*Shift*
Anmerkung:
Diese Kurzgeschichte entstand im Rahmen eines
Schreibwettbewerbs, ausgerichtet vom Sphera Verlag.
Das Thema war: phantastische Liebesgeschichten.
*****
Für Anne, weil sie der Grund ist,
warum ich es heute überhaupt wage,
solche Geschichten zu schreiben ;)
Shift
EINS
„Manchmal, reicht bloßes Vertrauen nicht. Manchmal, kann keine Entschuldigung der Welt, das Geschehene ändern. Fehler. Das ist es, was wir machen. Manche von uns jeden Tag, andere wiederum neigen dazu weniger zu begehen. Fehler. Das bedeutet, niemand von uns ist perfekt. Jeder von uns hat die Macht, andere zu verletzten. Gibt es etwas, das ich mehr bereue als alles andere? Etwas, dass mein Leben verändert hat? Ja. Es gibt etwas. Ein Geheimnis, dunkel wie ein tiefer See. Schweigen, das meine Seele erfüllt. Stille, die mein Herz berührt. Doch manchmal…manchmal ist es besser, den Schmerz in Kauf zu nehmen, als ganz ohne Liebe zu sein.“
Als Daryl sein Gedicht beendet, schweigt die ganze Klasse. Totenstille, unnatürlich und unheimlich, wie auf einem Friedhof. Es ist, als hätten sämtliche Mädchen den Atem angehalten und alle Jungen sind zu sprachlos, um über seine Poesie herzuziehen, beeindruckt, auch, wenn sie es sich nicht eingestehen können. Das ist Daryls Ding. Sein Talent. Es macht ihn zu etwas ganz besonderem. Mit Worten kann er eine Schar Schüler verzaubern. Mit seiner melodischen Stimme eine Atmosphäre schaffen, die alle einlullt, wie ein schönes Wiegenlied. Ich versuche dagegen anzukämpfen, eine schützende Mauer hochzufahren, die mich gegen seinen Charme immun macht, aber nichts voll all den leisen Flüchen wirkt. Ich bin immer noch in ihn verliebt.
Daryl ist kein typischer Highschool Schönling der Football spielt, haufenweise Herzen bricht und einfach nur unverschämt gut aussieht. Er ist jemand, der freundlich ist, liebenswürdig, begehrenswert, auf eine Art, wie es sich jeder wünscht zu sein. Niemand ist wie er. Niemand.
„Das war…atemberaubend!“
Ms Kleins bekommt kaum noch Luft und das liegt ganz sicher nicht an den Wechseljahren. Sie knöpft sich den obersten Knopf ihrer weißen Bluse auf und fächelt sich mit der Hand eine lauwarme Brise zu. Rasch streift sie sich das graumelierte Haar aus der Stirn und versucht wieder zur Besinnung zu kommen, doch als Daryl sie anlächelt, ist es erneut um sie geschehen. Er bekommt eine Eins. Nicht, das er sie nicht verdient hätte.
Ich senke den Blick, starre auf mein eigenes Gedicht, das vor mir auf dem Pult liegt und komme mir dumm vor. Hasse meine Worte, jedes Einzelne, weil alles was er vorgetragen hat, nicht mehr zu toppen ist. Missmutig zerknülle ich das weiße Blatt, bis nur noch eine kleine Kugel übrig ist und als es klingelt, werfe ich es drei Meter weit und treffe sogar den Papierkorb.
„Du solltest dem Basketballteam beitreten.“
Während ich meine Tasche schultere, bemerke ich, dass sich der Klassenraum bereits gelehrt hat. Ich bin alleine. Alleine mit Daryl.
„Dann solltest du dem Literaturclub beitreten“, entgegne ich kühl. Ich wünschte meine Worte wären wie ein Eimer voll Eiswasser, der über ihm ausgekippt wird. Er zieht eine Augenbraue hoch, was ihm augenblicklich einen sarkastischen Gesichtsausdruck verleiht.
„Warum hasst du mich, Joan?“, fragt er in gespielt ernstem Tonfall. Das ist eine simple Frage. Ich hasse ihn, weil ich in ihn verliebt bin. Ich kenne sein wahres Gesicht. Es macht mich krank, dass ich mich zu so jemandem hingezogen fühle. Ja. Er ist besonders. Ja. Niemand ist wie er. Und ich kenne die Wahrheit. Gute Noten, sein höfliches Auftreten, seine korrekte Wortwahl, sein Lächeln…auch, wenn mich all das einnebelt, wie eine Wolke süßen Parfums, sehe ich durch dir rosarote Wolke hindurch.
Niemand anderes kann das.
Daryl und mich verbindet etwas. Etwas Schreckliches.
Ich fahre mir mit der Hand unwillkürlich zu meinem Schlüsselbein, wo an einer langen, silbernen Kette ein kleines grünes Kleeblatt hängt. Das Schmuckstück gehörte meiner besten Freundin Rosie. Sie hat es geliebt. Es war ihr wertvollster Schatz. In diesem Moment wiegt es schwer auf meiner Haut, brennt wie Feuer.
„Ich hasse dich, weil du Rosie getötet hast. Du weißt es besser, als jeder andere“, sage ich, stürme an ihm vorbei und renne sobald ich durch den Türrahmen bin. Er folgt mir nicht. Der Ausdruck in seinen Augen, in jeder Sekunde, als unsere Blicke sich kurz treffen, ist voller Schmerz. Lügner.
Er ist so ein verdammter Lügner. Dem Schauspielkurs sollte er beitreten. Da wäre er gut aufgehoben…
Auf dem Weg nach Hause kann ich nicht anders. Ich mache einen Umweg zum Friedhof. Als ich durch das rostige alte Tor gehe, schrecke ich einen Raben auf, der laut krächzend davon fliegt. Frei. Rosie wird niemals wieder frei sein. Ihr toter Körper, liegt Meter unter der Erde zu meinen Füßen. Ihr Grabstein erinnert mich daran, dass es kaum ein Jahr her ist, seitdem sie mich verlassen hat. Lilien schmücken, das akribisch gepflegte Grab und ich weiß, das Rosies Mutter hier gewesen ist. Ich gehe in die Knie und berühre mit den Fingerspitzen die feuchte Erde.
„Ich vermisse dich. So sehr“, flüstere ich, von einer Traurigkeit ergriffen, die ich seit Monaten versuche abzuschütteln. Alles erinnert mich an sie. Jeder Ort, jedes Lied, alles weckt Erinnerungen an Zeiten, in denen wir glücklich waren. Zwei Mädchen, die einander ewige Freundschaft schworen. Für immer und für alle Zeiten. Nichts lässt mich vergessen. Weder die Therapeutin, noch ihre Tabletten. Ich fühle mich von Tag zu Tag elender, schuldiger.
Es ist Daryls Schuld, ebenso wie meine.
ZWEI
„Ich hasse es, wenn Mom sagt, dass ich nicht rausgehen darf“, sagte Rosie und verzog das Gesicht zu einer schmollenden Grimasse. Ich hätte meine Eltern locker damit rum bekommen. Es reichte schon aus, einen hysterischen Anfall vorzutäuschen, um ein klein wenig mehr Taschengeld zu bekommen. Sie saß in ihrem großen, weißen Himmelbett, das blonde Haar lockte sich auf ihren Schultern und sie sah aus wie ein Engel. Bildschön. Und so schrecklich blass. Rosie war krank. Das war sie schon seitdem ich sie kennen gelernt habe. Am Anfang fiel es mir nicht wirklich auf, aber mit den Jahren wurde es schlimmer. Sie litt unter Asthma. Als wir klein waren reichte es, dass sie ihren Inhalator dabei hatte. Als sie älter wurde, lag sie so oft im Krankenhaus, dass ihre Eltern sie schließlich von der Schule nahmen und sie Privatunterricht bekam. Sie verbrachte die meiste Zeit im Haus, gefangen in einer Blase aus Sicherheit und Angst. Sie sprach nie von ihren Ängsten, aber ich konnte es in ihren Augen erkennen. Die Ätzte hatten ihr ein kurzes Leben prophezeit.
Nachts hing sie an einer Maschine, die ihre kranke Lunge ersetzte, um sie am Leben zu erhalten. Ich war ihre ganze Welt und sie wurde zu meiner. Irgendwann – an einem ihrer guten Tage – hielt sie es nicht mehr aus. Sie überredete mich, sie nach draußen zu begleiten. Es war Frühling. Kirschblüten wirbelten durch die Luft. Rosies liebste Jahreszeit. Wir schlichen kleine Wanderpfade, durch den anliegenden Wald, immer weiter und immer tiefer ins Geäst hinein. Rosie lächelte; sie lachte aus vollem Herzen. Etwas, dass sie seit Wochen nicht mehr getan hatte. Dann hörten wir die Musik. Klänge, voll und schön. Ein Klavier. Wir näherten uns dem Anwesen, das am Waldrand stand, wie ein prächtiges Schloss. Wir beide wussten, dass es hier schon seit Jahrhunderten stand, hatten aber niemals auch nur ein Anzeichen von Leben vernommen. Diese Musik war so herrlich leicht, so wunderbar verlockend, dass wir nicht widerstehen konnten. Gegenseitig zogen wir uns die Äste eines Apfelbaumes nahe der Mauer hinauf, um ein Blick auf das Gebäude dahinter erhaschen zu können. Im zweiten Stock war ein breites Fenster geöffnet. Ein Junge klimperte munter vor sich her. Rosie kicherte. Sie stupste mich an und ich wurde rot.
„Er ist ziemlich süß.“
Das war untertrieben. Er war…besonders. In seinen Bewegungen lag solche Stärke und Anmut, in seinem Schauspiel so viel Gefühl, das mir ganz schwer ums Herz wurde. Er unterbrach sich abrupt, blickte aus dem Fenster und starrte uns an. Ich wäre fast vom Ast gefallen, so erschrocken war ich. Rosie kicherte wieder. Wir drei tauschten Blicke.
Er sah uns. Er sah mich. Und Rosie sah ihn.
DREI
Ich starre auf das schwarze Brett vor dem Chemiesaal und keuche erschrocken auf. Was ich da sehe, kann ich nicht glauben. Heute Morgen hat Professor Leister die Liste für die Chemiepartner des kommenden Halbjahres zusammengestellt.
„Tausch mit mir“, bettele ich Marie an. Sie verstaut ihr Mathebuch in ihrer Tasche und zieht stattdessen Chemie 4 heraus. „Bitte. Ich mache deinen Ordnungsdienst, übernehme deinen Pflichten bei der Schülerversammlung. Ich tue…alles.“
Überrascht mustert sie mich.
„Joan, wieso willst du Daryl nicht? Gott, er ist so heiß.“
Ihre Wangen färben sich leicht rosa. Gerade als sie zustimmen will, ohne dass ich eine weitere Erklärung brauche, taucht Daryl zwischen uns auf. Er drängt Marie und mich auseinander. Er tut es auf eine so spontane, willkürliche Weise, das Marie nicht im leisesten Verdacht hegt, dass er unser Gespräch absichtlich unterbrochen hat. Er zwirbelt eine ihrer dunklen Haarsträhne um seinen Finger und schenkt ihr ein einnehmendes Lächeln.
„Hallo, Marie.“
Sie sieht aus, als würde sie in Ohnmacht fallen. Ich habe verloren. Daryl bleibt mein Laborpartner. Während des gesamtem Unterrichts kann ich mich kaum konzentrieren, mische wahllos Chemikalien zusammen, notierte keine Ergebnisse, starre angestrengt und panisch auf den Bunsenbrenner, weil in meinem Kopf die Alarmglocken hellauf leuchten. Daryls Nähe ist gefährlich. Als er eine Hand auf mich zu bewegt, zuckte ich so abrupt zusammen, das mir das Reagenzglas aus den Fingern gleitet und am Boden zersplittert. Einige Köpfe drehen sich um, doch der Lehrer ruft alle wieder zur Ordnung. Ich bemühe mich, die Scherben möglichst schnell aufzusammeln, schneide mich dabei und mein Blut mischt sich mit der dunklen Flüssigkeit, die ich verschüttet habe. Plötzlich packt mich eine Hand fest am Arm und reißt mich auf die Beine.
„Ein Unfall, Prof L. Joan hat sich geschnitten. Sieht übel aus. Ich bringe sie zum Krankenzimmer.“
Ich will protestieren, schreien, mich losreißen, aber unter den neidischen Blicken der anderen schweige ich; lasse mich willenlos in den Flur zerren. Daryl zieht ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reicht es mir. Ich zögerte, doch mein Blut sickert bereits in dicken Tropfen auf den weißen Marmor des Ganges, also presse ich mir den Stofffetzen, so fest es geht auf die Wunde.
„Ich finde den Weg alleine“, schnaube ich wütend. Mir wird ganz heiß, als er mich durchdringend ansieht. So intensiv, das ich mich schutzlos fühle; nackt. Es ist derselbe Blick von damals. Der Blick, von dem ich mir immer gewünscht hatte, er sei auf mich gerichtet. So hat er mich angesehen, als er mir sagte, dass er mich liebe.
VIER
Daryl spielte Rosies Lieblingsstück auf dem Klavier. Er hat gesagt, dass es ein Erbstück, sei, so wie das ganze Anwesen, hat es einst seinem Großvater gehört. Nachdem der alte Mann verstarb, zog seine Familie von London nach Mainville. Rosie schrieb Daryl alle seine guten Eigenschaften zu, weil sie meinte, er wäre ein richtiger Gentleman. Als ob alle in London immer noch im 16. Jahrhundert leben würden, Zylinder trügen und täglich drei Tassen Tee tranken. Earl Gray versteht sich. Daryl lachte über Rosies Fantasien. Er neckte sie, wie ein Bruder es mit seiner kleinen Schwester tun würde. Nachdem einem Tag im Frühling, hatte es unzählige Tage gegeben, die wir in dem alten Anwesen verbrachten. Einfach Spaß hatten, zusammen lachten und Daryl uns etwas vorspielte.
„Was ist dein Lieblingsstück?“, fragte er mich, als er Rosies Favorit zum dritten Mal wiederholte. Seine grünen Augen machten mich nervös. Ich schluckte schwer.
„Ich habe keines“, log ich. Ich wusste, das Rosie wünschte, er würde nur für sie spielen. Sie hatte es mir gesagt. In der letzten Nacht hatte sie bittere Tränen geweint. Tränen vergossen für eine Liebe, die sie spürte, jedoch niemals von Dauer sein würde. Ich fühlte mich egoistisch, weil ich wollte, das Rosie ihre Krankheit außen vorließ; sie nicht als Karte in diesem Spiel benutzte. Doch sie tat es immer wieder. Sie war meine beste Freundin und ich liebte sie, also verzieh ich ihr, gönnte ihr alles Glück der Welt. Sie sollte mit Daryl glücklich werden.
„Dann bekommt Rosie eine Zugabe“, sagte Daryl und es lag ein Wissen in seinem Blick, das mir einen Schauer über die Haut jagte. Er weiß es, dachte ich. Er weiß es. Das war schlecht, denn, wenn er es wusste, würde es bald heißen: Rosie oder ich.
FÜNF
Ich kann Daryl nicht abschütteln. Er folgt mir ins Krankenzimmer und ich lasse zu, dass er meinen Zeigefinger verbindet. Ich fühle mich schwach, als habe ich einen Verrat begangen. Das habe ich. Ich habe Rosie verraten.
„Es tut mir leid“, beginnt er. Seine Stimme zittert leicht.
„Ich werde dir niemals verzeihen.“
„Es ist so lange her, Joan…“
„Zeit heilt nicht immer alle Wunden“, erwidere ich. Mein Magen fühlt sich an wie ein kalter Stein. Mir wird übel. Mein Kopf schwirrt. Ich will dass er verschwindet.
„Wir brauchen Zeit“, sagt er traurig.
„Du hast ihre gestohlen!“, fauche ich, unfähig weiter still zu sitzen und seine Berührung zu ertragen. Die Liebe, die ich empfinde, die mein Herz zerreißt, mischt sich mit dem Hass auf ihn. Er ist Schuld. Er hat sie mir weggenommen!
Er will sich mir erneut nähern, doch ich weiche zurück und versetzte ihm eine Ohrfeige. Tränen schnüren mir die Kehle zu. Ich kann nicht sprechen, also laufe ich davon. So wie ich es immer tue. So wie ich es immer tun werde.
SECHS
„Er ist anders. Du spürst es auch, oder?“, fragte Rosie erwartungsvoll. Ich starrte auf die Maschine neben ihrem Bett. Nachts macht sie so schreckliche Geräusche, dass ich mich fragte, ob sie wohl Albträume davon bekam. Heute war ein sehr schlechter Tag. Sie war so blass, als habe sie kein Blut mehr in den Adern. Ihre Haut war glanzlos, matt; ihr Haar hing schlaff herunter.
„Hast du…Schmerzen?“
Sie fasste sich an die Brust und schüttelte den Kopf. Ein paar Sekunden später: ein schwaches Nicken. Seufzen. Noch mehr Traurigkeit.
„Ich liebe ihn“, flüsterte sie leise, ganz leise. Draußen fing es an zu regnen.
„Ich weiß“, ist alles, was ich sagte. Ich kannte den Schmerz, von dem sie sprach. Ich liebe ihn auch, würde ich am liebsten sagen. Alles herauslassen. Meine Gefühle, meinen Willen, meinen Wunsch…ich blieb stumm. Es gab etwas, das ich mehr liebte als Daryl.
Rosie. Ohne sie hätte mein Leben keinen Sinn.
„Ich werde es ihm sagen.“
Sie lächelte in sich hinein.
„Wann?“, fragte ich tonlos, ohne Begeisterung. Sie merkte es nicht. Ein träumerischer Ausdruck spiegelte sich in ihren Augen. Das Grün darin erinnerte mich an Daryl. Ich wusste, dass sie übermorgen für eine Kur sechs Wochen weg sein würde.. Hunderte Kilometer von ihm entfernt; von mir entfernt. Ich konnte sie nicht begleiten. Ihre Eltern verboten es und meine hielten es für das beste, Rosie eine Auszeit zu geben. Von mir. Allem.
„Joan?“
Sie blickte zu den Sternen empor, die klar am Horizont flimmerten, trotz des Schleiers aus Wassertropfen und dünnem Nebel. Ich kuschelte mich an ihre Seite und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Sie nahm meine Hand und drückte sie fest. Bevor sie antwortete, spielte sie mit dem Anhänger um ihren Hals. Das machte sie immer, wenn sie nachdachte..
„Glaubst du an…ach, nicht so wichtig.“
Normalerweise würde ich näher darauf eingehen, würde wissen wollen, was sie beschäftigte, aber ich konnte nicht. Ein Gedanke durchbohrte alles andere in meinem Kopf. Was wird Daryl antworten, wenn Rosie ihm seine Liebe gesteht?
SIEBEN
Alles an Daryl ist darauf ausgelegt, auf andere anziehend zu wirken. Sein unbestimmtes Aussehen, das einem zunächst zuwider ist, einen dann in seinen Bann zieht. Seine melancholische, sanfte Stimme. Seine hellen, strahlenden Augen, sind Fenster zu seiner Seele. Es ist als ob ein Teil von Rosie in ihm weiter lebt. Rosie. Rosie. Rosie.
Ihr Verlust ist unerträglich. Wie meine Liebe zu Daryl.
„Warum hast du es niemandem gesagt, wenn du mich so sehr…hasst?“, fragt er mit deutlichem Unbehagen; Kummer in der schönen Stimme.
„Es hätte nichts geändert“, murmele ich.
Seine Wange ist noch immer leuchtend rot. Meine Handfläche hat ihn hart getroffen. Ich schäme mich nicht. Ich würde ihn jederzeit wieder schlagen.
„Du weißt, ich kann es wieder gut machen. Wenn du mich lässt, Joan.“
„Gar nichts kannst du!“
Ich merke erst, dass ich schreie, als meine Worte durch den kargen, sterilen Raum hallen. Tränen dringen an die Oberfläche; ich komme nicht dagegen an.
Er zögert. Lange. Dann tut er etwas, das er seit Rosies Tod nicht mehr getan hat. Er schenkt mir ein hoffnungsvolles Lächeln. Verwirrt sehe ich ihm nach, als er mich verlässt, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
ACHT
Es machte mich verrückt zu warten! Ich war nie besonders geduldig…nun, stand ich hier, unter dem Apfelbaum, der neben der Mauer an Daryls Anwesen wuchs und wartete. Wartete drauf, das Rosie Daryl ihre Liebe gestand und sie als glückliches Paar zu mir stießen. Sie hatte mir eine Sms geschickt.
Gegen 7 am Apfelbaum. Xoxo Rosie
Inzwischen war es fast acht. Ob sie es nicht geschafft hatte, sich aus dem Haus zu schleichen? Ob ihre Eltern endlich misstrauisch geworden waren? Ein Funke Gehässigkeit loderte in meiner Brust auf. Ich hasste mich dafür. Was, wenn es ihr so schlecht ging, das sie sich kaum bewegen konnte…in diesem Moment erstickte? Ich schüttelte dieses grausige Bild ab und wollte mich zum gehen wenden, als ich Stimmen hörte; laut und wütend. Rosie stürmte die Einfahrt herunter. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen vor Tränen verquollen, sie atmete so schnell, dass es wie ein Rasseln klang. Kein gutes Zeichen.
„Duuu!“, brüllte sie; zeigte anklagend mit dem Finger auf mich. Hinter ihr tauchte Daryl auf. Rosie stürzte sich auf mich, packte mich an den Schultern und schüttelte mich.
„Wie konntest du? Wie konntest du mir das antun?“
Sie klang schrill. Hysterisch und atemlos. Ich versuchte sie zu beruhigen, doch sie versetzte mir einen Stoß, ich taumelte rückwärts und landete unsanft auf dem Hinterteil. Ehe ich mich versah, stürmte sie davon. Sie war schnell.
„Rosie!“ Ich war sofort auf den Beinen und folgte ihr. Daryl an meine Seite. Er bremste mich. „Was hast du getan?“, fragte ich außer mir. Entschuldigend starrte er mich an.
„Joan, ich – “
„Nein!“, unterbrach ich ihn barsch. Das kann… das darf nicht sein! Er sollte Rosie glücklich machen. Er musste sie glücklich machen. Nicht mich. NICHT MICH. Ich kam zum Stillstand, hielt an der Kreuzung nach allen Seiten Ausschau. Ich wusste nicht, in welche Richtung sie gelaufen war und verzweifelte.
NEUN
Rosies Grab ist nicht nur ihre Ruhestätte. Ich mag den trügerischen Frieden an diesem Ort. Oft wünsche ich mir, neben ihr zu liegen. In einem Sarg gewoben aus Ruhe und stummer Ewigkeit. Das ist natürlich dumm. Mein Leben ist kostbar. Das hat Rosie immer zu mir gesagt. Ich kann es niemals verwerfen. Ich lege einen frischen Strauß Lilien auf ihr Grab nieder und entzünde die Kerze in dem roten Plastikbehälter. Das kleine Licht flackert wie ein Glühwürmchen in der Nacht. Es dämmert bereits. Plötzlich spüre ich die Anwesenheit von jemandem. Es ist nicht Daryl.
„Das kann nicht ewig so weiter gehen, Joan. Du musst mich gehen lassen.“
Ich wende den Blick nicht von den schneeweißen Blumen ab.
„Ich kann nicht“, sage ich.
„Du musst Daryl verzeihen. Dir selbst verzeihen. Alles wird gut.“
„Nein. Das ist eine Lüge.“
Rosie´ Stimme ist wie ein Flüstern im Wind.
„Ich bin nicht unglücklich. Es geht mir gut.“
„Du bist tot“, antworte ich beklommen. Als ich den Kopf hebe, sehe ich ihren Geist ein paar Zentimeter über ihrem Grab schweben. Sie sieht noch immer so aus, wie an jenem Tag als sie starb. Blass und schön, wie ein Engel. Rosie sieht auf das Hexensäckchen, das ich sorgfältig zwischen die Lilien geflochten habe. Mein Zauber sorgt dafür, dass sie hier bleibt. Das ihre Illusion erhalten bleibt. Ich habe niemals an Okkultes geglaubt, bis ich den Beweis vor mir hatte. Trauer kann vieles bewirken. Verzweiflung macht erfinderisch. Rosie schüttelt sanft den Kopf.
„Ich habe dir vergeben, warum kannst du es nicht auch?“
Sie verschwindet lautlos, wie sie gekommen ist. Ich bin wieder allein.
ZEHN
„Du musst verstehen“, erklärte Daryl.
„Ich kann nichts dafür, in wen ich mich verliebe. Dir geht es doch genauso.“
„Das stimmt nicht.“
Ich bin eine verdammte Heuchlerin. Doch in diesem Moment war mir alles egal. Ich wollte Rosie finden, ihr alles beichten, ich wollte ihre Vergebung. Ich wollte meine Freundin nicht verlieren. Sie ist verletzt, wütend. Sie hält nicht lange durch. Ihre Lunge macht das nicht mit. Sie ist in Gefahr. Wegen Daryl. Wegen mir. Wie konnte er nur so ein Risiko eingehen?
Ich wollte weiterziehen, doch Daryl umklammerte meine Handgelenke, zwang mich ihm ins Gesicht zu blicken. Ich wollte seine Worte nicht hören.
„Ich liebe dich. Dich, Joan. Nicht Rosie.“
Er ließ mir nicht den Hauch einer Chance zu antworten, sondern küsste mich. Rasant, drängend, bittend. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, gab es einen anderen Teil, der das schon seit langer Zeit wollte. Er wich von mir zurück, sein Blick glühend, sein Körper angespannt. Ich sparte meine Worte, kehrte ihm den Rücke zu und suchte nach Rosie.
Daryl blieb wie erstarrt zurück.
ELF
Nach Rosies Beerdigung habe ich angefangen allen möglichen Sachen nachzugehen. Ich habe meine gesamte Zeit darauf verwettet, nach einer Lösung zu suchen. Ich musste einen Weg finden, um mich zu verabschieden, mir ihr zu sprechen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie mich hasste. In der Ewigkeit, dem Himmel oder sonst wo diesem Gedanken nachhing. So stieß ich auf Madame Mercuies Laden. Die alte Dame erwies sich als mehr, als nur eine Schwindlerin. Sie war eine Hexe; eine mächtige. Ich tauschte ein Stück meiner Seele gegen ihre Magie; wurde ihre Schülerin. So traf ich Rosie wieder. Ich hatte die Kraft, sie wiederzusehen.
„Du siehst blass aus, Kind“, murmelt Madame Mercuies. Sie stand hinter der Theke des überfüllten, kleinen Ladens und mischte einen Stapel Tarotkarten.
„Ich habe dir ja gesagt, dass die Benutzung des alte-Zeiten-Zaubers ermüdend ist.“
„Mir geht es gut, danke“, sage ich mit Überzeugung.
„Joan. Dieser Junge. Er kommt noch immer her. Jeden Tag.“
„Ich habe Ihnen doch gesagt, ignorieren Sie ihn einfach.“
„Er ist genauso unglücklich wie du, Liebes. Ebenso wie deine Geister Freundin.“ Die alte Dame spricht ständig vom Unglück. „Er wird nicht aufgeben, vielleicht solltest du – “
Ich schneide ihr das Wort ab. „Das Lager aufräumen? Ja, gute Idee.“
Ich verschwinde im hinteren Teil des Ladens und lasse mich zwischen zwei staubige Kisten sinken. Wieder spiele ich mit Rosies Anhänger. Du musst mich gehen lassen. Du musst Daryl verzeihen. Dir selbst verzeihen. Alles wird gut. Rosie konnte noch nie besonders gut lügen.
ZWÖLF
Ich hörte kreischende Bremsen, lautes Hupen, wilde Schreie. Mein Herz setzte aus, als ich die nächste Kreuzung erreichte und das Chaos sah, das ausgebrochen war. Menschen hatten sich versammelt. Raunen erfüllte die Luft. Ich drängte mich durch den Zirkel bunter Kleidung, schob mich nach vorne. Mein Gefühl hatte mich nicht im Stich gelassen. Ein Unfall. Rosie. Ein Mercedes stand schief auf der Fahrbahn, die Frontscheibe ein Scherbenhaufen, Glassplitter überall. Ihr Schuh lag neben dem Vorderreifen. Ich rannte um das Unfallfahrzeug herum und sah sie. Rosie. Gebettet auf ihrem eigenen Blut, das sie umringte wie eine viel zu große dunkle Pfütze. Ich fiel auf die Knie und stieß einen Schrei aus. Sie blinzelte langsam.
„J-joan? Bist du das?“
Ich ergriff ihre Hand und fing an zu schluchzen.
„Mir ist…kalt.“
In naher Entfernung hörte ich Sirenen von Polizei oder Krankenwagen, doch ich wusste, dass sie zu spät kommen würden. Rosie wusste es auch. Ein Lächeln stahl sich in ihre Züge, als würde sie mir bloß einen Streich spielen und nicht sterben.
„Bitte, bitte, bleib bei mir!“, flehte ich heftig. Rosie hob die freie Hand, ihre Finger schlossen sich um die silberne Kette.
„Ich möchte…“
Mit letzter Kraft riss sie das Schmuckstück von ihrem Hals und legte es in meine Hände, die voll mit ihrem Blut waren. Ich sah wie ihre Augen dunkler wurden, das Licht in ihnen erlosch. Zwei Sekunden später war sie tot.
DREIZEHN
Es lässt sich nicht leugnen. Irgendwann muss ich mit Daryl reden. Er muss aufhören mich zu verfolgen; mich zu beobachten. Als Madame Mercuies den Laden abschließt und gemütlich nach Hause trottet, steuere ich auf die andere Straßenseite zu, wo Daryl bereits wartet.
„Joan.“
Mein Name genügt und ich befinde mich erneut in einem Gefühlschaos. Das Leben ist unfair. So schrecklich unfair. Warum konnte ich nicht an Rosies Stelle sterben?
„Was erwartest du von mir?“, frage ich sachlich, verriegle meine Gefühle hinter einer schweren Tür. Er fährt sich durchs Haar, atmet hörbar aus.
„Eine Antwort.“
Die Stille zwischen uns wird nur durch vorbei fahrende Autos unterbrochen.
„Worauf?“
Er presst die Lippen fest aufeinander.
„Eine Antwort“, wiederholt er.
„Es würde nichts ändern“, sage ich eisig. Ich bin geübt darin, gemein und egoistisch zu sein. Es ist alles, was ich noch habe. Der Schmerz in seinen Augen lässt mich meinen kaum vergessen, aber es ist…befreiend.
„Der Grund, warum wir so geworden sind, ist, dass du mir keine Antwort gegeben hast. Zeit heilt vielleicht nicht alle Wunden, aber Liebe vermag es.“
Ich überlege mich abzuwenden, davon zu stampfen, doch ich bewege mich keinen Zentimeter vom Fleck. Rosies Geist ist aufgetaucht; genau neben Daryl. Ihr Blick, klar und bestimmend, ließ meine Beine weich wie Gummi werden. Ehe ich mich versehe strauchle ich, stürze fast, doch Daryl fängt mich auf. Seine weichen Finger fühlen sich warm auf meiner Haut an, erinnern mich an seine Lippen auf meinen. NEIN! Ich schüttle den Kopf, doch Rosie ist bereits wieder verschwunden.
VIERZEHN
Rosie starb, weil sie liebte. Sie war in ihr Unglück gerannt. Tot.
Als die Kirschblüten das nächste Mal erblühten, brachten die Farben nichts von dem Vergangenem zurück. Es war als würde die Welt still stehen. Etwas in mir zerbrach.
Ich störte mich weder an den mitleidigen Blicken, noch dem Geflüster, den Gerüchten. Die Leben der anderen zogen vor meinen Augen vorbei, wie Bilder eines langweiligen Filmes. Unscharf. Uninteressant. Trist. Wie die bleifarbenen Wolken am Himmel.
„Joan?“
Daryl hörte nie auf meinen Namen zu sagen.
„Joan?“
Er sagte ihn tausende Mal und mehr.
„Joan?“
Seine Stimme bedeutete nichts mehr.
Er bedeutete nichts mehr.
FÜNFZEHN
„Daryl, ich kann mit Stolz sagen, das Ihr Gedicht den landesweiten Wettbewerb gewonnen hat!“, verkündet Ms Kleins. Die Klasse klatscht Befall.
„Nun, verraten Sie uns, was Sie inspiriert hat?“
Er sieht mich direkt an.
„Liebe“, sagt er. Ms Kleins lächelt zufrieden.
„Wie wundervoll.“
Sein Blick weicht nicht von mir. Sogar die ganz unaufmerksamen unserer Klasse, fangen an zu begreifen, wen er anstarrt. Alle Augenpaare richten sich auf mich. Unangenehm berührt, versuche ich den Blicken auszuweichen.
Vergebens.
„Oh!“ Ms Kleins ist entzückt. „Eine unerwiderte Liebe, Daryl? Hat der Schmerz dich inspiriert?“ Was für eine durchgeknallte Sadistin. Sie grinst mich verheißungsvoll an.
„Liebe hat viele Gestalten“, sagt er leise.
Ohne ein Wort, erhebe ich mich, schnappe meine Tasche und verlasse den Unterricht. Wieso kann er nicht aufhören? Wieso gibt er nicht auf?
SECHSZEHN
Ein Stück meiner Seele für Rosie. Das war gerecht. Ich brauchte unermesslich lange, um Madame Mercuies zu überzeugen, dass ich es ernst meinte. Ganze drei Monate. Es war zu viel Zeit vergangen. Ich wusste nicht einmal, ob es funktionierte. Hexensäckchen, gefüllt mit einer Opfergabe und meinem Blut. Ich legte es an ihr Grab. Es dauerte eine Ewigkeit, bis etwas geschah, bis ich sie sah. Ich hatte Angst, was passieren würde... Rosie lächelte ihr schiefes Lächeln. Kein Hass. Keine Ablehnung. Einfach nur Rosie.
„Ich bin tot“, sagte sie und schaute auf ihre leicht durchsichtig flimmernden Füße.
„Ja“, sagte ich. Ich möchte weinen, aber keine einzige Träne wollte fließen. Ich entschuldigte mich, so lange, dass sie abtauchte und mich mit Verschwinden strafte, weil ich einfach nicht aufhören konnte. Sie kam wieder.
Wir redeten. Lange. Es war fast wie früher, aber sie erinnerte mich immer wieder daran, dass sie tot war. Es machte mich traurig und wütend. Irgendwann war ich es die ging.
SIEBZEHN
Ich liege in meinem Bett und kann nicht schlafen. Unentwegt denke ich an Rosie und an Daryl. Meine Gefühle sind ein bösartiger Sturm, die mich zerstören wollen, wie einen Hurrikan ein Haus. Liebe. Hass. Liebe. Hass. Wie zwei Seiten einer Münze. Liebe. Hass. Beides kann schmerzen, beides kann gut tun.
„Weißt du, warum ich diese Kette immer so mochte?“
Ich schrecke hoch. Rosie ist noch nie in mein Haus eingedrungen. Sie lebt auf dem Friedhof. Sie hebt eine Hand und ich schließe den Mund wieder.
„Sie hat mich immer an die Bedeutung von Glück erinnert. Kennst du die Bedeutung von Glück, Joan?“
„Was machst du hier?“, frage ich nervös. Ignoriere ihren besorgten Blick.
„Daryl. Er hat dein Hexensäckchen. Madame Mercuies hat ihm alles erzählt.“
Ich schieße aus dem Bett und schlüpfe in meine Schuhe.
„Nein!“, kreische ich. Wenn er es zerstört, dann wird Rosie…es hat ewig gedauert es anzufertigen. Er nimmt mir meine letzte Hoffnung!
Ich renne um mein Leben. Rosie ist mir dicht auf den Fersen. Ihre schimmernde Gestalt verblasst merklich. Völlig außer Atem, mit stechender Seite und schweißnassem Haar, erreiche ich Daryls Anwesen. Hastig klettere ich auf den Apfelbaum, um die Mauer überwinden zu können. Ich halte inne…
„Das ist…“
Meine Worte verlieren sich; meine Stimme bricht.
„Dein Lieblingsstück“, beendet Rosie für mich. „Er hat es mir vorgespielt, als ich ihm meine Liebe gestehen wollte. Da wusste ich, das er dich liebt, Joan. Nicht mich. Ich war durcheinander, einsam. Ich hatte Angst, euch beide zu verlieren.“
Regungslos verharre ich auf einem der unteren Äste. Als Daryl sein Stück beendet, tritt er ans Fenster und sieht mich an. Er sieht mich. Rosie sieht ihn und dann wird mir klar, dass auch er sie sehen kann. Das Hexensäckchen! Mit brennenden Augen laufe ich die Einfahrt hinauf. Daryl öffnet die Tür. Wir blicken einander an, dann gebe ich nach und lasse mich in seine Arme sinken.
„Danke“, weine ich hemmungslos. Er drückt mich fest an sich. Es tut so gut, die Maske ablegen zu können. Ich befreie meine Gefühle aus ihrem Verlies.
„Hallo, Rosie“, sagt Daryl freundlich. Rosie kichert. „Es ist lange her.“
Ich drehe mich um. Für einen Herzschlag lang sind wie alle drei wieder zusammen, als wäre nie etwas passiert; als wären wir noch immer Freunde.
„Du wirst ihr helfen, richtig?“, fragt Rosie zuversichtlich. Ich sehe deutlich, wie ihr Geist erneut schwächer wird; sie ist kaum noch ein Flimmern in der Luft ist. Daryl hält das Hexensäckchen hoch. Rosie nickt. Ich schlottere am ganzen Leib, als er mich zum Kamin führt. Er reicht mir das Säckchen, doch ich zögere.
Rosies Blick ruht auf mir.
„Auf wieder sehen, Joan. Du warst die beste Freundin, die ich jemals hatte.“
Daryl legt seine Hand auf meine. Zusammen schaffen wir es meinen Zauber zu brechen. Rosies Lachen verklingt. Wir sind allein.
ACHTZEHN
„Willst du wissen, warum es dir so schwer fällt, mich gehen zu lassen; Daryl zu lieben?“, fragte Rosie ernst, als ich ihr neue Lilien brachte.
„Warum?“
Ich war ehrlich interessiert. Ich hatte es satt, zu leiden. Ich hatte es satt, sauer auf Daryl zu sein. Irgendjemandem die Schuld zu geben, wo Rosie uns schon lange verziehen hatte. Warum kann sie weiter ziehen und ich nicht?
Ja. Ich wollte es wissen.
„Es ist eine Tugend und du hast schon immer die wilden Dinge bevorzugt.“
Ich lachte laut los. Wann habe ich das letzte Mal so gelacht?
„Joan?“
„Ja?“
Ich stellte die Gießkanne bei Seite und blickte Rosie forschend ins Gesicht.
„Rose…Rosie?“
„Was nützt der beste Wind, wenn man nicht weiß, wohin man segeln will?“
Ihre Worte hallten an diesem Tag in meinem Kopf wieder. Unzählige Male.
NEUNZEHN
Was nützt der beste Wind, wenn man nicht weiß, wohin man segeln will? Rosies Vergebung hatte mich nicht dazu bringen können, mein Leben weiter zu Leben. Es war nicht ihre Schuld. Nicht Daryls. Meine. So lange ich nicht weiß, was mein Ziel ist, wohin mein Weg mich trägt. So lange würde ich rastlos bleiben.
„Mein Antwort“, sage ich langsam. „Ich liebe dich, Daryl.“
Er breitet die Arme aus und ich lasse mich ein zweites Mal fallen. In eine Zukunft, in der Liebe, die zentrale Rolle spielt. Einer Welt, in der meine Erinnerungen Glück und schöne Zeiten herauf beschwören werden.
Rosie wird in meinem Herzen weiter leben.
ZWANZIG
Manchmal, reicht bloßes Vertrauen nicht. Manchmal, kann keine Entschuldigung der Welt, das Geschehene ändern. Fehler. Das ist es, was wir machen. Manche von uns jeden Tag, andere wiederum neigen dazu, weniger zu begehen. Fehler. Das bedeutet, niemand von uns ist perfekt. Jeder von uns hat die Macht, andere zu verletzten. Gibt es etwas, das ich mehr bereue, als alles andere? Etwas, das mein Leben verändert hat? Ja. Es gibt etwas. Ein Geheimnis, dunkel wie ein tiefer See. Schweigen, das meine Seele erfüllt. Stille, die mein Herz berührt. Doch manchmal…manchmal ist es besser den Schmerz in Kauf zu nehmen, als ganz ohne Liebe zu sein.
Für Rosie written by Daryl Shaw
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Tag der Veröffentlichung: 27.05.2013
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