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1. Ausgabe 2014
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Swantje Berndt
Aus Feuer Und Licht
Bündnis der Sieben 02
1. PROLOG
Die Schellen aus gehärtetem Silber reflektierten das Sonnenlicht. Unerträglich hell stachen die gebrochenen Strahlen in Shemhazais Augen. Er wischte über sein Gesicht. Verteilte dabei nicht nur Tränen, sondern auch das Blut des Gebundenen.
»Hab Erbarmen, Heerführer!« Caym reckte seine Hände zu ihm hinauf. Die silbernen Fesseln klirrten.
»Erbarmen?« Für die Tochter des Ziegenhirten kam jegliches Erbarmen zu spät. Die Reste ihres Körpers lagen aufgebahrt inmitten ihrer trauernden Familie und warteten auf die Flammen. »Du vergehst dich an ihren Frauen und ignorierst, dass sie zerbrechlich und sterblich sind.«
»Wir sind hier, um sie zu knechten«, brüllte Caym. »Um ihre Seelen für die Geflügelten gefügig zu machen. Deswegen plagen wir uns mit ihrer Dummheit und ihrem Gestank.« Der Geifer rann ihm aus dem Mund. Camael musste umnachtet gewesen sein, als er Caym in das Heer der Grigori befohlen hatte. Trotz seiner Hülle aus Fleisch und Knochen glich er viel eher einem der verbannten Dämonen aus den Schattenreichen als einem Grigori des zehnten Chores.
Sie waren zweihundert. Ein Stoßtrupp, mehr nicht. Die Triaden rechneten mit keinem ernst zu nehmenden Widerstand. Sie gingen davon aus, dass allein die beeindruckende Größe und Vollkommenheit der Krieger den Menschen Respekt einflößte.
Shemhazai zügelte seine Verachtung, um dem Verurteilten nicht sofort den Kopf abzuschlagen und ihn als haltlosen Geist in dieser Welt zurückzulassen. Ein Blick zu Kepheqiah half ihm dabei. Wie immer blieb sein Freund gelassen und zeigte das mit einer beinahe arroganten Miene. Ungewöhnlich für einen Grigori. Keph hielt sich in vielen Dingen abseits.
»Eine Ziege gibt bessere Milch, wenn man sie krault, statt sie zu schlagen.« Hoch aufgerichtet ging Keph mit geschmeidigen Schritten um den Gefangenen herum und betrachtete die tiefen Wunden. Er steckte sich dabei eine Strähne zurück in den Haarknoten, als sähe er derlei täglich. »Was dir geschieht, hast du dir selbst zuzuschreiben. Shemhazai ist verpflichtet, Vergehen wie deine aufs Härteste zu bestrafen.« Gemächlich schlenderte er zu ihm zurück. »Ich könnte es nicht«, flüsterte er. »Es ist widerlich, wenn mir Blut ins Gesicht spritzt.« Er tippte an die Seite seiner Nase, um Shem zu zeigen, dass dort offenbar ein Fleck war. Shem wischte mit dem Ärmel darüber.
Ihr Auftrag lautete lernen und lehren. Bis die Menschen die nötige Reife und das Vertrauen erlangten, um ihnen ihre Seelen zu überlassen. Die Triaden wollten Sklaven. Die dritte weniger, die erste und zweite mehr. Um sie zu bekommen, mussten die Grigori die Welt aus Feuer und Licht verlassen, um im Schatten grober Körper nach brauchbarem Material zu suchen. Sie gehörten zum zehnten Engels-Chor und standen damit abseits der Triaden-Hierarchie.
Söldner. Effizient, doch für die Vielgeflügelten nicht wertvoll genug, um sich über ihr Leben Gedanken zu machen. Der Widerwille gegen das starre System dreigeteilter Macht stieß ihm bitter auf. Alle, von den Seraphim bis hinab zu den Engeln des neunten Chores, blickten mit Hochmut auf sie. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Kraft und den Mut der Grigori benötigten. Shem schüttelte den Kopf und die Gedanken an eine Heimat, die ihre Liebe ungerecht an ihre Kinder verteilte, flog mit den Schweißtropfen in die glutheiße Luft. »Du hätschelst sie!« Caym spukte Blut. Es gerann, bevor es im glühenden Sand versickerte. »Warum hat Camael dich als Heerführer ernannt und nicht Asasel? Der wäre mit diesem Pack schneller fertig geworden.«
Ein Disput mit einem Büßer? »Du vergisst dich.« Asasel gehörte in die Riege der zwölf Anführer. Für einen Waffenschmied war das eine Ehre.
Shem massierte sein Handgelenk. Weitere fünf Hiebe standen ihm bevor.
»Hätte Asasel für die Handschellen nicht schlichtes Erz schmieden können?« Kepheqiah rümpfte die Nase. »So wie das Silber glänzt, hat er Licht zwischen die Schichten gebannt.« Er reichte ihm ein Tuch. »Wisch dich ab. Das Blut dieses Mistkerls klebt immer noch an dir.«
»Er prahlt mit seiner Kunst.« Der Schmied lockte Feuerfunken in Schwertklingen und Sonnenlicht in Geschmeide. »Wenn es nach ihm ginge, wäre auch die Schaufel aus Gold, mit der wir unseren Dreck im Sand vergraben.«
Kepheqiah lachte. »Arroganter Fatzke. Kein Wunder, dass die Triaden ihm misstrauen.«
»Sie misstrauen jedem von uns.« Die oberen Chöre hielten sie für renitent. Was sie auch waren. »Sie nutzen unsere Stärke für ihre Zwecke und danken uns mit einem huldvollen Kopfnicken.« Shem spuckte aus. Der bittere Geschmack im Mund blieb.
»Nicht nur.« Keph drehte sich mit ausgestreckten Armen einmal im Kreis. »Diesmal bekommen wir wenigstens eine Aufwandsentschädigung. Auch wenn das Land nicht viel hergibt, es gehört nun uns.«
Es gab viel her – Licht, Hitze, ein rotes Glühen am Abend, ein silbernes Leuchten, bevor die Sonne aufging.
»Mein Diener nennt es die Ebene von Ninive.« Keph wies zu einem alten Mann, der mit finsterer Miene unter den Schaulustigen stand. »Er sagt, sein Urgroßvater hätte es seiner jüngsten Tochter geschenkt. Damals gehörte es niemand anderem. Wenn ich ihm erkläre, dass sich das jetzt geändert hat, spuckt er mir vor die Füße.« Seinem Lachen nach störte ihn die Bockigkeit seines Dieners nicht.
Ninive. Ein schöner Name für ein Mädchen. Er passte zu der Ebene. »Hier sind wir Herrscher, Shem. Keine Geächteten. Solange wir Sklaven liefern, lassen sie uns freie Hand.«
»Sie wussten, dass außer uns kein Chor bereit wäre, sich in diese Welt zu stürzen.« Macht ging nicht zwingend mit Mut Hand in Hand.
Shem wischte sich den nie versiegenden Schweiß ab. Dass ein materieller Körper aus sämtlichen Öffnungen leckte, war schlimm genug. Musste ihm das Wasser auch noch aus den Poren dringen?
Keph nahm mit vor Ekel verzogenem Mund das Tuch zurück. »Du bist stolz darauf, ein Grigori zu sein. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass du die Frauen der Menschen vögelst. Von deinem Status als Heerführer abgesehen, was unterscheidet dich von Caym?«
»Ich frage vorher.« Außerdem wälzte er sich nach dem Akt nicht in ihrem Blut. Caym war besessen von dem roten Körpersaft. Seine eigenen Leute hielten ihn für wahnsinnig und gingen ihm aus dem Weg.
»Und wenn deine Auserwählte dankend ablehnt?«
»Keine Ahnung.« Das war ihm bisher nie passiert. Frauen waren bezaubernd. Sie schmiegten sich an, dufteten. Wenn sie ihre Schenkel für ihn spreizten und er in eine Welt aus Gefühl und Sinnlichkeit eintauchte, vergaß er seine wahre Existenz.
Zwischen Kepheqiahs Brauen wuchs eine tiefe Falte. »Unsere Körper sind uns ausschließlich zu diplomatischen und im Notfall kämpferischen Zwecken überlassen worden. Das weißt du.«
»Sie taugen zu mehr. Probiere es aus.«
Keph zuckte zusammen, als hätte ihn die Geißel gestreift. »Niemals werde ich so tief sinken.«
»Ich sinke gerne tief.« Jede Nacht erneut. »Und ich schätze diesen Körper.« Vor allem, wenn er sich zuckend in einem Schoß ergoss. Kaum zu ertragende Empfindungen erschütterten und entzückten ihn immer wieder aufs Neue.
»Du bist vernarrt in den Haufen aus Fleisch und Knochen, weil du ihn durch deine hellen Augen begaffen kannst.« Kephs Mund verzog sich zu einem Spottgrinsen. »Die Menschen nennen dich hinter deinem Rücken Nebelmann.«
»Ich bilde mir nicht nur etwas auf meine Augen ein.« Auch wenn Anath das helle Grau faszinierte. Sie behauptete, die Wolken des Himmels spiegelten sich in ihnen.
Anath fiel es leicht, ihm zu schmeicheln. Sie kannte den Dank dafür und verlangte ihn oft. Lust.
Seit er sie in einem weichen Frauenkörper gekostet hatte, wichen er und seine Männer vom Plan ab. Sie sollten Licht in die Finsternis der Menschen bringen. Das hatten sie getan. Bis in die dunklen Schöße der Frauen hinein. Und damit verstießen sie gegen den obersten Befehl – keine intimen Kontakte zu dem zu unterwerfenden Volk.
Ein Frevel, gefolgt von einem Schwur, ihn gemeinsam zu begehen. Bis auf Kepheqiah hatte ihn jeder Krieger seines Heeres geleistet. Eine Verschwörung der aufsässigen Grigori gegen ihre geflügelten Brüder. Shem lachte. Brüder. In den Augen der ersten Triade waren sie kaum wertvoller als die Menschen dieser heißen, steinigen Welt.
Der Verrat kümmerte ihn nicht. Reue? Wenn, vergaß er sie zwischen Anaths Schenkeln.
In seiner Heimat existierte keine Lust. Eine Welt aus Licht und Feuer brauchte dieses Gefühl nicht, das dem Fleisch und Blut und damit den Menschen gehörte. Jetzt, da er die Sinnenreize kannte und genoss, konnte er nicht mehr auf sie verzichten.
Doch das bedeutete nicht, dass Vergewaltigung und Mord ungesühnt blieben. Er fixierte eine Stelle an Cayms Rücken, an der die Haut noch unversehrt im Schweiß glänzte. Aus den sieben Lederriemen tropfte es längst. Shem wrang die Geißel aus, legte sie sich über die Schulter und schüttelte Cayms Blut von den Händen.
»Ich werde mich rächen!« Caym versuchte vergeblich, seine Angst vor dem nächsten Schlag zu überbrüllen. »Hüte dich vor dem Tag, an dem du auch für einen Moment allein bist. Ohne deinen treuen Kepheqiah, ohne deine Männer.«
»Ich werde deine Herausforderung annehmen.« Shem holte aus. »Und dir ohne Reue das Schwert bis zum Heft in die Brust rammen.« Als Geist konnte er den Frauen kein Leid mehr zufügen.
Nach weiteren fünf Schlägen hing Caym still in den Fesseln.
Shem warf die Geißel Ramin zu. Einem von Asasels Söhnen. Er stand in der vordersten Reihe der Schaulustigen und beobachtete das Geschehen mit verschlossener Miene. Vom kantigen Gesicht bis zu den schwarzen Haaren glich er seinem Vater.
»Reinige sie für mich und bring sie danach zu meinem Zelt.«
Der Junge rümpfte die Nase. »Mach es selbst.«
Mutig und ungehorsam, wie jeder der Bastarde.
»Willst du enden wie er?« Shem nickte zu dem Verurteilten. Ramin zog die Brauen zusammen. »Ich sage meinem Vater, dass du einen seiner Männer geißelst.«
Shem verkniff sich ein Grinsen. Der Kleine machte Asasel alle Ehre.
»Dein Vater untersteht mir. Ebenso seine Männer und Söhne.«
In den nachtschwarzen Augen glomm Zweifel. Oder gar Angst? »Meinetwegen.« Ramin hielt die tropfenden Lederriemen weit von sich entfernt. »Aber ich sage es meinem Vater trotzdem!«
»Mistbalg.« Kepheqiah blickte dem Jungen grimmig nach. »Mahawaj hat dich vor Situationen wie dieser gewarnt.«
Der Herold des sechsten Chores hatte ihn vor vielem gewarnt. Doch er wusste nicht, wovon er sprach und kannte die Menschen lediglich von den Berichten der ersten Späher.
»Vermisst du die weisen Ratschläge deines ehrwürdigen Freundes?« Wie sich Kepheqiah mit einem Triadenmitglied hatte anfreunden können, war ihm ein Rätsel. Diese Tatsache sprach allerdings für Mahawajs Charakter. Keph war ein hervorragender Krieger.
»Das tue ich.« Kephs Miene verfinsterte sich noch mehr. »Er wäre den fleischlichen Verlockungen der Menschen niemals verfallen.«
»Weil er keinen Körper besitzt.« Ohne Materie fiel Askese leicht. »Gib ihm einen und bitte die erstbeste Frau in sein Zelt. Dann weißt du, wie es mit seiner Enthaltsamkeit bestellt ist.«
Sein Freund winkte ab. »Wir treffen uns später, sollte dich Anath aus ihren Fängen lassen.« Er schnippte nach einem der Hirten. »Bring dem hier Wasser und reinige seine Wunden.« Flüchtig streifte sein Blick über Cayms zerschundenen Rücken. »Pass auf, dass du nicht eines Tages deine eigenen Söhne auspeitschen musst, Shem.«
So weit würde es niemals kommen.
Die Menge teilte sich, als Shem den Richtplatz verließ.
Bevor er Anath besuchte, musste er den Sand und Dreck von sich abwaschen. Er pfiff nach seinem Hund. Der Geruch nach Blut hatte das Tier am Büßerpfahl verweilen lassen.
Tigris trabte schwanzwedelnd zu ihm. Kniehoch, graubraun und für ein wildes Tier recht zutraulich, war er ihm eines Tages zugelaufen. Keph hatte ihn fortjagen wollen. Ihm ging das Gekläff der zahllosen, halbwilden Hunde auf die Nerven, die die Hirten begleiteten. Aber in Tigris’ braunen Augen lag etwas Sanftes, das Shem mochte.
Der Hund folgte ihm bis zum Ufer des Flusses, der die Ebene teilte.
Shem entledigte sich der Kurta und stieg in das lauwarme, träge Wasser. Tigris legte sich neben das Kleiderbündel und sah ihm nach.
Untertauchen und sich mit dem Schmutz die Erinnerungen an den Tag abwaschen. Es gab angenehmere Pflichten, als einen seiner Männer bis aufs Blut zu bestrafen.
In Anaths Armen würde er die Schreie des Verurteilten vergessen.
Er ließ sich auf dem Rücken treiben. Über ihm wurde der Himmel dunkel. Abertausend Sterne durchbrachen bald das Schwarz. Ihr mattes Licht machte ihm die Finsternis erträglich, die diese Welt täglich verschlang.
»Lasst mich zu Shemhazai!«
Asasels schneidende Stimme störte Shems Träume.
»Er knechtet einen meiner Männer!«
Tigris sprang auf, rannte aus dem Zelt. Asasels Fluchen übertönte sein wütendes Kläffen.
»Mach dich nicht lächerlich«, versuchte Kepheqiah gegen den Lärm anzureden. »Caym verdient jeden einzelnen Schlag.«
»Caym ist mir unterstellt.« Asasel knurrte vor Ärger. »Ich entscheide, ob ihn das Leder küsst.«
»Warum bist du nicht früher gekommen, um ihn zu retten?«
»Weil Shemhazai meinem Sohn gedroht hat und der Junge erst vorhin mit der Sprache rausrückte.«
Shem drehte sich auf den Rücken und rieb die Müdigkeit einer zu kurzen Nacht aus dem Gesicht. Obwohl die Sonne kaum aufgegangen war, herrschte drückende Hitze unter den Zeltbahnen.
»Ich verlange eine Entschuldigung.« Asasels Grollen klang wie Hundeknurren.
»Wieso?«, fragte Keph. Seine Stimme vibrierte vor unterdrücktem Hohn. »Shem hat Caym ausgepeitscht. Nicht dich. Wenn du das Schicksal deines Lakaien teilen möchtest, richte ich es ein.«
Asasels Fluchen weckte Anath. »Bleib bei mir.« Sie schmiegte ihre Üppigkeit an seinem schlaftrunkenen Körper. »Deine erste Lust gehört mir.« Ihre Finger wanderten über seine Brust bis hinunter zu der Stelle, wo bei einem Menschen die Geburtsnarbe die Bauchdecke eindellte. »Ich vermisse dieses Grübchen.« Ihrem Lächeln nach schmerzte sie der Verlust nicht allzu sehr. »Ich möchte meine Zunge hineinstecken und glauben können, dass du ein Mensch bist wie ich.«
»Du weißt, dass ich das nicht bin.« Sie war klug. Doch nicht klug genug, um seine Existenz zu begreifen.
Shem nahm ihre Hand. Es gab Stellen an ihm, die sensibler reagierten als sein Bauch und sich nach Zärtlichkeit sehnten. Dorthin führte er sie. In dieser Hinsicht glich er jedem anderen Mann, ob menschlich oder nicht.
Anath umschloss mit geschickten Fingern den Körperteil, der ihr am besten an ihm gefiel. Ihre Liebkosungen lockten das Blut in seine Lenden.
Anschwellen, Pulsieren, sich in weiche Wärme ergießen. Wie er seinen Körper liebte.
Wäre den Triaden vor der Mission klar gewesen, zu was der Fortsatz zwischen den Schenkeln neben dem Wasserlassen taugte, wären sie beim Modellieren nach Originalvorbildern auch an dieser Stelle abgewichen.
Der Tumult vor dem Zelt schwoll an. Kepheqiah drohte mit dem Büßerpfahl, was ihm nicht zustand. Dennoch verstummte Asasels wütendes Gebrüll und ging in unflätige Verwünschungen über.
»Vergiss den Schmied.« Anath neckte seine geschwollene Männlichkeit. »Deine erste Lust. Du hast sie mir versprochen.« Dem Mädchen mit den köstlichen Lippen gebührte nicht nur seine erste Lust, die ihm drängend zwischen den Beinen pochte. Auch jede andere, die ihn heute überfiel.
Plötzlich zuckte sie zusammen. »Es boxt!« Ihre Augen strahlten, als sie seine Hand nahm und sich auf den prallen Leib legte. Ein kleiner Fuß stupste in seine Handflächen. Sein erstes Kind mit ihr. Sein vierzehntes insgesamt. Dass aus den Verbindungen zwischen ihnen und den Menschen Nachwuchs hervorging, geschah selten. Die meisten der Grigori erfüllte es mit Stolz, wenn ihre Geliebten schwanger wurden. Sie prahlten mit ihrer Männlichkeit, die es vermochte, selbst in mageren Böden Leben zu zeugen.
Shem streichelte mit der freien Hand zwischen ihren Schenkeln hinauf, bis seine Fingerspitzen feuchte Locken berührten. Ihr Schoß war kein magerer Boden. Wenn sie die Geburt überstand, pflanzte er neues Leben in seine Tiefe.
Der Gedanke beglückte ihn und hinterließ gleichzeitig einen Stich in seinem Herz. Die Engelsbastarde waren stark und groß. Dank dem Erbe ihrer Väter lebten sie übermäßig lang. Doch ihre Mütter starben zu früh. Entweder bei der Geburt oder wenige Jahre danach.
Anath war jung. Wenn sie lachte, sah man ihr die Kindheit noch an.
Liebe. So nannten die Menschen die schwere, heiße Empfindung, die sein Innerstes versengte.
Er küsste ihren Hals, leckte behutsam über die empfindlichen Brustwarzen. »Spreize deine Beine für mich.« Nicht allein sein Herz fühlte sich heiß und schwer an. Er kniete sich vor das Lager, fasste sie an der Hüfte und zog sie zu sich. Das Kind sollte den Vater spüren.
Eilige Schritte vor dem Zelt. Hastiges Flüstern.
Shemhazai blendete die störenden Geräusche aus. Nur Anaths feuchte Enge fand Platz in seinem Bewusstsein.
»Shem?«
»Jetzt nicht, Keph!«
Sanfte, lang gezogene Stöße. Anaths Stöhnen wurde zu seinem.
»Unser Ungehorsam wurde entdeckt. Sie kommen im Auftrag der ersten Triade.«
Nein.
»Camael führt sie an. Sie erreichen die Grenzen der Ebene morgen Abend.«
Gott, nein!
»Mahawaj ist hier. Er spricht von tausend Kriegern. Alle in Körpern wie wir.«
Wer hatte sie verraten?
»Shem? Sie wollen die Bastarde töten.«
»Nein!« Er zog sich aus Anath zurück, presste seinen Mund auf den runden Bauch. Ja, die Engelskinder waren gefährlich, ordneten sich niemandem unter. Sie würden ihnen eines Tages die Herrschaft über diesen Außenposten streitig machen. Doch das war das Problem der Väter, nicht der Geflügelten.
»Shem, sag mir, was passiert ist.« Anaths Stimme zitterte.
Er nahm ihre Hand, führte sie zu seiner Stirn. »Fürchte dich nicht.« Ihm musste ein Weg einfallen, sie und das Kind zu schützen.
»Und was ist mit dir?« Sie versuchte zu lächeln. Es misslang ihr. »Du hast Angst. Ich sehe es an dem dunkler werdenden Grau deiner Augen.«
»Nicht um mich.« Kampf gehörte seit jeher zu seinem Leben. »Ich werde einen meiner Männer abkommandieren, euch von hier fortzuführen.« Camael durfte sie nicht in die Finger bekommen. Keine der Frauen. Keines der Kinder.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wer droht uns?«
Shem schloss die Augen. Flammen peitschten durch Dunkelheit, erhellten Räume ohne Grenzen. Augen aus Licht, Herzen aus Feuer. Anath durfte nicht ahnen, was sich hinter makellosen Körpern verbarg. Er senkte seine Stimme, um den Schrecken darin zu verbergen. »Ein Heer aus meiner Heimat. Wir sind ihm unterstellt. Sein Anführer ist erzürnt, dass wir seine Befehle missachtet haben.« Sie hatten sie mit Füßen getreten. An jedem heißen Tag in dieser kargen Ebene.
Anaths Tränen würzten ihre Lippen. Shem küsste sie zärtlicher als sonst. »Ihr werdet in den Westen fliehen. In den Bergen versteckt ihr euch, bis die Schlacht vorbei ist.« Eine versengte Ebene, ausgelöschtes Leben. Nach dem Kampf würde nichts mehr an die Siedlung zwischen Felsen und Wasser erinnern.
»Was ist mit dir und den anderen?«
»Du fürchtest dich um das Schicksal der Grigori?« Sein Lachen machte weder ihm noch ihr etwas vor. Gegen den sechsten Chor konnten sie nichts ausrichten. Die Gewalten waren der Schwertarm der ersten Triade und duldeten keinen Ungehorsam.
Ein letzter, inniger Kuss. Ein letztes Berühren des prallen Bauches. »Pass auf das Kind auf.« Seine Kehle wurde eng. Es würde ohne ihn aufwachsen.
»Shemhazai!« Anath sank vor ihm nieder, umfasste seine Knie. »Lass es nicht vorbei sein.«
Eine Handvoll Jahre. Mehr besaßen die Menschen nicht. Das Glück in ihren Armen glich einer Illusion von Ewigkeit, die nach wenigen Atemzügen endete. Shem löste Anaths zitternde Hände von sich. Kepheqiah wartete auf Befehle.
Vor dem Zelt empfing ihn das erste Gleißen des Tages. Allein die Augen seines Freundes überstrahlten es in kaltem Feuer.
»Die Männer wollen kämpfen.« Keph wies zu den zehn Anführern, die mit ihren Kriegern den Platz umstanden. Jeder von ihnen schenkte ihm ein entschlossenes Nicken. »Gott, ich hasse sie dafür, aber sie werden dieses Land nicht aufgeben.«
Das hatte er erwartet. »Asasel und seine Knechte sollen die Schwerter schärfen.« Die fleischlichen Hüllen ihrer Gegner machten sie verletzlich.
Keph nickte. »Ihre Körper können wir zerstören. Doch sie werden sich mit neuen versorgen und uns nach spätestens zwei Dekaden wieder angreifen.«
Eine Galgenfrist.
Ein Mann mit schulterlangem, weißblondem Haar trat vor. Er überragte Shem um eine Kopflänge. Sein muskulöser Körper beeindruckte durch perfekte Harmonie der Proportionen. Dasselbe traf auf sein Gesicht zu. »Heerführer Shemhazai.« Höflich neigte er den Kopf. »Ich bin Mahawaj Baraq’el.«
Shem erkannte den Herold nur am unsteten Funkeln seiner Augen. Das Blau überdeckte deren Licht nur unvollständig.
Die Cherubim hatten sich übertroffen, wenn sie ein Konstrukt solcher Perfektion hervorbringen konnten. Es hieß, die Vierflügeligen hätten Menschen besetzt, die Art und Weise ihrer Moleküle erforscht und die ersten Körper nach diesem Vorbild geschaffen.
»Nenne deine Botschaft.« Für Höflichkeiten war der falsche Zeitpunkt. Mahawaj wechselte mit Keph einen besorgten Blick.
»Camael fordert eure Kapitulation. Euch wird die Materie genommen, ihr werdet gebunden und in die Heimat gebracht.«
»Als was?«
»Als Gefangene der Dunkelheit.«
»Niemals.« Die Grigori lebten am Rand zur Dämmerung. In völliger Finsternis würden sie einer nach dem anderen den Verstand verlieren. »Die Triaden vergessen, dass auch wir Wesen des Lichtes und des Feuers sind. Wir kämpfen.«
»Um das hier?« Mahawaj wies um sich.
»Es ist hell, heiß und gehört uns.«
»Nicht mehr.«
»Dieses Land ist mein Eigentum.« Er spürte, wie die Flammen sein fleischliches Herz versengten. »Mit ihm jeder Mensch und jedes Vieh. Versucht, es uns wegzunehmen und ihr werdet es bitter bereuen.« In ihm loderte die Wut heißer als die Feuer um Metatron.
»Wir wünschen gefügige Seelen.« Mahawaj hob beschwichtigend die Hand. »Ihr erschafft mit eurer Unzucht ein Volk mit Kraft und Willen.«
»Sie wollen Freiheit. Wie wir.«
»Zu jedem Preis?« Der Herold seufzte. »Weder die Seraphim noch die Cherubim werden eine Kriegerkaste dulden.«
»Die Kinder leben.« Waren seine Augen blind, dass er das Wunder nicht sah? »Geschöpfe aus Licht und Fleisch. Sie werden der Welt ihr Siegel aufdrücken.«
»Sie werden sie zerstören.«
»Sie werden in ihr leben. Sie sich zu eigen machen.« Glühender Stolz auf die Engelskinder floss durch seinen Geist. »Ihr dürft ihr Leben nicht auslöschen.«
»Genau das werden wir tun.« Gemäßigte Glut im Blick. Mahawaj trug einen Körper, doch er verstand ihn nicht. »Deine Antwort?«
Wie konnte er fragen?
»Überdenke sie gut. Du führst deine Männer in den Schatten. Wen wir nicht binden, wird in dieser Welt als frei schwebender Geist zurückbleiben.«
Dämonen. Shem rang um Beherrschung. Sie besiedelten die äußersten Grenzen seiner alten Heimat. Von den Triaden-Richtern wegen ihrer Vergehen ins Dunkle gedrängt, verloren sie ihr Licht. Was zurückblieb, war weniger als ein Echo einstiger Kraft.
Angst, durch die Finsternis geschürt, wandelte Stolz und Mut in Grausamkeit und Niedertracht. Sie durchsetzten die Grenzgebiete mit ihrer Bosheit und lechzten nach dem Leid der Lebenden.
Wollte er dieses Schicksal für seine Männer?
»Sie werden ihre Frauen und Kinder nicht im Stich lassen«, beantwortete Kepheqiah seine stumme Frage. »Solange auch nur ein Funken Hoffnung glimmt, werden sie kämpfen.«
Jeder einzelne Grigori reckte die Faust gegen den Himmel.
Tausend Krieger gegen zweihundert. Einer solchen Übermacht hatten sie noch nie gegenübergestanden. Keine Herausforderung. Ein Todesurteil. Aus Stolz geboren, mit Verzweiflung genährt.
»Du hast Keph gehört.« Shem trat neben seinen Freund. »Geh und berichte Camael, dass die Grigori bereit sind.« Er führte seine Männer in den Untergang. Gott möge ihm vergeben, wenn sie es nicht mehr konnten.
Mahawaj trat vor Kepheqiah und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir sehen uns heute zum letzten Mal. Du sollst wissen, dass mir die Freundschaft zu dir viel bedeutet hat.« Er grüße Shem, pfiff und ein Pferd trabte zu ihm. Ohne ein weiteres Wort saß er auf und galoppierte davon.
Keph raufte sich die Haare. Er brüllte seine Angst in den roten Himmel. Keiner seiner Männer verzog eine Miene. Sie teilten seine Gefühle, wenn auch auf eine stillere Weise.
Was war Angst? Nur eine Emotion. Es begleitete die Grigori in ihrer alten Heimat Tag für Tag. In der Nähe zur Finsternis wuchs es ebenso schnell wie Mut.
Keph würde in der ersten Reihe neben ihm kämpfen. Wie er es in vielen Welten und unzähligen Schlachten bereits getan hatte. Wie sie alle kontrollierte er seine Angst. Kein Grigori war ihr Sklave.
Wussten die Menschen, wie dankbar sie für den Tod sein konnten? Er ersparte ihnen unsägliches Leid.
Shem blickte seinem Freund nach, der mit geballten Fäusten zwischen den Zelten verschwand. »Es tut mir leid.« Er sprach zu leise, um von Keph gehört zu werden. »Was dir bevorsteht, hast du mir zu verdanken.«
»Reue?«
Asasel. Wo kam er plötzlich her?
»Sie kommt zu spät.«
»Warum bist du nicht bei deinen Männern?« Sie brauchten ihren Anführer kurz vor dem Kampf.
»Weil ich die Bastarde retten will.« Asasels Mundwinkel wiesen zum Kinn. »Ich werde sie nicht den Triadenkriegern überlassen.«
Asasel besaß fünf Kinder. Wie sie alle hing er an ihnen.
»Du bist mein Waffenschmied.« Für die Schlacht war er unverzichtbar.
Asasel nickte grimmig. »Werte meine Bitte nicht als Feigheit. Ich scheue nicht die Schlacht. Aber ich weigere mich, hinzunehmen, wie meine Brut gemeuchelt wird. Meine Jüngste ist drei Jahre alt. Ich will ein glückliches Leben für sie.«
»Mein Jüngstes ist noch ungeboren.«
»Dann wollen wir dasselbe.«
»Wie viele Krieger brauchst du?« Mehr als zehn konnte er nicht entbehren.
»Keine. Ich verlasse mich im Fall eines Angriffs auf die Stärke der erwachsenen Söhne und mein Schwert.« Mit dem Daumen fuhr er sich am Kinn entlang. »Kann sein, dass ich für dich ein Abschiedsgeschenk habe. Es könnte dir und dem Heer einen Vorteil im Kampf verschaffen.«
Dass er einen seiner Männer blutig gepeitscht hatte, schien ihm Asasel nicht nachzutragen.
»Komm zu meiner Schmiede.« Er grüßte knapp und verschwand zwischen den Zelten.
Ein Abschiedsgeschenk? Shem traute dem Schmied nicht über den Weg.
Er winkte einen jungen Grigori zu sich, der mit großen Augen dem Gespräch gelauscht hatte. »Du reitest Mahawaj hinterher. Sieh zu, dass du nah ans feindliche Heer herankommst. Ich will jedes Detail, das du aufschnappen kannst.«
Mahawaj war und blieb ein Krieger des sechsten Chores. Was, wenn er ihm wesentliche Details verschwiegen hatte?
Der Junge nickte, biss sich auf die Lippen. »Ich kann mir eine Existenz in vollkommener Finsternis nicht vorstellen.« Ein Schauder überlief den jungen Körper. »Wir atmen Licht, leben in ihm. Ich werde sterben, wenn es mir genommen wird.«
»Nein.« Ihr Schicksal kannte keine Gnade. Ewiges Dasein. Ob im Licht oder in endloser Nacht. »Du wirst die Dunkelheit ertragen müssen.«
Der Krieger senkte den Blick, schluckte. Um seine Nase wurde es weiß.
»Willst du Asasel mit den Bastarden beistehen?« Eine ehrenhafte Flucht zu einem sinnvollen Zweck. »Er kann jede Hilfe gebrauchen.«
Wie ein Wetterleuchten erschien Hoffnung in den Augen des anderen. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Kepheqiah ist mein Anführer. Ich folge ihm. Wenn er mit dir in die Schlacht zieht, werde ich es auch tun.« Er straffte die Schultern, grüßte und schlug den Weg zur Pferdekoppel ein.
Es dauerte nicht lange und Reiter und Pferd waren eine Staubwolke vor dem gleißenden Himmel.
Shems Herz wurde bei jedem Schritt schwerer, als er den Zelten den Rücken kehrte, um die Schmiede aufzusuchen. Tigris trabte hinter ihm her. Als ihn das Tier erreichte, sprang es ihm um die Beine.
»Geh zurück zu Anath. Sie wird sich einsam fühlen.« Er kraulte die weichen Ohren und wies den Weg zurück. »Ab!«
Der Hund gehorchte widerwillig. Alle paar Schritte blieb er stehen und sah sich nach seinem Herrn um.
Er würde Anath in die Berge begleiten. Sie vor wilden Tieren schützen und in kalten Nächten wärmen.
Shem schluckte gegen die Enge in seiner Kehle an. Menschen gehörten nicht der Ewigkeit, wie die Grigori. Sie füllten lediglich einen kurzen Zeitraum mit ihrem Leben. Er wusste das. Dennoch schmerzte es ihn, Anath so schnell hergeben zu müssen.
Schon von Weitem erklangen die rhythmischen Schläge des Hammers. Asasels Schmiede bestand nur aus wenigen Steinen und Balken. Unter dem freien Himmel schürte der Wind die Glut öfter, als es der Blasebalg tat. Der Schmied bemerkte ihn nicht.
Er betrachtete eine glühende, sehr schmale Klinge, legte sie erneut auf den Amboss und ließ das Eisen unter dem Hammer singen. Schließlich tauchte er sie in den Wasserbottich und härtete sie zischend aus.
Shem trat in sein Blickfeld. »Willst du die Bastarde bewaffnen?« Das Schwert passte mühelos in Kinderhände.
Asasel reichte ihm die Klinge. Sie lag perfekt in der Hand, wog fast nichts. In der Mitte des Griffstücks prangte ein Saphir. Auch für Asasels Verhältnisse war dieses Schwert ein Prachtstück.
Shem führte einige Streiche in der Luft aus. Seine Zweifel verschwanden mit jedem Einzelnen.
»Das ist eine ganz besondere Waffe.« Asasel zeigte zu einer Laterne, die neben der Esse hing. »Geschmiedet in der Glut, die ich mit dieser Flamme entzündete. Sie stammt von Metatron. Während einer Audienz habe ich sie unbemerkt an mich genommen. Es gibt kein Feuer, das heißer brennt.«
Asasel bestahl den Fürsten der Seraphim? Eine beachtliche Leistung. »Das Schwert ist scharf genug, um Licht zu schneiden.« Kalter Stolz lag in seiner Stimme. »Rate, was es noch beherrscht.«
»Singen? Tanzen?« Die Arroganz des Schmieds ging ihm auf die Nerven. Zweifelsfrei übertrieb er maßlos.
»Spare dir deinen Spott, Heerführer. Was du in der Hand hältst, kann dein Leben retten und das deiner Feinde für die Ewigkeit auslöschen.«
»Meine Feinde sind die Gewalten. Engel wie wir. Nichts kann ihr Leben beenden.«
»Das schon.« Asasel schnippte mit dem Fingernagel an die Klinge. Sie sang in hellen Tönen. »Was Licht schneidet, durchdringt auch den Geist. Ich schenke dir die Möglichkeit, unseresgleichen zu töten.«
Ein Scherz? Shem ließ das Schwert ein weiters Mal durch die Luft gleiten. »Wissen die Triaden von deiner Kunst?«
Asasel lachte auf. »Metatron zeigt sich im Glanz seiner Flammen, ohne deren Macht auch nur zu ahnen.«
Den Fürsten des ersten Chores interessierte keinerlei Materie. Warum sollte er sich für Waffen begeistern? Shem fuhr sacht mit dem Finger an der Schneide entlang. Sein Blut tropfte aus einem tiefen Schnitt. »Warum vertraust du mir das Schwert an?« Und wer garantiert mir, dass du die Wahrheit sagst?
Er konnte die Fähigkeit der Klinge kaum an einem seiner Männer ausprobieren.
Asasels Blick verfinsterte sich. »Du bedeutest mir nichts. Wenn du unter Camaels Klinge deine Hülle verlierst und von ihm gebannt wirst, werde ich dennoch glücklich weiterleben.«
Immerhin war er ehrlich.
»Doch ich bin ein Grigori, und wenn ich meinem Chor gegen die Gewalten beistehen kann, werde ich es tun. Du bist der beste Schwertkämpfer im Heer. Wem, wenn nicht dir, sollte ich so eine Waffe anvertrauen?«
Shems Herz schlug höher. Auch wenn ihm der Schmied eine Lüge auftischte, das Schwert war unsagbar schön. »Ich danke dir.« Der erste Stich in den Leib seines Gegners würde die Lüge enttarnen oder die Wahrheit bezeugen.
Der Schmied wischte sich die Hände an der Kurta ab und streifte seinen Siegelring über den Finger. Im Schein des flackernden Feuers glänzte der Rubin übernatürlich hell.
Asasel bemerkte seinen Blick. »Willst du Anath ein Abschiedsgeschenk überreichen oder warum starrst du auf meinen Schmuck?« Sein Stolz wich Arroganz.
»Wenn du ihn mit einem Zauber versiehst, der ihr Leben und das unseres Kindes schützt, ja.« Ansonsten hatte er für schnöden Tand in dieser bitteren Situation keine Verwendung. Shem wandte sich zum Gehen. Er musste sich noch mit den anderen Anführern besprechen und ein wenig mit der ungewohnt leichten Waffe üben.
»Nicht so schnell, Shemhazai.« Asasel legte ihm vertraut die Hand auf die Schulter. »Was würdest du mir dafür geben, wenn ich deinen Wunsch erfülle?«
»Das könntest du?«
In gespielter Demut neigte er den Kopf. »Ich prahle ungern mit meinen Talenten, doch ich beherrsche einiges an Wissen, um das mich selbst die Schmiede der Gewalten beneiden.« Er wies auf das Schwert.
Auch diese Kunst ließ sich nicht vor der Schlacht beweisen.
Shem fragte sich zum wiederholten Mal, inwieweit er dem Schmied trauen konnte. »Du stiehlst mehr als Flammen?«
Mit einem schmalen Lächeln schüttelte Asasel den Kopf. »Nein, ich stehle Informationen, Möglichkeiten, wo auch immer sie sich mir offenbaren.«
»Dann fertige einen Schmuck für Anath.« Sie trug das Kind eines Engels. Dann stand ihr auch die Magie der Chöre zu.
»Ich frage dich ein zweites Mal.« In Asasels Lächeln schlich sich Heimtücke. »Was gibst du mir dafür?«
»Was willst du haben?« Er besaß nicht mehr als jeder andere Krieger im Heer.
»Deinen Rang.« Asasel zuckte mit keiner Wimper. »Geht ihr als Sieger aus der Schlacht hervor, trittst du deine Rechte und Würden an mich ab.«
»Du willst die Grigori anführen?« Wenn ihn Camael für fähig gehalten hätte, hätte er den Posten bekommen. »Ich kann dir das Heer nicht anvertrauen. Die Männer gehören mir. Sie folgen mir.« Ebenso gut hätte ihn Asasel um sein Flammenherz bitten können. Es brannte nur in ihm. In der Brust des Schmiedes würde es erlöschen.
Langsam strich sich Asasel übers rußgeschwärzte Kinn. »Dann tut es mir leid. Du wirst mit dem Wissen leben müssen, dass Anath einen frühen Tod erleiden wird.« Gelassen betrachtete er seine Armreifen. »Und dein Kind mit ihr.«
Shem verbot seiner Faust, das schmutzige Kinn zu zertrümmern. »Du bist ein Söldner.«
Asasel grinste. »Das sind wir alle. Töte diejenigen, die uns dazu gemacht haben.«
Das Heft des Schwertes schnitt ihm in die Hand, so fest umfasste er es. »Das werde ich.«
Schütze Anath. Auch wenn du ein Schuft bist. Shem kehrte Asasel den Rücken. Sein Herz brannte vor Sehnsucht, Anath noch ein letztes Mal zu umarmen.
Gefangen in der Ewigkeit. Mit dem Wissen, alles, was ihm lieb war, verloren zu haben.
Shem stieß die Klinge in die Luft. Sein Schrei durchschnitt den Abend.
~*~
Die Erde glühte in demselben Rot, das den Himmel erleuchtete. So schön, so unerreichbar für seine Zukunft. Auch wenn er vor seinen Männern Hoffnung heuchelte, er wusste, dass er diesen Anblick nie wieder genießen konnte. Kepheqiah legte die Hand auf sein Herz, spürte dessen Hitze durch Knochen und Fleisch. In der Finsternis der Gefangenschaft erlosch das Feuer. Würde sein Geist folgen? Oder kalt und dunkel die Jahrtausende zählen?
Angst fraß sich durch die Hülle, die ihm nichts bedeutete.
Tausend gegen zweihundert. Er hatte nie zuvor gegen die Gewalten gekämpft.
Shem legte ihm für einen tröstenden Moment die Hand auf die Schulter. Ein kurzes Zudrücken, ein Lächeln. Es genügte, um ihm Mut einzuflößen.
Der Heerführer verlor so viel mehr als er. Sein Herz gehörte nicht nur diesem Land und seinen Männern, sondern auch einer Frau. Kindern. Er ließ sie zurück.
Shem beschirmte seine Augen. Er suchte den Horizont nach der Ankunft des Feindes ab. Trotz der hoffnungslosen Situation strahlte er eine Entschlossenheit aus, um die ihn Kepheqiah beneidete.
Ob es an dem Schwert lag, das an seiner Seite hing? Shem hatte ihm mitgeteilt, welche Fähigkeiten ihm der Schmied zuschrieb. Zweifelsfrei war es die schönste Waffe, die er je gesehen hatte, doch Schönheit tötete keine Engelkrieger.
Der Wind löste das Band aus den langen Haaren. Sie wehten Shem um das scharf geschnittene Gesicht. Fühlte er Reue, dass er sie alle wegen seines Vergehens in die Dunkelheit führte?
Shemhazai hatte nach der ersten Nacht mit einer Frau die ohnehin schon brüchige Loyalität zu den Triaden wie eine zerschlissene Robe abgelegt.
Das Jauchzen der Sinne während der Vereinigung sei jeden Ungehorsam wert.
Auch jede Strafe? Kepheqiah ballte die Fäuste gegen die Angst, die sein Herz umklammerte. Finsternis. Ohne Aussicht, jemals wieder die Sonne zu sehen. Der Gedanke schnürte ihm die Luft ab.
»Sie singen.« Ein junger Grigori galoppierte auf sie zu. Shem hatte ihn als Späher ausgeschickt. Er schenkte den Worten eines Triadenmitglieds nur wenig Glauben. Auch wenn es sich um Mahawaj handelte.
»Die Melodie gefriert das Blut.« Der Junge sprang aus dem Sattel und verneigte sich eilig. »Mir wurde übel, als ich sie hörte.« Das Entsetzen stand ihm im Gesicht wie eine zweite Nase.
Die Lieder der Seraphim.
Eine Kette aus Worten, geschmiedet in Licht. Geschlungen zu einer Melodie, die den Geist in Fesseln legte. Kepheqiah rann es eisig über den Rücken. »Konntest du die Worte verstehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Keine Silbe. Doch mich überkam das Gefühl, als würde ich aus meinem Körper gezogen. Herr?« Er trat zaghaft einen Schritt näher zu Shem. »Nimm mir meine Angst, wenn du willst, dass ich mein Leben für dich opfern soll.«
Kepheqiah tauschte einen Blick mit dem Heerführer. Das helle Grau in dessen Augen verdunkelte sich.
»Du wusstest, dass sie uns bannen wollen.« Er fasste dem Späher ins Haar. Zwischen seinen Fingern quollen schwarze Locken hervor. »Für deine Angst ist es zu spät. Aber nicht für deinen Mut.«
Wie er ein aufmunterndes Lächeln zustande brachte, war Kepheqiah schleierhaft. Ihm selbst war nach hemmungslosem Weinen.
»Denkst du, die Seraphim werden vor dem Angriff dazustoßen?« Die Stimme des Jungen zitterte. »Ich habe gehört, in der Nähe der Vielgeflügelten werden Wille und Geist versengt.«
»Diese Welt gehört der Materie.« Shem ließ den Arm sinken. »Sie müssten ihre sechs Flammenflügel in einen Körper quetschen, um uns schaden zu können.«
»Können die das?« Die Pupillen des Boten wuchsen sich zu Teichen aus.
Shem warf ihm einen zweifelnden Blick zu doch auch Kepheqiah konnte die Frage nicht beantworten. Metatrons Gefolgsleute besaßen eine kaum zu ahnende Macht. Doch diese Tatsache würde den Jungen nicht beruhigen.
»Du nimmst uns zu wichtig.« Er versuchte sich an einem ähnlich unbekümmerten Lächeln wie Shem. »Um einen Haufen Grigori einzufangen, besudelt sich der erste Chor nicht mit nach Schweiß stinkendem Fleisch.«
Stille. Für einen Moment. Kepheqiah warf seine gesamte Existenz in diesen Moment. Dann war es vorbei. Noch bevor er sie hörte, ahnte er die Gefahr.
Sanfte Töne wehten in der Luft. Der Bote zuckte zusammen. »Hört ihr? Das meine ich!«
Der Wind trug das Lied der Seraphim wie einen Seidenschleier zu ihnen. Zart. Leicht.
Eine Täuschung. Es würde sie unerbittlich vernichten.
Shemhazai lächelte nur mit den Lippen. »Bedauerst du es, heute an meiner Seite zu stehen?«
»Ich gehöre hierher.« Shem war sein Heerführer. »Dennoch weiß ich, dass wir uns für Bastarde opfern.«
Wesen mit dem Wissen und der Kraft ihrer Väter und der Gier ihrer Mütter. Das Nie-Genug lag in ihren Kinderaugen ebenso wie das Gib-Mir-Mehr. Sie würden jedes Volk der Erde unterwerfen, bis die Menschheit unter ihrer Grausamkeit zusammenbrach.
Shem berührte ihn am Arm. Sein Blick haftete am Horizont. Die Luft über der Ödnis begann zu flimmern.
»Sie kommen.«
~*~
Das Klirren aufeinanderschlagender Schwerter verstummte. Die geistzersetzende Melodie, die über dem Schlachtgetümmel brauste, wurde leiser, erstarb. Stille. Caym leckte sie aus der staubigen Luft. Er robbte zum Ausgang der Felsenhöhle. Bei jeder Bewegung schmerzte sein Rücken, erinnerte ihn an den Mann, den er abgrundtief hasste.
Der Heerführer hatte ihm das Fleisch von den Knochen geschlagen. Dafür sollte ihn die Finsternis fressen.
Er kroch um die Felsnase. Sie schützte die Höhle vor der Neugierde der Gewalten. Der Wind wehte heiß über der Ebene. Er roch nach Blut und Schmerz, zerrte an Kleiderfetzen und Haaren.
Kadaver. Sie lagen dicht an dicht.
Caym sog die Luft tief in die Lungen, kostete das Leid heraus.
Der Fluss schlängelte sich am Rande des Schlachtfeldes entlang und wusch das Blut aus den verstümmelten Hüllen.
Am Horizont ballte sich Staub. Die Wolke zog nach Westen und mit ihr die Sieger der Schlacht. Sie führten die Gefangenen an Lichtbändern mit sich. Körperlos, verzweifelt. Nur ein mattes Glimmen. Mehr war von dem flammenden Heer des zehnten Chores nicht übrig. Wie war es, von oben auf zerfetztes Fleisch hinabzusehen? Warme Schauder rannen über seinen Rücken. Sein eigenes Blut riechen, sein faulendes Fleisch kosten.
Er leckte sich über die Lippen.
Seine Zähne in die Körper schlagen. Sich in der gerinnenden Nässe wälzen.
Er bezwang das Drängen danach.
Der letzte Grigori. Der einzige Engel in dieser verdammten Welt. Die Menschen würden vor ihm im Staub kriechen.
Er brauchte eine Waffe. Dann einen Weg.
Nach Norden? Nach Süden? Der Wind verriet es ihm. Roch er nach Angst, ging Caym ihm entgegen. Um sie zu schüren, wo immer er auf das geistfressende Gefühl traf.
Speichel sammelte sich in seinem Mund, als er den Schutz der Felsen verließ. Ihm lag eine Welt zu Füßen.
Er schlitterte den Hang hinab, rannte über Geröll bis seine wunden Sohlen dürres Gras spürten. Köpfe ohne Körper, Körper ohne Gliedmaßen. Caym stakste durch Blutlachen, suchte unter zerfetzten Gewändern.
Der Sand überzog die Kadaver und verwischte Unterschiede und Ähnlichkeiten. Von Asasel oder einem seiner Männer fand er keine Spur.
Ein Schwert. Breit, groß. Kaum schartig. Es steckte zwischen Rippen. Caym zog es heraus.
Über ihm kreisten Geier, gierig nach Futter.
Er hockte sich neben einen Leichnam, den eine Klinge in zwei ungleiche Teile zerschnitten hatte. Der Geruch nach Eisen und Süße hing über ihm. Doch nicht halb so intensiv, wie der rote Saft der Menschen duftete. Dennoch tauchte er seinen Finger in weiches Gewebe. Er färbte sich kaum, schmeckte schal, als er ihn ableckte. Das Blut war längst in den Sand gesickert.
Auch vom Fluss stieg der Geruch nach Tod auf. Caym bahnte sich einen Weg zum Ufer. Rotes Wasser. Hinknien, trinken, bis sein Durst gestillt war.
»Kepheqiah!«
Eine fremde Stimme.
»Keph!«
Caym duckte sich in blutigen Schlamm.
Ein Reiter lenkte sein Pferd zwischen den Leichen hindurch.
Blonde Haare, der Mantel hing ihm in Fetzen von der Schulter. Ein langes Ding, in Lumpen gewickelt, trug er mit einem Riemen auf den Rücken geschnallt.
Der Krieger war kein Grigori.
Er kam näher, sprang er aus dem Sattel, kniete sich neben einen reglosen Haufen.
»Keph?« Ein Ächzen antwortete ihm. »Camael möge mir vergeben, aber ich konnte dich nicht bannen.« Vorsichtig hob er Kepheqiah auf seinen Arm. »Wir müssen fliehen, bevor der Fürst mein Fehlen bemerkt.« Der Fremde neigte seinen Kopf näher zu dem blutüberströmten Mann. »Nein, wir haben nur die Anführer gefangen genommen. Den Rest von euch ließen wir körperlos im Wind zurück.« Er half dem Verletzten aufs Pferd, schwang sich hinter ihm in den Sattel.
Caym wühlte sich tiefer in den Morast. Erst als die Reiter zu einem winzigen Punkt zwischen den Felsen schrumpften, richtete er sich auf. Ein Triadenkrieger hätschelte einen Grigori? Caym spuckte das klebrig-süße Gefühl in den Dreck.
Sie würden ihm den Anspruch auf diese Welt streitig machen. Kepheqiah hatte seinen Schmerz am Büßerpfahl bespottet. Er ließ nicht zu, dass einer aus dem Fußvolk Macht erlangte. Caym musste ihn töten. Ihn und den Fremden.
Allein?
Caym umklammerte das Heft seines Schwertes.
Er brauchte Hilfe.
Von seinem Herrn.
Die Staubwolke dünnte im Morgenlicht aus. Er musste ihr folgen.
Wo sie hinführte, fand er Asasel.
Mit ausgreifenden Sprüngen setzte er über die Kadaver.
Besser sich in den Schatten der Macht ducken, als weit ab von ihr ein Leben in Schwäche fristen.
2. KALTE GRÄBER
(London, Gegenwart)
Eingestürzte Wände, marode Lagerhallen, ein leichter bis mittelpenetranter Geruch nach Urin. Werbeplakate hingen halb abgerissen und voll gesprüht an Betonmauern, Chipstüten taumelten im nasskalten Wind.
Freiwillig hätte sich Jade niemals in dieser Gegend herumgetrieben. Zu wenig Grün. Keine Bäume. Auch die Nähe zur Themse machte das nicht wett.
Durch die ersten Nebelschwaden der beginnenden Nacht leuchtete das Werbeschild des Clink Inn. Jade kannte die Kneipe aus Daniels Erzählungen. Früher war sie ein Rückzugsort für ihn gewesen. Seltsam, dass er seinem neuen Klienten ausgerechnet dort auf den Zahn fühlen wollte.
Ihre Freundin Lucy und Ives, Daniels Chauffeur, begleiteten sie.
Kein Großeinsatz.
Aber auch nichts Unbedeutendes.
Jade sprang über eine Schneematschpfütze und hakte sich bei Daniel unter. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du diesem Mann ein Angebot machst?« Immerhin galt er als nekrophil und stand nicht umsonst auf der Todesliste der Anonymen Meister.
»Dreißig zu siebzig.« Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das seine Augen ausließ. »Du bist das Zünglein an der Waage.« Mit der freien Hand zog er die Tür der Kneipe auf. »Wenn ihn seine Gedanken denunzieren, ist er fällig.«
Die Entscheidung über Leben und Tod vollkommen Fremder traf sie, seit sie für den ehemaligen Auftragskiller arbeitete.
Daniel und sie waren längere Zeit befreundet gewesen, ohne dass sie etwas von seinem Job geahnt hatte. Dass sie auch Lucy zu ihren engsten Vertraute zählte, war reiner Zufall.
Nein, es gab keine Zufälle. Es war Schicksal.
Daniel vertraute ihrer Intuition und er verließ sich auf ihre neu erworbene Fähigkeit, Gedanken zu visualisieren. Heute Nacht beschlich sie eine leise Ahnung, dass die Gabe auch ein Fluch sein könnte. Schon beim Durchsehen der Akte hatte sich ein ungutes Gefühl aufgedrängt, obwohl es sich auf dem ersten Blick lediglich um einen Juwelier mit extravaganten Sehnsüchten handelte.
»Wollen wir?« Daniel hielt die Tür auf.
Ein dunkles Loch, aus dem laute Stimmen und der Geruch nach Bier drangen. Eine Treppe führte nach unten. Sie glich einem Schlund.
Ausgetretene Steinstufen, die Wände waren feucht und schmierig. Jade verdrängte diffuse Ängste und stellte die Sinne auf Input.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Geländers steckten Köpfe auf Pfählen. Originell. Und traurig. Bevor der Tower zu einer Touristenattraktion wurde, vermoderten unzählige Gefangene hinter seinen Mauern. Zur Abschreckung hatte man die Brücke zur Festung mit den gepfählten Köpfen gespickt. Daniel erzählte in trübsinnigen Momenten davon. Er war in einem seiner vergangenen Leben Zeuge dieser Barbarei geworden. Als Insasse des Towers. Nicht als Wärter.
Er ging vor, ohne den Kopfattrappen einen Blick zu gönnen. Lucy und Jade folgten, zuletzt trat mit einem leisen Stöhnen Ives ins Dunkle.
Jade spielte mit dem Smaragdring in ihrer Hosentasche. Wenn sie ihn auf den Daumen steckte, stürzten sich die Köpfe garantiert auf sie. Dennoch benötigte der Ring eine Vorglühphase, bevor sie Dinge sah, die sonst niemand erblickte.
In ihrem Magen kribbelte es. Eine flirrende Aura, Visionen voll Schrecken und Schönheit. Eine Wirklichkeit, die haarfein hinter der Realität auf Entdeckung wartete. Dank des Ringes schob sie sich in den Vordergrund.
Obwohl Nephilim-Ringe für Menschen als gefährlich galten, liebte sie ihn. Er überhäufte sie mit mentalen Wundern und war ihr persönliches Fenster in eine verborgene Welt.
»Zieh ihn an.« Daniel tippte gegen ihre Hosentasche, die der Schmuck ausbeulte. »Steigere dich nicht rein. Der Kerl ist unheimlich. Wenn es dir zu viel wird, klink dich rechtzeitig aus seinem Geist aus.«
Der Ring flutschte fast von allein auf ihren Daumen.
Lucy hatte ihr den in Gold gefassten Smaragd geschenkt, als sie bemerkte, dass Jade mit der verborgenen Macht umgehen konnte. Das Schmuckstück hatte Lucy regelmäßig mit Energieentladungen gequält.
Vor einem Jahr hatte es ihre Freundin dem Nachfahren eines Nephilim gestohlen – Kolja Grigorjew.
Fast hätte sie dafür mit dem Leben bezahlt.
Das Schmuckstück war grandios, magisch, wunderschön. Doch das Beste: Es sensibilisierte sie auf ungeahnte Weise.
Kartenlegen, Pendeln, als Meditation getarntes Tagträumen, alles gelang ihr mit Leichtigkeit. Auch ohne den vorherigen Genuss der niedlichen Pilze mit den dünnen Stielen und den Kegelköpfchen.
»Ich hasse dieses Loch.« Ives, Daniels Chauffeur und Freund aus längst vergangenen Leben, blickte sich in dem nur durch Kerzenlicht erhellten Gewölbe um. »Wie früher. Das weckt mehr als ein Trauma in mir.« Der Blick zu Daniel strotzte vor hilfloser Panik. »Ehrlich, Mann. Ich saß zu oft in solchen Löchern mit stinkenden Leichenteilen.«
»Das ist eine Kneipe, Ives«, versuchte Lucy zu trösten. »Kein Kerker.«
Ives schüttelte den Kopf. »Ist mir egal. Ich gehe.« Um seine Nase wurde es weiß.
Daniel nickte seinem jungen alten Freund zu. Voll Verständnis und Mitgefühl. »Gut. Warte im Wagen.«
»Danke.« Ives gönnte dem Ring an ihrem Daumen einen grimmigen Blick. »Spionierst du jetzt meine Gedanken aus?« Seine Ohrläppchen färbten sich rot. »Wenn, dann guck weg.«
Wenn sie nicht selbst bis zum Anschlag angespannt gewesen wäre, hätte sie gelacht. Ives war süß in seiner Unsicherheit. »Keine Angst. Solange ich nicht ein bisschen schielend durch dich hindurchsehe, bist du vor mir sicher.« Statt zu fokussieren, musste der Blick streuen. Verschwamm die Realität, traten die Gedanken ihres Gegenübers umso schärfer in den Vordergrund.
»Okay«, murmelte er und brachte ein halbherziges Lächeln zustande. »Ich hau ab.« Er stapfte die Stufen hinauf und schlug die Tür hinter sich zu.
»Er ist in dich verliebt, Jade.« Lucy seufzte. »Ich finde es mutig von ihm, zu seinen Gefühlen zu stehen.«
Ives war mutig.
Und sie war beziehungsresistent.
»Tu ihm und dir einen Gefallen und gib ihm eine Chance.«
Nett von ihrer Freundin, sich um ihr Privatleben zu sorgen. Aber bis auf kleine Ausrutscher bekam sie es hin. Auch ohne Mann an ihrer Seite. Und Ives war noch weit davon entfernt, ein Mann zu sein.
Bei ihm hatten sich ihre Fähigkeiten zum ersten Mal gezeigt.
Er war bei ihr gewesen, um sich die Karten legen zu lassen. Plötzlich hatte es begonnen. Wie ein brüchiger Film hatten sich seine Gedanken über die Wirklichkeit geschoben.
Ives hatte sich zu ihr geneigt, ihr Haar berührt und sacht seine Lippen auf ihren Mund gelegt. Jade hatte die Wärme und den Druck des Kusses deutlich gespürt, obwohl der echte Ives stocksteif vor ihr gesessen und auf die Karten gestarrt hatte.
Auf die Konfrontation mit dieser Erscheinung reagierte er mit flammend rotem Kopf und hilflosem Stammeln. Bei der zweiten Tasse Melissentee, den sie mit einem Schuss selbst angesetztem Kräuterschnaps verfeinert hatte, gestand er seine zärtlichen Gefühle für sie. Er gab zu, beim Kartenlegen tatsächlich daran gedacht zu haben, sie zu küssen. Es sei über ihn gekommen. Einfach so.
Nach zahlreicher Trost-Reflexzonenmassagen, in denen sie die Reflexzonen von den Fußsohlen auf den Rest seines Körpers ausgedehnt und die sensibelsten Stellen miteinbezogen hatte, konnte Ives mit der Situation vernünftig, da tiefenentspannt und rundum befriedigt, umgehen.
Die Visionen blieben ihr treu. Anfangs störten sie ihren Alltag beträchtlich. Dem Postboten dabei zusehen zu müssen, wie er mit einer Kettensäge auf den bellenden Hund des Nachbarn losging, war kein Geschenk. Auch nervten die Sehnsüchte der Kassiererin im Supermarkt. Besser als ein Judoka legte sie jeden halbwegs attraktiven Kunden aufs Rollband, um ihm die Kleider vom Leib zu reißen.
Jade gewöhnte sich schnell an, den Ring nur noch zu tragen, wenn sie seine Macht bewusst nutzen wollte.
Zum Beispiel wenn sie einen neuen Klienten checkte.
Jedes Mal, wenn Daniel Levant, Ex-Anonymer Meiser und Wiedergeborener, seinem früheren Boss die Aufträge versaute, indem er die potenziellen Opfer den beauftragten Killern vor der Nase wegschnappte, erbat er ihren Rat.
Mahawaj Baraq’el. Hinter dem geheimnisvollen Namen versteckte sich das Oberhaupt der Bruderschaft der Anonymen Meister. Daniel hasste ihn, obwohl er ihm nie begegnet war. Leben für Leben hatte ihn dieser Mann zum Töten gezwungen.
Empfand er es als eine Art befriedigende Rache, seinem ehemaligen Boss ins Handwerk zu pfuschen? Daniel sprach ihr gegenüber nie über seine Motive.
José, ein Mann aus Daniels Cleaner-Team, seelenlos aber begnadet im Umgang mit allem, was nur entfernt nach Computer aussah, hackte erfolgreich die Server der Bruderschaft und spähte die Teilnehmer auf der Abschussliste aus. Waren sie harmlos genug, um mit gutem Gewissen ihr Leben zu retten, unterbreitete Daniel ihnen ein Angebot, um genau das zu tun. Waren sie es nicht, überließ er sie ihrem Schicksal. Er selbst hatte dem Morden abgeschworen.
Ihr heutiges Ziel: Ashton Walbrick, Inhaber eines Juwelierladens, Goldschmied und Sammler antiker Schwerter.
Der Auftragsgeber: unbekannt.
Die Gründe: fanden keine Erwähnung. Daniel meinte, das sei unüblich, aber möglich. Die Bruderschaft agierte diskret. Manchmal so sehr, dass selbst der beauftragte Meister nicht wüsste, warum er sein Ziel töten sollte. In solchen Fällen hätte die Absprache ausschließlich zwischen Mahawaj Baraq’el und dem Klienten stattgefunden.
Neben den Vermögensverhältnissen und Einkaufsgewohnheiten war José bei seiner Recherche auf hilfreiche Informationen gestoßen.
Mr. Walbrick besaß eine Vorliebe für Unterordnung und Schläge einerseits und dem Tod an sich und im Besonderen andererseits. Daniels Hang zur Düsternis verleitete ihn, die eventuell rettende Falle auf der Seite der Vergänglichkeit auszulegen. Über entsprechende Internetforen und mit Josés Hilfe war er mit Walbrick in Kontakt getreten. Sein Klient schmückte sich mit fantasievollen Nicknamen: Carcassguzzler und Deadslurper. Jade wusste nicht, ob sie amüsiert oder erschrocken sein sollte.
Eine hübsche, wenn auch in die Jahre gekommene Blondine, segelte um den Tresen auf sie zu. Der Blick der von falschen Wimpern verschatteten Augen ruhte auf Daniel. Statt ihm die Hand zu reichen, fasste sie in sein langes Haar. Statt ihn mit einem Hallo zu begrüßen, verschlang ihr überschminkter Mund seine Lippen.
Neben ihr dachte Lucy nicht daran, ihr wütendes Schnauben zu unterdrücken.
Es war gnadenlos indiskret, doch Jade musste ihren Blick auf Weichzeichnermodus stellen.
Das Gemurmel der Gäste verstummte. Stühle, Fässer, der Tresen, alles floss auseinander.
Daniel als Teenager. Er kniete Haare raufend in einer dunklen Ecke. Die blonde Frau, um Jahre jünger, richtete ihn lächelnd auf. Sie führte ihn in einen Raum mit Kerzenlicht und rot bezogenem Bett. Daniel redete unter Tränen. Was gestand er? Die Blondine tröstete zuerst mit Zuhören, schließlich mit Küssen. Sie zog Daniel Stück für Stück aus. Ließ ihre Finger über seinen Körper wandern und lockte ihn mit ihren Liebkosungen auf sich.
Daniel nahm die Küsse der Frau gierig, als könnten sie ihn vor dem Tod bewahren. Seine Verzweiflung, sein Sehnen, alles offenbarte er ihr. Sie liebte es ihm von der Seele. Schmerz wechselte mit Ekstase. Angst mit leidenschaftlicher Dankbarkeit.
Sie musste Daniels erste Geliebte in seinem jetzigen Leben gewesen sein. Wurde ihm damals bewusst, wer und was er war? Hatten die Anonymen Meister Kontakt mit ihm aufgenommen, um ihn erneut zu rekrutieren? Ihn an seine bitteren Pflichten gegenüber der Bruderschaft zu erinnern?
Töten. Es gab bessere Jobs für einen Teenager.
Ein harter Stoß in die Rippen, und der Gedankenfilm flackerte, bis er verschwand.
»Hör sofort zu seufzen auf.« Zwischen Lucys Brauen wuchs ein Krater. »Das ist
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Cover: Swantje Berndt
Lektorat: Alexandra Balzer/Ingrid Kunantz
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2019
ISBN: 978-3-7487-1385-2
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