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Freiheit

"Sie sind also tatsächlich eine der am häufigsten gesuchten Personen der Stadt?" Blanke Fassungslosigkeit mischte sich mit faszinierter Belustigung in der Stimme der jungen Frau.

"Eh ...", er stotterte, lächelte und stotterte wieder. "Wenn Sie das so bezeichnen wollen, dann trifft es vielleicht zu."

"Meine Güte. Der geheimnisvolle Bandit steht also tatsächlich vor mir. In Fleisch und Blut. Vollkommen lebendig. Und ich dachte schon, die alten Tanten aus der Dorfkneipe würden ihn aufspießen, ehe die Polizei ihn schnappen kann."

Unsicher lachte der Mann auf und strich sich einige seiner kurzen Haare hinter sein Ohr. Er wusste nicht, was er sagen sollte und war vollkommen aufgeschmissen.

"Also, lieber Herr Nachbar. Wenn ich das richtig sehe, dann haben Sie ein Fahrrad vom Wegrand gestohlen ..."

"Ja. Aber nur, um es in einen Fahrradständer zu stellen, verstehen Sie? Grausam. Das Ding stand vollkommen einsam und verlassen mitten auf dem Bürgersteig. Ich sage Ihnen, hätte ich das schöne Rad nicht um die Ecke abgestellt, dann hätte das niemand getan und es wäre wirklich geklaut worden. Ich ... ich konnte nicht anders. Es hat mir so ... In den Fingern gekribbelt. Dieses Gefühl will mich einfach nicht mehr loslassen."

Sie fing an, ihre Stirn zu runzeln. Tief im Inneren fühlte sie etwas in sich aufkommen. Erst nur gering, doch bei jedem einzelnen seiner Worte wurde es immer gewaltiger und wollte in die Freiheit finden. Ein Lächeln. Ihre Mundwinkel flackerten auf und ab. Und doch zwang sie sich, ernste Miene zu bewahren.

"Mein Nachbar ist also ein kaltblütiger Dieb, der ..."

"Nein! Sagen Sie so etwas nicht. Das ist falsch. So falsch." Kopfschüttelnd wirbelte er mit seinen Händen in der Luft umher. Als wolle er nach etwas bestimmtem greifen. Er stöhnte mit rasselnder Stimme und tippelte mit seinen leicht verschlissenen Lederschuhen auf und ab.

"Was sagen Sie? Sie sind nicht nur ein kaltblütiger Dieb? Nein? Sie sind ein kaltblütiger, vom Teufel besessener Dieb? Habe ich das richtig gehört?" 

Die Worte der Frau tanzten belustigt über ihre Lippen. Sie konnte nicht mehr umher. Das Lächeln, das die ganze Zeit in ihr gedrängt hatte, kam nun zum Vorschein.

"Nein, so ist das nicht, das müssen Sie verstehen. Ich kann nichts dafür, dass ich die Dinge mache."

"Wie tragisch. Dann erlebe ich gerade hautnah die Geschichte eines armen, herzensguten und leider auch vollkommen orientierungslosen Verbrecher."

Während sie den Mann musterte, wurde ihr Grinsen immer breiter. All die Jahre, die sie nun nebeneinander wohnten, hätte sie nie so etwas von ihm erwartet.

Gut. Merkwürdig war er schon immer gewesen. Niemand, wirklich keine einzige Person, die sie kannte, zählte die Anzahl der Rosen an seinem Rosenstock ab. Und wenn die Zahl der Blüten bei einer der Pflanzen ungerade war, machte er sie direkt einen Kopf kürzer. Wahrscheinlich war er die einzige Person in der ganzen Stadt, dem ganzen Land oder gar auf der ganzen Welt, die das machte. Aber ein verrückter Gärtner, der gleichzeitig auch noch ein verrückter Verbrecher war?

"Es ist nicht so wie es aussieht. Mein Ehrenwort darauf."

Die Frau verdrehte ihre Augen. Er klang wie ein Ehemann, der seine Ehefrau betrogen hatte und nun mit alllen Mitteln versuchen wollte, die so offensichtliche Affäre abzustreiten.

Ihre Finger schmiegten sich um eine ihrer hellblonden Strähnen, wie immer, wenn sie etwas zu Ohren bekam, dass sie interessierte.

"Ah ja. Dann klären Sie mich auf. Wie ist es denn wirklich?"

Der leicht untersetzte Mann kniff seine kleinen Augen zusammen und bewegte seine Lippen. Aber ohne, dass auch nur ein kleiner Ton aus ihnen herausfinden wollte.

"Na?"

Energisch stöhnte er auf und stotterte ein paar unverständliche Wörter.

"Da ist dieser ... dieser Zwang, verstehen Sie? Ich ... ich kann es auch nicht beschreiben. Manchmal ist er einfach da. Da muss ich alles stehen und liegen lassen. Das war bei dem Fahrrad auch so. Es .. es haben sich mir so die Haare gesträubt, bei dem Anblick, dass ich ... dass ich es nicht lassen konnte." Er nuschelte den Satz kaum verständlich, als wolle er nicht zugeben, was er gerade gesagt hatte.

"Hm. Dieser Zwang. Das klingt nicht gut, nein", sagte sie mit nachdenklicher Stimme und wollte ihre Hand auf seine Schulter sacken lassen. So wie in den Filmen, in denen ein Kommissar den Täter verhört und ihm dann durch eine solche Geste Mut zusprechen will, um weitere Informationen aus dem Täter herauszulocken zu können. Doch sie unterließ es. Es flackerte ihr noch ganz genau vor Augen, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Eine einfache Begrüßung mit Händedruck sollte es werden. Aber nein, er hatte sich stur geweigert, ihre Hand zu schütteln. Arroganter Idiot. Selbsch schuld, wenn du es dir direkt mit mir verscherzen willst. Das hatte sie damals gedacht. Und irgendwie bereute sie gerade diese Gedanken. Vielleicht hatte er da schon diesen ... Zwang, so wie er ihn gerade genannt hatte.

Ihre Aufmerksamkeit traf wieder auf die Zeitung, die sie erst auf die Idee gebracht hatte, dass er der so dringend gesuchte Bandit war, der das Leben in dem kleinen Dorf vollkommen auf den Kopf stellen wollte.

"Dieses Phantombild haben sie aber wirklich toll hinbekommen. Die schwarzen Haare passen auf den Haarschnitt genau. Auch Ihre Gesichtszüge sind gut getroffen worden, das muss ich zugeben. Naja, Ihre Nase ist vielleicht etwas zu klein. Aber sonst sage ich nur: Respekt, mein Lieber."

Irritiert starrte er sie an und versuchte, einen Blick auf die Zeitung in ihren Händen zu erhaschen. Eine Weile lang schhielte er auf das Bild und schüttelte dann wehement den Kopf.

"Nein. Überhaupt nicht. Ganz und gar nicht. Diese Nase auf dem Bild ist eine Hühnernase. Tatsächlich. Wissen Sie, wie grausam das aussieht? Das ist ... das ist eine förmliche Zumutung. Ich sehe aus wie ein ... ich weiß nicht. Es passt einfach nicht."

"Eine Hühnernase?!" Die Augen der Frau weiteten sich. Ihr entfuhr ein gluckerndes Geräusch, welches so verrückt klang, dass man es kaum als ein Kichern erkennen konnte.

"Ich habe noch nie etwas von einer Hühnernase gehört. Rabennasen, Schweinenasen, ja, die kenne ich alle. Aber verdammt noch mal, Hühnernasen? Das sagt mir nichts. Wirklich so rein gar nichts."

Mit strengem Gesicht presste er seine Lippen aufeinander und verlor sogar die Farbe aus dem Gesicht.

"Sehen Sie? Niemand mag Hühnernasen. Und deswegen sollen diese vollkommen inkompetenten Phantombildzeichner der Polizei es bitte unterlassen, mir eine solche Nase zuzuschreiben."

"Sie haben Probleme!" Lachend rief die Blondine die Worte aus, bei denen der Schwarzhaarige zusammenzucken musste.

"Man sucht Sie unter anderem wegen dem Fahrraddiebstahl. Entführung einer Katze. Und ... ja, tatsächlich auch wegen Sachbeschädigung im Hotel "Zum Ross". Verdammt, das ist ja gerade um die Ecke. Aber wieso denn das?"

"Jetzt hören Sie aber mal!" Vollkommen entsetzt schnaubte er mit gebrochener Stimme auf und versuchte verzweifelt, nach der Zeitung zuschnappen, aus der die Frau vorlas.

"Das mit dem Fahrrad habe ich schon erklärt. Das wissen Sie ja. Und die Katze von der alten Dame an der Ecke der Straße habe ich nur zu mir mit nach Hause genommen, weil ..."

Er machte eine kleine beschämte Pause und petzte seinen Mund feste zusammen.

"Ich bin ganz Ohr, Herr Nachbar!", grinste sie und stemmte ihre Hände in die Hüfte.

"Weil die alte Dame ihr ausschließlich Kuchen und Kekse gefüttert hat."

Der Mann sah ganz bedröppelt aus und seufzte angestrengt auf.

"Aha. Kuchen und Kekse."

"Jaha. Wie ich schon sagte. Nur süße Sachen. Die Arme ist schon vollkommen übergewichtig. Und wenn die Alte ihr jetzt noch ein paar Monate lang Kuchen und solchen Krempel gibt, dann stirbt sie an Überfettung! Und das darf nicht sein, weil sie mich so sehr an unsere alte Katze erinnert. "

Von Überfettung konnte man bei ihm wohl kaum reden. Er war vollkommen schmächtig und verschwand schon fast unter seinem kleinkarierten Hemd.

"Und deshalb haben Sie sich zum Kaffekranz bei ihr eingenistet."

Er nickte schuldbewusst.

"Und dann haben Sie sich, so, wie es in der Zeitung steht, als neue Putzkraft vorgestellt, ja?"

Wieder nickte er. Noch schuldbewusster.

"Verdammt, das ist wirklich ... sonderbar. Sie können froh sein, dass die Gute halb blind ist.

"Ja, ja. Ich kann von Glück reden", wiederholte er mit trüben Augen und rieb sich nervös die Hände.

"Das ist unglaublich. Wirklich. Ich hätte niemals auch nur Ansatzweise gedacht, dass hier in unserem kleinen Kaff noch etwas so sensationelles passieren könnte", sagte sie staunend und schürzte ihre Lippen.

"Und was genau war das mit der Sachbeschädigung im Hotel? Davon stand auch noch was in dem Artikel."

Unsicher ließ er seinen Blick abschweifen und blieb an dem Garten der jungen Frau hängen.

"Ich habe schon länger festgestellt, dass Sie Blumen mögen, nicht?"

Die Augenbrauen der Frau zuckten in die Höhe und sie nickte langsam.

Er lehnte sich vorsichtig über die kleine weiße Gartenmauer, die zwischen den beiden wachte und zeigte mit seinem Finger auf die Vielfalt an Pflanzen, die sich zu einer geballten Blütenpracht vereinten. Zwei Reihen rote Mohnblumen, zwei Reihen Sonnenblumen, die jeweils einen sinnlichen Duft ausstrahlten.

"Sie verstehen mich deshalb sicher ... Sehen Sie, ich war vor kurzem in diesem Hotel ..."

"Warum zur Hölle waren Sie dort, wenn Sie sowieso hier in der Nähe wohnen?"

"Ach, ach. Das spielt jetzt keine Rolle. Das ist eine längere Geschichte. Ja, ja tut es. Verstehen Sie?"

"Wenn Sie meinen." Die Frau verschränkte ihre Arme vor der Brust und blickte neugierig auf seine kantigen Lippen, die zu einem neuen Satz ansetzten.

"Ich war also in diesem Hotel. Ohne jeglichen bösen Gedanken. Wirklich. Das müssen Sie mir glauben. Das versichere ich Ihnen hoch und heilig."

Sie nickte interessiert und fuchtelte mit ihrer Hand herum, sodass er ja weiterredete.

"Bis ich plötzlich dieses Blumenbeet zu Gesicht bekommen habe. Ja, dieses schreckliche Blumenbeet. Das in dem kleinen Innenhof. Sie wissen schon. In der Nähe der Gepäckaufnahme.

Wieder nickte sie ungeduldig und trippelte auf ihren Füßen hin und her.

"Auf jeden Fall sah es grausam aus. Blumen kreuz und quer. So richtig kreuz und quer. Weiße Lilien, die Lieblingsblumen meiner Frau neben Stiefmütterchen. Wissen Sie, was für ein grotesker Anblick das ist? Das ist als würde man eine solch elegante, anmutige Lilie zu einer ... zu einer Bauernblume degradieren. Ein Ding der Unmöglichkeit! Wie kann man nur so vollkommen unvermittelt eine so schöne Blume neben eine so plumpe Pflanze setzen? Ich glaube, Sie als Pflanzenliebhaberin können mein Entsetzen verstehen, ja?"

Ein Lächeln kroch erneut auf ihre Lippen und sie legte ihren Kopf in den Nacken. Kleine Grübchen bildeten sich auf ihren roten Wangen, während sie ihm weiter zuhörte.

"Und dann haben Sie einfach selbst Hand angelegt und das Blumenbeet umgepflanzt? Deswegen diese "Sachbeschädigung"?"

"Wenn ... man das so bezeichnen kann." Eine Weile lang sagten sie nichts und standen nur schweigend voreinander. Sie grinste nur vor Staunen, während er immer unruhiger wurde und damit drohte, seine Nerven zu verlieren. Niemals hätte er damit gerechnet, dass ausgerechnet sie ihn darauf ansprechen würde. Doch nun war der Tag gekommen.

"Sie sind verrückt", entfuhr es ihr, während sie die Zeitung sinken ließ und auf der Gartenmauer ablegte.

"Aber liebenswert verrückt", ergänzte sie und merkte, dass die Nervösitit so langsam von ihm abfallen wollte. Trotzdem massierte er sich noch immer seine Knöchel und wagte es kaum, ihren Blick zu erwidern.

"Gehen Sie jetzt zur Polizei? Immerhin gibt es ja sogar eine Belohnung, wenn ich das richtig verstehe. Für jeden richtigen Hinweis fünfzig Euro, glaube ich. Oder? Fünfzig Euro ... Wobei ich denke, dass ich durchaus mehr wert bin." Wieder stotterte er und rang um Worte. Verlegen liefen seine Wangen ganz rot an.

"Also ... das alles haben Sie nur wegen diesen ach so mysteriösen Zwängen, ja? Ansonsten fließt kein kriminelles Blut durch ihre Adern, oder?" Irgendwie kam sie sich doof vor, als sie das aussprach, da sie dadurch genau wie die anderen alten Schachteln aus der Straße klang. Du meine Güte ... ihre Unterhaltung glich ja fast einem Polizeiverhör.

"Hm. Hm."

Vielleicht hatte er ja Recht. Ja. Sie konnte es sich nicht vorstellen, dass er ihr irgendwelche Lügengeschichten auftischen wollte. Nein, das was er gemacht hat, war tatsächlich abstrus und zusammenhangslos genug, sodass es ein normaler "Verbrecher" mit bösem Hintergedanken wohl nie getan hätte. Außerdem könnte an diesen sagenumwobenen Zwängen tatsächlich etwas dran sein - denn seine verrückten Verhaltensweisen hatten sich erst in den letzten zwei Jahren immer mehr gehäuft.

Sie überlegte eine Weile. Die Runzeln auf ihrer Stirn wurden immer größer und größer, je mehr sie sich über seine Worte den Kopf zerbrach. Bis ihr plötzlich ein Licht aufging.

"Wir machen es so. Ich gehe nicht zur Polizei, wenn Sie etwas bestimmtes tun", sagte sie in geheimnisvollem Ton. 

Seine kastanienbraunen Augen hellten sich auf und er wurde ganz still. Selbst das nervöse Tippeln seiner Füße hörte auf.

"Es sind genau genommen zwei Dinge."

"Ach du meine Güte. Zwei auf einmal?" Ein jammernder Seufzter entfuhr ihm.

"Ganz genau. Zwei. Also ... wollen Sie ..."

"Einen Moment!" Er unterbrach sie mit rauer Stimme, ließ seine Schultern ein paar Mal kreisen. Ungelenk drehte er seinen Kopf erst nach rechts, dann nach links, bis er zu knacken anfing.

"Ich muss mich erst seelisch darauf vorbereiten", flüsterte er besorgt und atmete so tief ein und aus, dass sein Brustkorb förmlich aufbebte.

"Also gut. Ich bin bereit."

"Bereit? Sehr gut. Die eine Sache ist die ..."

"Ja?" Ungeduldig nickte er und presste seine Fingerkuppen aneinander.

"Sie sagen mir, woher diese Zwänge kommen", sie wartete eine Weile ab, um eine Reaktion in seinem Gesicht erkennen zu können, "Und danach klettern Sie auf das Dach meiner Garage."

Stille. Sein Kiefer klappte nach unten. Die Frau wusste nicht, ob es wegen der ersten oder der zweiten Bedingung ihres Vorschlags war. Doch sie vermutete ersteres.

Seine Augen weiteten sich und er schnappte nach Luft.

"Äh", er wusste nicht, was er sagen sollte und stotterte nur die Bruchteile eines Satzes. Ihr fiel zum ersten Mal auf, dass sie seine Stimme mochte. Sehr sogar. Sie war weich, gar sanft. Nicht so tief und dunkel wie die von manchen Testosteronmonstern - so, wie sie manche Männer gern bezeichnete. Und dennoch hatte seine Stimmlage etwas Raues, das ihr an Reiz hinzufügte.

"Garage und Wahrheit oder Polizei und eine kleine Summe als Belohnung für mich. Sie haben die Wahl, mein Lieber." Ihre Stimme lachte auf und die Frau stemmte ihre schlanken Arme in die Hüften. "Und jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass ich zu neugierig bin. Denn das weiß ich schon lange genug."

Er kicherte kurz und fuhr sich dann mit seiner großen Hand durch die von braunen Strähnen durchzogenen Haare.

"Oh, in was habe ich mich da nur reingeritten? Ich ... ich werde es wahrscheinlich bereuen, aber ... ja. Ich entscheide mich für die Garage. Mir bleibt wohl gar nichts anderes übrig." Sachte drang ein Lachen über seine Lippen.

"Tatsächlich? Prima! Sehr gut. Ich freue mich, das können Sie mir glauben."

Der Mann brummte einen zustimmenden Laut und seine Miene hellte sich so langsam auf.

"Na dann kommen Sie nur, mein Lieber. Kommen Sie! Wir dürfen keine Zeit verlieren!" Eilig hastete sie zu der aus weißem Holz bestehenden Gartentür, die am Anfang ihres Gartens in der Mauer eingebracht war, und winkte den Mann zu sich heran.

"Wissen Sie, vor kurzem habe ich in einem Zeitungsartikel gelesen, dass sich Menschen die verschiedensten Eigenheiten angewöhnen oder die unterschiedlichsten Zwänge bekommen, nachdem sie ein Trauma erlebt haben. Das muss schrecklich sein."

"Oh. Oh ja. Da hat die Zeitung, dieses Schandblatt, Ausnahmsweise mal gar nicht so Unrecht." Er nickte verträumt, so wie er es immer tat, und huschte auf ihre Aufforderung vorsichtig in den Garten der jungen Frau. Die kleinen Steinchen des Kiesweges unter ihren Füßen knirschten geräuschvoll auf, während sie den Weg entlang liefen. 

"In meinem Studium besprechen wir solche Dinge. Und reden über solche Themen. Und irgendwie bin ich froh, dass ich diesen Studiengang gewählt habe. Aber trotzdem ist es immer wieder niederschmetternd. Und manchmal - so groß meine Neugier auch ist - möchte ich gar nicht hinter die Fassade der betroffenen Personen schauen. Manchmal will ich gar nicht wissen, was so schlimm war, das sich eine Person so stark verändern konnte."

"Und trotzdem wollen Sie wissen, was bei mir geschehen ist?", flüsterte er mit leichter Bewunderung und staunen in der Stimme.

Ihre Füße kickten nach einem größeren Stein, der auf dem Gartenweg lag. Sie nickte kaum merklich und ließ ihren Blick über die Strahlen der Sonne schweifen, die nun durch das Laub der Blätter hindurch krochen.

Etwas verletzliches schimmerte in den Augen des Mannes und er trottete ihr nun etwas langsamer hinterher.

"Vielleicht hilft es Ihnen ja, das Trauma zu bewältigen, indem Sie jeden Tag ein bisschen mehr darüber reden. Seitdem ihre Frau nicht mehr hier ist, haben Sie ja kaum noch jemanden, der ein Ohr für Ihre Gedanken hat."

"Ja. Ja, Sie haben Recht", sagte er merkwürdigerweise fröhlich und zog seine Augenbrauen in die Höhe, "Und wenn wir schon reinen Tisch machen, dann können Sie mich auch sehr gerne bei meinem Vornamen nennen. Adrian."

Adrian lächelte sanft, sodass seine Wangen nach oben zuckten und sich kleine Grübchen auf seinem Gesicht bildeten. Es war das erste Mal, dass sie ihn wirklich lächeln sah.

"Rose", kicherte sie und reichte ihm die Hand. Auch, wenn es ihm anfangs Überwindung kostete, erwiderte er ihren Händedruck und umschloss ihre langen Finger mit seiner rissigen, von der Gartenarbeit gekennzeichneten Hand. Das erste Mal nach fünf turbulenten Jahren, in denen sie kaum eine Unterhaltung mit ihm geführt hatte. Seine Finger waren ganz warm und angenehm und fühlten sich, obwohl sie rau waren, wie die feinen Sonnenstrahlen an, die auf ihre helle Haut niederprasselten. Vor Freude hämmerte ihr Herz und irgendwie war sie stolz auf sich, da sie den bisher so stummen, zurückgezogenen Mann zum Reden gebracht hatte. Ihre braunen Augen leuchteten durch die Sonne rötlich auf und während sie über seine Hand huschten, wurde Rose plötzlich ganz stutzig. Kaum zu erkennen und doch war sie da. War es nur ein Schleier vor ihren Augen? Nein, unmöglich. Irritiert guckte sie erneut auf seine Hand und stellte mit staunen fest, dass sie tatsächlich richtig gesehen hatte. Es war eine Narbe über dem Handgelenk, die durch einen Wink seines Ärmels sofort wieder verschwunden war.

"Ist sie von dem Tag?" Irritiert blickte sie drein. Und es schien, als wisse er sofort, auf was sie ihre Frage bezogen hatte.

"Ja, das ist sie", sagte er nach einem Augenblick des Zögerns und versicherte sich kaum merklich, ob sie auch ja von dem Zifpel seines Hemdes überdeckt wurde. Dann lächelte er merkwürdig.

"Die anderen Nachbarn haben Ihnen sicher schon davon erzählt, Rose, nicht wahr?"

Es klang so vertraut, mit welch weicher Stimme er ihren Namen aussprach, sodass es schon fast unheimlich wirkte.

"Ja, das haben viele. Aber ich glaube es ihnen nicht. Menschen erzählen Geschichten. Tolle Geschichten, traurige. Und eines haben sie meistens gemeinsam: dass sie nicht wahr sind, sondern nur Verfälschungen der Realität sind. Oder gar Lügen."

Er lächelte erneut, diesmal traurig, und setzte sich vorsichtig auf die kleinen marmornen Treppen, die zu ihrer Haustür führten.

"Ich weiß nicht, welche Version der Geschichte Sie zu hören bekommen haben, Rose. Doch das hier ist meine. Und sie wird wohl am ehesten der Realität entsprechen. Wobei ich auch Angst habe, dass mich mein Gedächtnis betrügt und es mir das Geschehen verfälscht vor Augen spielt."

Vorsichtig nickte sie.

"Wir hatten Streit. Meine Frau und ich. Im Urlaub. Unsere Geschichte erinnert mich immer an diese dramatischen Serien, die jeden Tag um die Mittagszeit im Fernsehen laufen, Sie wissen was ich meine. Jedenfalls hatte sie sich in einen anderen Mann verliebt. Das ging schon ein paar Monate so. Und ich wusste es. Trotzdem habe ich nie den Mut gehabt, ihr zu sagen, dass ich von ihm weiß. Vielleicht vergisst sie ihn einfach und alles wird wieder so wie früher. Das habe ich gedacht. Naiv, ich weiß."

Der seichte Wind durchschnitt seinen Satz und hinderte ihn daran, weiter zu reden. Er musste aufatmen und wartete ein Weilchen, um mit seinen Wörtern nicht gegen die Böe ankämpfen zu müssen.

"Sie hat versucht, es mir zu beichten. Während wir Auto gefahren sind. Eine schreckliche Dummheit war das. Ich wollte es ihr ausreden. Sie hätte es mir im Hotel sagen sollen, doch sie war der Meinung, dass es dafür zu spät wäre und sie mit mir nicht mehr in dem selben Zimmer schlafen wolle. Puh. Die Strecke war kurvig. Wir sind extra in die Berge und nicht in heißen, südlichen Länder gefahren, da sie Rücksicht auf mich nehmen wollte. Und genau das war der Fehler."

Angestrengt rieb er sich die Augen, während sich die in dem Winde wiegenden Rosen darin spiegelten.

"Ich möchte kein Drama machen. Was passiert ist, ist passiert. Wir sind von der Autobahn abgekommen und in die Tiefen der Berge gestürzt. Der bodenlose Flug ins Nichts kam mir vor, als würde er mein ganzes Leben dauern. Und doch war er binnen Sekunden um. Und damit war auch das Leben meiner Frau ... Nein. Nein, ich will kein Drama machen. Sie können sich das Ende sicher zusammenreimen."

Schon seit geraumer Zeit wusste Rose, dass sein Trauma etwas mit den Bergen zu tun hatte. Und, dass seine Frau dabei umgekommen war. Doch man hatte ihr die abstrusesten Lügengeschichten aufgetischt, die überhaupt nicht dem entsprachen, was er gerade ausgesprochen hatte. Und das alles nur, um das eigene, staubig, trockene Leben interessanter zu machen, indem man es sich mit den nur halbwahren Geschichten anderer versüßen wollte. Armselige Menschheit.

Rose fühlte sich schlecht. Vollkommen geknickt und ihre vorherige Neugier fiel nun vollkommen von ihr ab. All die Jahre war sie davon überzeugt gewesen, dass Adrian seine Nachbarschaft - Rose miteinbezogen - vollkommen grundlos hasste. Dass er ein verbitterter Mann war, der das Leben nicht zu schätzen wusste.

Nun, wärend er mit gekrümmten Schultern neben ihr kniete, die immer tiefer sacken wollten, wurde ihr bewusst, dass sich das ganze, so feste Bild, das sie sich von ihrer Umgebung gemacht hatte, nun eine gewaltige Veränderung durchmachen musste. 

Angestrengt seufzte sie auf. Es tut mir Leid. Oder ... mein Beileid, wollte sie sagen. Doch so freundlich und tröstlich der Sinn ihrer Worte auch sein sollte, so plump kam ihr deren Wirkung vor. Und so blieb sie für eine Weile still. Das Rauschen, das die ganze Zeit in ihrem Ohr geherrscht hatte, war am abklingen und sie versuchte, krampfhaft zu überlegen, was sie nun antworten könnte. Bis sie urplötzlich aufspritzte. Ihr sommerliches Kleid schwebte fröhlich wie Blütenblätter im Wind.

"Wissen Sie, was wir jetzt machen, Adrian?"

Sein matter Blick wurde nun wacher und schaute sie fragend an.

"Wir klettern jetzt gemeinsam auf meine Garage. Teil zwei der Abmachung."

Leicht irritiert legte er seine Stirn in Falten und kratzte sich am Hinterkopf. 

"Ich habe seit diesem Ereignis Höhenangst. Können wir das nicht ... wo anders machen?"

"Nein", grinste sie stur und reichte ihm seine Hand, sodass er sich leichter von den Treppen aufraffen konnte.

"Das ist .. verrückt. Wieso sollten wir das tun?" Zwar streckte er ihr seine Hand entgegen, war aber trotzdem nicht entschlossen genug, um die ihrige zu ergreifen.

"Weil wir jetzt einfach verrückt sein werden, Adrian." Vergnügt spitzte sie ihre vollen, roten Lippen und riss ihn, ohne auch nur eine Sekunde abzuwarten, an seiner Hand in die Höhe.

Sprachlos stolperte er ihr hinterher und war Rose vollkommen ausgeliefert, welche nun auf die alte Garage an der Seite ihres Hauses zusteuerte.

"Sie glauben nicht, was ich mir da ausgedacht habe. Ich muss sagen, ich bin wirklich stolz auf mich. Wir gehen jetzt zusammen da hoch und Sie tun, was ich sage. Ja?"

Mit einem ratlosen Zucken der Schultern nickte er und folgte ihr nun auch aus eigenem Willen bis zu dem Garagentor, welches schon vor geraumer Zeit von Rost überfallen worden war.

"Können Sie mir die Leiter aus meiner Garage holen? Wären Sie so lieb?"

Unverständlich stotterte er irgendetwas und schlupfte durch das halb geöffnete Tor hindurch, um ihre Bitte zu erledigen.

Es krachte und rumpelte laut. Ohrenbetäubendes Scheppern. Stille. Dann trat er wieder zum Vorschein, mitsamt der Leiter unter seinem schmächtigen Arm.

"Vielen, vielen Dank", grinste Rose und schlug das Tor mit einem gewaltigen Schwung wieder zu. Er zuckte zusammen.

"Und nun: hoch mit uns beiden. Hopp hopp. Zack zack."

Ein metallisches Klirren zeugte davon, dass er die Leiter nun mühselig aufstellte und an das Tor hievte. Adrian testete kurz, ob sie festen Halt hatte und nickte anschließend.

"Ist es überhaupt sinnvoll, was wir gerade machen?", zweifelnd drehte er sich zu der Frau und ließ erneut seine Schultern kreisen, sodass sie wieder zu knacken anfingen.

"Fragen Sie nicht nach dem Sinn. Fragen Sie nach dem Gefühl. Und jetzt hoch mit Ihnen. Sie zuerst, Adrian."

"Aber ... was, wenn ...", stotterte er unbeholfen und schielte zwischen Rose und der Leiter hin und her.

"Sie gehen jetzt zuerst, damit ich mir sicher sein kann, dass Sie mir nicht einfach weglaufen und mich arme Frau da oben vollkommen alleine lassen! Keine Widerrede, mein krimineller Nachbar", lächelte sie fröhlich und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern.

"Na dann. Zu ... zu Befehl", seufzte er und schüttelte den Kopf, während er immer mehr Streben der Leiter erklomm. Sein Körper verschwand auf dem Dach. Nur der Kiesboden, der bei jedem seiner Schritte aufkreischte, zeugte davon, dass er dort oben angekommen war.

"Und, spüren Sie schon eine andere Luft da oben, Adrian?" Roses Stimme brüllte auf und endete in einem mädchenhaften Lachen.

"Ich bin ... vollkommen beflügelt", hörte sie ihn mit leicht ironischer Stimme sagen und kletterte ebenfalls hinauf.

"Und was nun?", neugierig und angespannt zugleich unterbrach er die Stille zwischen den beiden. Er wagte sich nicht, auch nur einen Schritt zu machen, sondern stand nur steif in der Mitte des Daches, von welchem man die Rufe der Vorstadt erkennen und hören konnte. Autohupen, Glockenläuten und dann immer wieder irgendein unerklärliches Scheppern, von welchem Rose keinen blassen Schimmer hatte, durch was es verursacht wurde.

"Wir beide spielen jetzt eine Szene aus dem Film nach, in dem das so berühmte, unsinkbare Schiff in den Gletschern zerschellt."

Vollkommen perplex, wirbelte er einen Schritt zurück, in die Nähe der Leiter, um wieder hinabklettern zu können: "Was, wir ertrinken? Oder springen da runter? Nein! Ich bin weg hier."

 "Was zur Hölle? Nein!", vor lauter Lachen, drängte sich nur ein ulkiges Grunzen aus ihrer Nase, woraufhin sie sich noch mehr schüttelte, "Wo denken Sie denn hin? Wir bleiben natürlich schön oben. Sonst wäre die Mühe hier hochzuklettern ja völlig um sonst gewesen wenn wir uns kurz darauf beim herunterspringen alle Knochen kaputt machen." 

Gelenkig huschte sie nach vorne und trat mit all ihrer Kraft gegen die Leiter, die mit der obersten Strebe die Garage überragte.

"Aber nicht doch!", jaulte Adrian entsetzt auf, doch er konnte nicht verhindern, dass sie mit einem harten Krachen auf dem Kies des Gartens landete.

"Wie sollen wir da jemals wieder runter kommen?", jammerte der Mann mit käsbleichem Gesicht und fixierte den Boden des Bürgersteigs auf der anderen Seite der Garage, über dem er nun fast zwei Meter hoch schwebte. Unbekümmert zuckte Rose mit ihren schmalen Schultern.

"Du meine Güte. Das ist so hoch. So verdammt hoch. Als die Leiter noch da stand, war es noch nicht so schlimm. Aber jetzt. Meine Güte, das sind fast zehn Meter. Mein Gott ... hilfe! Stellen Sie sich doch vor, die Garage bricht unter unserem Gewicht zusammen!"

Wie wild schlug er sich die Hände über seinen Kopf zusammen und zitterte an seinen langen Fingern.

"Ach was. Auch, wenn die Garage längst baufällig ist: Wenn sie schon zusammenbricht, dann nicht heute."

"Dann nicht heute", wiederholte er und schaute nervös auf die Enden des Garagendachs.

"Nun kommen Sie. Der Spaß fängt jetzt erst richtig an!"

Ihre nach Blumen duftenden Hände tasteten die seinen ab und führten ihn langsam, aber sicher zum anderen Ende des Daches. Seine Schritte widerstrebten all dem, wollten kaum einen Meter vorwärts. Doch je mehr sanfte, beruhigende Worte Rose aussprach, desto weniger stark sträubten sie sich. Bis die junge Frau schließlich Adrians Vertrauen gewonnen hatte und er sich bereitwillig von ihr führen ließ.

"Und jetzt stellen Sie sich vor mich Adrian. Ja, so. Genau." Sie breitete ihre Arme weit aus, um es ihm zu veranschaulichen.

"Wirklich?" Unsicher schielte er zu der Kante, die den Abstand zwischen Garagendach und Boden in regelmäßigen Abständen immer größer erscheinen ließ.

"Muss das wirklich so sein?"

"Natürlich! Warten Sie, ich helfe Ihnen Adrian. Sonst wird das noch eine ganze Weile dauern." 

 Sie stellte sich direkt hinter ihn und lehnte sich an seinen Rücken. Ihre Finger glitten seine Arme hinab und umschlossen sie dann vorsichtig. Aufgeregt spürte er, wie ihr Herz an seinem Rücken hämmerte. Wie ihr beruhigender Atem an seinem Hals vorbeipfiff.

 "Arme in die Höhe!", ermahnte sie ihn und packte seine vorsichtig an, um sie im rechten Winkel vom Körper abstehen zu lassen.

"Richtig so? Wie so ein Jesus am Kreuz?", fragte er hastig und schielte wieder auf den Boden hinab, der sich immer weiter weg entfernen wollte.

"Ja, vollkommen richtig so", lachte Rose auf und legte ihr Kinn auf seine Schulter. Ihr Blick schweifte über die kleine, ihr so bekannte Kopfsteinpflasterstraße und wechselte dann zu den Umrissen der Altstadt, die bläulich schimmerten. Obwohl der Ausblick im ersten Moment nicht besonders wirkte, schien er die beiden auf merkwürdige Art und Weise zu beflügeln. Auch, wenn die Luft nicht gerade die reinste war und sie geradewegs von der verschwommen zu erkennenden Autobahn stammte, machten die beiden einen tiefen Atemzug.

"Mir ist noch nie aufgefallen, dass man von hier aus auch die Kirche der Altstadt sehen kann. Ihnen etwa?"

"Nein", flüsterte er und prustete die Luft zischend aus, "Sogar das Hotel "Zum Ross" kann man sehen ..."

Sie merkte, wie er seinen Blick sofort von dem alten Gebäude abwendete und musste leicht schmunzeln.

"Wenn man die Arme so hoch hält, fällt es einem leichter zu atmen ... und zu singen. Wobei ich jetzt nicht vorhabe, mit Ihnen zu singen. Ich habe keine schöne Singstimme, überhaupt nicht. Ich bin eher dafür, dass wir jetzt etwas schreien. Etwas aus uns herausbrüllen, um unsere Seele frei zu machen. Sie verstehen, was ich meine?", flüsterte Rose mit weicher Stimme in sein Ohr. Seine Wangen liefen glühend rot an.

"Jetzt schreien Sie: Ich bin frei!"

"Ich bin frei?" Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass er erneut seine Stirn runzelte.

"Nur zu. Brüllen Sie es so richtig aus sich heraus. Ich bin frei! Und wenn Sie es nicht alleine machen wollen, dann schreie ich auch gerne mit Ihnen."

"Du meine Güte. Was soll denn unsere Nachbarschaft denken?"

"Ach, das ist uns doch egal. Die denken sowieso, Sie sind ein verbitterter Witwer und ich eine hobbylose Studentin."

"Aber was, wenn die uns wirklich hören? Das ist ... doch peinlich?"

"Dann denken sie eben erst wir wären verrückt und kurz darauf werden sie neidisch und merken, dass sie in ihren armseligem Leben nie irgend eine Form von Freiheit gespürt haben. Wissen Sie ... manchmal muss man die Freiheit spüren, um erkennen zu können, von welchen Zwängen wir kontrolliert werden. Und nun ... fangen Sie an!"

Sie lächelte in sein Hemd hinein, spürte, dass die Anspannung in seinem Körper abfiel. Erst schluckte er auf. Dann nahm er behutsam ihre Hand in seine und lehnte ebenfalls seinen Kopf nach hinten, auf Roses Schulter.

"Ich bin frei", murmelte er. Leise.

"Ich bin frei", sagte er nun. Lauter.

"Ich bin frei ... frei!" Plötzlich schrie er die Worte. 

Es klang merkwürdig, immer den selben Satz hintereinander zu hören. Weil er dann so ungewohnt klang, als wäre er nicht aus der eigenen Muttersprache.

Doch Rose lächelte. Und rief die Worte zusammen mit ihm aus, die einer Verkündung gleichen wollten. Ein flatterndes Gefühl durchströmte ihren Magen und machte die beiden ganz fluffig leicht. Wie benebelt, überblickte Rose im Glück versunken die Stadt vor ihnen und merkte an seinen sie im Nacken kratzenden Haaren, dass sie noch nicht abhob und in den Himmel flog - sondern sich noch auf der Erde befand.

War es eine Minute? Eine Stunde? Ein ganzer Tag, den sie so da standen? Rose wusste es nicht. Und Adrian noch weniger.

All das fühlte sich an wie ein einziger Traum. Kaum wahrnehmbar und doch vollkommen präsent. Bis er schließlich seine Arme sacken ließ und sich zu ihr umdrehte. Er grinste. Vollkommen glücklich. Seine Wangen waren noch rötlicher als zuvor und sahen nicht mehr so eingefallen aus wie in den letzten paar Stunden oder Minuten ...

Seine hellen Augen blitzten in der Sonne auf und wirkten so vollkommen lebendig.

"Es ... ist wirklich ein Stück Freiheit, das ich in mir spüre. Wirklich. In meinem Herzen, tief in mir. Das ist ... unglaublich. Ich schmecke sie, salzig, süß. So vielseitig. Befreiend und deshalb schon fast beängstigend. Mein Gott. Das ist verrückt. Und ich glaube, sie sogar zu riechen."

"Tatsächlich?" Roses Lippen zitterten vor Aufregung, als sie seinen Worten lauschte.

"Die Freiheit ... die Freiheit. Sie duftet so wie Sie, Rose", stellte er plötzlich mit ernstem Ton fest, "So wie Sie."

Irritiert fing sie an zu lachen und runzelte ihre Stirn. Adrians Hände griffen nach ihren Wangen und spürten, dass diese zu glühen anfingen. Das Weiß seines Lächelns verschmolz mit den letzten Strahlen der Sonne. Und plötzlich spürte er Hoffnung in sich aufkeimen.

Er hatte Tränen in den Augen. Tränen des Glücks. Nachdenklich senkte er seine Lider, seufzte sentimental auf und zog Rose zu sich. Seine Arme umschlangen sie, rissen sie mit sich in den Gefühlstaumel. Beide Herzen rasten, beide zitterten. Vor Aufregung und Unsicherheit.

Erst, ja, erst merkte Rose es nicht. Erst dachte sie nur, er lehne sein Gesicht behutsam an ihre Stirn. Doch dann spürte sie, wie sich seine rauen Lippen spitzten und ihr einen kleinen Kuss über die Augenbrauen drückten, und, wie seine salzigen Tränen auf ihre Wangen tropften.

"Das ist es", flüsterte er kaum hörbar, "Ich kenne diesen Geruch nur zu gut."

Eine Weile lang ging er nochmal seine Gedanken durch und kam dann zu dem Schluss.

"Rosen duften nach Freiheit. Genau wie Sie."

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.08.2014

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