immer aufs Genauste analysiere. Was spricht dafür, was dagegen. Ich weiß, es klingt verrückt.«
»Nö, so verrückt ist das gar nicht. Vielleicht sollten sich meine Eltern mal ein Beispiel an dir nehmen.«
»Eher nicht. Der Punkt Wir-haben-Kinder wird in meiner Pro-und-Contra-Liste ziemlich stark mit zusammen bleiben gewertet.«
»Das ist ja blöd. Dann hast du vermutlich doch Recht und du solltest diese Liste in die Tonne treten.«
Ich verdrehte die Augen. »Sagte der, der selbst keine Ahnung von funktionierenden Beziehungen hat.«
»Da ist was Wahres dran. Andererseits hat es immer dann am besten funktioniert, wenn ich einfach nicht darüber nachgedacht habe. Das brauchst du vielleicht auch. Eine kleine Affäre – ohne gleich ans Heiraten zu denken.«
Ich schnaufte amüsiert auf. »Ganz genau.« Dann durchdachte ich die Sache noch mal und musste feststellen, dass er vielleicht gar nicht so Unrecht hatte. »Oder doch. Dann denke ich nicht drüber nach. Habe keine Ahnung, wer mein Gegenüber überhaupt ist. Und wer weiß? Vielleicht funktioniert es am Ende einfach. Gute Idee!«
Er grinste mich an. »Dann hättest du also nichts dagegen?«
»Im Grunde hört es sich doch nach einer guten Idee-« Was tat er da? Er wollte doch nicht… Doch er wollte! Seine Lippen kamen immer näher. Noch gerade so schaffte ich es, ihn von mir weg zu drücken. Möglicherweise etwas unsanft – das gebe ich zu. Aber was dachte er sich auch dabei?
»Was? Ich dachte du hättest nichts dagegen.«
»Ja, aber doch nicht mit dir, du Idiot! Nur weil ich mal kurz nett zu dir war, ist das noch lange keine Einladung mich zu küssen.«
Beschämt schaute er auf den Boden. Da verstand ich, worum es hier wirklich ging. »Hierbei geht es um Poppy, oder?«
»Nein, natürlich nicht! Warum denken immer alle, dass sich alles um sie dreht.«
»Jetzt, wo es vielleicht wirklich etwas mit ihr werden könnte, machst du dicht. Jetzt habe ich nicht angebissen, also fragst du die nächste Schlampe an unserer Schule. Lucas, warum tust du das? Ich habe doch gesehen, dass du auch anders kannst. Lass deine pubertäre Phase endlich hinter dir.«
»Ich dachte, wir wären uns einig, dass Beziehungen bei mir genetisch nicht funktionieren können.«
»Verstehe. Und Poppy bedeutet dir zu viel, als dass du es versauen möchtest. Aber ich denke, wenn es mit der richtigen Person ist, dann können Beziehungen selbst bei dir funktionieren.«
Er lächelte kurz. »Danke. Schätze dann wohl, dass das Gleiche für dich auch gilt.«
Ob Josh der Richtige war? »Ich glaube, in Wahrheit verdiene ich ihn gar nicht.«
»Witzig, dass du das sagst, wo du mir erst noch Mut zugesprochen hast, ich soll es mit Poppy probieren.«
»Wieso?«
»Na sie ich auch zu gut für mich. Ist das nicht offensichtlich?« Oder vielleicht war es auch nur ein Zeichen dafür, dass man die Person wirklich liebte.
»Du hast ihr das Leben gerettet. Ich glaube nicht, dass sie zu gut für dich ist.« Anders als Josh. Ich hatte ihn zu oft verletzt, was er gar nicht verdient hatte.
»Hätte nicht gedacht, dass du überhaupt darüber nachdenken musst. Bist du nicht die Jessica Clancy, in der die Hälfte meiner Jungs verliebt ist?«
»Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich die noch sein möchte.« Den Losern an unserer Schule keines Blickes zu würdigen, war fies und gemein. Möglicherweise gelang mir ja beides: Beliebt sein und nicht auf den Nerds herum zu trampeln.
»Dann lass es einfach. Früher fand ich dich nämlich sympathischer.«
»Du hast mich früher gemobbt.«
Er verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Wer sagt, dass ich mich früher gemocht habe.«
»Ach so. Dann ist das jetzt also der Beginn einer neuen Ära und ich bin live dabei? Lucas wird plötzlich ein sympathischer Streber.«
»Naaa…« Er tat so, als müsste er skeptisch darüber nachdenken. »Hast Recht. Das passt nicht.«
-Lous Sicht-
Als Mum mit Tränen in den Augen vor mir stand, liefen sie mir auch automatisch über die Wange. »Du bist es wirklich.« Sie drückte mich fest an sich. »Liam! Lou ist wieder da!« Es dauerte nicht lange, da war Dad auch schon an der Türschwelle. Stürmisch zog ich ihn ebenfalls an mich. Ich hatte die beiden so sehr vermisst. Wie sehr, wurde mir erst jetzt bewusst.
Und dann, ich folgte meine Eltern ins Wohnzimmer, begann ich ihnen nach und nach die Lügengeschichte zu erzählen, die ich den ganzen Weg hier her wieder und wieder durchgegangen war. »Ich wollte an diesem Tag ja eigentlich bei Zoe zelten. Und … naja, dazu kam es dann nicht mehr.«
»Ich hoffe, die Polizei findet den Verantwortlichen bald, damit sie ihn einsperren können. Von wo seid ihr geflüchtet? Wo hat er euch festgehalten? Vielleicht-«
»Der dunkle Wald, ganz in der Nähe der Schule. Ich weiß, ärgerlich, aber wir haben keinen Schimmer, wo diese Person wohnt.«
»Die Polizei könnte DNA-Spuren entdecken«, sagte mein Vater. Er wollte mir damit Hoffnung machen, mich beruhigen. Leider bewirkte er damit eher das Gegenteil, was er natürlich nicht wissen konnte.
»Er trug Handschuhe und all das. Ich kann es mir nicht vorstellen«, meinte ich. Um glaubhafter zu klingen, fügte ich hinzu: »Aber vielleicht haben wir ja Glück. Ein Versuch ist es sicherlich Wert.« Ich hasste es zu Lügen. Nur würde uns die Wahrheit sowieso niemand glauben. Wenn wir Pech hatten, hielten sie uns für verrückt und schickten uns in die Klapse.
»Ähm, da ist noch etwas, was ich euch sagen möchte«, begann ich vorsichtig. »Vorweg solltet ihr aber wissen, dass das nichts mit dem, was mir passiert ist, zu tun hat. Noch weniger mit euch beiden. Ihr seid die besten Eltern, die man haben könnte. Aber ich denke, dass ich gerne Kontakt zu meiner leiblichen Mutter aufnehmen würde.«
Mit der anschließenden Stille hatte ich schon gerechnet. Mum griff nach meiner Hand. »Natürlich kannst du das. Uns wundert es nur, dass du deine Meinung so abrupt änderst. Sicher, dass es nichts damit zu tun hat? Sonst, als wir darüber gesprochen haben, meintest du, dass du kein Interesse daran hast. Immerhin hätte sie dich verlassen.«
»Ja.« Ich war erleichtert, dass ich hierbei nicht lügen musste. Sie verdienten die Wahrheit. »Aber diese Träume werden nicht weniger. Möglicherweise, wenn ich ihr zeigen könnte-« Meine Stimme brach.
»Ach, Schätzchen. Du bist wundervoll. Wer das nicht erkennt, der hat selbst schuld.« Auch wenn sie es nicht ahnte, Mums Worte verstärkten das Gefühl eher, dass ich sie kennenlernen wollte.
Einfach, weil ich schon immer das Gefühl hatte, dass meine Eltern einfach zu gut für mich waren. In der Schule waren sie beide zwar nur mittelmäßig, aber sie hatten sich beide sozial arrangiert. Auch wenn ich meine Freunde inzwischen nicht austauschen wollte, mich Jess’ Clique angeschlossen zu haben, hat mein Sozialverhalten sicher nicht sonderlich verbessert.
Sie bedeuteten mir alles, doch trotzdem wollten wir einfach nicht zusammen passen. In der Erziehung hatten sie alles richtig gemacht, aber ein Teil von mir hatte sich hier schon immer fremd gefühlt, gleichzeitig aber auch daheim. Es war echt komisch. »Danke für euer Verständnis. Ich weiß, dass ihr Recht damit habt. Nur würde ich es trotzdem gerne wissen, warum sie mich nicht wollte.«
»In den meisten Fällen sind die Eltern einfach noch viel zu jung, um sich für solch eine Aufgabe gewachsen zu fühlen.«
Ich schüttelte mit dem Kopf. »Nein. Dann hätte sie mich nicht noch fast drei Jahre bei sich behalten.«
»Weil sie erst dann bemerkte, dass sie es nicht gebacken kriegt«, erklärte Mum. Natürlich hatte sie Recht. Das ist der Grund. Nur warum wollte irgendwas in mir die Schuld bei mir selbst suchen?
»Ich habe Zoe versprochen, mich kurz zu melden, wenn ich Zuhause bin«, informierte ich die beiden und verließ das Wohnzimmer, um kurz in mein Eigenes zu gehen. Schon wieder eine Lüge. Die Ähnlichkeit zwischen meinen Eltern und mir schwand immer mehr. Ob ich langsam anfing wie meine leiblichen Eltern zu werden? Noch ein Grund für eine Kontaktaufnahme. Ich musste es herausfinden.
Nervös wählte ich Zoes Nummer. Sie hatte nicht von mir verlangt, mich zu melden. Ich musste es dennoch. Und ihre Reaktion darüber, was wir zu besprechen hatten, machte mir große Angst. »Zoe Bonson«, meldete sie sich. Nanu? Zeigte ihr Handy denn nicht an, dass ich sie anrief? Vermutlich hatte sie einfach vergessen nachzugucken.
»Ja. Hi Zoe. Ich bin’s Lou.«
»Und? Wie haben deine Eltern all das aufgenommen?«
Ich ignorierte ihre Frage schlichtweg und kam sofort zum Punkt. »Wir müssen uns darüber unterhalten, was im Livenus passiert ist.«
Sie atmete erleichtert aus. »Gut, dass du es von selbst ansprichst. Ich will jede Kleinigkeit erfahren. Wir alle glaubten, es wäre das Ende. Wir konnten doch nicht einfach wie durch ein Wunder entkommen – nicht ohne triftigen Grund.«
»Ich möchte nicht über mich reden, Zoe. Du willst wissen, was mir darin passiert ist? Ich bin so frei und spreche mit dir darüber, weil du meine beste Freundin bist. Ich habe gesehen, was du gesehen hast. Deine Eltern haben sich nicht einfach nur scheiden lassen. Warum konntest du mir diese Sache nicht anvertrauen?«
Im Moment wusste ich nicht, ob ich Mitleid mit ihr haben sollte. Eigentlich war ich dafür zu wütend. Ich dachte, wir konnten uns alles erzählen. »Kannst du dir vorstellen, was mir gerade durch den Kopf geht? Ich beginne echt an unserer Freundschaft zu zweifeln. Warum sind wir überhaupt befreundet, wenn wir so verschieden sind.«
»Nein, stopp. Lou, du brauchst keine Zweifel haben. Ich gebe zu, anfangs fand ich es lästig, dass du mich ständig angequatscht hast. Ich hatte mich, meine Mum, das reichte. Aber du ahnst nicht, was ich alles für dich auf mich genommen habe.«
»Dann bist du wegen mir mit zum Livenus gegangen, in dem Wissen vielleicht nie wieder nach Hause zu können?« Das ergab hinten und vorne keinen Sinn.
»Natürlich nicht. Okay, indirekt vielleicht. Du hast mir beigebracht, dass es vielleicht doch besser ist, nicht alleine durchs Leben zu gehen. Ich wollte keiner dämlichen Clique beitreten. Aber dieser dämliche Haufen ist gar nicht so dämlich, wie ich anfangs dachte. Vielleicht könnten sie meine Probleme sogar verstehen, aber… wie ich nun mal bin, wollte ich damit selbst fertig werden.«
Ich musste schlucken. Ich hatte geplant sie anzuschreien, doch gerade viel mir das ziemlich schwer. »Du hast dich also nie jemanden anvertrauen können.« Es sollte eigentlich keine Frage sein, doch Zoe antwortete dennoch: »Naja… Ich will dich nicht anlügen. Das habe ich, schätze ich, zu oft getan.« Was kam denn jetzt?
»Aber Lucas ist da irgendwie hinter gekommen.«
»Was, Lucas? Hinter gekommen? Wie das denn?«
»Naja. Er hat nicht speziell das herausgefunden. Etwas, was damit zu tun hatte und so habe ich ihm dann den Rest auch erklärt.«
Jetzt kam die Wut doch wieder zum Vorschein. »Schön, dass du es ihm erklärt hast. Er, der sich vielleicht für drei Sekunden gefragt hat, was mit dir los ist. Ich frage mich das mein ganzes Leben und habe nie eine Antwort gekriegt.«
»So ist das-«, wollte sie sich noch rausreden, doch ich legte einfach auf. Ich hatte lang genug nach der Nase anderer getanzt.
-Jess’ Sicht-
Hi Mum. Schön dich endlich wieder zu sehen. Ich habe dich so sehr vermisst. Und wenn du mit diesem Arschloch von Mann zusammen sein willst, der deine Tochter abgrundtief hasst, dann ist mir das auch egal. Werde für einen Monat glücklich. Danach hast du eh wieder einen Neuen. Nein, so konnte ich das nicht sagen. Die letzten zwei Sätze musste ich streichen.
Ich hob den Kopf und blickte direkt in zwei braune Paar Augen. Doch es waren nicht die, die ich gehofft hatte zu sehen. Wohnte der jetzt etwa schon bei ihr oder was machte er hier? »Jessica.« Ja, so heiße ich. Er war ja sehr schlau. Allerdings sollte er seinen Mund schließen. Das ließ ihn irgendwie dumm erscheinen. »Du hättest nicht gleich weglaufen müssen.«
Ehrlich jetzt?! »Ich bin nicht weggelaufen!« Ich habe meiner Freundin geholfen. Etwas, wovon Sie keine Ahnung haben. »Ich wurde entführt. Von demselben Unbekannten, der auch Poppy entführte. Aber… darum wird sich die Polizei schon kümmern. Oder was waren Ihre Worte? Aber nun raten Sie mal: Es hat uns niemand gerettet. Das mussten wir selbst tun.«
Ist das etwa Sprachlosigkeit, Mr. Fell? Sonst wissen Sie doch auch auf alles eine Antwort. Am liebsten hätte ich ihm das an den Kopf geworfen, doch im nächsten Moment erschien meine Mutter an der Türschwelle und all mein Ärger war schlagartig verflogen. Ich gab es nicht gerne zu, aber sie sah furchtbar aus. Ihre Augen waren geschwollen. Vermutlich hatte sie eine ganze Weile nicht richtig durchgeschlafen. Ihre roten Haare waren total zerzaust. Wenn ich sie so ansah, brach es mir das Herz. Sie hatte nur wegen mir so gelitten.
Jetzt quollen ihr erneut Tränen aus den Augen, dieses Mal waren es – Gott sei Dank – Freudentränen. Sie fiel mir in die Arme und hielt mich eine ganze Weile lang fest. Ich genoss ihre mütterliche Wärme. Sie hatte mir früher schon immer Trost gespendet, als ich noch keine Freunde dafür hatte. Sie war die einzige Konstante in meinem Leben.
»Ich muss dir noch so viel erklären, Schatz«, schluchzte sie.
Ich wollte ihre Erklärungen eigentlich gar nicht hören, aber da sie so aufgelöst war, nickte ich und folgte den beiden ins Haus.
»Wohnt er jetzt bei uns?«, fragte ich die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge lag.
»Was? Nein. Also… Ja, er war hier. Aber nur weil du weg warst und ich mich so furchtbar einsam fühlte – dich vermisste. Er versuchte meine Laune zu heben, Jess.« Dafür war ich ihm zwar irgendwie dankbar, aber trotzdem wollte ich es nicht hören. Er sah darin doch nur eine Chance Mum näher zu kommen. Zu Mitgefühl war dieses Arsch sicher nicht fähig.
»Trotzdem verstehe ich es nicht. Es gibt so viele Männer auf der Welt. Musstest du dir gerade meinen Biolehrer aussuchen?«
»Ich habe mir das nicht ausgesucht. Aber beim Elternsprechtag-«
»Erspar mir die Details! Trotzdem wundert es mich doch, wie du dich in ihn verlieben konntest, während er über die schlechten Noten deiner Tochter herzog.« Und an Liebe auf den ersten Blick glaubte ich nicht. Vielleicht, wenn das Gegenüber besonders attraktiv war, was bei Mr. Fell eindeutig nicht der Fall war. Ihm fielen sogar schon Haare aus.
»Aber das hat er gar nicht. Er meinte, du wärest nicht dumm, nur fehlt es dir an Motivation.«
»Richtig. Deshalb war ich immer so streng zu dir. Ich wollte doch nur, dass du dich besserst«, wollte er sich jetzt rechtfertigen.
»Ich habe ihm erzählt, dass du als Kind Meeresforscherin werden wolltest. Dass du dich allgemein sehr für den Ozean interessiert hast, und du am liebsten mit deinem Stofftier Nemo gekuschelt hast.«
»Mum!« Ich schnaufte empört auf. So was hatte sie nicht an meine Lehrer weiterzugeben. Auch, wenn sie inzwischen mit ihnen ins Bett stieg. Mich schüttelte der Gedanke. »Das ist außerdem schon lange her. So bin ich schon lange nicht mehr. Der Ozean interessiert mich nicht im Geringsten.«
»Weil dich jetzt mehr interessiert, was die anderen von dir denken. Interesse für Biologie zu zeigen, das findet deine Clique garantiert zu uncool.« Ach so. Dann war er neuerdings auch Psychologe, anstatt Horror-Lehrer.
»Wenn Sie von etwas keine Ahnung haben, dann sollten Sie sich daraus halten«, fauchte ich.
»Jess! Entschuldige, ich weiß auch nicht, was gerade mit ihr los ist.«
»Oh, keine Sorge. Diese Seite an Jessica ist mir sehr wohl vertraut. Damit kann ich aber umgehen.«
Er konnte damit nicht umgehen! Kam mir jemand blöd, dann wurde ich wild. Man legte sich nicht mit Jessica Clancy an, ohne ungestraft davon zu kommen. Nicht mehr. Diese Zeit lag hinter mir. Ich wollte ihm gerade den nächsten Vorwurf an den Kopf werfen, da kam Mum mir zuvor. Ihr Blick sagte mir, dass ich Verständnis zeigen sollte. »Bitte, Jess. Er bedeutet mir sehr viel. Ich fände es schön, wenn du wenigstens versuchen würdest damit klarzukommen.«
Ich atmete langsam aus. Es war ihr wichtig und es würde sie glücklich machen. »Also gut. Ich werde es versuchen, wenn er sich auch Mühe gibt.« Bald würden sie sich eh wieder trennen. Dann war ich ihn wieder los.
»Danke, Schatz! Das bedeutet mir so viel… und… Oh Gott! Wir haben so viel über so eine unwichtige Sache diskutiert, wo du doch-«
Ich unterbrach sie schnell. Das war der perfekte Moment. »Nein. Nein. Schon gut. Ich will, ehrlichgesagt, gar nicht über die ganze Sache reden. Dann kommt alles wieder hoch. Es war so schon schwer genug.«
»Jessica, es tut mir wirklich leid«, meinte Mr. Fell plötzlich. Etwas spät, fürchte ich.
»Das mit dem Nett sein muss nicht jetzt sofort sein. Fangen Sie in der Schule an. Das würde ich eher zu schätzen wissen.« Gute Noten natürlich auch, aber das sprach ich selbstverständlich nicht laut aus. Dafür war Mr. Fell nicht der Typ.
»Ich werde jetzt gehen. Ihr zwei braucht Zeit für euch.« Wow. Das hätte ich nun nicht erwartet. Ich dachte, er hätte es sich hier schon gemütlich gemacht. Diese Art von Nett sein wusste ich auch zu schätzen. »Danke«, murmelte ich so leise, dass er es am liebsten gar nicht hören sollte. Hatte er aber.
»Nein. Ich habe zu danken. Dann bis Morgen.« Bis Morgen. Das hatte alles ruiniert. Bio. Morgen. Kotz.
»Ich werde uns Kaffee kochen. Dann können wir die Folge von Grey’s Anatomy nachholen, die wir verpasst haben.« Und die Laune stieg wieder.
»Gerne«, sagte ich grinsend. In meinem Leben hatte sich ziemlich viel geändert. Doch das ist mir geblieben.
Es war mitten in der Nacht, als ich plötzlich hochschreckte. Klopfte da etwa jemand ans Fenster, um diese Uhrzeit? Noch total verschlafen, quälte ich mich aus dem Bett. Ich öffnete das Fenster irgendwie zombieartig. Ja, im Aufwachen war ich total schlecht. Ich brauchte erstmal literweise Kaffee bevor überhaupt etwas lief.
»Hodded?« Nein, das konnte nicht sein. Verschlafen rieb ich mir die Augen. Doch er stand da tatsächlich mit seinem schwarzen Luftballon in unserem Vorgarten. Fast hätte ich ihm das Fenster wieder vor der Nase zugemacht, so überrascht war ich. »Was willst du von mir? Es ist mitten in der Nacht.«
»Das konnte ich ja nicht wissen. Du weißt, wie das Zeitverhältnis vom Baum sich mit dem der Erde unterscheidet. Und jetzt bin ich hier… also.«
»Also?«, fragte ich verwirrt.
»Du hast etwas, was mir gehört.« Der Brief, natürlich.
»So schnell willst du ihn wieder haben? Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, ihn in die Suchmaschine einzugeben.« Trotzdem ging ich zum Schreibtisch rüber, um ihn zu holen. Ich blickte auf die Tintenschrift, die jetzt total verschwommen war. »Außerdem bin ich im Moment viel zu müde, um sie überhaupt zu lesen.«
Als ich wieder zu Hodded ans Fenster ging, stand da plötzlich nicht er, sondern Dusk. »Der Brief ist mir egal.« Das musste ein Traum sein. Sicherheitshalber beugte ich mich aus dem Fenster, um nach Hodded Ausschau zu halten, doch er war verschwunden. »Er ist nicht hier. Du hast Recht. Du träumst.« Erleichtert atmete ich aus. Auch wenn es seltsam war, da ich in der Regel nie darauf kam, dass ich gerade träumte. Und wenn, dann wachte ich sofort danach auf.
»Bist du etwa noch nicht selbst drauf gekommen? Wir In-thoughts können uns in eure Köpfe schleichen und euch kontrollieren. Warum also nicht auch in eure Träume?« Heftig schüttelte ich meinen Kopf. »Nein. Nicht, wenn uns Welten voneinander trennen. Das ist nur eine Paranoia meines Unterbewusstseins.«
Dusk zuckte mit den Schultern. »Glaube was du willst. Ich werde das hier trotzdem sagen. Vielleicht gibt es ja den winzigen Schimmer Hoffnung, dass du auf mich hörst. Ich weiß, dass Hodded dir erzählt hat, dass du für unsere Welt eine Schlüsselfigur darstellst. Du weißt schon, weil ich Gedanken lesen kann und so…« In seiner Stimme klang stolz mit. Darauf sollte er sich nichts einbilden. Was nütze es Gedanken lesen zu können, wenn man trotzdem ein Idiot ist.
»Ich bin hier nicht der Feind, Poppy. Ich hoffe, dass dir das irgendwann klar wird. Wir brauchen dich. Aber nicht nur wir, sondern auch die Menschen.«
»Die Menschen?« Als ob.
»Unsere Welten sind miteinander verbunden. Momentan jedenfalls noch. Es liegt an dir, dass es so bleibt.«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn der Zugang zu eurer Welt sich in Luft auflösen würde.«
»Du Dummerchen! Ich bin dieser Zugang! Ihr existiert nur wegen mir.«
»Das glaube ich nicht.«
Er lachte. »Dann sei weiterhin das verblödete, kleine Mädchen. So wirst du die Welt aber nicht retten können. Du musst endlich einsehen, wer der wahre Feind ist.«
Der wahre Feind. Aus seinem Mund hörte sich das ziemlich lustig an. »Warte. Der wahre Feind. Erin hat mir davon erzählt. Damit meinst du bestimmt Same, nicht wahr? Aber nur weil er dir alles genommen hat, ist er nicht automatisch der Feind aller.«
»Ich spreche ja auch nicht von Same, sondern von Hodded. Er war es schon immer: Mein furchtbarer Fehler. Er war mein Preis, den wir jetzt leider alle zahlen müssen.«
Wut kochte in mir auf. Hodded hatte mich zwar angelogen und Fehler gemacht, doch aufgrund seines üblen Vaters tat er mir immer noch Leid. »Ich sagte es bereits zu Hodded: Ich bin keine bescheuerte Schlüsselfigur. Und wenn jemand Schuld an allem hat, dann du!«
»Stimmt. Trotzdem bin ich nicht das verdammte Problem! Irgendwann musst du dich zwischen dem Wohl aller und dem einer einzelnen Person entscheiden. Inzwischen kenne ich deine Gedanken gut genug, um zu wissen, dass du immer möglichst viele retten willst.«
»Richtig. Aber selbst wenn Hodded sich dazu entscheiden sollte ein In-thought zu werden, macht ihn das nicht zum Feind von uns allen. Ein Halbling ist nicht automatisch ein Monster.«
»Du verstehst es immer noch nicht, oder? Ich habe eine komplett neue Welt samt Spezies erschaffen wollen. Alles im Leben hat seinen Preis. Für so einen großen Wunsch, musste ich selbstverständlich zahlen. Der Preis ist nicht nur einen Halbling als Sohn zu haben, sondern viel größer als du dir vorstellen kannst. Er betrifft uns alle!« Wie gerne wollte ich jetzt aufwachen.
»Wenn ich eure Schlüsselfigur sein soll, dann solltest du etwas über mich wissen. Ich gebe nicht einfach auf. Kein Mensch kann von Natur aus ein Monster sein.«
»Kein Mensch oder In-thought. Aber Hodded ist weder das eine noch das andere.«
»Aber er hat Gefühle. Und alle die, die fühlen können, haben eine Chance auf ein Happy End.«
»Okay. Wenn du meinst. Vielleicht irre ich mich ja wirklich. Nur denke an diesen Traum, wenn du irgendwann mal nicht weiter wissen solltest.« Wenn ich mal nicht weiter wusste?! Bei meiner zukünftigen Berufswahl, oder was? Denn mit den In-thoughts hatte ich ein für alle Mal abgeschlossen. Mit diesem Brief wird alles enden.
Was danach passierte, wusste ich nicht mehr genau. Das nächste, an was ich mich erinnerte, war das Klingeln meines Weckers. Halb sieben. Na toll. Der Alltag, der sich Schule nannte, nahm wieder seinen Lauf. Auch wenn alles wieder normal sein sollte, hatte ich nicht das Gefühl, dass das wirklich der Fall war.
Schon alleine, weil mein Vater (ja – er war es wirklich!) mir Frühstück ans Bett brachte. »Morgen, Kleines. Wie geht’s uns denn heute?« Er hatte definitiv noch Schuldgefühle. Auch wenn er sich ziemlich Mühe gegeben hatte, brachte ich (außer dem Kaffee vielleicht) keinen Bissen runter. Ich ergriff den Brief, der neben meinem Bett lag. Gestern Abend noch hatte Google keine Treffer für diese Sprache angezeigt.
Auch wenn ich inzwischen eine Theorie entwickelt hatte. Der Brief war immerhin ganz normal aufgebaut. Oben musste eine Art Anrede stehen, unten der Abschied. Hodded meinte, dass der Brief in Dusks Handschrift verfasst wurde. Ganz unten standen die Worte: Bijz. Das waren vier Buchstaben – wir bei Dusk. Was, wenn einfach nur alle Buchstaben vertauscht wurden? Dann würde B D, I U, J S und Z K sein. Nur würde es Ewigkeiten dauern dies für den ganzen Brief herauszufinden. Es war also, wie zu erwarten, hoffnungslos.
Hektisch blickte ich auf meine Armbanduhr. Wie konnte die bereits fünf nach acht anzeigen? Ich hatte alles genau abgerechnet. Der Umweg zur Wiese hatte bestimmt nicht länger als fünf Minuten gedauert. Ich musste doch nur den Brief für Hodded unter dem Stein drapieren. Mein Blick hatte die darauf stehenden Worte auch nur für wenige Sekunden gestreift… theoretisch. Möglicherweise hatte ich etwas an Zeitgefühl verloren, sonst wäre ich jetzt nicht in dieser Situation.
Auf der anderen Seite… wie lange konnte man den Satz Ich werde nach der Schule, um vier, hier auf dich warten. Hoffentlich liest du das vorher anstarren? Lang war er nun wirklich nicht. Warum kamen meine Berechnungen denn sonst nicht hin? Weil ich eine Niete in Mathe bin? Das war vermutlich eher der Grund.
Ich sprintete die Stufen unserer High School hoch wie ein Blitz. Der Unterricht hatte bereits seit fünf… nein, inzwischen sechs… Minuten begonnen. Völlig außer Atem traf ich dann bei Mrs. Richards in den Englischunterricht ein. An sich war Mrs. Richards eine Nette, doch nicht wenn es um das Zuspätkommen in ihrem Unterricht ging.
»Poppy, da bist du ja wieder!« Überrascht stellte ich fest, dass sie mich in eine Umarmung zog. Seit wann tat sie denn so was? »Ich habe eben schon gesagt wie schlimm es ist, was euch passierte und … Eure Mitschüler stellen sich selbstverständlich alle zur Verfügung, wenn ihr mit dem Stoff nicht mitkommt und Nachhilfe braucht.« So lange waren wir nun auch nicht verschwunden. Trotzdem lächelte ich sie an, weil ich wusste wie sie es meinte. Sie hatte Mitleid – wie alle in meinem Umfeld. Ich verdiente es nicht mal.
◊
»Mrs. Richards will uns, denke ich, am liebsten alle zum Vertrauenslehrer schicken«, schmatzte Erin, während sie genüsslich in ihr Sandwich biss. »Denkst du, der weiß auch, warum Jungs so verdammt schwer zu verstehen sind?« Und der Alltag nahm wieder seinen Lauf. »David und ich würden so gut zusammen passen. Und er war doch an mich interessiert, oder nicht?«
»Wahrscheinlich findet er es komisch, dass du so plötzlich deine Meinung geändert hast«, mutmaßte ich. Zumindest erging es mir so.
»David ist vernünftig, schlau… So einen Typen brauche ich in meinem Leben. Das ist mir jetzt klargeworden.«
Ich lachte. »Was werden die anderen denken, wenn du mit ihm ausgehst?« Erin war es doch verdammt wichtig, was andere über sie dachten.
Sie zuckte mit den Schultern. »Bald haben wir die High School hinter uns, Poppy. Am College werden sich alle um jemanden wie David reißen.«
»Oh, also wenn das der Grund ist, dann verstehe ich David ziemlich gut. Warum dich nehmen, wenn er bald alle haben kann?« Es sollte eigentlich ein Scherz sein, doch Erin blieb bitterernst. Fast wirkte sie bedrückt.
»Du hast Recht. Ich bin nicht gut genug für ihn.«
»Nein, Erin. Das habe ich damit doch gar nicht gemeint.«
»Aber es stimmt. Meine Noten sind nur durchschnittlich.«
»Es gibt viele intelligente Streber da draußen, Erin. Wenn du Glück hast, ist einer davon für dich bestimmt.«
Erin schnaubte. »Mein Seelenverwandter ist sicher strohdoof. So doof, dass er keinen meiner Witze verstehen wird.« Dazu brauchte es ja auch nicht viel.
»Es wäre für uns alle wohl besser, wenn du jemanden finden würdest, wo es in Ordnung wäre, wenn du deine Witze für dich behältst.«
»So jemanden kann es nicht geben, Poppy. Außerdem, wie werden wir je wieder lachen können – ohne meine Witze? Deshalb bist du doch in erster Linie mit mir befreundet, nicht? Gerade jetzt kannst du etwas Aufmunterung sicher vertragen.« Jetzt kommt’s. Verdammt. »Was ist weiß und rollt den Berg hoch?«
»Auf jeden Fall nicht der Witz. Der rollt sicher abwärts.«
»Eine Lawine mit Heimweh.« Oh, man. Tat das weh. Der war so schlecht, dass er auch schon wieder gut war. Vermutlich, denn gerade musste ich über ihre Antwort grinsen. Vielleicht auch aus Mitleid.
»Pass auf. Nicht, dass Mr. Right jede Minute an unseren Tisch tritt.« Das sagte ich, weil Jess, Lou und Zoe gerade mit den Moppelgeschwistern auf uns zukamen.
Ich musste mir das Grinsen verkneifen, als Erin schreckhaft zusammenzuckte, als sie Jess Stimme hinter sich vernahm: »Da seid ihr beiden ja. Wir haben euch schon überall gesucht.« Alle fünf setzten sich jetzt zu uns an den Tisch. Langsam wurde es echt eng.
»Erin, Poppy – das sind Damian und Brianna. Sie gehören ab sofort zu uns. Sie sind nämlich sehr nett«, erklärte Jess. Deshalb hatte Jess sie ganz sicher nicht aufgenommen. Sie gehörten lediglich zu ihrem Vorhaben, auch die Loser aufzunehmen. Eigentlich war es mir auch egal.
Brianna strahlte übers ganze Gesicht. »Der liebe Gott scheint meine Gebete tatsächlich erhört zu haben.«
Ihr Bruder war anscheinend nicht ganz so begeistert. »Ist ja schön, dass diese Entführungssache euch die Augen geöffnet hat, aber ich denke nicht, dass das auf Dauer funktionieren wird.«
Brianna tätschelte Damian bemitleidend die Schulter. »Stimmt. Du passt nicht wirklich in eine Mädchenclique hinein. Aber ich bin jetzt angesagt, Damian. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben.«
Zoe verdrehte die Augen. »Hast du Angst vor so vielen Mädels, oder was? Bleib doch einfach. Deine Schwester war doch deine einzige Freundin, nicht? Wo willst du sonst hin?« Damians Augen weiteten sich. Zoe war ihm auf jeden Fall zu direkt.
»Ich habe Freunde… Nur nicht hier«, behauptete M… Damian. (Es fiel mir sichtlich schwer, ihn nicht mehr Moppel-Damian zu nennen. Alle taten das aufgrund des Übergewichts der beiden. Aber wenn sie jetzt zu uns gehören sollten, dann sollte ich mir das schleunigst abgewöhnen. Der Spitzname war ja auch fies.)
»Wissen wir doch«, zwinkerte Brianna. Jap. Er hatte definitiv keine Freunde außerhalb. Das konnte man aus Briannas Stimme deuten.
Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Da Erin gerade den Kopf gesenkt hielt, war die Nachricht höchstwahrscheinlich von ihr.
12:17_Das war NICHT witzig.
12:18_Wieso? Damian ist bestimmt auch schlau. Jedenfalls hat er viel Freizeit zum Lernen.
Zwei blaue Häkchen, allerdings keine Antwort. Stattdessen bekam ich einen bitterbösen Blick über den Tisch zugeworfen. Dann eben nicht. Vor ein paare Tagen hätte ich sie noch für ihre Vorurteile verurteilt. Ich sollte meinen Mund allerdings nicht zu voll nehmen. Hätte ich welche gegenüber Hodded gehabt, dann wäre all das nicht passiert. Manchmal sind Vorurteile anscheinend nicht nur menschlich, sondern auch angebracht.
-Jess’ Sicht-
»Denkst du, ich und mein Bruder werden dieser Gruppe wirklich gerecht werden?«, fragte mich Brianna. Ich war mir unsicher, was ich darauf antworten sollte. Die eiskalte Wahrheit war eigentlich: Nein. Es gab schließlich einen guten Grund warum es Loser nie an die Spitze schafften. Aber die letzten Wochen hatten meine Sichtweise geändert. Ich wollte uncoole Kids nicht mehr länger ausschließen, weil es mich keinen Deut besser als die machte, die mir das damals antaten. Selbst wenn das bedeuten würde, dass ich selbst wieder zu ihnen gehören würde – den Losern.
»Quatsch. Du und Damian passen perfekt in unsere Gruppe.« Poppy, Erin, Lou und Zoe schauten mich immer noch verdutzt an, als könnten sie mein Handeln nicht ganz nachvollziehen. Schwungvoll schulterte ich meine Tasche. Ich musste am Spind noch meine Bücher für die nächste Stunde zurechtsuchen.
»Kommt ihr mit?« Erin hatte ihr Sandwich bereits aufgegessen, deshalb fragte ich. »Ich muss mein Englischbuch austauschen.« Bio. Ich wollte gar nicht daran denken. Die anderen nickten nur und folgten mir alle wie selbstverständlich.
Doch kaum hatte ich besagten Ort erreicht, wäre ich am liebsten sofort wieder umgedreht. Da stand Dan, das größte Arschloch auf der Welt. Keiner konnte ihm diesen Rang streitig machen. Er lehnte samt Gang an seinem Schließfach, als wäre er der coolste weit und breit. Am liebsten hätte ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht geschlagen.
Doch es war zu spät, um die Flucht zu ergreifen. Dan hatte sich zu mir umgedreht, beäugte belustigt die beiden Neuen hinter mir. Wow. Ich wusste gar nicht, dass eure Clique soweit sinken kann, dass ihr die Moppelgeschwister aufnehmt.« Wie mich dieser Kerl doch aufregte! Sein Fußvolk trat neben ihm, genauso breit grinsend. Lucas war anscheinend immer noch dabei. Hatte ich ihm eh nicht zugetraut, dass er sich ändern würde.
»Nicht jeder muss so oberflächlich wie ihr sein«, murmelte ich nur, darauf aus einfach nur meinen Spind zu öffnen und die verdammten Bücher auszuwechseln. Tja, Fehlanzeige. Cody hatte das Gespräch noch nicht für beendet erklärt. »Mir macht das nichts, Jess. Wenn du momentan Single bist, für dich hätte ich immer einen Platz in meinem Bett frei.« Igitt. Allein der Gedanke… So verstört ich gerade auch war, musste ich trotzdem lächeln. All das hatte meinem Ruf keineswegs geschadet.
»Nun, Cody. Ich wäre da vorsichtig. Ohne ihr Make-up, könnte Jess wieder zu unserer vertrauten rothaarigen Hexe werden. Nicht, dass du dich morgens beim Erwachen erschrickst«, ertönte plötzlich Lucas Stimme. WAS? DIESES ARSCH! Was war daraus geworden, dass er schweigen wollte? Am liebsten hätte ich geantwortet: Ach, dann küsst du also gerne Hexen? Aber die Jungs würden mir sicher nicht glauben, wenn Lucas das abstreiten würde. Dann wirkte ich auf die noch erbärmlicher. Nicht mit mir!
»Was? Echt jetzt? So gutes Make-up gibt es? Stimmt das, Jess?« Wow. Da fragte mich Cody doch tatsächlich, anstatt naiv jedes Wort zu glauben. Okay…. Vielleicht sollte ich einfach alles abstreiten. Andererseits… warum eigentlich? Inzwischen hatte sich die Situation geändert. Über die letzten Wochen durfte ich feststellen, dass mich meine Freunde trotzdem mochten. Mehr brauchte ich eigentlich nicht.
»Ja, Cody. Es stimmt. Meine Hautprobleme sind noch nicht aus der Welt. Na zu! Nennt mich Hexe, nennt mich wie ihr wollt! Mir egal.« Gelächter ertönte. Vertrautes Auslachen, das ich jetzt schon eine Weile nicht mehr gehört hatte. Da war es wieder. Bilder wollten sich in meinen Kopf setzen, wie rohe Eier in meinen Haaren gelandet waren… oder noch viel schlimmere Sachen.
»Mir fällt gerade ein, dass ich noch was erledigen muss. Wir sehen uns in Englisch.« Kaum hatten die Worte an meine Freunde meinen Mund verlassen, hatte ich die Tür zugeschlagen. Ich musste diesem dreckigen Gelächter einfach entkommen. Mit schnellen Schritten ging ich die Aula entlang, bis ich die Tür zu den Mädchentoiletten erreicht hatte.
Himmel, ich musste nicht mal! Ich brauchte lediglich einen Zufluchtsort und dieser war mir von früher noch ziemlich vertraut. »Ach! Erst auf taffes Mädchen machen und dann einfach abhauen!« Die Stimme hinter mir… Nein. Jetzt ist er wirklich zu weit gegangen. Lucas hatte mich bloßgestellt, dabei dachte ich, er hätte sich wirklich geändert.
Wie ein Blitz wirbelte ich mich zu ihm um und in der nächsten Sekunde klatschte meine Hand gegen Lucas’ Wange. Puh! Das hatte gut getan. Der Schock auf seinem Gesicht war unbezahlbar, während er sich mit der Hand die schmerzende Stelle rieb. »Jetzt kennen zumindest alle die Wahrheit«, versuchte er sich zurechtfertigen.
Innerlich bereitete ich mich darauf, dass noch weitere Worte folgten, die es in sich hatten. Er würde sich dafür rächen… ohne Zweifel. Aber er sagte nichts mehr. Er starrte mich einfach an. Hatte ich ihn gerade etwa sprachlos geschlagen?
»Es liegt nicht an dir solche Dinge über mich Preis zugeben. Du denkst jetzt vielleicht, alles wird zurück auf Anfang gehen. Doch du irrst dich. Richte Dan aus, sollte er die Dreistigkeit besitzen, auch nur ein falsches Wort über mich oder meine Freunde zu verlieren, werde ich persönlich dafür sorgen, dass sein Leben die Hölle auf Erde wird. Euer aller Leben, vollgemerkt.«
Jetzt aber. Jetzt würde er kontern. Ich legte mir bereits Gemeinheiten zurecht, die ich ihm an den Kopf knallen könnte, doch es blieb weiterhin still. Was war denn los? So hart hatte ich nun auch wieder nicht zugeschlagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fing er zu grinsen an. »Wusste ich doch, dass du dich nicht von jetzt auf gleich ändern kannst. Da haben wir wohl was Gemeinsam.« Nein, hatten wir nicht. Ich hatte die Moppelgeschwister aufgenommen und was hatte er getan? Er sabberte weiterhin Dan hinterher. »Wegen dir bin ich wieder ganz unten angelangt. Das wird Konsequenzen mit sich ziehen. Du weißt schon… Rache und so.«
Stolz über diese Ansage, wand ich mich wieder der Toilettentür zu, ohne dass das arrogante Grinsen aus meinem Gesicht verschwand. Tja, anscheinend war ich immer noch die eiskalte Anführerin, die Bienenkönigin, auch wenn ich jetzt einen Haufen Loser leiten würde. Einen letzten Blick in Lucas Richtung, bevor ich verschwand. Er grinste immer noch. Aber warum? Grinsen war nicht seine Art, im Gegensatz zu den anderen Jungs seiner Gang. Ich hasste dieses selbstgefällige Grinsen von jedem einzelnen so abgrundtief, besonders Dans. Dann hatte Lucas sich anscheinend in seinem Kopf schon einen brillanten Plan zurechtgelegt. Verdammt. Da konnte ich aber gegenhalten.
Langsam nervte es mich gewaltig. Selbst wenn ich wirklich entführt worden wäre, würde ich nicht wollen, dass man mich alle Meter darauf ansprach und mir tiefstes Mitgefühl aussprach. Selbst Katie, die falsche Schlange, wollte nicht die einzige sein ohne eine gewaltige Spende an Trost. »Wer tut denn sowas? Einfach nur grauenhaft!«
»Ja, echt schlimm. Wenn du mich jetzt entschuldigst…« Ich drängte mich an ihr vorbei, damit ich Lucas und Jess nicht aus den Augen verlor. Leider war das bereits eingetreten. Als ich die Tür am Ende des Gangs öffnete, konnte ich sie nirgends mehr erblicken. Irgendwie war ich ja erleichtert. Ich konnte die Unterhaltung mit Lucas genauso gut noch nach der Schule führen.
Gerade wollte ich mich umdrehen, um zu den anderen zurück zu gehen, da entdeckte ich ihn vor dem Mädchenklo. Er unterhielt sich mit Jess, die selbstverständlich ziemlich angepisst ausschaute. Ob ich einfach dazu gehen sollte? Als Jess dann aber in der Mädchentoilette verschwand, wurde der Gedankengang überflüssig.
Ich atmete einmal kurz ein und aus und trat dann neben ihn. »Hey. Können wir uns kurz unterhalten?«
Er zuckte kurz zusammen und starrte mich dann leicht irritiert an. »Äh. Ja, klar.« Wahrscheinlich war es ihm fremd über was wir uns unterhalten mussten. Er hatte ja keine Ahnung, was mir im Livenus klar geworden ist. »Schieß los. Ich habe nicht viel Zeit.«
Wie reizend. Er musste anscheinend zu seinen Jungs zurück. »Wir können uns ja gerade da hinsetzen«, schlug ich vor und zeigte auf die Bank, die links vor der Bühne stand.
»Also. Keine Ahnung, wo ich anfangen soll, aber es tut mir Leid«, murmelte ich schnell. Eigentlich hatte er meine Entschuldigung gar nicht verdient, wenn man bedachte, was er Jess gerade wieder angetan hatte. Trotzdem schuldete ich es ihm.
»Was?«, fragte er verdutzt.
»Es ist ziemlich kompliziert. Andererseits, vielleicht verstehst du es sogar… besser als andere. Du weißt von Hodded und dass, wenn man ihn anguckt, alles wieder vergisst. Das ist auch damals mit mir passiert. Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich diejenige war, die angefangen hat, dich zu ignorieren – nicht umgekehrt. Wir wollten zusammen verschwinden und da das mit Hodded verbunden war, habe ich es einfach vergessen. Ich war nur ein Kind. Zu Hodded hatte ich kein Bild, zu dir schon. Und da du der wichtigste Bestandteil meines Lebens warst, ist das in meinem Kopf irgendwie quer geraten.«
Stille. »Jetzt sag doch was. Wie kann ich das wieder gut machen? Ich habe das Gefühl dein Leben ruiniert zu haben.«
»Das hast du nicht. Ich bin so geworden, weil ich so nun mal bin. Wäre ich anders, hätte ich mir einfach einen neuen Freund zum Spielen gesucht. Aber ich bin nicht wie Rick. Er kann über alles lachen. Selbst wenn unsere Freundschaft nicht zerbrochen wäre, würde ich mich nicht in den Garten setzen und Schmetterlinge zeichnen.«
Ich musste lachen. »Ja, das würdest du ganz sicher nicht tun. Vielleicht wärst du dann nicht so ein – sorry für den Ausdruck – Arschloch geworden. So bist du aber nicht. Du hast mich mit den anderen gerettet.«
Er seufzte. »Naja. Ich hätte dich da ja schlecht verrecken lassen können. Also keine große Sache.«
»Du musst nicht bei diesen Blödmännern bleiben. Hast du dich bei Jess entschuldigt? Weil dann…«
Er unterbrach mich unsanft: »Diese Blödmänner sind meine Freunde. Möglicherweise hätten sie die einen oder anderen Dinge nicht tun dürfen. Doch sie waren immer für mich da, als es andere nicht waren.« Als ich es nicht war. Es war offensichtlich. Warum sprach er es dann nicht auch aus?
»Das kann sich ändern. Man findet in unserem Alter doch andauernd neue Freunde.« Nicht zuletzt Damian und Brianna, ruf ich mir in Erinnerung. Obwohl ich die noch nicht wirklich als meine Freunde bezeichnen konnte. Ich kannte sie ja nicht mal richtig.
»Mag sein. Ich habe trotzdem kein Interesse eurer komischen Clique beizutreten.«
Ich musste lachen. Allein die Vorstellung…. Nein. Lucas passte da garantiert nicht rein. »Das meine ich ja auch gar nicht. Ich fände es aber schön, wenn wir mal wieder was zusammen machen könnten. So wie in alten Zeiten.«
Was wollte ich damit überhaupt erreichen? Lucas ist älter geworden. Mein Sandkastenfreund wird er garantiert nicht mehr werden. Sagte man nicht, dass Mädchen und Jungs nicht befreundet sein können? Oh, Mist. »Was unternehmen?«, fragte er. Er dachte anscheinend dasselbe. Anscheinend musste ich unsere Verabredung jetzt definieren.
»Du weißt schon… was man in unserem Alter eben tut. Wir könnten einen Kaffee trinken gehen und etwas plaudern.« Was dann passierte, sah man anschließend.
Seine Augen verengten sich. »So etwas mache ich nicht.«
»Okay. Wozu hättest du dann Lust?«
»Das sollte eigentlich eine Abfuhr sein, Poppy. Unser Kapitel endete, als ich dich aus diesem verdammten Baum befreite und dafür fast draufgegangen bin. Man kann nicht alles retten, weißt du?«
Ich schluckte wegen seiner Worte. So etwas Ähnliches hatte Hodded auch mal zu mir gesagt. Du kannst nicht alles retten. Vielleicht hatte ich sie ja auch verwechselt, weil sie beide so pessimistisch sind. Muss man es nicht wenigstens versuchen? Das machte Leben doch in erster Linie aus. Für Sachen zu kämpfen, die einem wichtig waren.
»Dann nicht. Du solltest aber wissen, dass das jetzt gerade nicht nur eine Entschuldigung war. Ich habe nicht als einzige Fehler gemacht. Ich wollte dir eine letzte Chance geben, die in diesem Augenblick an dir vorbei gezischt ist. Schönes restliches Leben noch!« Wenn ich jetzt von hier verschwand, dann wenigstens mit Würde. Nachdem, was er Jess angetan hatte, verdiente er diesen Sieg nicht.
Wenn ich Glück hatte, erwischte ich die anderen noch. Wir wollten noch mal zusammen das Biobuch wälzen. Denn so sehr uns Mrs. Richards heute auch verschont hatte, irgendwas sagte mir, dass Mr. Fell da nicht ganz so mitfühlend sein würde. Andererseits hatte ich heute schon ziemlich oft danebengelegen.
Der Gong konnte heute gar nicht früh genug den Unterricht beenden. Das war natürlich immer so, nur wünschte ich mir den Schulschluss im Moment besonders stark herbei. Erst nach gefühlten Ewigkeiten, konnte ich mich auf den Heimweg machen… oder bessergesagt noch kurz einen Stopp bei der Wiese gegenüber einlegen.
Inzwischen sah ich die Bäume, an denen ich vorbei lief, mit ganz anderen Augen. Sie wirkten plötzlich auf mich wie ungelöste Rätsel. Die gesamte Welt stellte ich plötzlich in Frage. Ich blinzelte in die Sonne. Der Himmel war klar, nur wenige Wolken zogen vorbei. Da oben würde man irgendwann ins Weltall gelangen, nicht in eine verfluchte Welt, die sich Baum nannte… lächerlich.
Der Ballon ist aufgestiegen, aber irgendwo dort musste sich eine Art Portal befinden. Hatte man dieses erstmal erreicht, wurde man wieder von der Schwerkraft angezogen. Nur wo? Am besten, ich dachte nicht länger darüber nach. Auf eine Antwort würde ich ohne weiteres eh nicht kommen.
»Du brauchst da nicht hoch zu starren. Ich bin bereits hier unten.« Bei seiner Stimme zuckte ich kurz zusammen, obwohl ich natürlich irgendwie mit ihm gerechnet hatte.
»Ich weiß, ich-« Ich zögerte. »Egal. Hier, das gehört wohl dir.« Ich zog den Brief aus meiner Hosentasche und überreichte ihn Hodded mit zitternden Händen.
»Ich hätte euch nie gehen lassen sollen. Wusste ich doch, dass du ihn nicht übersetzen kannst.«
»Ich glaube jeder Buchstabe steht für einen bestimmten anderen Buchstaben im Alphabet.« Es brachte zwar nicht viel, trotzdem war es vielleicht eine Chance für die beiden. Unsterbliche hatten immerhin eine Ewigkeit zum Übersetzen Zeit.
»Keine Ewigkeit. Wer weiß schon, ob halbe In-thoughts ebenfalls unsterblich sind«, entgegnete er. »Noch ein Grund, warum ich ein In-thought werden will. Auch, wenn das sicher nicht der Hauptgrund ist.«
»Dann kennst du sicherlich auch die Lösung! Wenn dir das nächste Mal ein kleines, naives Mädchen über den Weg läuft, die dich begleiten will, dann lass sie nicht gehen.« Warum hatte er es damals überhaupt getan? Wegen seines großen Herzens, glaubte ich nachdem, was er mir und meinen Freunden angetan hatte, ganz sicher nicht mehr.
»Du hältst mich für ein Monster. Klar.«
»Es gibt keine Monster. Du hattest eine schlechte Kindheit, die dich zu dem gemacht hast, was du Heute bist. Das Übliche eben. Wenn ich dich damals nicht vergessen hätte, hätte es für dich vielleicht noch eine Chance gegeben. Jetzt ist es zu spät.« Ständig war es das. Es kotzte mich einfach nur noch an.
»Du weißt doch gar nicht, was ich für eine Kindheit hatte.«
»Nein, aber ich kann es mir vorstellen.« Ich seufzte. Verdammte Vorurteile!
»Okay, na dann. Ich werde jetzt gehen.«
»Für immer.« Ich stellte es beabsichtigt nicht als Frage. Es sollte vielmehr eine Bitte oder Aufforderung sein.
Er brauchte eine Weile, bis er antwortete. »Na schön. Ich werde nicht wiederkommen.« WAS?! Wieso sollte er… auf mich hören? Er brauchte doch immer noch sein Menschenopfer? Warum nicht einfach andere Menschen bezirzen.
»Ich wurde erzogen, Poppy. Selbstverständlich weiß ich, dass Menschenopfer nicht in Ordnung sind.«
»Ich denke, das weißt du eben nicht.«
»Doch, verdammt! Verstehe es doch! Ich tat es, obwohl ich mir der Konsequenzen bewusst war. Ein In-thought zu werden, war wichtiger. Warte, ich will es erklären. Ich habe dir nicht alles über mir erzählt.«
»Wow, bin ich schockiert«, murmelte ich mit jede Menge Ironie in der Stimme.
»Es stimmt: Ich kann Gedanken lesen, aber niemanden kontrollieren. Dafür kontrollieren andere mich.«
»Hä? Was?« Manchmal war ich wirklich schwer von Begriff. Lag das nicht auf der Hand, dass In-thoughts sowas tun?
»Ohne es wirklich zu wollen, meine ich. Denken sie gerade irgendwelche Sachen über mich, dann werde gehorchen – ohne Ausnahme.«
»Die In-thoughts oder…«
»Nicht nur die. Alle. Ich hätte dich nie im Leben gehen lassen, wenn ich selbst entscheiden könnte. Du wolltest es, also musste ich es tun. Zwar kann ich zu einem bestimmten Punkt rebellieren. Wie stark, ist immer unterschiedlich. Doch Schlussendlich bin ich meistens nichts weiter als ein Versager. Oder Sklave.«
Das wurde mir gerade echt zu viel. »Und war mit Lucas? Sicher haben wir dich alle dazu kontrolliert, ihn nicht zu töten.«
»Oh, das habt ihr. In der Tat. Deshalb ist es mir bestimmt auch nicht gelungen. Dusk hat mir netterweise etwas geholfen, indem er mir ständig in Gedanken befiel, ihn endlich zur Strecke zu bringen. Ein innerer Kampf, ehrlich. Du hast Glück so viele Freunde zu haben, sodass ihr in der Mehrheit wart.«
Ich war sprachlos. Wirklich. »Deshalb werde ich nicht wieder kommen. Weil du es nicht anders von mir verlangst. Aber eins sollst du zum Schluss noch wissen: Meine Gefühle sind unantastbar. Egal wie sehr du von mir verlangst, dich sympathisch zu finden, ich werde dich immer als das Mädchen in Erinnerung behalten, das mir meine Zukunft verbaute. Zugegeben, zwischenzeitlich mochte ich dich, weil du mir helfen wolltest. Ich wollte dich ja sogar verschonen! Nun, jetzt nicht mehr.«
Wenn man glaubte, eine Situation konnte gar nicht schlimmer werden, wurde man immer wieder vom Gegenteil überzeugt. »Deine letzten Worte, tja, die beruhen wohl auf Gegenseitigkeit«, flüsterte ich. Dann flog er davon. Einfach so. Ohne ein letztes Wort, das auch nur ansatzweise wie eine Verabschiedung geklungen hätte. Irgendwann hatte sich der schwarze Fleck am Himmel aufgelöst.
Man konnte ihn also kontrollieren. Ob ich ihn damals kontrolliert hatte … als Kind? Wollte ich gar nicht fort von hier? Irgendwie schwer vorstellbar. Als Kind, erinnerte ich mich, zogen mich fremde Welten quasi magisch an. In meinem Kinderzimmer stand sogar ein Einhorn-Schaukelpferd. Inzwischen hatte ich die Nase von übernatürlichem Zeugs gestrichen voll. Zum Glück war das magische Portal nun geschlossen – für immer.
Es war fast so, als würde man ertrinken. Ungewöhnlich war es nicht gerade, dass mir so etwas durch den Kopf geisterte. Immerhin zählte es zu meinen größten Ängsten überhaupt. Der See war so schwarz, man konnte nicht mal mehr die eigene Hand vor Augen erkennen. In meinen Ohren dröhnte ein heller Schrei, eindeutig weiblich. Meine Kehle schnürte sich immer weiter zu. Wann erwachte ich endlich aus diesem Albtraum?
Das Licht ging an. »Poppy? Alles okay? Du hast geschrien.« Zwar hörte ich die Stimme meiner Mum, doch war ich zu sehr mit Husten beschäftigt, als dass ich nach ihr Ausschau halten konnte. Hatte ich tatsächlich die Luft angehalten? Anders konnte ich mir den plötzlichen Sauerstoffmangel nicht erklären. »Es war nur ein Albtraum«, flüsterte ich.
◊
Vorsichtig beobachtete ich Camille durch den Spiegel. Sie war hübsch, keine Frage. Ihr blondes, lockiges Haar sah nicht aus wie blondiert. Ob es jetzt ihre Naturhaarfarbe war oder nicht, das konnte ich nicht genau sagen. Ihre blauen Augen strahlten und waren viel wacher als meine. Meine Wimperntusche bröckelte bereits und hatte dunkle Schatten unter den Augen hinterlassen.
Mit jedem Schnitt fühlte ich mich besser, irgendwie befreiter. Es kam mir so vor, als wären meine langen Haare eine Last gewesen, die nun endlich von meinen Schultern fiel. »Du hast so schöne Haare. Ich denke, die würden sich verkaufen lassen.«
Ich wurde hellhörig. »Echt? Wie viel bekomme ich denn dafür?«
»Um die hundert Euro würde ich denken. Hättest du noch ein bisschen länger gewartet, wäre der Betrag vielleicht höher geworden.« Nein. Sie hatten jetzt ab gemusst.
»Ich kenne da eine Firma, die unter Umständen Interesse hätte«, sagte sie und zückte einen Zettel samt Kugelschreiber. »Wenn du mir deine aktuelle Nummer gibst, dann kann ich mich melden.« Warum denn nicht?
Meine Handynummer hatte ich zu Papier gebracht und starrte nun wieder in den Spiegel. Ich mochte mich mit kurzen Haaren, auch wenn es fremd wirkte. Während sie den letzten Schliff tat, nutzte ich die Zeit, um flüchtig die Schatten unter meinen Augen zu entfernen. Wasserfeste Wimperntusche war echt die Hölle. Ich gab auf.
Nachdem sie den schwarzen Kittel entfernt hatte, kam wieder mein pinkes Shirt mit der weißen I-care-Aufschrift zum Vorschein. »Fünfzehn Euro macht das dann.« Ich griff in mein Portemonnaie und bedankte mich noch mal, dass sie das mit der Firma für mich regelte. Zwar war sie irgendwie mit mir verwandt (Cousine zweiten Grades, oder so was), trotzdem war es ja nicht selbstverständlich mir diesen Gefallen zu tun. »Wir sehen uns, Camille«, verabschiedete ich mich.
»Ja. Zum nächsten Frisörtermin.« Mehr Kontakt hatte ich mit meiner Cousine zweiten Grades eigentlich auch nicht, außer dass sie mir die Haare machte.
Ich bog links in die Fußgängerzone ein, wo sich Young Happiness, mein absoluter Lieblingsklamottenladen, befand. Shoppen war gerade genau das Richtige, um auf andere Gedanken zu kommen. Mein Handy hatte ich heute extra im Stummmodus, um ja nicht gestört zu werden. Jeder Mensch brauchte mal Zeit für sich alleine.
»Hallo«, grinste mich die Verkäuferin entgegen. Sie kannte mich schon, weil ich hier so treuer Kunde war. »Heute mal ohne deine blonde Freundin hier? Dafür aber mit neuer Frisur. Steht dir«, sagte sie mit ihrem russischen Akzent.
»Danke«, lächelte ich zurück und begann mich im Sortiment umzuschauen. Leider wusste die Verkäuferin, dass ich nicht gerade sparsam war, was das Geld anging. Sie suchte mir gleich Kleider heraus, die extra kosteten, so meine Theorie.
»Was hältst du von dem hier?« Sie hielt mir einen pink-grau-verwaschenen Pullover hin, auf dem stand: Cute. »Äh, nein. Eher nicht. Ich dachte mir, ich wollte wohl was anderes ausprobieren.«
Sie zog neugierig die Augenbraue hoch. »Ja? In wie fern denn? An was dachtest du?«
Ich zog die Bügel nach und nach beiseite, bis ich schließlich bei einem Oberteil hängen blieb, das mir gefiel. »Etwas in der Art.«
»Kind, was ist denn passiert?« Sie war ziemlich schockiert, weil ich ihr eine pechschwarze Bluse entgegenhielt.
»Nichts. Es ist nur Zeit für Veränderungen.« Ich hielte die Bluse über meinen rechten Arm und zog ein weiteres Oberteil hervor. Ebenfalls schwarz, mit den grauen Buchstaben: Me against the world.
»Die probiere ich mal an«, teilte ich der Verkäuferin mit.
»Sicher. Aber wenn Sie eine Typerneuerung planen, dann brauchen Sie doch noch jede Menge mehr.« Klar, dass sie das jetzt ausnutzte, auch wenn sie Recht hatte.
»Vermutlich«, mit diesen Worten machte ich mich auf den Weg in die Kabine.
Ich hatte gerade mein Oberteil ausgezogen, da nahm ich plötzlich von draußen eine bekannte Stimme wahr. Jess! »Ich würde gerne dieses Oberteil umtauschen, was ich letztens bei Ihnen gekauft habe.« Cambridge war zwar nicht besonders groß, aber musste sie Young Happiness ausgerechnet dann aufsuchen, wenn ich gerade hier war?
»Haben Sie den Kassenbonn dabei?« Sie klang nicht begeistert. Umtausch bedeutete immer Geldverlust. Mich wunderte es überhaupt, dass Jess hier shoppen ging. Erin kaufte hier auch nicht gerne ein, weil es ihr immer zu teuer war. »Aber natürlich«, antwortete Jess.
»Darf ich fragen, warum Sie es umtauschen möchten?«
»Es kratzt irgendwie. Ist mir erst hinterher aufgefallen.« Ob ich einfach rausgehen sollte? Das Oberteil hatte ich ja angezogen und sonst wunderte sich die Verkäuferin sicher warum ich so lange brauchte. Unsicher trat ich aus der Kabine. »Hi Jess«, begrüßte ich sie.
»Poppy. Wow, du hast deine Haare kürzer.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, ich wollte mal was anderes probieren. Das Oberteil passt übrigens«, sagte ich an die Verkäuferin gewandt und legte es schon mal rüber zur Kasse.
»Kannst du deine Freundin nicht überzeugen, dass das ein ganz wunderbares Oberteil ist, was sie da gekauft hat?« Die Verkäuferin schaute flehend zu mir rüber.
»Ich fürchte nicht. Jess hat da ihren eigenen Kopf.«
»Seit wann trägst du schwarz?«, fragte Jess verdutzt. Seitdem mir pink zu quietsche fröhlich geworden ist. »Seit jetzt.«
-Zoes Sicht-
»Einen Cappuccino, bitte. Und etwas von dem Erdbeerkuchen.« Das Bistro war heute besonders voll, musste ich zu meinem Bedauern feststellen. Hoffnungsvoll schaute ich mich um. Doch ich erblickte kein vertrautes Gesicht aus der Schule oder von sonst wo. Ob das wohl wegen der Taste of Cambridge Crab Cook-Off so voll war? Mich interessierte dieses Event nicht mehr, weil wir dort alle Jahre teilnahmen. Aber die Leute kamen aus aller Welt, um unsere Kleinstadt zu besuchen.
»Ist hier noch frei?«, fragte ich ein braunhaariges Mädchen, das am Fenster einen Brownie verputzte. Sie nickte nur, da ihr Mund anscheinend voller Kuchen war.
»Wohnst du hier?«, fragte mich das Mädchen mit einem Akzent, der entweder deutsch oder niederländisch sein musste.
»Jep. Geboren und aufgewachsen.«
»Echt tolle Stadt. Das muss ich schon sagen.« Ihr Englisch war ziemlich abgehackt, aber ich konnte sie dennoch verstehen.
»Woher kommst du?«, fragte ich sie.
»Deutschland.« Hab ich’s doch gewusst. Mann, war ich gut.
Ich schaute mich weiterhin nach einem bekannten Gesicht um. Das konnte doch nicht sein. Freitagnachmittags im Sommer, wimmelte es hier in der Regel nur so von Schulkammeraden. »Du suchst jemanden, oder? Diesen Jungen da? Er guckt dich an die ganze Zeit.« Ihren komischen Satzbau ignorierend, folgte ich ihrem Blick zu dem Jungen, der mich anscheinend anstarrte.
Es war David, der mutterseelend allein an seinem Brötchen kaute. Warum kam er nicht zu mir rüber? Etwas angepisst, dass er mich einfach ignorierte, winkte ich provozierend auffällig. Er senkte den Blick, nahm dann aber doch seinen Teller und kam zu uns. »Du kennst ihn? Kein Stalker?«
Ich musste lachen. »Nein, er ist kein Stalker.«
»Hey, warum hast du dich nicht einfach zu mir gesetzt? Ich beiße schon nicht«, begrüßte ich ihn scherzend.
»Ja, du weißt schon. Erin hat es doch bestimmt erzählt. Ich will mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben. Ich passe da nicht rein.« Ach, richtig. Erin wollte mit ihm zusammen sein, David aber nicht.
Der Kopf des deutschen Mädchens huschte zwischen uns hin und her. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Da geht es dir wie mir«, murmelte ich. »Das mit dem da passe ich nicht rein, ist doch völliger Quatsch, David. Eigentlich passt niemand irgendwo rein. Am Ende stehen wir doch nur für uns selbst.« Gedankenverloren spielte ich mit dem Löffel meines Cappuccinos.
»Habe ich was verpasst?«, fragte David verwirrt. Ich seufzte.
»Die meisten Freundschaften gehen irgendwann in die Brüche. Wir geben alle Lucas die Schuld dafür, aber unsere Clique entfernt sich nicht wegen ihm langsam voneinander. Lou und ich zum Beispiel. Das habe allein ich verbockt, wegen meiner Lügen.«
»Dabei hätte der Ausflug uns doch zusammenschweißen sollen, nicht?«, lachte David.
»Das hat er sicherlich. Nur ist Annäherung nicht immer zwangsläufig etwas Gutes.«
»Soll Ausflug irgendeine versaute Metapher sein?«, fragte die Deutsche. »Denn wenn dem so ist, lässt Gras drüber wachsen.« Sie drehte sich zu David. »Man nutzt Mädchen nicht auf diese Weise aus. Du weißt doch, dass du tief in dir Gefühle für sie empfindest.« Jetzt war ich an der Reihe: »Jungs! Was erwartest du? Sie werden dich nicht gleich heiraten wollen. Gebe ihm Zeit.« Wow. Sie verstand wirklich nichts.
»Äh, ja. Was ist das deutsche Wort für Nerd?«, fragte ich David.
»Ich weiß, was Nerd ist«, entgegnete sie.
Ich zeigte auf David. »Er ist ein Nerd. Der Nerd meiner Freundin. Nein, falsch. Ex-Nerd.«
Jetzt schien ihr ein Licht aufzugehen. »Ah! Puh! Zum Glück! Sonst müsste ich nämlich verschwinden. Ich bin nicht gerne das dritte Rad am Wagen bei unangenehmen Situationen. Wie heißt ihr eigentlich?«
»Ich bin Zoe und das ist David.«
Das Mädchen nickte. »Ah. Ich heiße Annika.«
Ein Mädchen mit schulterlangen, hellbraunen Haaren trat neben den Tisch und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Deutsch vermutlich. Annika antwortete und wand sich anschließend zu uns in Englisch: »Das ist meine Schwester. Wir wollen weiter. Tschüss, dann.«
»Bye«, verabschiedete ich mich.
»Und? Gehst du da auch gleich hin?«, fragte mich David. Den Kopf hatte er auf sein Handy gerichtet. Neugierig schaute ich ihm unauffällig über die Schulter. Könnte ja sein, dass er doch wieder Kontakt zu Erin hatte. Doch alles was ich sah: Er hatte Google aufgerufen, um sich über Universitäten zu informieren. Ich gähnte theatralisch.
»Nicht schon wieder. Dieses Jahr passe ich wohl.«
Er nickte abwesend. »Stimmt. Ist doch eh immer das Gleiche.« Er hob den Blick. »Lou und du habt doch bestimmt schon die Aufgaben in Geschichte nachgearbeitet, oder?« Unser Streberduoruf …
»Keine Ahnung, was mit Lou ist, aber … ja, habe ich.« Mich ärgerte es, dass er das überhaupt fragen musste. »Sag nicht, du willst abschreiben?!« Ich tat gespielt entsetzt.
»Natürlich nicht. Ich habe selbstständig alles nachgearbeitet.« Wie hätte es auch anders sein können. »Nur bin ich mir bei sehr vielen Sachen, die ich aufgeschrieben habe, nicht ganz sicher. Vielleicht könnten wir uns ja austauschen?«
Ich lachte. »Geschichte fand ich eigentlich ziemlich einfach. Könnte daran liegen, dass ich über das Thema mal einen Film gesehen habe.«
»Gut, dann beruht der Austausch eben nicht auf Gegenseitigkeit.« Mir gefiel der Gedanke, dass ich besser vorbereitet war als David. Lernen war zwar total ätzend, aber Streber zu sein ganz sicher nicht. Wissen ist Macht, oder wie hieß es noch gleich? Mag sein, dass ich mich anfangs nur zu Lou gesellt habe, weil sie ein Streber war und die Einzelgänger sind.
Inzwischen mochte ich mein Leben – so wie es ist. Ich war gerne ein Streber, der seine beste Freundin leider unheimlich doll vermisste. Irgendwie musste ich es wieder gerade biegen.
»Und? Was sagst du zu meinem Angebot?«
»Ist gebongt.«
Sein schwarzes Kapuzengesicht befand sich direkt vor mir. Nichts war zu erkennen, obwohl er unmittelbar gegenüber von mir stand. »Du hast mein Leben ruiniert«, schluchzte ich.
»Du glaubst ich hätte deins ruiniert? Nein, du hast meins ruiniert wie du es so wunderbar kannst. Du denkst, du kannst das Leben von einer Person zum Besseren wenden? Du ruinierst es eher, wie das von Lucas und deiner Mutter. Mich mal außenvorgelassen.«
Zum gefühlten tausendsten Mal wachte ich schweißgebadet aus meinem Albtraum auf. So konnte das definitiv nicht weitergehen. Ich brauchte Abstand von meinem Leben. Ob meine Eltern mich irgendwo Urlaub machen ließen? Diesen Ort konnte ich definitiv nicht mehr ertragen. Ich starrte auf den Wecker. Es war vier Uhr – noch mitten in der Nacht. Nur wollte ich nicht mehr einschlafen. Es würde eh nicht lange dauern, bis ich wieder erwachte, so unruhig war mein Schlaf. Möglicherweise sollte ich gleich morgen Früh mit Mum zum Arzt und mir Tabletten verschreiben lassen, oder sonst etwas, das mich beruhigen könnte.
Jetzt würde ich definitiv nicht mehr zur Ruhe kommen. Um irgendetwas zu tun, ging ich rüber zum Schreibtisch und kramte in der Schublade nach Zettel und Stift. Als ich fündig wurde, setzte ich mich hin, um mir alles, was mir im Kopf spukte, von der Seele zu schreiben:
Das ist nicht fair. Du bist verschwunden, für immer. Aber hast du schon mal daran gedacht, dass du mich so nicht einfach zurücklassen kannst? Ich weiß noch alles. Jedes verdammte Detail. Und es zerreißt mich von innen, warum auch immer. Ich würde es ja nicht zulassen, aber ich kann nicht anders. Eine Vorwarnung wäre nicht schlecht gewesen. Aber sei’s drum. Möglicherweise könnt ihr ja überhaupt gar keine Träume kontrollieren und ich werde einfach nur wahnsinnig.
Das eine oder das andere: Du wirst diesen Brief hoffentlich nie lesen. Das würde nämlich bedeuten, du hast dein Versprechen mir gegenüber eingehalten. Aber ich vertraue dir nicht mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass du ihn doch liest, ist gar nicht mal gering. Und darauf muss ich jetzt bauen. Du musst wiederkommen – ein letztes Mal. Ich muss dich vergessen. Wenn du es damals konntest, warum dann nicht jetzt? Klar. Ich bin kein Kind mehr. Ich sollte mit der Wahrheit umgehen können. Nur kann ich es nicht.
Es ist der einfache, leichtere Weg, nicht unbedingt der bessere – ich weiß. Ich erzähle dir etwas übers Kämpfen, wenn ich es selbst nicht mal geschissen bekomme. Lieber lebe ich mit einer Lüge, anstatt so. Es wird sich auch nicht zum Besseren ändern können. Selbst wenn die Zeit vergeht, erinnerst du mich an all mein Versagen. Bei dir habe ich versagt. Du bist der Grund, warum ich dasselbe auch bei Lucas verbockt habe. Also bringe es wieder in Ordnung! Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl!
◊
Der Regen auf meiner Haut fühlte sich unglaublich erfrischend an. Meinem Schlafmangel tat das besonders gut. Den Zettel hatte ich in meine Hosentasche geknüllt. Dieses Mal würde ich den Brief wohl nicht nur unter einen Stein legen, sondern irgendwo, wo kein Regen hinfiel. Jenes Haus samt Gruselfrau, eignete sich perfekt dafür.
Konnte ich sie überhaupt noch Gruselfrau nennen? Verglichen mit dem Rest ihrer Familie war sie quasi die Biene Maja, die jeder mochte.
Die Monate zogen ins Land, ohne dass sich der Zettel auch nur Millimeter bewegte. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich aufgegeben. Sprich, der Brief landete in meinem Papierkorb. Ich hätte meine Erinnerungen löschen können, wenn ich Hoddeds Mutter nach dem schwarzen Ballon gefragt hätte. Wenn ich zu ihm zurückgekehrt wäre. Doch das Risiko, dass sie mit diesem Messer auf mich warten würden, war mir zu groß.
Ich könnte Hodded kontrollieren es nicht zu tun, nur wäre er mit Dusk zusammen stärker, wenn ich alleine aufkreuzte. Meine Freunde wollte ich, aus dieser Sache, für den Rest meines Lebens heraushalten. Ihre Leben würde ich nicht noch mal riskieren. Und wer garantierte mir, dass er dort drüben nicht mit einer ganzen In-thought-Armee auf mich wartete? Das war sicher seine Absicht. Er durchkreuzte meine Träume, damit ich ihn anflehte meine Erinnerungen an ihn auszulöschen. Er plante, dass ich zurückkehrte. Nein! Nicht mit mir!
Egal, was auch passierte, ich würde stark bleiben. Nie wieder würde ich auch nur einen Fuß in diese Welt setzen. Das schwor ich mir.
»Das macht dann neunundneunzig Cent.« Ich durchforstete mein Portmonee nach einem Dollar. »Verreist du?« Die Verkäuferin kannte mich, weil die Stadt klein war und hier alle hingingen, wenn sie mal ein-Dollar-Sachen benötigten. Außerdem war sie die Mum von Charlie, einem Jungen, der eine Stufe unter mir war.
»Kann man so sagen«, erwiderte ich.
»Das ist auch richtig. Den Abschluss hast du in der Tasche. Die Zeit danach sollte man nutzen, um so viel wie möglich von der Welt zu sehen.«
»Naja, soweit soll die Reise gar nicht gehen.«
»Auch gut. Man möchte ja die Möglichkeit haben, zu seinen Lieben zurückzukehren.« Nachdem ich mich verabschiedet hatte, zog ich meinen Trolley in die Straße, die sich gleich rechts gegenüber befand.
Vorher öffnete ich noch den Reißverschluss, um das Helium mit der Aufschrift Partyspaß herauszuholen. Es war nicht viel, aber für einen Ballon reichte es mindestens. Jetzt hatte ich hundert pinke Luftballons, die ich am Ende alle in die Tonne kloppen könnte. Ich brauchte nur einen, um endlich mit der Sache abschließen zu können. Ich würde Hoddeds Mutter nicht nach dem schwarzen Ballon fragen, sondern einen pinken steigen lassen.
Der Ballon wurde immer größer. Nachdem der Knoten befestigt war, ließ ich los. Er stieg auf, wie es der schwarze auch einst getan hatte. Da oben musste sich doch etwas befinden. Ein Zugang oder wirklich ein Portal. Wo befand sich diese verdammte Welt sonst? So oft hatte ich mir diese Frage gestellt, wenn ich den Himmel auch nur angeschaut hatte. Doch das Heute war anders. Es sollte das Ende sein. Ich erlaubte dieser Frage den Zugang zu meinen Gedanken nicht.
Nur wie war es so oft? Wenn man krampfhaft versuchte, an eine Sache nicht zu denken, dann tat man am Ende genau das.
-10 Jahre später-
Mein Blick fixierte ungewollt den Boden. Es bildete sich eine verdammte Pfütze.
Ein und Ausatmen, Poppy. Es ist ganz simpel. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Jetzt war es zu spät. Ich würde nie wieder die Poppy werden können, die ich mal war. Wer war die neue Poppy? Ich wollte gar nicht daran denken. Meine Beine gaben unter mir nach, obwohl ich krampfhaft versuchte dagegen anzukämpfen. Die Pfütze durchtränkte meine Jeans. Als ich dann so an mich herunter sah, begann ich zu weinen.
Man denkt nie wirklich über seine Persönlichkeit nach. Keiner hat nur eine Facette an sich. Wir haben alle eine dunkle Seite, so wie wir auch alle eine helle Seite in uns tragen. Das wurde mir erst jetzt wirklich vor Augen geführt. Trotz allem, was passiert war, würde ich mich hier nicht als Bösewicht ansehen. Aber wer tat das schon? Keiner würde von sich behaupten er wäre böse, außer vielleicht ein richtiger Psychopath.
Hatte ich einen Fehler gemacht? Nein, versuchte ich mir immer wieder einzureden. Wäre das hier ein Film und man würde mich hier blutdurchtränkt vor einer Leiche knien sehen, in der rechten Hand noch das tropfende Messer, dann wäre ich zweifelsfrei der Bösewicht in der Geschichte. Aber das hier war kein Film, sondern die Realität. Manchmal musste man Opfer bringen, wenn man für eine Sache kämpfte.
Meine Sicht war vor lauter Tränen total verschwommen, trotzdem hörte ich noch einwandfrei – die Stimme von Dusk. Er zeigte sich mir offensichtlich durch dieses Gedankenoffenbarungsdingens. Unmöglich hätte er mir so schnell folgen können. Die andere Option wäre, dass ich verrückt wurde, doch ich wollte lieber Möglichkeit Nummer eins für wahr erklären.
»Ich bin gerade aufgewacht, Poppy. Du warst weg, bist es immer noch.«
»Ja, ich bin weg«, erwiderte ich, obwohl er meine Antwort eh nicht verstehen könnte.
»Keine Ahnung, was du vorhast – oder bereits hinter dir gebracht hast-« Letzteres. Definitiv. »-aber ich dachte wir hatten einen Plan.«
Der Livenus sollte immer die Lösung für alles sein, doch das war idiotisch. Der Plan, den sich die anderen so optimistisch ausgedacht hatten, war scheiße. Alles hatte dort seinen Preis. Das, was ich getan hatte, nicht. Zwar musste ich jetzt mit der Sache leben können, doch wenigstens zahlte nur ich dafür – und nicht wir alle womöglich.
»Komm zurück. Es gibt da etwas, was du wissen solltest. Ich ahne nämlich, was du glaubst tun zu müssen… und ich schwöre dir, wenn du-« Der Zorn in seiner Stimme stieg bis ins Unermessliche. »Wenn du davon wüsstest, dann hättest du es nie in Betracht gezogen. Ich kann nur für dich hoffen, dass du noch nicht so weit warst, denn falls doch, dann werde ich es dir erzählen. Du wirst mit dir selbst nicht mehr leben können, was ohne diese Info womöglich auch schon der Fall sein wird. Doch dann ist es noch eine Stufe extremer.«
Ich schluckte. Er machte mir keine Angst. Nichts, egal welche Info, hätte mich daran hindern können, das einzige Vernünftige zu tun. Natürlich wusste ich, dass es falsch war. Man hätte vorher alles Erdenkliche versuchen sollen, was nicht hier mit enden würde. Mord sollte man generell nie in Erwägung ziehen. Doch umso länger wir brauchten, desto mehr gerieten die Leben Unschuldiger in Gefahr.
Was sollte als nächstes passieren? Meine blutdurchtränkte Kleidung wechseln würde die Tat nicht ungeschehen machen. Sie würden früher oder später davon Wind bekommen. Weglaufen könnte klappen. Nur würde es dann so rüberkommen, als ob ich mich dafür schämte. Sie sollten es ruhig wissen: Ich mochte ein Leben genommen haben, doch ein anderes war dafür gerettet.
Der Rückweg fühlte sich an wie Ewigkeiten, denn ich bezahlte den Preis bereits. Wortfetzen flogen mir durch den Kopf, die ich plante laut auszusprechen. Doch keiner ergab davon irgendeinen Sinn. Ich überlegte, wer von ihnen mir wohl am ehesten verzeihen konnte. Und das war das größte Problem. Mir fiel kein Name ein. Ich sah nicht nur aus wie eine Mörderin, ich war auch tatsächlich eine.
Ich drehte mich um. Nein, immer noch regungslos. Das sollte eigentlich ein gutes Zeichen sein, doch gerade wünschte ich mir, dass wenigstens der kleine Finger kurz zu zucken begann.
-Vor 10 Jahren, Sicht des Livenus-
Sie ist das Mädchen im pinken Kleid, welches gerne mit Barbies spielt. Sie ist eine begeisterte Geschichtenerzählerin, leider unfähig ihre eigene zu erzählen. Der Grund dafür ist für die meisten kaum ersichtlich, da er eigentlich gar nicht existieren sollte. Doch er tut es trotzdem:
Er ist der Junge, der Spielzeug nicht mal anrührt. So klein er auch sein mag, für Kindheit hat dieser keine Zeit. Sein Leben steht Kopf. Dieses wieder gerade zu biegen ist wichtiger, als jedes schnelle Spielzeugauto. Das kann er bereits mit so jungen Jahren sagen, da sein Gehirn anders funktioniert als das normaler Menschen.
»Keine Angst vor meinen Gedanken. Der Junge, Lucas, ist nett. Wir können ihn mitnehmen.« Die Worte des Mädchens zogen den Jungen in seinen Bann, fast als wollten sie wahrgemacht werden. »Wir können auf ewig zusammenbleiben.« Der Junge mit der Kapuze hatte das Bedürfnis, diese Worte Wirklichkeit werden zu lassen. Nur fühlte er sich nicht wohl dabei. All die Jahre, seitdem er existierte, hatte er sich gewünscht einen Menschen zu treffen, der seinen Wunsch erfüllen konnte. Doch er war mit den Folgen vertraut.
Von Dusk wusste er, dass man dagegen ankämpfen konnte. Es erforderte Übung. Bislang hatte der Kapuzenjunge den Dreh noch nicht raus. Er hatte lediglich festgestellt, dass es ihm einfacher fiel, wenn jemand ihn zu etwas kontrollieren wollte, dass er auch wollte. Schokoladeneis, beispielsweise. Schokoladeneis konnte er ironischer Weise mit Leichtigkeit wiederstehen. Wenn er es aber selbst nicht wollte, war das schon schwieriger. Hätte es nicht andersrum sein können?, hatte er sich schon so oft gefragt.
Leider nicht. Das Leben ist hart und unfair, denn ansonsten lernt man nicht dafür zu kämpfen. »Du hast Glück, dass du mich an jemanden erinnerst, den ich früher mal kannte. Ich war da noch so klein, dass ich mich eigentlich nicht erinnern sollte. Aber mein Gehirn funktioniert da wohl so wie das eines In-thoughts. Also werde ich dich gehen lassen.«
»Gehen? Was? Nein! Wir wollten doch zusammen in eine andere Welt fliehen – mit Einhörnern und all dem.« Der Kapuzenjunge konnte dem Drang nicht wiederstehen und wollte starten. Tausende Ballons offenbarten sich.
»Warum sind die Ballon alle schwarz?«
»Weil ich so nun mal bin.«
»Ich glaube ein oder zwei pinke Ballons dazwischen würden sicherlich nicht schaden.« Der Satz war nicht lang. Doch lang genug, um ihn daran zu erinnern, dass das kleine menschliche Mädchen mit den braunen Haaren, ein besseres Leben verdient hatte. Das hatte sein Vater doch selbst gesagt, auch wenn er unbedingt wollte, dass Hodded einen Menschen mit Nachhause brachte.
Bevor Poppy etwas sagen konnte, was ihn hätte umstimmen können, zog er seine Kapuze vom Kopf und schob die Maske beiseite. Poppy blickte in ein Gesicht, das hier nicht her gehörte, das eigentlich nirgendwo hingehörte. Trotzdem war es perfekt, auf seine eigene Art und Weise.
Es könnte etwas für die Ewigkeit werden, wenn sie ihn nicht vergessen hätte, als sie sein wahres Gesicht erblickte. So hätte es sein müssen, immerhin wollte Poppy es damals so und Hodded wurde von ihr kontrolliert. Doch manchmal, wenn unsere Gefühle stärker sind, dann lernen wir zu kämpfen. Dann ändert sich der Alltag, der Lauf des Lebens. Dinge passieren, die so eigentlich nicht hätten passieren sollen. Wenn wir diesen Fehler akzeptieren, passiert etwas unerwartetes, was sich unter Umständen als viel besser herausstellen wird.
»Ich könnte dich wirklich mögen, wenn all das nicht dein Leben versauen wird.« Und somit änderte sich die Gesichte zwischen dem Mädchen im pinken Kleid und dem Jungen in der schwarzen Kapuze. Sie drehte sich um, ohne auch nur einen letzten Gedanken an ihn zu verschwenden. Und er war erleichtert, dass er wieder allein heimkehrte. Bis sich die Geschichte irgendwann wieder verändern wird. Das Leben ist wie eine Sanduhr. Es wird immer wieder umgedreht, wenn der alte Sand verbraucht ist.
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2015
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Widmung:
Für alle, auch für die Leute von euch mit Fehlern... vorallem die ;)