Ich bereue es. Immer und immer wieder. Mit meinen Händen habe ich den Müll durchwühlt, in der Hoffnung, ich würde all die kleinen Fetzen finden. Doch da war nichts mehr. Sie waren fort.
Niemals hätte ich auch nur auf die Idee kommen sollen, all die Tagebucheinträge über sie zu zerreissen. Doch ich habe es getan. Wie ein wildes Kind, das den Verstand verloren hatte.
Es war so falsch. All die Worte, die ihre zarte Art beschrieben haben, die hätten niemals zerstört werden dürfen.
Ich weiß jetzt, dass ich mich nicht mehr schämen sollte. Und auch, wenn mir all die anderen meine Gedanken niemals erlauben würden ... ich lasse sie mir nicht verbieten.
Mit ihrem schlanken Handgelenk strich sie sich ihre lockeren Haarsträhnen hinters Ohr. Eigentlich eine normale Geste, ja. Doch ich musste lächeln. Ein warmes Gefühl durchfuhr meinen Körper, während ich sie unauffällig beobachtete. Dieses prickelnde Kribbeln, das ich in ihrer Gegenwart spürte, war wieder da. Doch diesmal spürte ich noch etwas anderes. Etwas, das ich die ganze Zeit ausblenden wollte.
„Was darf es denn heute sein, Dr. Simons? So wie immer?“ Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen lehnte ich mich an die Tischkante, um ihr unauffällig noch ein Stückchen näher zu sein.
Irritiert schreckte sie in die Höhe. Wie so oft, wenn sie in ihren Fachzeitschriften stöberte und sich anschließend in irgendwelchen hochgestochenen Artikeln verlor.
„Ich dachte, wir wären schon längst bei dem Du?“ Verwundert schaute sie mich an und legte ihre Brille vorsichtig zur Seite.
Diese ruhige Eleganz, die in ihren fließenden Bewegungen steckte, macht mich immer noch vollkommen sprachlos. Warum auch immer, doch in solchen Momenten erinnert sie mich jedes Mal an eine Blume. An eine kleine Blume, die zu erst nur eine Knospe ist und sich dann, nach einer Weile, entfaltet, weil sie in ... meiner Gegenwart ist?
Der Geruch von Plastikhandschuhen und Desinfektionsmittel, der an ihrer Haut klebte, drang in meine Nase. Verzweifelt spürte ich, wie meine Knie weich wurden und wie mir die Kontrolle über meinen Körper entgleiten wollte.
„Oh, das habe ich ganz vergessen. Natürlich waren wir beim Du!“
Ich glaube, ich bereue, dass ich das gesagt habe. Es war eine Lüge. Ich will und kann nicht lügen. Besonders nicht, wenn ich mit ihr rede.
„Du und dein Gedächtnis. Ihr seid wie Öl und Wasser. Ihr stoßt euch gegenseitig ab und profitiert nicht voneinander. Man muss euch … zu einer Einheit verhelfen.“
Wie Öl und Wasser. Es war ein Satz, der nur von ihr stammen konnte.
„Du hast ja Recht. Ich versuche, mein Bestes zu geben. Also: was darf ich dir bringen, Helene?“
Ein Lächeln blitzte über ihre Zähne und gab ihre große Hasenzähne preis, die sie eigentlich immer verbergen wollte.
„Einen Kaffee, bitte. So wie immer. Mit Milch und Zucker.“
Ich nickte eifrig und notierte es mir auf dem Notizblock, den ich in meinen schwitzigen Händen hielt.
„Kommt sofort.“
Es dauerte Jahre. Die Kaffeemaschine wollte und wollte nicht durchlaufen. Sie blubberte fast bedrohlich, während ich nervös vor ihr stand. Der intensive Geruch der Kaffeebohnen drängte sich in meine Lungen und verscheuchte den des Desinfektionsmittels. Traurig seufzte ich.
Ich konnte sie sogar von hier erkennen, obwohl alle möglichen Gefäße auf den Tresen vor mir standen und meine Sicht einschränkten. Wie immer war ihr Namensschild nur unordentlich an ihre Brust geheftet. Zwar versuchte sie oftmals, das Schild zurecht zu rücken - so, wie in diesem Moment - doch es war, als hätte das kleine Ding seinen eigenen Willen. Und nach wenigen Sekunden hing es wieder schief, woraufhin sie den Kampf mit dem Schildchen schmunzelnd aufgab.
Erneut beugte sie sich mit Brille auf der Nase über die Zeitschrift. Sie grinste breit. Immer wieder. Ich wusste nicht, wie die Medizin eine Person zum Lächeln bringen konnte, doch anscheinend war es nicht unmöglich.
„Vergess nicht den Keks, Lysanne!“, brüllte es gedämpft aus der Küche bis an die Tresen, hinter denen ich mich mehr oder weniger versteckte.
„Natürlich.“ Ich biss mir auf die Lippen und schnappte sofort nach drei kleinen Biscuits, die neben der Kaffeemaschine lagen.
Wieder fiel mein Blick durch das kleine, leere Café, dessen dunkle Holzverkleidung ich mit jedem Tag mehr liebte. Sie war alleine, Helene oder auch Dr. Simons. Und sie war eine der ersten Gäste, die pünktlich zur ihrer Mittagspause hierher kamen.
„Bitte sehr“, flüsterte ich aufgeregt, als ich mit der Kaffeetasse in der Hand zu ihrem Tisch stakste. Für eine kleine Sekunde berührten ihre Fingerkuppen meine schlanken Hände. Mein Herz flatterte unangenehm und ich stolperte kaum merklich zurück.
„Oh, danke. Du bist einfach unglaublich zuvorkommend. Das mit den Keksen muss wirklich nicht sein. Du mästest mich ja vollkommen“, raunte sie mit ihrer weichen Stimme und starrte die Tasse mit großen Augen an. Ihre Brille beschlug ein kleines bisschen, als sie den Kaffee an ihren Mund hob. Und sie lachte verlegen.
„Ich hoffe, er schmeckt dir.“
„Wird er sicher. Er ist immer perfekt. Mach dir keinen Kopf. Du bist manchmal einfach zu perfektionistisch.“
Es war ungewohnt von ihr geduzt zu werden. Seit sie die letzten drei Monate jeden Tag hier her gekommen war, hatte sie nie das Wort „Du“ in den Mund genommen.
Eine Weile lang saßen wir nur stumm voreinander. Sie genoss den Kaffee, ich spielte mit den Bändeln meiner Schürze. Mir fielen keine Themen ein, über die wir hätten reden können, doch das war nicht schlimm. Es war mir sowieso lieber, wenn sie die Führung unseres Gesprächs übernahm. Und obwohl wir uns in dem Moment nichts sagten, so war es doch eine warme Atmosphäre, die uns umgab. Der würzig, harzige Geruch der dunklen Holzmöbel durchströmte den gesamten Raum des Cafés.
Mit ihren Händen, die ein wenig rau von dem Desinfektionsmittel waren, schob sie all die Fachzeitschriften auf die Seite und lehnte sich mit dem Oberkörper zu mir. Wie elektrisiert schossen meine Armhaare in die Höhe, bis ich versuchte, so unauffällig wie möglich, meine Ärmel nach unten zu ziehen.
Obwohl ich vor ihr saß, hatte ich das Gefühl, der Boden würde jeden Moment unter meinen Füßen zusammenbrechen. War es das Parfum, das nur seicht durch den Geruch des Desinfektionsmittel drang? Oder war es das, was demnächst über meine Lippen springen wollte?
„Was ist denn los? Du bist heute so aufgeregt“, bemerkte sie und stellte ihre Kaffeetasse nach kurzem Nippen ab.
Einen Moment wartete ich und bereitete mich innerlich auf das vor, was ich nun loswerden wollte. Ob es falsch oder richtig war – ich wusste es nicht. Und ich weiß es immer noch nicht ganz.
„Du unterstehst eigentlich einer ärztlichen Schweigepflicht“, sagte ich tonlos. Mein Herz schlug plötzlich schneller. Und ich merkte, wie mir ein unangenehmes Gefühl durch den Magen fuhr. Vielleicht hätte ich es doch nicht sagen sollen.
„Aha.“ Sie kniff die Augen zusammen und guckte mich fordernd an, um mich dazu zu bringen, noch mehr zu sagen.
Kurz wartete ich ab. Beobachtete, wie sie ihre braun-blonden Haare erneut hinters Ohr strich und sich die Brille zurecht rückte.
„Du darfst mir eigentlich gar nichts über deine Patienten, deine Operationen und all das andere erzählen. Mr. Howard, Miss Sandane. Über all die Personen hättest du nicht mit mir reden dürfen.“
Die Sätze wollten nur widerspenstig aus mir heraus kommen. Und ich fühlte mich mit jedem Wort, das ich aussprach immer schlechter. Es ist grausam, jemanden mit irgendwelchen Fehlern zu konfrontieren, die er gemacht hatte.
Das Grinsen auf ihrem Gesicht verschwand. Und sie blickte eine Weile auf den zarten Schaum, der munter auf ihrem dampfenden Kaffee umher waberte.
„Du hast ja Recht.“
Ich runzelte meine Stirn.
„Mr. Howard, Miss Sandane … all die Personen …“, sie fing den Satz an, doch sie beendete ihn nicht. Anscheinend überlegte sie, wie sie ihn formulieren sollte.
„Gibt es die beiden überhaupt?“, ich hörte die Aufregung in meiner Stimme mitschwingen. Ich hörte, wie empört ich klang, obwohl ich innerlich rein gar nichts fühlte. Denn ich wusste fast, was ihre Antwort sein würde.
„Ich habe die Personen nicht erfunden. Nein, das hätte ich niemals. Sie existieren. Aber die Geschichten, die ich dir erzählt habe, die waren ...“
„Ja?“
„Die waren nicht ganz richtig. Natürlich habe ich nicht gegen die Schweigepflicht verstoßen. Vielleicht ein bisschen, weil ich die Namen meiner Patienten missbraucht habe. Aber nein, ich ...“
„Du hast dir die Geschichten ausgedacht?“
Sie nickte langsam.
Ich blieb stumm.
„Ich bitte dich, sei nicht enttäuscht.“
„Ich will gar nicht fragen, wieso du es getan hast, Helene.“
„Du weißt, wieso.“
Ich blieb wieder stumm.
„Ich konnte es nicht mitansehen, wie du jeden Tag so einsam in dem Café versauerst. wie du jeden Tag die selben unhöflichen Personen bedienst. Ich weiß, dass es bei dir zu Hause nicht gut aussieht … ist es denn dann überhaupt verwerflich, wenn ich dir Geschichten erzähle? Ist es verwerflich, wenn ich versuche, deinen Alltag interessanter für dich zu machen?“
„Du hast mich im Glauben gelassen sie wären wahr.“
„Hättest du sie für wahr gehalten, hättest du sie nicht beachtet. Nicht hingehört. Sie hätten dich nicht abgelenkt, von dem Alltag, der dir so schwer auf der Nase herumtanzt.“
„Ich höre dir immer zu. Egal, was du erzählst. Egal, wie sinnig oder unsinnig es sein mag.“
Sie nickte wieder.
„Wollen wir uns andere Geschichten erzählen? Geschichten, die nichts mit falschen Patienten zu tun haben? Wahre Geschichten? Wir dürfen uns gegenseitig nichts vormachen.“
Ich nickte erwartungsvoll. Fast sehnsüchtig, um ihre Lippen wieder reden zu sehen.
Seit heute Abend weiß ich, dass ich das Gespräch bereue. Niemals hätte ich sie darauf ansprechen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten uns weiterhin Lügen erzählt.
Sie war zwei Tage nicht da. Zwei Tage ohne ihre schlauen Sätze, die für Fremde oftmals besserwisserisch wirkten.
Ich dachte, ich hätte mit meinen unbedachten Worten, über die ich mir Tage lang den Kopf zerbrochen hatte, endgültig verjagt.
Doch heute saß sie wieder an ihrem Tisch. Der, der direkt an dem Schaufenster stamd, von welchem aus man die Straßen des Marktplatzes beobachten konnte. Auch, wenn es den anderen Gästen nicht ganz fair gegenüber war, so achtete ich dort doch besonders darauf, dass der Tisch immer sauber war.
Heute spürte ich das erste Mal, dass sie zurückhaltender war. Ein bisschen zumindest.
„Wir müssen uns wohl ein anderes Thema suchen, über das wir diskutieren können“, sagte ich mit einem zaghaften, aufgesetzten Grinsen.
Sie nickte nachdenklich und redete an dem Tag kaum etwas. Doch das störte mich nur wenig. Wie immer saß ich vor ihr. Und beobachtete so unauffällig wie möglich all ihre Bewegungen, die so elegant, so anmutig aussahen, obwohl sie einen unförmigen Arztkittel trug.
„Wie war dein Wochenende?“, fragte sie fast beiläufig, als ich mit meinem lauwarmen Spüllappen über das glatte, glänzende Holz wischte.
Mein Wochenende … ohne sie war es so unausgefüllt. Es waren nur lästige Stunden gewesen, die so zäh wie noch nie umgegangen waren. Stunden, in denen ich all die Zeit auf sie gewartet hatte. Erfolglos. Ich wusste und weiß immer noch, dass ich mich nicht so sehr auf die Freundschaft mit ihr versteifen sollte, doch ich kann nicht anders.
„Danke. Es war schön … sehr schön. Wir hatten wieder viel Betrieb. Alle Tische waren belegt und die aus der Küche haben mich wieder herumgejagt. Doch … es war schön.“
Es war schrecklich.
„Na, das klingt ja gut“, kicherte sie und nahm wieder einen Schluck von ihrem Kaffee, so wie immer.
„Und … wie war deines?“ Irgendwie war es schwer, sie etwas zu fragen. Ich wusste nicht, wieso. Vielleicht, weil ich noch enttäuscht war und es mich unglaublich viel Überwindung kostete, diese Enttäuschung zu überspielen. Vielleicht.
Vielleicht war es auch einfach die Tatsache, dass sie anscheinend oft nur aus Mitleid zu mir sprach. Oder war da doch mehr dahinter?
„Mein Wochenende war angenehm. Danke, dass du nachfragst.“ Sie lachte unsicher. Wobei ich sie noch nie unsicher gesehen hatte.
„Wieso? Erzähl doch mehr. Ich mag es, dir zuzuhören.“
Ich hatte ihr diesen Satz wirklich oft gesagt. So oft, dass es außergewöhnlich oft war. Sie hätte es bemerken sollen. Doch ich glaube, das tat sie nicht.
„Ich war im Park. In dem, der sich um die Ecke befindet.“
Ich nickte eifrig.
„Es war wirklich unterhaltsam, angenehm“, flüsterte sie auf einmal nachdenklich und spähte zu der kleinen Tür hinter den Tresen, die zur Küche führte. Doch niemand außer uns war im Moment da.
„Oh, das klingt gut.“
„Ich habe jemanden kennengelernt.“ Plötzlich nahmen ihre Sätze eine ernste Tonlage an.
„Jemanden kennengelernt? Das ist … das ist toll.“ Meine Stimme klang stumpf. Und viel weniger erfreut, als ich sie eigentlich hätte haben wollen.
„Ja ...“ Ihre Wangen wurden ein wenig rot. Das war mir neu. Irgendwie war ihr Lächeln gezwungen.
„Erzähl mir von der Person.“
Oh bei Gott. Niemals hätte ich das sagen sollen.
„Es ist ein junger Mann. Er ist seit ein paar Tagen in unserer Klinik. Er ist auch Arzt, ausgerechnet in der selben Abteilung. Vater kannte ihn schon länger und er fand, es wäre Zeit, dass ich ihn endlich kennenlerne. Im Park … da kamen wir ins Gespräch.“
Plötzlich wurde es mir klar vor Augen, was es damit auf sich hatte. Mein Blick wurde starr, ich wurde stumm. Ich konnte nichts mehr sagen. Es war wie eine Ohrfeige, die sie mir zärtlichst gegeben hatte. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich meinen Mund nicht aufbekommen hatte. Und ich würde ihn auch nie aufbekommen, wenn ich weiterhin so bleiben würde, wie ich es bin.
„Das freut mich sehr für dich. Das ist schön. Aber nur, weil dir dein Vater einen Mann vorstellt, musst du nicht … musst du diesen Mann nicht … Egal. Es ist dein Leben, das weißt du. Und dein Vater hat sich in nichts einzumischen. Du … ich muss weiter arbeiten.“ Das Blut schoss in meinen Kopf und ich wurde knallrot. Hastig atmete ich ein und aus, sodass es auffällig war. Sie merkte es.
„Aber es ist doch noch niemand außer mir da. Die anderen kommen doch erst in einer halben Stunde. Setzt dich doch noch eine Weile zu mir.“
Ihre blauen Augen wurden ganz matt. Ich wusste nicht, ob sie wirklich enttäuscht war, oder ob ich es mir nur wünschte, dass sie es war.
„Ja … ich muss noch ein paar Sachen spülen. Tut mir Leid. Ich würde dir gerne zuhören. Aber es geht im Moment nicht. Tut mir wirklich Leid. Vielleicht kannst du mir ja das nächste Mal von ihm erzählen.“ Ein riesiger Brocken hing in meinem Hals und ließ mich aufstoßen.
Du solltest selbst über deine Beziehungen entscheiden können. Nicht dein Vater. Immer wieder schwebte mir dieser Gedanke im Kopf. Doch ich wagte es nicht, ihn auszusprechen. Es wäre so ironisch gewesen.
Sie nickte. In ihrem Blick lag etwas Verbittertes, was mich verwunderte. Doch ich konnte nicht darüber nachdenken. Nein, mein Kopf war leer, die letzten, noch klaren Gedanken waren nur noch vereinzelt. Es war nur noch ein dumpfes, unbeschreibliches Gefühl in mir. Ein Gefühl der Reue … des Hasses. All das vermengte sich zu einer Art schwarzem Loch, das mich nur noch weiter in das Gefühlschaos stürzen wollte. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen sollen. Hätte ich meinen Mund nur aufbekommen, dann …
„Wie heißt er, der Mann?“, flüsterte ich mit mulmigem Gefühl, während ich schon von ihrem Tisch flüchtete.
„Eric“, sagte sie und ich spürte, dass auch sie nervös wurde.
Mit einem Nicken verschwand ich in der Küche. Hätte sie mich so zerstört an der Spüle sitzen sehen, hätte sie ihren Arm um mich gelegt. Und sie hätte das mitbekommen, was die ganze Zeit unausgesprochen zwischen uns herrschte. Wie ein kleines Kind, so muss ich da gesessen haben.
Doch es tat gut.
Sie kommt immer seltener. Und ich bin daran schuld. Es ist abartig. Ich will sie sehen. Ich will sie riechen. Ihre Hand so vorsichtig berühren, wenn ich ihr die Kaffeetasse reiche. Ich will ihr eindringlich in die Augen schauen, ihr Komplimente geben.
Und doch würde ich zurückschrecken, wenn ich sie berühre. Ich würde den Blickkontakt abbrechen, wenn sie meinen Blick erwidern würde. Und ich würde fliehen. Vor all den Gefühlen, die mich überkommen, wenn ich ihr zu nah gerate. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Und ich weiß, Vater und der Rest würde mich niemals akzeptieren, wenn ich ihr auch nur ein bisschen näher kommen würde … Ob sie das überhaupt will? Ob sie die selben Gedanken wie ich hat?
Nein, ich muss mir verbieten, so an sie zu denken. Ich muss mir verbieten, Sehnsucht für sie zu verspüren. Sie fängt an einen Mann zu lieben. Jemanden, der für sie irgendwie geschaffen ist. Medizin ist ihr Leben und ich habe keinen Schimmer davon.
Während ich hier sitze und mir den Kopf zerbreche, mache ich es nur noch schlimmer.
Sie kam heute wieder. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte oder nicht. Das erste Mal nach Tagen lächelte sie. Doch hinter ihrem breiten Grinsen verbarg sie etwas. Etwas, das nichts Gutes heißen konnte. Sie strahlte nicht, nein. Ihre Augen blieben ruhig, fast kalt und traurig, als sie mich ansah.
In der ersten Sekunde dachte ich noch, es wäre ein einfacher Zufall gewesen, als der Mann mit ihr durch die klingelnde Tür unseres Cafés kam. Niemals hätte ich sie und diesen streng aussehenden Mann in Verbindung gebracht.
Er war groß. Viel größer als sie. Seine Gesichtszüge waren hart und kantig. Das Gegenteil von ihren. Ich wusste, er hatte sie nicht verdient. Das war mir im ersten Moment klar gewesen.
„Das ist er. Eric. Eric, das hier ist meine gute Freundin Lysanne.“
Sie war unsicher. Ihre Stimme war holprig und hinter ihren Brillengläsern erkannte ich, wie ihre Augen feucht wurden. Es war ein Funken der Sehnsucht, der sie durchstieß. Und der mich um den Verstand brachte.
Ihr Anblick war schrecklich. Und je nervöser sie wurde, desto schwerer war es für mich, die Fassung zu bewahren.
Er sagte kaum etwas. Seine tiefe Stimme war rau und klang unangenehm in meinen Ohren.
Vielleicht tat er es nur wegen mir, vielleicht tat er es nur so. Doch ständig kroch seine Hand ihre Hüfte hoch und runter. Es war, als wolle er sie an sich krallen und mir sagen, ich hätte nie eine Chance. Als wäre sie sein Eigentum.
Sie kommt nur noch mit ihm. Ich weiß nicht, ob sie es macht, um mir zu verdeutlichen, dass das zwischen uns nichts sein kann. Doch wenn sie wissen würde, wie fest entschlossen ich für uns kämpfen könnte … dann würde sie vielleicht niemals auch nur einen Gedanken an ihn verschwenden.
Es ist sicher, dass er sie niemals so sehr achten wird, wie sie es wert ist.
Meine Hände zittern immer noch. Meine Kopf ist ganz wirr. Ich kann meine Gedanken nicht ordnen. Es ist, als hätte sie mich verflucht. Oder verzaubert. Oder beides zugleich. Ob es zwischen Fluch und Zauber einen Unterschied gibt?
Ich kann nicht mehr. Und scheitere daran, all das Geschehene in Worte zu fassen. Es will nicht in meinen Kopf. Der ganze Abend war so surreal.
Immer noch strömt der seichte Wind durch mein langes, schwarzes Haar. Immer noch spüre ich diese gedämpfte Ruhe des Sonnenuntergangs, der durch die Schlieren des Nebels zu erkennen war.
Es war der Park mit seinen so gigantischen Bäumen, in deren weichen Schatten wir standen.
Mein Herz rast gerade fast so schnell wie in dem Moment, als es geschehen war. Mein Kopf will mich verlassen, jetzt, wo ich versuche all das aufzuschreiben. Ich kann nicht mehr ...
Die letzten, vereinzelten Blätter rauschten sanft in dem nur unscharf zu erkennenden Dickicht. Der Herbst hatte sie fast alle schon mit sich fort getragen.
Dieses natürliche Geräusch der Blätter war so angenehm wie ihre Stimme. So faszinierend wie ihre Gesten, die mich den ganzen Abend lang gefangen gehalten hatten. Wir liefen langsam durch den feuchten Kies. Laub raschelte unter uns und verschluckte einen Teil der Wörter, die wir spärlich austeilten.
„Eric, magst du schon vorgehen? Ich möchte mich von Lysanne verabschieden.“ Zärtlich strich sie ihm seine glatten Haare hinters Ohr.
Erics Mundwinkel zuckten kurz, dann nickte er und drehte uns den Rücken entgegen. Mit großen, schlurfenden Schritten trottete er über den Kies.
Seine Silhouette verschwamm erst langsam, dann immer schneller mit dem Nebel, der in der Luft schwebte.
Helene, guckte ihm erst nachdenklich hinterher, blickte aber dann zu mir.
Ich kann es immer noch nicht fassen. Und jetzt, genau in dem Moment, in dem ich all die Buchstaben hier auf das Blatt setze, bezweifle ich, dass das alles überhaupt passiert ist.
Sie spielte mit dem Laub unter ihrem Schuh und betrachtete mich verträumt.
Ich merkte, wie ich ihrem Blick auswich, wie ich ihrem Freund hinterherschaute.
„Dein Vater will, dass du ihn heiratest, nicht wahr?“, flüsterte ich mit gebrochener Stimme, sodass er es nicht mehr hören konnte. Ein trauriges Schimmern drang in ihre vorher so aufgeweckten Augen. Sie sagte nichts, doch das reichte als Antwort.
„Du darfst keinen anderen Ehemann aussuchen?“
Stumm schüttelte sie den Kopf.
„Ich rede es mir ein, dass ich ihn liebe. Es wird funktionieren.“ Ich war gar nicht darauf vorbereitet, als sie plötzlich zu schluchzen begann.
Ihr Anblick ist immer noch so wahrhaftig, so real vor mir. Noch nie habe ich sie so traurig gesehen. Noch nie habe ich jemanden gesehen, der gleichzeitig weinte und lächelte.
Doch sie tat es.
Mit aller Vorsicht hob ich meine Hand, legte sie ihr zart auf die Schulter. All die Wärme ihres Körpers prallte auf meine klamme Haut.
Dicke Tränen rannen über ihre rosigen Wangen, so schnell, dass man sie kaum erblicken konnte.
Wieder starrte ich ihm, Eric, hinterher. Wie er den Weg entlang schlenderte und von all dem nichts mitbekam.
„Er muss dich lieben. Ich hoffe, er wird deine Persönlichkeit zu schätzen wissen“, wisperte ich mit rauer Stimme und drückte ihren schmalen Körper an mich. Obwohl sie ihre dicke Herbstjacke anhatte und ich in meinem Mantel steckte, so bildete ich mir ein, ihren Herzschlag zu spüren.
Ein Hauch ihres Parfums kroch in meine Nase und ich umschlang sie noch fester.
Ihr Oberkörper bebte. Und immer wieder entfuhr ihr ein leises Schluchzen, das sie so gut wie möglich zu unterdrücken versuchte.
Ich höre das Geräusch immer noch und kann seit sie damit angefangen hat nicht mehr aufhören zu lächeln. Es war so jämmerlich und goldig zugleich, dass ich es immer noch in meinen Ohren höre.
„Wünsch mir Glück.“ Sie löste sich aus der Umarmung und während ich dachte, sie würde für immer gehen, spürte ich ihre rauen Fingerkuppen an meiner knallroten Wange. Ich zitterte am ganzen Körper. Ein unbekanntes, gleichzeitig gutes Gefühl durchströmte meine Glieder. Ich legte ihre Hand in meine.
Sie wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht, während sie mir langsam immer näher kam. Und mein Herz klopfte immer schneller. Ein noch breiteres Lächeln als zuvor überkam ihre Lippen, als sie die Aufregung in mir spürte.
Niemals hätte ich das jetzt erwartet. Nicht mal in meinen aufregendsten Träumen hatte ich es mir je so richtig ausgemalt.
Ihr weicher Atem streifte meine Nase und jagte mir eine Gänsehaut über meinen Nacken. Meine Hände wurden immer schwitziger, während ich durch ihre duftenden Haarsträhnen fuhr.
Noch ein Mal spitzelte ich in den Nebel, doch ihr Freund war fort. Von den Nebelschwaden verschluckt.
„Er interessiert sich kaum für mich, also wird er das hier auch niemals erfahren“, flüsterte sie fast belustigt und seufzte.
„Aber …“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und ich wusste auch gar nicht, warum ich etwas dagegen einwenden wollte.
Ihre zitternden Fingerspitzen ließen von meiner Wange ab und legten sich vorsichtig auf meine Lippen. Als Zeichen, dass ich ruhig sein sollte.
Ein unangenehmes, flattriges Gefühl durchfuhr meinen Magen und ich versuchte verzweifelt, nicht hin und her zu wanken, während sie mir immer näher kam.
„Wünsch mir Glück.“ Erneut flüsterte sie diesen Satz und ein plötzlicher Schwindel durchfuhr meinen Kopf. Wie wild nickte ich und versuchte, all die wirren Gedanken auszublenden.
Zum letzten Mal blickte sie mich mit ihren faszinierenden Augen an, dann schloss sie ihre Lider.
Erst spürte ich es kaum, doch dann, dann traten ihre Lippen auf die meinen.
Und es war fast so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Sie waren rau, widerspenstig und doch weich zugleich, während sie sich zart prickelndem Gefühl auf die meinen pressten.
Es waren die Krähen des Parks, die mich durch ihre lauten Flügelschläge wieder zurück in die Realität holten.
Sie war schon längst fort, Helene. Doch auf meinem Mund herrschte noch die Wärme ihres Körpers, welche ich nie wieder spüren konnte.
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2014
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