Heiße Luft schlug mir entgegen, als ich oben an der Gangway stand. Hinter mir drängelten meine Kollegen und forderten mich mit sanften Schubsern auf, endlich die Stufen hinunter zu gehen. Nairobi! Endlich waren wir da! Vor sieben Monaten hatte ich mich bei ›Ärzte ohne Grenzen‹ beworben, vor drei Wochen bekam ich die Zusage und den Einsatzbefehl. Ewald, mein Chef und Eigentümer der Klinik für plastische Chirurgie, in der ich arbeite, hat mich ohne mit der Wimper zu zucken freigestellt. Er schien froh zu sein, mich ein halbes Jahr nicht mehr sehen zu müssen. Dann konnte er ungestört seinen Neuen ficken. Seit dieser Schnösel von Assistenzarzt bei uns angefangen hatte, war bei uns Schicht im Schacht. Drei Jahre Beziehung nicht mehr existent. Die Abwechslung würde mir gut tun und mich von meinem Liebeskummer ablenken. Es gab Wichtigeres als einer Liebe nachzuweinen, die eigentlich keine Träne wert war. Sollte er doch glücklich werden mit seinem Lackaffen.
Da wir erwartet wurden, waren die Zollformalitäten schnell erledigt. Wir, das waren Kurt, ein Orthopäde, Klaus, der Unfallchirurg, Gabi, die Internistin und Flo, unser Anästhesist. Für uns alle war es der erste humanitäre Einsatz. Als wir unsere Koffer und Taschen durch die Halle schleppten, begegneten wir jenen Kollegen, für die wir die Ablöse waren und die sich auf den Heimweg machten. Fröhlich umarmten sie uns, wünschten noch viel Glück und machten sich auf den Weg zum Gate.
Der Kleinbus, in den wir verfrachtet wurden, sah nicht sehr vertrauenswürdig aus. Gott sei Dank besaß er eine Klimaanlage. Sechs Monate Hitze und stark eingeschränkte Lebensbedingungen lagen vor uns. Ich sah aus dem Fenster und ließ Nairobi vorüberziehen. Die Stadt war völlig überfüllt und wir kamen an Menschen vorbei, deren einziger Wunsch es war, den Tag zu überleben.
»Hast du es dir so vorgestellt?« Flo, der neben mir saß, starrte fassungslos auf die Slums, durch die wir fuhren.
»Ja. Irgendwie schon.« Ich überlegte, wie es wohl in dem Camp aussehen würde in dem wir arbeiten sollten. Wahrscheinlich nicht viel besser, schoss es mir durch den Kopf. Das Gegenteil würde wohl eher der Fall sein.
Seit zwei Tagen waren wir nun im Camp. Ich wurde gemeinsam mit Flo zur ›Erstversorgung‹ eingeteilt. Bilder, die man sonst nur aus dem Fernehen kannte, ließen mich nachts des Öfteren hochschrecken. Flo, der sich mit mir das Zimmer teilte, ging es nicht anders. Wir waren in einer baufälligen Baracke untergebracht und es war nicht selten, dass man sich das Bad mit Spinnen, Käfern und sonstigem Getier teilen musste. Ich war gegen solche Mitbewohner resistent und auch mein Zimmergenosse nahm es gelassen, wenn ihm eine handtellergroße Spinne beim Duschen zusah.
An unserem Einführungstag, der in Wien stattgefunden hatte, wurden wir auf darauf hingewiesen, dass siebzig bis achtzig Prozent der Patienten HIV positiv waren. Das Kaposisarkom kannte ich bislang nur aus Büchern und von Dias - jetzt begegnete es mir fast jeden Tag. Kinder mit Aids im Endstadium waren keine Seltenheit.
Jedem von uns hatte man eine erfahrene Krankenschwester zur Seite gestellt, welche gleichzeitig auch als Dolmetscherin fungierte. Malaika, der Engel an meiner Seite, war eine ca. fünfzigjährige Frau aus einem Dorf ganz in der Nähe und schon von Anfang an im Camp. Die Ausbildung zur Nurse hatte sie in Nairobi gemacht. Englisch säuselte sie mit einem lieblichen Akzent, schon frühmorgens begrüßte sie mich mit einem fröhlichen Lächeln, das den ganzen Tag über nicht aus ihrem Gesicht verschwand.
Wir nahmen unsere Mahlzeiten immer gemeinsam ein und Malaika erzählte mir von ihrer großen Familie. Ihr Mann war vor Jahren bei einer Stammesfehde ums Leben gekommen und so musste sie ihre Familie alleine über Wasser halten. Drei Töchter waren verheiratet und in andere Regionen gezogen. Eine Tochter trat in die Fußstapfen ihrer Mutter und machte in Nairobi die Ausbildung zur Krankenschwester. In den Ferien kam sie nach Hause und half auch ab und an im Camp mit. So hatte sie nur noch ihren jüngsten Sohn, ihre Mutter, ihre Schwiegermutter und zwei Schwestern daheim. Da alle recht genügsam waren und fleißig gespart hatten, war es Malaika möglich gewesen, ihren ältesten Sohn studieren zu lassen. Amaru studierte Medizin und absolvierte gerade im Acacia Medical Centre in Nairobi seine Ausbildung zum Anästhesisten. Malaika hatte mir stolz ein Foto von Amaru gezeigt und ich musste mich bemühen, nicht zu sabbern.
Ein wunderschönes Gesicht war auf dem Bild zu sehen. Der junge Mann besaß sinnliche Lippen, dunkle, fast schon schwarze Augen und ein Lächeln, das mein Blut in Wallung brachte. Nur widerwillig gab ich das Foto zurück. Gab es eine Liebe auf den ersten Fotoblick? Beim Einschlafen wie beim Aufwachen sah ich den schönen Mann vor mir. Ich musste ihn unbedingt kennenlernen.
»Dr. Brünner! Dr. Brünner!« Ich war gerade dabei, ein kleines Mädchen mit einer Platzwunde am Kopf zu versorgen, als unser Pfleger Jerry aufgeregt auf mich zulief. Ich konnte nur noch Malaika bitten, den Verband anzulegen, da wurde ich schon weggezerrt. Vor mir lag ein kleines Mädchen. Flo kniete neben ihr und sah mich verzweifelt an.
»Sie wurde von einem Moped angefahren. Die Pupillen sind unterschiedlich groß und sie ist seit ihrer Ankunft bewusstlos. Vermutlich hat sie eine Hirnblutung. Babinski ist positiv. Sie muss sofort operiert werden, aber eine Fahrt nach Nairobi überlebt sie nicht. Der Hubschrauber steht uns erst in zwei Stunden zur Verfügung.«
Ich überprüfte nochmals die Pupillen und Reflexe. Flo hatte Recht, die Kleine hatte eine Hirnschwellung oder -blutung. Auf alle Fälle musste ihr eine Drainage gelegt werden.
»Wo ist Klaus? Der könnte sie operieren. Oder der Amerikaner, der ist doch auch Chirurg?«, fragte ich Flo beunruhigt. Wir mussten schnell handeln.
»Von denen kann keiner weg, sie stehen beide selbst am Tisch. Du musst sie öffnen. Ich mache die Narkose und Malaika kann dir instrumentieren.« Flo schickte sogleich Jerry zu Malaika und bat ihn, den dritten OP herzurichten.
»Sag mal, spinnst du?! Ich kann keinen Schädel öffnen! Ich bin plastischer Chirurg und kein Neurochirurg!«, fuhr ich Flo an. Wie stellte er sich das vor? Das letzte Mal, als ich bei einer Schädeloperation dabei war, lag Jahre zurück und selbst da hatte ich nur assistiert. Das ›Reinschnuppern‹ in die verschiedenen chirurgischen Bereiche gehörte zu meiner Ausbildung. Für mich stand bereits sehr früh fest, dass ich in die plastische Chirurgie gehen würde.
»Du bist alles, was diese Süße hat, Michael. Ihre einzige Überlebenschance.« Flo half mit, die Kleine in den OP zu bringen und mir blieb nichts anderes übrig als mich ›waschen‹ zu gehen.
Ich stellte mir die Eieruhr, die über dem Waschbecken stand. Fünf Minuten die Hände bis zum Ellbogen mit einer speziellen Seife reinigen, danach noch fünf Minuten die gleiche Prozedur mit einem Desinfektionsmittel. Ich bevorzuge Sterilium. Es ist rückfettend und ich rieche es gerne. In Gedanken ging ich die Schritte durch. Mir war nicht wohl bei der Sache. Als der Wecker das zweite Mal klingelte, drückte ich mit der Schulter die Tür auf und Malaika half mir beim Anziehen der OP-Kleidung. Steriles Arbeiten beherrschte ich im Schlaf. Es war nur keine Fettabsaugung oder Straffung, die ich nun vornahm. Ich musste einem kleinen Mädchen ein Loch in den Schädel bohren.
»Sie ist so weit. Du kannst anfangen.« Flo nickte mir aufmunternd zu.
»Ist sie stabil?«
»Im Moment ja, aber ich würde nicht trödeln.« Flo blickte auf die wenigen Apparate, die ihm die Vitalzeichen des Mädchens anzeigten.
Es war kein Vergleich zu den hypermodernen Geräten, die wir in unseren heimischen Operationssälen stehen hatten. Ich trat an den Tisch und Malaika reichte mir das Skalpell und eine Pinzette. Erst jetzt fiel mir auf, wie ungewohnt diese Handschuhe waren. Sie schienen dicker zu sein. Aids!, schoss es mir in den Kopf. Diese OP-Handschuhe waren darauf ausgerichtet, nicht so leicht zu reißen.
Ich setzte den Hautschnitt an der rasierten Stelle. Die Kopfhaut ist mit sehr vielen Gefäßen durchzogen und blutet dementsprechend stark. Malaika war eine sehr aufmerksame Schwester und reichte mir den Kauter, bevor ich ihn verlangte. Jerry hatte die Aufgabe, einen der beiden Chirurgen zu holen, sollten sie vor mir fertig werden.
Konzentriert machte ich meine Arbeit und merkte nicht, wie mir gegenüber jemand seinen Platz einnahm. Als ich meinen Kopf hob, sah ich in zwei funkelnde Augen, die mir bekannt vorkamen. Malaika, die meinen Blick bemerkte, stellte mir ihren Sohn Amaru vor. Ein denkbar schlechter Moment, um dem Mann meiner Träume gegenüberzustehen.
»Jambo« war das Einzige, was ich herausbrachte.
»Jambo«, antwortete Amaru mit einer samtweichen Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Nur mit größter Anstrengung konnte ich mich auf die OP konzentrieren. Ich setzte das Bohrloch, aus dem das Blut herauslief, kaum dass es offen war. Ich legte die Drainage ein, befestigte sie mit ein paar Nähten und beendete die Operation.
Amaru und seine Mutter übernahmen das Bandagieren und versorgten die Kleine weiter. Flo klopfte mir auf die Schulter und nickte mir zu.
Erschöpft, als hätte ich eine stundenlange Operation hinter mir, zog ich die blutige Kleidung aus und verließ den Ort des Geschehens.
Vor dem Haus setzte ich mich auf die Bank und ließ das Ganze noch einmal Revue passieren. Die Anspannung fiel von mir ab, mit den Händen fuhr ich mir über das Gesicht. Ich hoffte, dass die Kleine es schaffen würde. Ich legte gerade meine Hände auf die Oberschenkel, als sich jemand vor mich hinkniete.
»Sie wird es schaffen, die Kleine ist stark.« Ich hob den Kopf und sah in Amarus dunkle Augen.
Er war noch schöner als auf dem Foto. Die Gesichtszüge erschienen mir markanter, er sah reifer aus. Das Bild dürfte also schon ein paar Jahre alt sein. Trotzdem war er der tollste Mann, der mir je begegnet war. Ich konnte nur nicken. Gerade als ich meine Sprache wiedergefunden hatte, waren die Rotoren des Hubschraubers zu hören. Gemeinsam liefen wir zum Landeplatz, informierten den Flugarzt über den Zustand des Mädchens und die durchgeführten lebenserhaltenden Maßnahmen.
Zwanzig Minuten später standen Malaika, Flo, Jerry, Amaru und ich vor dem großen X und sahen dem Heli nach. Der Kollege hatte versprochen anzurufen, um uns über den Zustand der Kleinen auf dem Laufenden zu halten.
Amaru kam jeden zweiten Tag, um uns zu helfen. Er nahm sich jedes Jahr einen Monat frei, um den Ärzten hier zur Hand zu gehen. Für seine Ausbildung zum Anästhesisten war das eine große Chance etwas dazuzulernen. Er war Flo zugeteilt worden, der zeigte ihm die Handhabung der einfachen Geräte und gab ihm Tipps zur Medikation. Ich spürte jedes Mal Eifersucht in mir aufsteigen, wenn ich die beiden zusammen sah. Ihr ungezwungener Umgang miteinander gab mir jedes Mal einen Stich. Was ja völlig hirnrissig war. Flo hatte zu Hause eine Frau und zwei kleine Kinder, die auf ihn warteten. Abends, wenn wir in unserem Zimmer waren, versuchte ich ihn über Amaru auszufragen, doch das gestaltete sich schwierig. Es sollte ja nicht auffallen, dass ich an dem hübschen Afrikaner interessiert war.
»Ist er verheiratet?« Wie nebenbei stellte ich Flo die Frage, während wir Reis mit Huhn in uns hineinschaufelten.
»Nein, nicht dass ich wüsste. Aber bei seinem Aussehen rennen ihm die Hasen sicher die Tür ein.« Grinsend sah mein Kollege mich an.
»Ja, da hast du sicher Recht«, brummte ich in mein Essen hinein. Die Vorstellung, dass Amaru ein Playboy sein könnte, behagte mir gar nicht. Flo zwinkerte mir zu.
»Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er überhaupt auf Frauen steht.« Scheinbar gelassen kamen ihm diese Worte über die Lippen. Ich erstarrte.
»Wie kommst du auf diese Idee?«
»Naja, Malaika hat da mal so etwas fallen lassen. Dass ich mich vor ihrem hübschen Sohn in Acht nehmen soll und so.« Flo stand auf und holte sich noch eine Portion des gut gewürzten Essens.
»Er hat dich angebaggert?!« Fassungslos sah ich ihn an.
»Aber nicht doch! Er weiß, dass ich verheiratet bin. Ich habe ihm Fotos von meiner Familie gezeigt.« Flo schüttelte den Kopf.
Beruhigt aß ich weiter. Sollte Amaru tatsächlich in meiner Liga spielen? Wow... also das wäre... wow! Meine Gedanken rotierten. Was würde das für mich bedeuten? Hatte ich Chancen bei ihm? Ich lag an diesem Abend noch lange wach.
Müde versah ich am nächsten Tag meinen Dienst, Amaru beherrschte all meine Gedanken. Auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, ich konnte mich nur schwer auf meine Arbeit konzentrieren. Noch dazu schwirrten Flo und der Mann meiner Träume ständig in meiner Nähe herum. Vor mir saß ein junger Mann mit einer Rissquetschwunde, die Malaika und ich versorgten. Ich hatte ihm gerade das Lokalanästhetikum verabreicht, als ich entgegen aller Vorschriften die Kappe auf die Nadel zurücksetzen wollte. Ein heftiger Schmerz ließ mich aufschreien, Blut bildete sich auf meinem Zeigefinger. Ich hatte mich gestochen. Laut fluchend sprang ich auf und riss mir die Handschuhe herunter. Wie verrückt drückte ich an dem kleinen Stich herum und versuchte, so viel Blut wie möglich herauszuquetschen.
»Was ist passiert, Michael?« Flo schoss auf mich zu und nahm meine Hand.
»Ich Volltrottel habe mich gestochen«, presste ich mühsam hervor. Angstschweiß begann sich auf meiner Stirn zu bilden.
»Ist er infiziert?« Flo nahm Malaika die Unterlagen aus der Hand. Von HIV stand nichts darin, doch genau wie ich wusste er, dass dies nichts aussagte. Viele der Menschen verschwiegen die Erkrankung aus Angst, die weißen Ärzte würden sie dann nicht behandeln. Flo bat Malaika, mit dem jungen Mann zu sprechen und ihm den Ernst der Lage zu erklären. Am ganzen Körper zitternd setzte ich mich auf eine freie Pritsche. Amaru, der sah, wie sehr mich die Situation mitnahm, legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter. Mein übelster Verdacht bestätigte sich, noch bevor Flo ihn aussprach. Mit erstem Gesicht kam er auf mich zu.
»Wir machen jetzt einen ELISA-Test, Michael. Jerry holt ihn bereits aus dem Lager.« Amaru nahm seine Hand von mir und ging an den Tisch, um die Utensilien zur Blutgewinnung zu holen.
»Hat er HIV?!« In meinem Kopf drehte sich alles.
»Ja. Er wurde vor drei Jahren positiv getestet. Mach dich jetzt aber bitte nicht verrückt. Du bist Arzt, du weißt, dass man sich nicht unweigerlich anstecken muss.«
›Ja, ja, bla bla‹, war alles, was mir dazu einfiel. Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn.
›Sie haben ein Melanom und die Metastasen sitzen bereits in ihren Organen. Aber alles halb so schlimm, wir kriegen das schon wieder hin.‹ Wie oft sagte man diese sinnlosen Worte zu einem Patienten, obwohl man wusste, dass er nur noch Monate zu leben hatte. Wenn überhaupt! Bitter lachte ich auf.
Nur wenn es einen selber betraf, da sah alles anders aus. Vor allem, wenn man wusste, was auf einen zu kam. HIV! Das Schreckgespenst! Nicht nur der Albtraum jedes Schwulen, nein, es war die neue Geißel der Menschheit und machte die Betroffenen zu Aussätzigen.
Gott, bitte nicht! Völlig erstarrt ließ ich mir das Blut abnehmen, den kleinen Stich am Ohr spürte ich gar nicht. In ein paar Minuten würden wir das Ergebnis haben. Ein Ergebnis, das nichts aussagte, aber zumindest beruhigte. In frühestens drei Monaten könnte ich einen PCR-Test machen lassen, erst dann würde ich beruhigt sein.
»Der Test ist negativ, Michael. Trotzdem würde ich dir die PEP empfehlen.« Aufatmend trat Flo an meine Seite. Wie durch Watte drangen seine Worte an mein Ohr. Ich wusste, dass die Postexpositionsprophylaxe, kurz PEP genannt, enorme Nebenwirkungen haben würde. Vier Wochen lang müsste ich diese Bomben schlucken. Könnte ich weiterarbeiten? Würde man mich nach Hause schicken? Ich wollte nicht weg. Nicht nachdem der Mann meiner Träume in mein Leben getreten war.
»Ich habe gehört was passiert ist, Dr. Brünner. Kein Grund zum Verzweifeln.« Dr. Murdock, der ärztliche Leiter des Camps, trat auf mich zu. In der Hand hielt er jene Medikamente, die ich einen Monat lang einnehmen musste. Leise redete er auf mich ein und versuchte mich zu beruhigen.
»Das passiert immer wieder, Michael. Sie sind nicht der Erste und werden nicht der Letzte sein, dem so etwas passiert. Ich werde sie auf alle Fälle heimschicken. Sie wissen, dass die PEP extreme Nebenwirkungen haben kann. In Österreich werden sie besser damit fertig werden. Hier gibt es zu viele Erreger, die ihren Körper noch zusätzlich angreifen könnten. In zwei Monaten kommen sie wieder und machen da weiter, wo sie aufgehört haben. Sie sind ein guter Arzt und ich möchte nicht auf sie verzichten.« Er klopfte mir väterlich auf die Schulter und verließ das Zelt.
Ich sah, wie er am Eingang noch mit Flo redete und danach endgültig ging.
»Du fliegst morgen mit der Maschine zurück, die heute die Hilfsgüter bringen wird. Soll ich dir beim Packen helfen?« Mitleidig sah der Anästhesist mich an.
Ich schüttelte nur den Kopf. Die paar Habseligkeiten würde ich gleich zusammenhaben. Flo hielt mir eine Flasche Wasser hin. Ach ja, ich musste meine Bomben schlucken. Mit Widerwillen würgte ich die Tabletten hinunter, bevor ich mich erhob und mich wie betäubt in unser Zimmer schleppte.
Nachdem ich meine Sachen gepackt und meiner Verzweiflung freien Lauf gelassen hatte, kam Wut in mir hoch. Wut auf mich selbst. Jahrelang machte man die gleichen Handgriffe und nie passierte etwas. Ausgerechnet in einem Land, wo man extreme Vorsicht walten lassen sollte, unterlief mir Volldepp so ein Fehler. Ein Anfängerfehler! Gott, ich hätte mich ohrfeigen können. Ich ließ mich auf mein Bett fallen.
Was wenn ich positiv wäre? Was würde das für mich bedeuten? Welche Konsequenzen kämen da auf mich zu? Könnte ich noch als Arzt arbeiten? Würde Ewald mich kündigen? Sicher würde er das! Der große Dr. Felber konnte es sich gar nicht leisten, einen aidskranken Arzt zu beschäftigen. Dass würde das Ansehen seiner Privatklinik ruinieren, käme es ans Tageslicht. Erneut liefen mir die Tränen übers Gesicht. Eine Unachtsamkeit und alles war vorbei. Gerade als ich mich in meinem Selbstmitleid suhlen wollte, klopfte es an der Tür. Ich wollte niemanden sehen. Vor allem sollte mich keiner so sehen. Mit geröteten Augen und laufender Nase sah ich sicher mitleiderregend aus. Der Besucher war allerdings sehr hartnäckig und so blieb mir nichts anderes übrig, als ihn hereinzubitten.
Die Tür ging auf und Amaru betrat das Zimmer. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Er kam auf mich zu und setzte sich auf die Kante meines Bettes. Zärtlich ließ er seinen Blick über mein Gesicht gleiten.
»Kann ich dir helfen? Mein Dienst ist zu Ende und ich könnte dir Gesellschaft leisten.« Seine samtweiche Stimme streifte mein Inneres und ließ mich nur noch verzweifelter werden.
Morgen würde ich aus seinem Leben verschwinden. Oder er aus meinem, wie man es sehen wollte. Würden wir uns je wiedersehen? Wohl eher nicht. Auch wenn alles gut ging und ich in zwei Monaten zurückkehren würde, wäre er längst wieder in Nairobi. Ein Stich hatte nicht nur mein Leben verändert. Nein, diese verdammte Nadel hatte mir auch alle Hoffnung auf Amaru genommen! Besser gesagt, meine eigene Dummheit hatte mir die Chance versaut.
Ich bin wahrlich keine Heulsuse, aber jetzt weinte ich mir die Seele aus dem Leib. Dass Amaru mich dabei sah, war mir zwar enorm peinlich, aber ich konnte den Tränenfluss einfach nicht stoppen.
»Nicht weinen, Ma Boo. Es wird alles wieder gut werden.« Amaru wischte mir mit seinen Daumen die Tränen weg. Sanft strich er dabei über meine Wangen, hielt mein Gesicht fest und sah mich liebevoll an.
»Du kommst wieder und ich werde auf dich warten. Egal wie lange es dauert.« Immer näher kam sein Gesicht. Nur verschwommen nahm ich wahr, dass sich unsere Lippen beinahe berührten.
Was hatte er gesagt? Er würde auf mich warten?
»Du... du...« Amaru unterbrach mein Geschluchze, in dem er mir einfach mit seinen Lippen den Mund verschloss. Ganz zart und kühl fühlten sie sich an, lagen einfach auf den meinen. Vergessen waren meine Sorgen um die Infektion und deren Folgen. Amaru empfand etwas für mich! Er küsste mich gerade! Selig schloss ich die Augen und gab mich ganz diesem wundervollen Gefühl hin. Vorsichtig öffnete ich meinen Mund und strich mit der Zungenspitze die Konturen seiner Lippen nach. Es dauerte nicht lange, da spürte ich auch seine Zunge. Unser Kuss wurde leidenschaftlicher, fordernder. Ich wähnte mich im Himmel.
Verzweifelt schlangen sich meine Arme um seinen Nacken. Ich wollte ihn nie wieder loslassen. Noch nie hatte sich ein Kuss so richtig angefühlt. Mein Schwanz begann, ein Eigenleben zu entwickeln. Fast schon schmerzhaft drückte gegen den Reißverschluss. Nach Luft ringend lösten wir uns voneinander, sahen uns staunend an.
»Warum hast du nicht früher etwas gesagt?« Auch wenn es nicht meine Absicht war, klang meine Frage vorwurfsvoll. Schmunzelnd sah mich Amaru an.
»Bis gestern wusste ich nicht, dass du schwul bist. Erst Flo brachte mich auf den Gedanken. Du hast ihn wohl zu intensiv über mich ausgefragt.« Eine feine Röte überzog mein Gesicht. Mein schöner Afrikaner lächelte breiter, als er das sah.
»Du hättest auch mich fragen können, Ma Boo. Ich hätte dir gerne gesagt, dass ich mich in dich verliebt habe. Schon als ich dich das erste Mal sah, kam mein Herz aus dem Takt.« Wieder küsste mich Amaru. Strich mit seinen Lippen an meinen entlang.
» Und ich habe mich bereits in dein Foto verliebt, als deine Mutter es uns zeigte.« Verlegen schmiegte ich mich an seine Brust.
»Was wird nun aus uns? Morgen fliege ich in meine Heimat zurück.« Ganz leise kamen diese Worte über meine Lippen. Amaru sah mich eindringlich an.
»Ich habe es dir schon gesagt, Ma Boo. Ich werde auf dich warten und alles andere können wir besprechen, wenn du wieder hier bist. Ich habe so lange auf dich gewartet, da kommt es auf ein paar Monate auch nicht mehr an.«
»Du hast auf mich gewartet? Lange auf mich gewartet? Ähm... wie sollte das gehen?« Was redete Amaru da? Er kannte mich doch bis vor ein paar Tagen überhaupt nicht. Er lächelte geheimnisvoll.
»Meine Granny hat mir prophezeit, dass ein Mann aus einem fremden Land mir die große Liebe bringen würde. Er wäre mein Schicksal. Als ich dich gesehen habe, wusste ich, dass du dieser Mann sein würdest.« Amaru lehnte seine Stirn gegen meine.
»Was, wenn ich mich infiziert habe? Was, wenn ich krank werde? Ich könnte dann nicht mehr zurückkommen.« Wieder schlugen die Wellen der Verzweiflung über mir zusammen. Sie erdrückte mich beinahe.
»Du wirst nicht krank, Ma Boo! Ich weiß es und du musst auch daran glauben! Denk an unsere gemeinsame Zukunft!« Energisch packte er mich an den Schultern. Versuchte, mir seine Worte einzutrichtern.
»Was aber wenn doch?!«, begehrte ich noch einmal auf. Amaru atmete tief durch.
»Das würde für mich nichts ändern. Es gibt mittlerweile hervorragende Medikamente. Ich werde für dich da sein. Liebe findet immer einen Weg.« Mein Liebster hielt mich so fest, dass ich nur mit Mühe Luft bekam. Es war mir egal, ich wollte diesen Moment nicht unterbrechen.
Mit hängenden Schultern stand ich in der Abflughalle, Jerry hatte mich zum Flughafen gebracht. Von den anderen hatte ich mich bereits im Camp verabschiedet, Malaika und ich weinten um die Wette. Sie war mir eine gute Freundin geworden.
Amaru blieb über Nacht bei mir. Flo, der bereits ahnte, was zwischen uns vor sich ging, übernachtete auf einer Pritsche in unserem Untersuchungszelt. Es wurde nachts nur benutzt, wenn wir Dienst hatten. Mein Schatz hielt mich die ganze Nacht in seinen Armen. Wir redeten über unsere Zukunft, malten uns aus, was wir machen würden, wenn ich wieder zurück wäre. Wo wir leben und arbeiten würden. Immer wieder streichelte und beruhigte er mich, wenn die Hoffnungslosigkeit mich zu verschlingen drohte. Erst im Morgengrauen schliefen wir engumschlungen ein.
»Dr. Brünner? Michael Brünner?« Ein Mann im Overall kam auf mich zu. Am Ärmel hatte er das Emblem der ›Ärzte ohne Grenzen‹. Es stellte sich heraus, dass er der Pilot jener Maschine war, die mich in die Heimat zurückbringen würde. Nachdem ich ihm meine Papiere gegeben hatte, folgte ich ihm. Wie bereits bei der Ankunft waren auch jetzt die Zollformalitäten schnell erledigt. Das Flugzeug war riesig, den meisten Platz nahm der Raum für die Fracht ein und nur eine kleine Kabine war für Passagiere vorgesehen.
Verschwommen nahm ich wahr, wie Afrika unter uns verschwand. Ich schien doch noch eine ausgewachsene Heulboje zu werden, denn wieder liefen mir die Tränen übers Gesicht. Warte auf mich Amaru! Ich komme wieder!
Liebe findet immer einen Weg!
Texte: Meins, meins, meins...
Bildmaterialien: Covergestalltung Bonnyb Bendix / pixelio.de/ Thomas Klauer
Lektorat: Meine zwei süßen Betas : )
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist all Jenen gewidmet, die ihr Leben in den humanitären Dienst stellen und doch auch nur Menschen sind.