erweiterte 1. Auflage Januar 2022
Copyright © Corinna Spanhake, 21465 Wentorf bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Corinna Spanhake
Umschlagmotiv © Christoph U. Bellin
Korrektorat Dr. Lotte Husung, 21465 Reinbek
Druck und Bindung WIRmachenDRUCK, Backnang
ISBN 978-3-7487-
Corinna Spanhake
Heimathafen 29
Flaschenpost-Trilogie
Band III
Diejenigen, die gehen, fühlen nicht den Schmerz des Abschieds.
Der Zurückbleibende leidet.
(Henry Wadsworth Longfellow)
Hamburg. 12. November 1997 - Christopher erzählt
Es war kalt geworden. Die Temperaturen waren schon im Oktober unter den Nullpunkt gesunken und heute klatschte ein leichter Schneeregen an die Scheiben meines Büros. Irgendwie spielte das Wetter in diesem Jahr total verrückt.
Ich saß in meinem Büro, drei Wandtafeln um mich verteilt. Meinem Schreibtisch gegenüber fläzte Ham in einem meiner Besuchersessel, seine Füße in den schwarzen Bikerboots, deren Ausmaße an ein kleineres Beiboot erinnerten, auf die Scheuerleiste meines Schreibtisches gestützt, und wedelte gewichtig mit den Armen.
Ich hatte Angst um meinen Sessel.
Ham war immer noch ein Riese von 2,03 Metern, hatte aber im Laufe der letzten Jahre einiges an Masse zugelegt und an Form verloren, weshalb der kleine Sessel schon bald in arge Bedrängnis geriet und sich mit beängstigendem Knirschen und Knarzen Gehör zu verschaffen suchte.
In Gedanken sah ich die dürren Sofabeinchen unter Haralds Gewicht die Grätsche machen, ihn haltlos mit den Armen wedeln und wie ein gigantischer Maikäfer mitten in meinem Büro auf dem Rücken landen, hilflos mit den Beinen strampelnd. Angesichts dieser Vision musste ich schmunzeln.
„Wir brauchen dafür jede Menge exotische Materie“, fuhr Harald gerade in seinen Überlegungen fort, mit etwas irritiertem Blick auf mich, „wir brauchen mindestens die Energie eines Schwarzen Lochs, vielleicht kommen wir auch mit etwas weniger aus, sonst klappt das nicht.“ Er hielt inne, fasste mich skeptisch ins Auge, wobei sich eine kleine, steile Falte zwischen seinen Brauen bildete. „Sag mal, findest du das irgendwie komisch?“
Ich hob beide Arme zu einer weit ausholenden, segnenden Geste in Richtung Zimmerdecke und rollte mit den Augen. Als ob mir seine Befürchtungen nicht klar wären! Meine Gedanken taumelten wie trunkene Schmetterlinge von den sich biegenden Möbelbeinchen zu dem saugenden Materie-strom eines schwarzen Loches.
„Mann! Klar ist mir das klar! Aber womit können wir soviel Energie erzeugen? Dafür bräuchten wir ein ganzes Kraftwerk. Und das erlauben die uns nie!“
Die Falte zwischen Hams Brauen wich einem völlig beklopptem Gesichtsausdruck. Seine Augen starrten ins Leere, wie immer, wenn er nachdachte. Es herrschte absolute Stille im Raum, nur das leise Brummen unseres völlig überlasteten Rechnerventilators begleitete das stumme Rattern unserer Hirnwindungen.
„Können wir nicht irgendwie die DESY anzapfen? Ich habe van der Heide mal irgendwo kennengelernt, der ist jetzt schon seit ein paar Jahren Direktor der Anlage.“ Haralds Gesichtsausdruck wandelte sich von grenzdebil über nachdenklich zu pfiffig-verschlagen.
„Das könnte klappen. Und wenn wir dann noch die Kapazität unseres Rechners irgendwie erweitern könnten … Am besten wäre die Kopplung an irgendeinen Großrechner. Am erfolgreichsten vielleicht mit einem dieser SETI-Programme. Das MOP wurde ja leider eingestellt, aber hier in Europa gibt es immer noch Medicine. Kennst du da nicht jemanden? Vielleicht bekommen wir dann etwas hingebogen!“ Er hielt einen Moment inne. „Und wir bemühen noch eine Dimension dazu. Oder auch ein paar mehr. Es ist doch sowieso sehr wahrscheinlich, dass wir mit unseren vier Dimensionen nur ein bisschen an der Oberfläche unseres Universums kratzen.“
Haralds Idee gefiel mir.
Blieb noch die Überwindung der Annahme, dass es unpassierbare Regionen zwischen uns und dem Weg in die Vergangenheit gab, die wir passierbar machen mussten. Aber wo ein Wille, da ein Weg! Und unpassierbar waren Regionen nur so lange, bis man in den Wirren des Universums den Weg entdeckt hatte.
Mein Trotz gewann die Oberhand. Harald und ich waren schließlich schon seit frühester Jugend die besten Entdecker, die man sich vorstellen kann, und haben bisher noch jeden Weg gefunden.
Ich begann darüber nachzudenken, wie man die Ideen von Gödel mit den Gleichungen der Schleifenquantengravitation von Lee Smolin unter Berücksichtigung der Wheeler-deWitt-Gleichung zusammenpacken könnte, um damit ein Wurmloch zu berechnen. Ein sehr spezielles Wurmloch, das hoffentlich lange genug stabil bliebe, um den Sprung in die Vergangenheit zu wagen.
Ich wurde ganz aufgeregt.
Wir hatten so einiges an Arbeit vor uns, aber der erste Schritt war getan. Wir hatten eine Idee. Und die schien sich nicht nur viel-, sondern auch durchaus erfolgversprechend zu entwickeln.
Zur Belohnung für meine zur Abwechslung einmal etwas zusammenhängender ange-stellten Überlegungen genehmigte ich uns erst einmal ein Schnäpschen. Schwungvoll landeten zwei Gläser auf dem Tisch und ich förderte eine beinahe halbvolle Flasche Absinth aus einer meiner Schreibtischschub-ladengeheimfächer zutage.
Harald lehnte mit verhalten alarmiertem Blick dankend ab, was mir den zweiten Schnaps an diesem Vormittag bescherte. Schließlich konnte ich das Zeugs nicht zurück in die Flasche kippen.
Und während Harald noch laut darüber nachdachte, wie wir Gödel, Smolin und Wheeler-deWitt unter einen Hut bekämen, starrte ich mit leicht alkoholisiertem Blick aus meinem Bürofenster und beobachtete die Schneeregentropfen dabei, wie sie auf der Scheibe zu lauter kleinen Wassersternen zerplatzten, um dann langsam die Scheibe hinabzurutschen.
Irgendwie taten sie mir leid, die kleinen zermatschten Schneewassertropfen, wie sie da so haltlos wegglitschten. Ich stellte mir vor, wie sie leise vor sich hin jammerten, während sie dazu verurteilt waren, in irgendeinem Passavant zu verschwinden, und damit den endlosen Kreislauf des Wassers vollendeten. Oder neu begannen. Je nach Philosophie.
Mit einem energischen „Hey, Giaco!“ wurde ich aus meinen wegschweifenden Überlegungen gerissen. Ich sah überrascht zu Ham hinüber. Einen Moment lang ruhte sein undeutbarer Blick auf mir. Einen Augenblick schien er die Luft anzuhalten, dann sagte er:
„Ich geh dann jetzt. Du kannst ja noch ein bisschen darauf herumdenken und ich mach mir auch noch ‘n Kopp, dann wird das schon.“ Ich nickte nur, schon wieder irgendwie abwesend, und wandte mich erneut dem auf dem Fensterglas stattfindenden Schauspiel zu.
Vielleicht würde ein weiterer Absinth meine Denkübungen beflügeln.
Frühjahr 2011
Wir hatten ein paar Jahre geforscht, hatten geplant und verworfen, hatten uns bis ans Ende von diversen Sackgassen gerechnet, waren wieder umgekehrt und sind in die entgegengesetzte Richtung marschiert.
Und dann, irgendwann an einem wunderschönen Tag im Frühjahr des Jahres 2011 hatten wir die relativistische Formulierung der stationären Schrödinger-Gleichung und Gödels kausale Paradoxien gewissermaßen bewiesen. Unser Weg war zu einem Großteil geschafft. Zumindest theoretisch.
Doch das reichte natürlich noch lange nicht. Jetzt mussten wir eine Möglichkeit finden, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort zu gelangen.
Mein Ziel war das Krankenhaus, in dem Leah gestorben war. Mein ganzes Forschen der letzten einundzwanzig Jahre hatte nur ein Ziel: Leah zu retten. Ich wollte einfach nicht akzeptieren, dass die große, die einzige, die wahre Liebe meines Lebens nie wieder in meinen Armen liegen würde. Parallel-universen, Stringtheorie, Newtonsche Eimer-theorie ... es war mir egal, ob sie in einem anderen Universum eine Männer meuchelnde Psychopathin mit einem Hang zur Nekromantik war.
ICH wollte sie wiederhaben.
Jetzt und hier.
In meinem Universum.
An dem Tag, als ich erfuhr, dass sie wenige Stunden nach der Geburt der Zwillinge an einer Lungenembolie gestorben war, brach ich endgültig zusammen. Meine über Jahre sorgfältig aufgebaute Fassade brökelte mit atemberaubender Geschwindigkeit. So wie wenige Tage später ihr Leib verbrannt und in die dunkle Erde versenkt wurde, versank ich in düsterer Leere. Ich weigerte mich, irgend-jemanden zu sehen, mit irgendjemandem zu sprechen. Ich vergrub mich mit meinen Büchern im Institut und vereinsamte immer mehr. Ich begann zu trinken, entfernte mich immer weiter von der realen Welt, stank in meinem Büro leise vor mich hin und ging nur dann und wann in die Wohnung unterm Dach in der Richardstraße.
Ja, ich hatte unsere Wohnung übernommen und hütete die von ihr zurückgelassenen Schätze, ein paar Möbel, irgendwelchen Krempel und sinnlose Kleinigkeiten, wie einen heiligen Schrein. Zumindest die paar Dinge, die nicht aus der Wohnung entfernt worden waren.
Der Duschvorhang mit den kleinen Delphinen hing immer noch. Im Laufe der Jahrzehnte wurde er etwas spakig, aber das störte mich nicht. Ich hatte auch einige angeschlagene Teller und Becher von ihr, auch die Teekanne mit der angeklebten Tülle stand immer noch im Schrank, neben einem roten Becher mit umlaufenden weißen Herzen.
Und jedes Mal, wenn ich in die Wohnung kam, musste ich mich zwingen, das Schlafzimmer zu betreten, in dem wir so viele Stunden verbracht, wo wir leidenschaftlich diskutiert und uns nicht weniger leidenschaftlich geliebt hatten.
Sofort suchten mich Visionen heim: Sie im Bett liegend, die Decke zwischen die Schenkel geklemmt, die Brüste nackt, und mich mit einem schelmischen Lächeln lockend, das sie für besonders sexy gehalten hatte und das einfach nur offen, ehrlich und so unsagbar süß gewesen war.
Dann machte ich schnell die Tür wieder zu, verließ die Wohnung und verzog mich auf die Couch in meinem Büro im Institut mit den verschiedensten Gelassen voller Karaffen und Flaschen und versuchte, Leah zu vergessen, ihr Andenken zu bewahren und ihr trotzdem irgendwie die Schuld an allem zu geben.
Doch eines Tages im April 2011, es war das wohl heißeste Frühjahr, das ich in den letzten nunmehr immerhin schon neunundvierzig Jahren auf dieser Erde miterleben durfte, ich hatte gerade mein Mittagsessen mehr oder weniger widerwillig hinter mich gebracht und wollte mir eben den zweiten oder dritten Verdauungsabsinth genehmigen, mitzählen tat ich schon lange nicht mehr, klopfte es an meine Bürotür und Harald streckte seinen leicht angegrauten Bollerkopp um die Ecke.
„Stör ich?“, fragte er, während er, ohne meine Erwiderung abzuwarten, seinen massigen Körper schon halb durch meine Bürotür geschoben hatte.
Seit Jahren, ungefähr seit meiner Hochzeit 1988, hatte ich ihn nur noch sporadisch gesehen und wollte ihn auch jetzt eigentlich nicht um mich haben.
Stimmt schon, wir waren Freunde, aber ich wollte keine Zuwendung oder Hilfe oder irgendeine Art von Unterstützung. Außerdem lag er mir immer wieder mit irgendwelchen Therapien und Entzug in den Ohren.
Aber ich wollte leiden, denn ich war auch nach den vielen Jahren immer noch felsenfest davon überzeugt, dass ich genau das verdiente, denn ich hatte gravierende Fehler gemacht, die ich glaubte, mir selbst nie verzeihen zu können.
Dies glaubte ich zumindest dann, wenn ich mal ein bisschen nüchterner war als gewöhnlich.
Doch mein alltäglicher Geisteszustand schwankte zwischen Verleugnung und Selbst-kasteiung, Verweigerung und Opposition. Das Missverhältnis dieser verschiedenen Zustände wechselte je nach Alkoholpegel.
Auch wenn meine Vorstellung von einem Jüngsten Gericht eine andere war als die des überwiegend christlich geprägten Nord-europas, so hoffte ich doch, noch in diesem Leben irgendwie Vergebung erlangen zu können. Zumindest für meine Vergehen an meinem geliebten Weib, das ich in einem Anfall von geistiger Umnachtung betrogen hatte.
Umgehend verdrängte ich den Gedanken wieder. Ich hatte schließlich nichts falsch gemacht. Sie hatte angefangen und hatte dann auch noch versucht, mir die Brut von diesem anderen Kerl unterzuschieben.
Doch zurück zu Haralds Besuch. Das einzige Mal, als wir wirklich sehr eng und sehr intensiv zusammengearbeitet hatten, war irgendwann Mitte/Ende der neunziger Jahre gewesen, als wir auf die Idee gekommen waren, SETI-Projekte in unser geheimes Zeitreisekonzept zu integrieren.
Im Laufe der letzten, ungefähr fünfzehn Jahre hatten wir es geschafft, auf Umwegen und unter Zuhilfenahme verschiedenster Pro-gramme zur Auffindung extraterrestrischen Lebens, unsere Codes in einige dieser Programme einzuschleusen, denn auch unter Aufbietung aller uns von Institutsseite zugestandenen Rechnerkapazität hätten wir die sehr komplexen Berechnungen mit unseren Computern allein niemals auch nur ansatzweise zustande bringen können.
Ham betrat also mein Büro, gefolgt von einem mittelalten, gutaussehenden, wenn auch etwas dicklich geratenen Herrn im langen, dunkelblauen Mantel, darunter ein hellgrauer Anzug mit Weste, hellblauem Hemd und blau-grün gestreifter Krawatte.
Einen Moment kam ich mir in meinen schwarzen Jeans und dem weißen T-Shirt, auf dem die Lasagne von heute Mittag deutliche Spuren hinterlassen hatte, etwas under-dressed vor. Doch eine Kritik an meiner Person oder meiner Kleidung hätte ich niemals zugelassen, befand ich mich doch gerade mal wieder in dem von mir so sehr geliebten Zustand „makellos“.
Ham hatte auch nur Jeans, schwarze Lederweste und sein geschnürtes, weißes Piratenhemd an, was meine Eitelkeit wieder auf ein normales Mindestmaß zurechtstutzte.
Dieser als Banker verkleidete Mensch, der mir irgendwie vage bekannt vorkam, entpuppte sich als Michael Westerfeld. Rinaldo Rinaldini. Leahs Sandkistenrocker! Der von ihr postulierte Vater ihrer Zwillinge und damit verantwortlich für ihren Tod! Ich hasste ihn sofort wieder leidenschaftlich, auch wenn ich das rein intellektuell natürlich verneint hätte. Schließlich war das Drama vor einundzwanzig Jahren über die Bühne gegangen und dann vorerst in der theatralischen Versenkung verschwunden.
Aber nicht bei mir!
Immer wieder, wenn der Alkohol eigentlich den gütigen Schleier des Vergessens über die Szenerie breiten sollte, waren die Vorhänge hochgegangen und hatten die Bühne von damals in all ihrer Pracht und Herrlichkeit präsentiert, in technicolor and stereophonic sound, mit Gesang, Tanz und der vollen Orchesterbesetzung.
Im Laufe der Jahrzehnte hatte ich mich auf einen Level begeben, der mit normalen Maßstäben nicht mehr zu messen war. Ich hatte mich damals in etwas hineingesteigert, meinen Geist vor Logik und Wahrheit völlig verschlossen. Es existierte nur noch meine unbewiesene Meinung, an der ich mich mit einer Vehemenz festklammerte, die andere wohl als komplett durchgeknallt bezeichnen würden. Ich selbst hätte mir das nie eingestanden, denn dann hätte ich ja mein gesamtes Weltbild umgestalten müssen, das ich mir so formschön zurechtgezimmert hatte.
Und so hielt ich an diesem Feindbild mit aller Gewalt fest, weil es mir garantierte, dass ich nicht die ganze Verantwortung für ihren Tod auf mich nehmen musste, denn das hätte mich endgültig in den Wahnsinn getrieben, der sowieso schon seit Jahren immer mal wieder, verhalten aber deutlich, an meiner Schwelle kratzte.
Michael und ich reichten uns höflich die Hände. Er hielt meine etwas zu lange fest, während er angespannt versuchte, mir in die Augen zu starren. Es war mir unangenehm. Ich sah fragend zu Harald hinüber, aber der beguckte sich sehr angelegentlich meine kürzlich angestellten Berechnungen zur zeit-lichen Entwicklung von Wellenfunktionen auf einem Whiteboard an einer meiner Büro-wände.
Oder wich er einfach nur meinem Blick aus? Er hatte sich schon seit Wochen nicht mehr blicken lassen. Und dann schleppte er auch noch diesen Kleinstadtcasanova an.
Ausgerechnet.
Ich merkte, wie langsam eine Wut in mir hochkochte, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Meine Gedanken und Gefühle gingen niemanden etwas an. Schon gar nicht diesen verkappten Mörder!
Bei diesem Gedanken sprudelte plötzlich meine in den tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins vergrabene militärische Vergangenheit wieder in die noch nicht vom Alkohol vernebelten Eckchen meines Verstandes und ich schaltete auf ein aufmerksames „Ruhe bewahren. Beobachten.“
Unvermittelt ließ Michael Westerfeld meine Hand wieder los, drehte sich um und plumpste mir gegenüber mit einem geradezu tragischen Aufseufzen in einen meiner Besuchersessel. Dann deutete er auf meinen Bürostuhl, als böte er ihn mir zum Verweilen an. Ich runzelte die Stirn.
Was wurde das denn jetzt? Wollte der sich hier etwa häuslich einrichten? Mein Blick irrte zu Ham, der sich auf dem anderen Sessel niedergelassen hatte und mich ebenfalls gespannt ins Auge fasste.
Leia war jetzt seit fast einundzwanzig Jahren tot. Einundzwanzig Jahre. Zu Anfang glaubte ich, vor Kummer sterben zu müssen, denn in meinen wacheren Momenten fühlte ich mich verantwortlich. Ich hatte ihr wehgetan. Ich hatte mit dieser unsäglichen, sehr kurzen und eigentlich völlig überflüssigen Affäre in hohem Maße dazu beigetragen, dass ihr Wille gebrochen war, ihre Widerstandskraft versiegte, sie an der bitteren Pille, die ich ihr zu schlucken gegeben hatte, elendiglich erstickte.
Augenblicklich setzte die Verdrängung ein. Ich wurde wütend. Sie hatte schließlich mich betrogen. Sie war für ihren Tod also selbst verantwortlich, und eigentlich war es nur die logische Konsequenz, dass sie für ihre Untreue und für ihre Lügen bestraft wurde. Ich verschränkte trotzig die Arme. Es war ein Gottesurteil gewesen. Wie sonst sollte ich meine Trauer und die Wut und die Verzweiflung und diese lähmende Ohnmacht erklären, ertragen, überleben?
Seit Jahren lebte ich schon in dieser Blase, diesem hirnzerfressenden Zustand zwischen unterdrückter Wut und nagender Schuld. Und jedes Mal, wenn ich einen zögerlichen Blick auf meinen Anteil an diesem ganzen Unglück werfen wollte, war da ein riesiger blinder Fleck.
Mit den Jahren hatte sich wenigstens der Groll darüber, dass sie sich mit Michael eingelassen hatte und an den Folgen der Geburt seiner Kinder gestorben war, einigermaßen gelegt. Glaubte ich zumindest.
Ich hatte dieses überwältigende Gefühl, diesen ohnmächtigen Zorn in meinem tiefsten Inneren verschlossen und wollte ihn nie, nie, nie wieder an die Oberfläche kommen lassen, denn er hatte mir das Herz gebrochen und meine Gedanken vergiftet. Dies Gefühl hatte mich zum Alkoholiker gemacht, zum Einsiedler, Eigenbrötler, der sein Herz vor allem und jedem verschloss. Mich traf selbstverständlich keine Schuld, denn sie war es ja gewesen!
Und nun saß mir der Kerl gegenüber und sofort brodelte der tiefsitzende Zorn nach oben, überschwemmte mein Bewusstsein und brachte mich fast um mein letztes bisschen Verstand.
Als ich der unausgesprochenen Bitte von Michael nicht Folge leistete, seufzte er resigniert und sagte leise:
„Nun setz dich schon.“
Ich war verwirrt. Nach irgendeiner Form von kameradschaftlicher Unterstützung suchend, sah ich zu Ham hinüber. Der nickte kaum merklich. Meine Abwehrhaltung stagnierte einen Moment, die Neugierde überwog und ich setzte mich. Ich hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde, lehnte mich in meinem Schreibtischstuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und hob herausfordernd das Kinn.
Doch obwohl ich die beiden sehr genau ins Auge fasste, beschlich mich das unangenehme Gefühl, ich wäre ein exotischer Falter, der sich unversehens, brutal durchbohrt, auf dem Mikroskopträger zweier Forscher wiederfand.
Michael räusperte sich nervös und rutschte auf seinem Stuhl ein Stückchen nach vorne, nur um seinen Hintern gleich wieder an das rückwärtige Polster zurückzuschieben. Seine Zappeligkeit begann mich zu beunruhigen.
Auch Ham schien sich nicht so wirklich wohl in seiner Rolle als Mediator zu fühlen. Er konnte mich nicht ansehen, saß jetzt, die gefalteten Hände zwischen den Knien baumelnd, nach vorne gebeugt auf seinem Sessel und wartete, während er sehr eingehend seine Stiefel-spitzen zu betrachten schien, die er in einem nicht nachvollziehbaren Rhythmus immer mal wieder gegeneinanderstoßen ließ.
„Damals“, begann Michael umständlich. Ich runzelte die Stirn. Ich wollte das nicht hören. Nichts von damals, nichts über sie, nichts über ihn.
Langsam, mit zusammengepressten Lippen und sich blasebalgartig zusammenziehenden Nasenflügeln sog ich Sauerstoff in meine Lungen. Es war plötzlich stickig geworden in meinem viel zu kleinen Büro.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, als erwarte er fast, dass ich über den Tisch spränge und ihm die Zähne einschlüge, und fuhr leicht gehetzt, um etwaigen Racheaktionen meiner-seits zuvorzukommen, fort:
„Also damals hat es ein Missverständnis gegeben.“ Schlagartig entwich die eben noch so sorgsam angehaltene Luft meinen Lungen. Ich senkte die Arme, beugte mich, beide Hände um den Rand meines Schreibtisches gekrallt, ein Stückchen über die Tischplatte, zog ungläubig die Augenbrauen hoch und wollte gerade zu einem sarkastischen Diskurs über den Gebrauch des Wortes „Miss-verständnis“ ansetzen, als ich sah, wie Harald, ohne mich anzusehen, verhalten den Kopf schüttelte. Ich sackte wieder in meinen Bürostuhl zurück.
Was war das für ein sardonisches Spielchen? Der Arsch wusste etwas, was ich nicht wusste. Alkoholdunst waberte durch meine Hirn-windungen. Mein Geist versuchte, mit aller Gewalt, irgendwie durch die Nebel zu dringen. Ich spielte mit dem Gedanken, aufzustehen und mir sofort einen weiteren Drink zu genehmigen. Ich hätte einen gebrauchen können. Mit einem schnellen Seitenblick auf eines meiner Verstecke, ich nannte sie lieber Zufluchtsorte, versicherte ich mich der Anwesenheit meiner flüssigen Freunde Jack, Johnny und der Verderben bringenden grünen Fee.
Michael wurde unruhig. Er hatte sich offensichtlich vorher nicht so recht überlegt, wie er mir den Braten schmackhaft machen sollte. Oder ihm war spontan seine sorgfältig zurechtgelegte kleine Rede entfallen. Er wand sich wie ein dicklicher Aal in einer zu kleinen Pfanne, wurde zusehends fahriger, wedelte bedeutungsvoll mit den Händen, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten - fand aber keine.
Da sprang Ham plötzlich auf, warf in einer theatralischen Geste der grenzenlosen Ungeduld beide Arme in die Luft, wobei fast meine Deckenlampe zu Bruch gegangen wäre, und stieß, während er gleichzeitig versuchte, die heftig schwingende Lampe daran zu hindern, gegen eine der Wände zu prallen, hervor:
„Was Michael versucht zu sagen, ist: Leahs Kinder sind auf keinen Fall von ihm. Es sind ohne den geringsten Zweifel deine!“
Ich kniff die Augen zusammen, lächelte etwas herablassend in die Runde und wollte eben eine Debatte über eheliche Treue, den vermeintlichen Liebhaber meines geliebten Weibes und seine Kuckucksbrut vom Zaune brechen, da bremste die Welt aus voller Fahrt, von 107.000 Stundenkilometern auf null. Der Erdkern hörte eruptiv auf zu rotieren. Unser noch sehr blauer Planet stand von einer Sekunde zur anderen mucksmäuschenstill.
Meine Kinder?
Einen Moment lang saß ich wie zur Salzsäule erstarrt auf meinem Stuhl. In meinem Kopf begann es zu summen, jeder möglicherweise sinnvolle Gedanke verlor sich im nebulösen Nichts meiner Hirnwindungen. Reflexartig klappten meine Lider herunter, denn meine Augen schienen sich aus den Höhlen drücken zu wollen. In meinen Ohren steckte plötzlich eine dicke Watteschicht. Mein Herz verweigerte einen Moment seinen Dienst und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Ich schaffte es gerade noch, mich meinem Papierkorb zuzuwenden, als sich auch schon mein vorhin genossenes Mittagessen samt Aperitif gewaltsam seinen Weg die Speiseröhre hinaufbahnte und ich herzhaft anfing zu kotzen – eine ätzende Mischung aus Kantinen-Lasagne, Absinth und Erkenntnis suchte sich schwallartig ihren Weg in das große, graue Kunststoffgefäß.
Michael und Ham sprangen gleichzeitig auf und starrten mich erschrocken an.
Meine Kinder.
Mit schmerzendem Zwerchfell und nach vorne zusammengekrümmt überantwortete ich meinem Papierkorb auch noch das letzte bisschen grünlich-braunroten Mageninhalt, während sich in immer größer werdenden Turbulenzen ein ekelerregender, beißender Säuregeruch in meinem Büro ausbreitete. Ham rümpfte angewidert die Nase, durchquerte leise den Raum und öffnete diskret das Fenster. Ein frischer Wind erfasste die Säureschwaden und trug einige mit sich davon.
Ich bemühte mich darum, gleichmäßig und ruhig ein- und auszuatmen.
Es sind meine Kinder.
Als mein Herz zu einem einigermaßen harmonischen Takt zurückgefunden hatte, versuchte ich, mich mühsam wieder in die Senkrechte zu hieven. Mit beiden Händen klammerte ich mich an die Kante meines Schreibtisches, jeden Augenblick damit rechnend, dass die endgültige Klappe fiele und meinem ohnehin wenig amüsanten Leben ein jähes, aber willkommenes Ende bereitete. Meine Knie zitterten, wie ich es die letzten fünfundzwanzig Jahre nicht mehr erlebt hatte, meine Oberschenkel waren merkwürdig gefühllos, vibrierten aber in einem ungesunden Stakkato. Ich spürte meinen Körper nicht mehr, hatte aber trotzdem dieses erschreckend taube Gefühl, zum Eisblock erstarrt zu sein.
Die Haut in meinem Gesicht spannte sich straff über meinen Wangenknochen. Dachte ich zumindest. Dabei hatte ich einfach nur den Mund weit aufgerissen, ich wollte schreien, bekam aber keinen Ton aus meinem verätzten Rachen, nur ein fauchendes Hauchen. Mein Gesicht wurde heiß, meine Augen brannten.
Meine!
Ich war wie betäubt, versuchte aufzustehen, drückte unter Aufbietung aller Kraft die Knie durch und hangelte mich mit mehr oder weniger gefühllosen Händen am Rande meines Schreibtisches entlang, um dann schwankend weiter Richtung Waschbecken zu tappen.
Ham und Michael starrten mich mit schreckgeweiteten Augen an. Ham schaffte es als Erster, die Kontrolle über sich wiederzu-gewinnen, trat einen Schritt auf mich zu, und auch Michael machte Anstalten, mir zu Hilfe zu eilen. Aber mit einer fahrigen Handbewegung gebot ich ihnen Einhalt.
Ich straffte die Schultern, die sich unter ihrer plötzlichen, tonnenschweren Last gebeugt hatten, und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sechs normale Schritte bis zum Waschtisch wurden zu einer fast unüber-windlichen Expedition durch den Raum.
Endlich stützte ich mich auf dem porzellanenen Rand des Waschbeckens ab und öffnete mit bleiernen Fingern den Wasserhahn. Kühle Flüssigkeit rauschte in meine geöffnete Hand. Ich spürte es kaum, beugte mich hinunter und schlürfte das Wasser, schluckte, spuckte, hustete. Dann nahm ich einen weiteren Schluck, blähte die Wangen, gurgelte und versuchte, die Säure aus meinem Hals, von meiner Zunge und den Innenseiten meiner Wangen zu spülen. Ich ließ die Brühe aus meinem Mund laufen, beobachtete eine Sekunde, wie die trübe Lauge ihren Weg in den Abfluss fand, spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht.
Unsere.
Einen Moment lang stand ich noch mit hängendem Kopf da, beide Hände auf den Waschbeckenrand gestützt, und wartete mit geschlossenen Augen auf einen gnädigen Tod. Als nichts geschah, drehte ich schließlich den Wasserhahn zu.
Ganz langsam und vorsichtig begann die Erde wieder Fahrt aufzunehmen. Das Rauschen in meinem Kopf ließ nach, meine Augen brannten immer noch, aber die Watteschicht in meinen Ohren wurde etwas durchlässiger und löste sich schließlich ganz auf.
Ich bin schuld an ihrem Tod.
Als trüge ich eisenschwere Ketten, drehte ich mich zu Ham und Michael um, die mich immer noch mit erschüttertem Entsetzen anstarrten, und wollte anfangen zu fragen. Aber ich kam nicht weit. Nach einem rauen „Wieso …?“ öffneten sich die brennenden Schleusen und ich weinte.
Wenn ich bei ihr gewesen wäre ...
Mit dem Rücken lehnte ich haltsuchend an der Wand und rutschte langsam abwärts, bis ich endlich unsanft auf dem Fußboden zu sitzen kam, die Beine angewinkelt, die Arme auf den Knien verschränkt, den Kopf in den Händen vergraben, und es schüttelten mich die Gefühle der vergangenen einundzwanzig Jahre, die ich so tief in meinem Inneren verschlossen zu haben glaubte.
Ham und Michael verließen leise mein Büro.
Als ich nach Stunden wieder zu mir kam, lag ich zusammengekrümmt auf dem nadelfilzigen Teppichboden meines Büros. Mein Kopf war grotesk nach hinten verdreht, mein Nacken schmerzte, meine Hüften schmerzten, mit einem Fuß stützte ich mich gegen die Wand, während ich, mit verschränkten Armen und angezogenen Knien, auf die Auslegeware sabberte.
Unter Stöhnen und Ächzen versuchte ich, meine Gliedmaßen in eine sitzende, dann in eine stehende Position zu sortieren, was mir unter Aufbietung all meiner Kräfte irgendwann mit zitternden Knien gelang. Ich kam mir vor wie die Zeitrafferversion der Menschheits-entwicklung vom Pithecanthropus Rudolfensis über den Homo erectus zum Homo sapiens.
Endlich stand ich aufrecht, reckte meine Arme, streckte meine Wirbelsäule und meinen Hals, rollte den Kopf hin und her, worauf es in meinem Nacken unangenehm knackte. Eine lähmende Taubheit verringerte die Empfindungen meines Körpers, schränkte seine Bewegungsfähigkeit ein. Einen Moment starrte ich aus dem Fenster, draußen dämmerte es bereits.
Die Ereignisse des heutigen Tages bahnten sich langsam ihren Weg zurück in mein Bewusstsein. Verirrte Gedankenfetzen sausten durch meinen Kopf. Einen Moment drohte mich die Sucht zu übermannen, stieg ein brennender Durst in mir hoch, wollte ich nur noch in mein seit über zwanzig Jahren gepflegtes Koma driften. Es dürstete mich nach universellem Vergessen.
Die schlagartige Erkenntnis, dass ich im Laufe der Jahre wohl doch zum krankhaften Trinker mutiert war, traf mich wie eine Abrissbirne.
Einen Wimpernschlag lang stand ich mitten im Büro und sortierte meine vernebelten Gedanken, dann drehte ich mich entschlossen zu meiner Aktenschrankwand um und begann, aus Schubladen, hinter Ordnern, aus Schirm-ständer und Schreibtischzügen Batterien von Flaschen zusammenzusammeln.
Bereits nach kurzer Zeit hatte ich die alkoholische Ausstattung einer mittelgroßen Kneipe auf meinem Schreibtisch vereint und betrachtete die Kollektion mit dem ungläubigen Schrecken des Begreifens. Die Flaschen waren teilweise mehr als halbleer, enthielten nur noch einen Schluck ihrer ehemaligen Füllung – Absinth, schottischer und irischer Whiskey, Rum, Cognac, eine fast volle Flasche Sherry für möglichen Damenbesuch, wobei die verbliebene Füllmenge der Flasche auf die Häufigkeit solcher Besuche in den letzten zwanzig Jahren schließen ließ. Sogar eine Flasche Bourbon und eine Flasche Tequila fanden sich in dem bunten Sammelsurium - für unvorhergesehene Notfälle.
Ich nahm das Telefon in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Corinna Spanhake
Bildmaterialien: Corinna Spanhake
Cover: Corinna Spanhake
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0554-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
meinen Kindern