Cover

Titel

 

 

Corinna Spanhake

 

Treibgut 83

Flaschenpost-Trilogie Buch I

 

 

 

 

Copyright 2013 bis ans Ende von Zeit und Raum

 

 

 

 

 

 

Überarbeitete Fassung Juni 2020

 

Copyright © Corinna Spanhake, Wentorf bei Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlaggestaltung Corinna Spanhake

Umschlagmotiv © Treibgut am Priwall - Corinna Spanhake

Lektorat Dr. Lotte Husung, mail@buchstaeblich-lektorat.de, Reinbek

Druck und Bindung WIRmachenDRUCK, Backnang

klimaneutral gedruckt – Qualitätsdruck auf Naturpapier

 

ISBN 978-3-7487-0900-8

CHRISTOPHERS PROLOG

 

Mali. Juni 1981.

 

Tot. Verloren. Für immer. Mein Verstand weigerte sich, zu begreifen. Überall nur grünlich-gelbe Farbe. Ich versuchte, meine Hand auszustrecken, einen Finger wenigstens, um daran zu kratzen. Doch bis auf mein sich abmühendes Gehirn schien keines meiner Körperteile meinem Willen zu gehorchen. Noch während ich wie hypnotisiert auf die vermeint-liche Farbe starrte, öffnete sich der Raum um mich mit alptraumhafter Langsamkeit, die Risse wurden zu Spalten, klafften immer weiter auseinander.

Atemlose Angst erfasste mich. Ich wollte schreien, aber meine Stimme versagte ihren Dienst. Nur in meinem Kopf schrie es gellend. Die aus den Spalten strömende Energie saugte an meinen Augen, meinem Gesicht, hob meinen Körper in die Horizontale. Einen Moment schwebte ich, dann wurde ich unwider-stehlich in eine der Spalten hineingesogen. Ich ergab mich, wehrte mich nicht. Ich wusste mit absoluter Gewissheit, überall war es besser als hier. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen, spürte keinen Schmerz, leistete keinen Widerstand.

Eine kurze Weile reiste ich durch den Spalt ins unendliche Nichts. Ich wollte lachen. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand ich eine unglaubliche Erleichterung: ich war dem Tode entronnen.

Da löste sich die Vision auch schon wieder auf, nahmen meine Sinne das Grauen überdeutlich wahr. Mein Körper geriet ins Trudeln und, wie man manchmal aus einem Traum zurück in die warmen Kissen seines Bettes stürzt, spürte ich fast schmerzhaft deutlich den Aufschlag in der Mulde aus Wüstensand und trockenem Gras, denn ich lag noch immer an der gleichen verfluchten Stelle, irgendwo in der Steppe von Mali.

Jetzt roch ich auch die heiße Trockenheit wieder, glühendes Eisen, Exkremente. Mit aller Kraft kniff ich meine Augen zusammen. Wenn ich schon riechen und hören musste, weigerte ich mich zumindest, zu sehen. Mein Hirn unternahm den verzweifelten Versuch, die eben noch irgendwie tröstliche Vision festzuhalten. Aber dem gleißenden Licht der Sonne, das durch meine fest geschlossenen Lider brannte, entging nichts. Ich spürte das rote Feuer auf meinen Wangen, meiner Stirn. Spürte, wie meine Haut unter den erbarmungslosen Strahlen zu verbrennen drohte. Ich fühlte das Schmirgeln des Sandes an meinem Gesicht und schweißige Salzkristalle auf meiner Haut. Rauer Stoff rieb über meine Brust und durchweichte Hosenbeine klebten wie feuchte Lappen an meinen Oberschenkeln. Meine lautlosen Atemzüge wirbelten winzige Sandfontänen auf. Der Sand landete auf meiner Oberlippe. Blind tastete ich mit einer Hand danach und versuchte, die kleinen, juckenden Körnchen wieder loszuwerden.

Gleichzeitig spürte ich erschreckend nah eine fremde Aufmerksamkeit. Die Gegenwart eines Menschen, ganz dicht bei mir. Vorsichtig öffnete ich die Augen, hoffte immer noch inständig auf das Unmögliche. Ham lag neben mir, das MG im Anschlag, und gönnte mir einen schnellen, irritierten Seitenblick.

 

„Was hast du denn für Schwierigkeiten?“, zischte er kaum hörbar, aber deutlich verärgert, den Blick schon wieder konzentriert auf die Horizontlinie gerichtet. Er hatte seinen gefleckten Tarnanzug an, die Rummsmurmel auf den kurzgeschorenen Haaren und spähte nach dem hastigen Seitenblick wieder angespannt auf die vermeintlich menschenleere, spärlich bewachsene, grünlich-gelbe Ebene vor uns.

Mit einem kurzen Aufblubbern panischer Verzweiflung wurde ich mir des Drucks meines eigenen Helmes bewusst, sah die beige-braun-sandfarben gefleckte Tarnkleidung an meinem Körper; den Riemen meines MGs hatte ich um meinen Unterarm geschlungen. Ham und ich lagen in einer flachen Sandkuhle, etwas oberhalb einer Ebene voller flacher, ockerfarbener Sanddünen und vereinzelter graugrüner, struppig vertrockneter Sträucher. Ich lag auf dem Bauch, den Kolben der G-22 an meine Wange gepresst, und hatte jetzt beide Augen wieder weit geöffnet. Durch das Zielfernrohr beobachtete ich einen unsichtbaren Feind. Das heißt, ich versuchte es, denn es war nirgends auch nur der verdammte Schwanz von irgendetwas zu sehen.

Dann fiel es mir wieder ein: wir waren vor sechs Tagen in Marokko gelandet und von dort auf unsere erste Mission nach Mali geschickt worden. Unser Ziel: Bamako. Fünfzig Mann. Zu Fuß. Eine Rettungsmission.

Wir haben die Stadt nie erreicht. Und nur vierzehn Mann kehrten zurück.

 

„Sie sind die Elite, meine Herren.“

 

Als ich ein kleiner Junge war, erzählte mir mein Onkel von seinen fröhlichen, farbigen Abenteuern in La Légion. Zu Adolfs Zeiten war er zwar zur Wehrmacht eingezogen worden, hatte sich aber heimlich davongemacht und der Fremdenlegion angeschlossen. Es war so aufregend! Wie er mit seinen Kameraden durch die Wüste marschierte, Kamele und Tuareg sah und sie alle nur Französisch sprachen und ein eingeschworener Haufen waren. Sicherlich hatte es auch mehr als genug Kampfhandlungen gegeben, aber davon erzählte er längst nicht so ausführlich.

Ich bin der jüngste von drei Brüdern; der Älteste: Stiefsohn meines Vaters, der Mittlere: Lieblingssohn meines Vaters - und ich. Ich hatte mir geschworen, der Größte der Söhne zu werden, und schon früh um die Erlaubnis gebeten, Kampfsport machen zu dürfen. Und ich war gut.

Kampfsport sagte unserem Vater sehr zu, der eine perfide Art hatte, uns immer wieder seine Überlegenheit spüren zu lassen. Er hatte ein kleines Stöckchen an unserer Zimmertür hängen, und immer wenn ihm danach war, drosch er damit auf uns ein. Meist traf es den Ältesten, häufig auch mich.

Als ich als knapp Sechzehnjähriger dazukam, wie er auch auf unsere Mutter losging, habe ich ihm ein paar Rippen gebrochen. Danach hat er sich nicht mehr getraut, die Hand gegen uns zu erheben.

 

Mittlerweile hatte mein Onkel erkannt, dass ich mit Feuereifer versuchte, in seine Fußstapfen zu treten, und plötzlich waren seine Geschichten nicht mehr so abenteuerlich, unbesiegbar und spannend. Plötzlich gab es Blut und Geschrei, Schusswunden, Folter und lange Messer. Und trotzdem! Ich wollte zum Militär! Ich wollte auch Heldentaten vollbringen und Abenteuer erleben, Kameraden haben, die an meiner Seite tapfer in den Tod marschierten. Ich wollte für mein Vaterland kämpfen. Es klang so heroisch! Ich würde ferne Welten erforschen, fremdes Leben und neue Zivilisationen. Ich wäre Mr. Spock und Captain Kirk in einer Person, hätte einen Freund wie Winnetou oder Old Shatterhand und würde im glühenden Wüstensand mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar kämpfen.

Sicherlich würde es Tote geben, und natürlich könnte auch ich sterben. Aber dann stünden meine tapferen Kameraden an meinem Grab und würden mir die letzte Ehre erweisen, und ein General würde meiner verzweifelten Mutter meine Orden und Ehrenzeichen überreichen und meinem weinenden Vater die Hand schütteln …

 

Nach unserem ersten Einsatz dachte ich ein wenig anders darüber.

Blut fühlt sich kühl an, wenn man bei 45 Grad neben einem Kameraden im Wüstensand liegt und ihm sagt, dass er sterben wird. Und es riecht nicht nach Lorbeerkranz und Löwenmut, sondern nach heißem Eisen, nach Pisse und Angst.

Orden- und Ehrenzeichen hatten wir nicht, denn wir galten bereits als tot und wir ließen die gefallenen Kameraden spärlich mit Zweigen und ihrer Kleidung bedeckt in der Wüste liegen, denn wir konnten uns mit ihren Körpern nicht belasten.

Der Kamerad, mit dem du eben noch leise gesprochen hast, liegt plötzlich röchelnd neben dir im Sand und du presst ihm mit einer Hand den Mund zu und mit der anderen versuchst du irgendwie, das viele Blut aufzuhalten, das unaufhaltbar aus seinem Körper sprudelt.

Blut ist nicht wie Wasser. Es ist klebrig und dickflüssig, und solange das Herz schlägt, wird es in regelmäßigen, endlos scheinenden Intervallen aus dem Körper gepumpt. Bis nichts mehr da ist. Kein Leben, kein Atemzug. Es hat nichts Heroisches. Kein letzter Sonnenstrahl, der die Seele des gefallenen Kameraden mit sich in den Himmel nimmt, keine Schwalben, keine tapfer gemurmelten letzten Worte. Es ist einfach nur jämmerlich.

Einige schreien nach ihrer Mutter, andere schreien einfach nur. Und es gibt nichts, was du tun kannst, denn du bist am Leben, und das willst du auch bleiben. Um jeden Preis. Das kann auch bedeuten, dass man den Kameraden von seinem Leiden erlöst. Nicht mit einer Kugel, denn das wäre zu laut und würde euren Standort an den Feind verraten, sondern mit einem Messer.

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo es dir egal ist. Dann möchtest du nur noch sterben. Und wenn es von eigener Hand ist. Du möchtest raus aus diesem Strudel aus nervenzermürbender Anspannung. Du möchtest endlich schlafen. Nichts sehen, nichts hören. Die Augen schließen, ohne sofort die Bilder von Blut und Gewalt in dir aufsteigen zu sehen. Die Ohren schließen.

Ja, ich glaube, die Ohren sind das Schlimmste. In der Wüste hörst du den Sand rieseln. Das kann ein harmloser Käfer sein, es kann aber auch der Feind sein. An Schlaf ist nicht zu denken. Sind die Augen zu, erlebst du innere Albträume; sind sie offen, erlebst du reale. Und Ohren kann man  nicht schließen.

Und dann kommt der Zeitpunkt, wo du in deiner eigenen Pisse liegst, dir nicht einmal mehr die Mühe machst, deinen Schwanz rauszuholen. Du pinkelst einfach in die Tarnhose, denn du kannst deine Stellung nicht verlassen. Deine Kameraden und du stinken sowieso schon nach Dreck, Schweiß und Blut. Da macht ein bisschen Urin den Kohl auch nicht mehr fett.

 

Aber deine Kameraden und du, ihr habt eine Mission. Ihr müsst irgendwelche  Regierungs-beamte aus irgendeiner Botschaft holen, müsst deren Frauen und Kinder zu irgendeinem Flugfeld bringen, sie in irgendeinen Helikopter setzen, nur um dann auf die nächste Mission zu gehen.

 

Ich bin ein 143er. Und was das bedeutet, möchte ich niemandem erklären müssen.

 

LEAHS PROLOG

 

Hamburg. Mai 1983.

 

Ich sah in den Spiegel. Kritisch. Ich grinste mich an. Meine Zähne waren makellos. Meine Lippen knutschig, meine Augen strahlten mir in einem leuchtenden Himmelsblau entgegen. Ich verzog den Mund. Ich traute dem Strahlen nicht. Meine langen, blonden Haare flossen in silbergoldenen Strömen über meine Schultern, und wieder einmal bedauerte ich, beim Erbteil meiner Eltern irgendwie unterschlagen worden zu sein. Meine kleine Schwester natürlich nicht. Sie hatte die wildesten Locken - ich: nix. Spaghetti! In Hülle und Fülle zwar, aber irgendwie formlos. Gewissermaßen ein riesiger Topf voller sich ungehindert durcheinander windender Nudeln. Nicht zu bändigen. Und ich konnte machen, was ich wollte. Es hielt keine Dauerwelle, keine Wasserwelle, kein Lockenwickler, nichts.

 

„Deine Haare sind genauso widerspenstig wie du“, pflegte mein Vater immer mit dem Anflug eines milden Lächelns zu sagen. Ich riss mit einer Hand an ein paar Strähnen dieser ungekämmten Pracht. Das würde wieder ein Akt werden! Aufseufzend griff ich zur Bürste und überlegte einmal mehr, die Haare einfach abschneiden zu lassen, was zwar der Kämmbarkeit zugutekäme, die Widerspenstigkeit der sich darunter befindenden Person aber sicherlich nicht bezähmen würde.

Während ich mich dem morgendlichen Ritual der Haarbändigung hingab, dachte ich über meinen bevorstehenden Geburtstag nach. - Gut, es waren noch mehr als zwei Monate Zeit, aber ich hatte eigentlich Lust auf eine Party. 24 Sommer, fast ein viertel Jahrhundert. Das sollte man doch wohl feiern. Ich setzte die Bürste an und legte die Stirn in Falten. Mal sehen, wen würde ich einladen?

 

Mechanisch führte ich die Bürste Strähne um Strähne durch mein hüftlanges Haar. Je mehr ich über die bevorstehende Party nachdachte, desto weniger spürte ich das Ziepen und Reißen an der Kopfhaut. Umso länger ich nachdachte, desto heftiger ziepte und riss es an meinem Herzen. Mir fiel niemand ein. Da war keiner mehr, den ich hätte einladen können. Verzweifelt dachte ich nach, wühlte in meiner Erinnerung. Aber es ging nicht anders, ich musste es mir eingestehen: ich hatte keine Freunde. Ein paar Kolleginnen vielleicht, aber keine Freunde.

Einen Moment lang starrte ich mir voller Entsetzen in meine himmelblauen Kulleraugen. Dann konnte ich meinen Blick nicht mehr aushalten. Am liebsten hätte ich laut geschrien. Wo waren sie geblieben? Ich hatte doch früher Freunde gehabt! Pinki und Gine, meine besten Freundinnen aus der Fremdsprachenschule - Bine, meine beste Freundin aus Schulzeiten – Rinaldo, mein Sandkistenfreund - Britta, Tanja, Helena, Ingrid ... wo waren sie?

Es wallte plötzlich eine entsetzliche Übelkeit in mir auf. Mein Kreislauf sackte ab. Mir wurde schwindelig. Ich stützte die Hände auf dem Waschbeckenrand ab und starrte blicklos in den weißen Abgrund des Porzellanbeckens. Wenn ich jetzt kotzen müsste, wüsste ich wenigstens, wohin!

 

Als ein taumelndes Trugbild tauchte aus den Tiefen meines Bewusstseins das Bild meines Langzeitverlobten Wilfried auf. Ich schüttelte widerwillig den Kopf, sah in den Spiegel und starrte trotzig auf den Mund meines Spiegelbildes: Nein! Sag es nicht! An ihm konnte es nicht liegen. So ein Quatsch. Nur weil er zehn Jahre älter war als ich? Nein. Am Alter lag es sicherlich nicht. Einen winzigen Moment lang versuchte eine Erinnerung sich an die Oberfläche meines Bewusstseins zu kämpfen: ich hielt einen Telefonhörer in der Hand und sagte mal wieder mit einer äußerst fadenscheinigen Begründung eine Verabredung ab. Wilfried saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem unserer Sofas, sah aus dem Fenster und blätterte nebenbei gelangweilt in der Hör Zu.

 

Erkenntnis durchflutete mich wie ein riesiger Schluck Essig. Ich konnte den vorwurfsvollen Blick meiner Augen nicht mehr ertragen.

Zurück blieben ein bitterer Geschmack auf der Zunge, ein Brennen in den Augen und ein atemloses Gefühl, das meinen Brustkorb zusammenpresste. Ich legte die Bürste beiseite, ließ das Wasser laufen und schöpfte mit der hohlen Hand einen kühlen Schluck. Der fade Geschmack blieb.

 

Mechanisch nahm ich die Bürste wieder zur Hand. Mein Blick irrte umher auf der Suche nach einem nicht reflektierenden Gegenstand und blieb an den kleinen blauen Delphinen auf meinem Duschvorhang hängen. In Gedanken begann ich, die Tiere zu zählen.

 

 

 

 

Tag eins. Freitag.

Travemünde. Priwall. Sommer 1983.

 

Ich musste von Bord. Jetzt gleich. Es war nicht zum Aushalten! Mein Verlobter Wilfried und ich hatten uns gestritten. Er war, wie üblich, maulend im Vorschiff verschwunden. Nicht, dass das etwas Neues gewesen wäre. Es war eher etwas Alltägliches, Vertrautes, Gewohntes ... Und ich hatte einfach keine Lust mehr, mich seinen möglicherweise noch folgenden Ausbrüchen auszusetzen. Er hatte sich eben so in sein Traktat hineingesteigert, dass ihm schon fast Schaum vor dem Mund stand, ohne mich überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Er brüllte einfach jeden Versuch, meine vereinzelt eingeworfenen Argumente zu Gehör zu bringen, nieder. In meinem Herzen wogte die Hilflosigkeit und in meinem Hirn brodelte die Wut. Alles, was mir einfiel, war: Flucht!

 

Ich schnappte mir meine Badetasche, den kleinen Sonnenschirm und mein Buch, riss irgendeines der T-Shirts von der Wäscheleine, die bordseits an der Reling baumelten, stülpte es mir über den Kopf und stampfte über das Deck. Mit einem verhaltenen Schnauben schleuderte ich meine Habe sehr nachdrücklich auf den Steg und kletterte ihr über den Bugspriet hinterher, auf die Trittleiter, die fest verschraubt dafür sorgte, dass wir problemlos von und an Bord kamen. Die schwarze, aufgeheizte Gummifolie auf dem Tritt drohte sich in meine unbeschuhten Fußsohlen zu schmelzen. Ich hatte meine Schuhe an Deck vergessen. Kurz entschlossen sprang ich von der obersten Sprosse auf die Holzpontons.

Als ich auf dem Steg aus kaum bearbeiteten Holzbohlen stand, zögerte ich. Schmerzhaft drückte sich die Maserung der rohen Planken in meine Zehen. Egal. Bevor ich mich noch einmal seinem Schimpf-Stakkato aussetzen würde, ginge ich lieber barfuß durch die Hölle, die Fußsohlen vom Gummi verbrannt und voller Splitter. So weit wollte ich mich aber gar nicht quälen, es war nur Passathafen Steg E entlang, die Gangway bis zur Pforte hinauf, links an der Seglermesse vorbei und weiter Richtung Strand. Immer noch so wütend, dass ich zu spüren glaubte, wie Rauchwolken aus meinen Ohren stoben, um sich hinter mir im Sonnenlicht wirbelnd aufzulösen, marschierte ich los.

Der Holzsteg war rau und spröde unter meinen Füßen, der Weg bis zum Tor lang. Mein ganzer Körper schmerzte vor Anspannung. Und ich hatte kaum etwas an. Für eine komplette Garderobe hatte mein Abgang einfach nicht gereicht. Und das hellblau-weiß geringelte T-Shirt meines Vaters, das ich eben von der Wäscheleine gerissen und hastig übergeworfen hatte, schlackerte mir viel zu weit um die Hüften. Meine Haare waren zu einem wilden Dutt zusammengerafft, der sich etwas windschief auf meinem Kopf türmte. Mir standen, im wahrsten Sinne des Wortes, die Haare zu Berge.

 

Es war fast schon Mittag und die Sonne hatte die Uferstraße so sehr aufgeheizt, dass über dem dunklen Asphalt ein fatamorgianisches Flimmern waberte. Meine gepeinigten Fußsohlen drohten jetzt im heißen Teer der Straße kleben zu bleiben. Mit ein paar krakeligen Hüpfern wechselte ich auf den deutlich kühleren grasigen Seitenstreifen, den kleinen Sonnenschirm unter den Arm geklemmt und den Bambusbügel der rot-weiß gestreiften Bade-tasche lässig über die Schulter gehängt. Fast war ich geneigt, mich über meinen hastigen Aufbruch und das damit einhergehende Vergessen meiner Schuhe zu ärgern. Aber dann fielen mir die wütend zusammengekniffenen Augen und der grotesk verzerrte Mund von Wilfried wieder ein. Ein Schauer rauschte mir über den Rücken und langsam begann ich, mich zu entspannen. Ich war auf der Flucht und bisher hatte ich mich ganz gut geschlagen.

 

Der Himmel strahlte in sommerlichem Blau, die Wanten schlugen an die Masten, Segel knatterten im Wind, Kinder rannten die Uferstraße entlang und tobten über die Deichhänge. In der Ferne hörte man das sonore Tuten der großen Ostsee-Fähren. Der Hafenmeister grüßte mich aus seinem Kabäuschen, und ich atmete tief die nach Salz schmeckende Seeluft ein, gemischt mit der Hitze des Tages, dem Duft nach frisch gemähtem Gras und dem Hauch der Abgase der dicken Fährschiffe, die von und nach Skandinavien unterwegs waren. Und mit dem warmen Wind begann auch meine Wut, sich immer mehr aufzulösen. Die eben noch durch mein Hirn rauschende Anspannung wich einer eher belustigten Erleichterung. Dieser kleine Giftzwerg! Ich war ihm mal wieder entwischt. Zumindest für den Augenblick.

 

Meine Schritte wurden langsamer. Ich genoss die Kühle des frisch gemähten Grases, das sich grün und feucht an meine Fußsohlen heftete, und schlenderte, gemütlich meine Tasche schlenkernd, an der Würstchenbude und dem Minigolfplatz, der von einem riesigen Heckenrosengebüsch umgeben war, vorbei. Aus dem Kioskschornstein mischte sich der Duft nach heißem Frittierfett und würzigen Pommes frites mit dem der nach wilden Zitronen duftenden Heckenrosen. Die Wut war weg und ich musste lächeln. Irgendwie war das Leben doch wunderbar!

Der Hafen war fast leer. Viele der kleineren und mittleren Segler beteiligten sich an den Regatten, die heute auf der Neustädter Bucht stattfanden. Von Landseite hörte man die Moderatoren durch die Megaphone brüllen, aber mich zog es an den Priwall-Strand. Ich wollte einen Moment meinen Urlaub genießen, einen Moment das Gekeife dieses cholerischen Mannes vergessen und noch einen weiteren Moment darüber nachdenken, ob diese Beziehung zukünftig wirklich noch in meinen Lebensplan passte.

Ich hatte einen Lebensplan? Ich musste grinsen. Nein. Eigentlich nicht. Mein Plan war, zu leben, nicht unbedingt mit dem Strom zu schwimmen, aber auch nicht ständig gegen an zu paddeln, und alles, was mir über den Weg lief, flog oder schwamm zu begreifen, zu lernen und zu erfahren. Ein wenig trotzig schob ich den Unterkiefer vor. Lebensplan … dass ich nicht lache. So was hatte ich ja wohl noch nie gehabt!

 

Ich war ganz in die Gedanken um meine einsame, ungeplante Zukunft versunken, als mir auf Höhe der PASSAT eine Gruppe Marinesoldaten entgegenkam. Sechs hochgewach-sene Kerle. Sie trugen trotz der Hitze Ausgehuniform: weißes Hemd, blaue Hose. Und mitten in meine etwas verschwommene Zukunftsplanung zwängte sich der Gedanke, dass ich vergleichsweise verdammt wenig anhatte. Schlabber-T-Shirt und weißes Bikinihöschen, mehr hatte mein überstürzter Aufbruch ja nicht hergegeben. Reichlich wenig, um sich unter Matrosen auf Landgang zu wagen. Aber das waren mehr oder weniger flüchtige Gedanken, die mehr oder weniger flüchtig aus meinem Unterbewusstsein an den Rand meines Bewusstseins schwappten. Ungeschminkt und mit den hochgetürmten, ungebürsteten Haaren passte ich wahrscheinlich sowieso nicht in das Beuteschema der Herren. Hoffte ich zumindest. Es war also möglicherweise doch nicht so gefährlich, schließlich musste ich aussehen wie eine wild gewordene Meduse mit Badetasche.

 

Eine Zehntelsekunde zögerte ich. Doch abgesehen davon, dass ein Ausweichen auf der schmalen Uferstraße kaum möglich war, ohne sich auch noch ein paar Kratzer vom Sanddorngebüsch abzuholen, kam es für mich überhaupt nicht infrage. Ich hob meine Nase einfach ein Stückchen höher und marschierte, ohne die Herren auch nur eines Blickes zu würdigen, geradewegs hinein ins Desaster und mitten durch die Gruppe junger Männer, wobei ich mir meiner mehr oder weniger nackten Tatsachen durchaus bewusst war.

Und trotzdem: weder Dresscode noch Haartracht konnten diese kurz vor dem Homo sapiens abgebogene Spezies von der Kontaktaufnahme abhalten, denn umgehend ging das Gepfeife und Gejohle los. Ich verdrehte leicht genervt die Augen und musste doch innerlich grinsen. Männer kommunizierten gelegentlich auf einer wirklich urzeitlichen Ebene. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mich mit Kokosnüssen bewarfen, wobei Kackeklümpchen möglicherweise zeitgeschichtlich die erste Wahl gewesen wären.

Wohl wissend, dass mir die ganze Bande hinterher glotzte - blonde Haare scheinen da einen ganz besonderen Reiz auszuüben -, konnte ich nicht anders, als mit schwingenden Hüften weiter Richtung Strand zu marschieren. Emanzipation hin oder her - auch in mir schlummerte schließlich ein Urzeit-Weibchen.

 

Einer in der Gruppe war mir trotzdem aufgefallen. Anstatt es seinen Artgenossen gleichzutun, hatte er Augenkontakt gesucht. Dem Gruppenzwang gehorchend pfiff er mir zwar auch hinterher, aber im Gegensatz zu den anzüglichen Blicken der anderen, die ich wie unter solchen Umständen üblich ignorierte, war ich seinem kurz begegnet. Seine Augen waren grün und hatten diesen leicht melancholisch-verhangenen Blick.

 

Der Abend war schon verplant und der Nachmittag versprach, gesellig zu werden. Ich ging mit meinen Kameraden den Kai entlang mit dem Ziel, ein Lokal zu finden, wo wir gemütlich einen Drink nehmen könnten und eventuell auch willige Bekanntschaften fänden. Landgang war angesagt und bis Montagmorgen null sechshundert waren wir frei.

Wir alberten herum wie kleine Bengel, die vor lauter Übermut nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, als sich wie die Wilden zu benehmen. In der Woche turnten wir auf der Kampfbahn herum: fünf Kilometer im Laufschritt mit sechzig Kilo Gepäck. Aber heute gehörte uns die Welt. Wir schubsten und rangelten miteinander, sodass sich zwar Touristen und Spaziergänger aufregten, aber sich trotzdem nicht trauten, uns zurechtzuweisen. Uns hätte das aber auch wenig gestört. Wir waren die Herren des Universums und so setzten wir unser mutwilliges Treiben fort. Wir lachten laut und ausgelassen und pfiffen allem hinterher, was auch nur annähernd nach Mädchen aussah. So auch dieser blonden Schönheit, die uns da auf der Hafenstraße am Priwall entgegenkam.

So ein freches Aas! Marschierte einfach durch uns hindurch! Ihre Badetasche streifte dabei meine Hand.

In Bruchteilen von Sekunden checkte ich alle vorhandenen Kurven und anderen hervorstechenden Merkmale. Als sich unsere Blicke trafen, bemerkte ich ihren genervten Ausdruck und versuchte schnell, mein Pfeifen in ein verlegenes Lächeln zu verwandeln. Ich war stehen geblieben und sah ihr einen Moment hinterher, musterte, wie wir Männer sagen, ihren Auslader und das Fahrgestell. Was für Kurven!

 

Komm jetzt!“, hörte ich einen der anderen nach mir rufen. „Die ist nicht deine Kragenweite. Das ist eine von denen am Anleger, die wollen bestimmt keinen Typen wie dich in ihrer Nähe haben. Los jetzt, ich schmeiß die erste Runde!“ Die Kameraden steuerten auf die Seglermesse zu.

Aber mir war plötzlich nicht mehr nach Saftgelage und dummen Sprüchen. Ich hörte schon gar nicht mehr richtig hin, sondern hatte mich bereits umgedreht und folgte dem Mädchen. Meine Kameraden zuckten die Schultern und liefen weiter. Mir aber gingen andere Dinge durch den Kopf: war sie wirklich ein Snob, so ein Blaustrumpf von den Segelbooten? Würde ich ihr möglicherweise sogar Angst machen? Ich hielt einen größeren Abstand, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Aber sie drehte sich nicht einmal nach uns um. Das war ungewöhnlich.

Normalerweise hatten wir bei den meisten Mädchen leichtes Spiel! Es war nicht nur unsere Marineuniform mit den vielen Abzeichen, sondern auch unser Körperbau, durchtrainiert und muskulös, die braun gebrannte Haut und die Körpergröße.

Ferdinand und ich waren mit 189 und 194 Zentimetern die Kleinsten der Truppe. Ham maß über zwei Meter. Und Thomas, Steffen und Jens waren alle so um die 196 Zentimeter groß.

 

Ohne mich noch weiter um diesen Haufen grölender und pfeifender Primaten zu kümmern, setzte ich meinen Weg zum Strand fort. Ich wollte mir einfach nur ein schattiges Plätzchen in den Dünen suchen und lesen. Weit weg von Wilfried. Ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Ein bisschen Abstand. Und es gab so vieles, worüber ich nachzudenken hatte! 

 

Am Fähranleger bog ich halb rechts auf den Strand ab und stöhnte verhalten, als meine bereits so gepeinigten Füße den heißen Sand berührten. Ich bildete mir ein, das Knirschen der Sandkörnchen zu hören, als ich allen Widerständen zum Trotz Richtung Meer stapfte.

Und dann, endlich, stand ich in der Ostsee, umspülte meine Füße das tief türkisfarbene Salzwasser, kühlte meine geschundenen Fußsohlen, versuchten sich einige Algenfäden um meine Zehen zu fädeln, zerrte eine Welle nach der anderen ein paar Millionen Sandkörnchen unter mir weg und ließ mich immer tiefer in der Kühle des Strandes versinken. Ich seufzte erleichtert, zog meine Füße mit einem schmatzenden Geräusch wieder aus ihrem Sandbett und setzte meinen Weg über den überraschend festen, durchfeuchteten Strand fort, während die unendlichen Wellen meine Spuren langsam wieder verwischten.

 

Immer weiter Richtung DDR-Grenze führte mich mein Weg, vorbei an ganzen Horden quietschender Kinder, die mit ihren Händen voller Hingabe Gräben in den feuchten Sand gruben und begeistert zusahen, wie jede noch so kleine Welle ihre phantasievollen Gebilde mit Wasser füllte; vorbei an Eltern und anderen Erwachsenen, die ihre mehlig weißen Bäuche der prallen Sonne preisgaben oder ihre pflaumenrunzlig braun gebrannten Hinterteile heimlich mit den knallrot verbrannten Unterhemd-Konturen ihrer Burgnachbarn verglichen. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Sonnenmilch und Tiroler Nussöl, dem vereinzelten Schrei einer in ihrer Mittagsruhe gestörten Möwe, dem Ploppen von Bierflaschenverschlüssen und dem Geraschel von Tausenden Nutella-Broten in Butterbrotpapier.

 

Nachdem ich mein ganzes Gedöns noch ein paar Hundert Meter weiter keuchend über den feuchten Sandstrand geschleppt hatte, die Wachtürme der DDR-Grenze waren schon sehr deutlich in Sicht, steuerte ich in der Nähe eines DLRG-Rettungsturms die Dünen an. Ich fand eine geschützte, ziemlich einsame Sandkuhle, ließ alles fallen und betrachtete zufrieden das von mir eroberte Terrain. Ich spannte mein bunt gestreiftes Sonnenschirmchen auf und begann, mich häuslich einzurichten. Zuletzt ließ ich mich mit einem Riesenseufzer der Zufriedenheit auf meinem großen himmelblauen Frotteetuch zwischen Strandnelken und Schneidegras nieder. Ich stützte mich rückwärts auf die Ellbogen, kreuzte meine Fußgelenke übereinander und hatte einen Moment lang diese plötzliche innere Gewissheit, dass heute der Tag aller Tage war.

 

Fern am Horizont konnte man die weißen Segel und bunten Spinnaker der sich jagenden Segelboote auf dem grünen Wasser der Ostsee ausmachen, der Himmel war blau und wolkenlos und ein seidenweicher Wind streichelte über meine nackte Haut. Die Sonne wärmte mich, die Wellen brandeten weit entfernt an den Strand und es waren kaum Menschen hier, was der Geräuschkulisse sehr zuträglich war. Ich liebte diesen Augenblick – allein, warm … und ungeliebt.

 

So ein blöder Blödarsch, dachte ich nicht sehr damenhaft über meinen Noch-Freund an Bord. Gleichzeitig waberte aus den Tiefen meines Unterbewusstseins direkt vor mein inneres Auge das Bild des groß gewachsenen, dunkelhaarigen Matrosen, der mich mit seinem intensiven graugrünen Blick fixierte. Eine kühle Brise strich über meine Haut. Die Haare auf meinen Unterarmen richteten sich auf. Mich fröstelte, obwohl die Sonne mit ungebremster Macht auf meine blonde Mähne brannte. Mir wurde plötzlich ganz flimmerig.

Was sollte das denn? Sonnenstich? Ich schüttelte unwillig den Kopf, aber das Flimmern wollte nicht so recht weichen. In meinem Kopf gab es keinen wirklich plausiblen Gedanken, es war einfach nur dieses Bild … und die Intensität seines Blickes. Einen Moment lang saß ich völlig geistesabwesend auf meiner blauen Frottee-Insel in den Dünen. Dann lenkte ich, pragmatisch wie ich nun einmal war, meine Gedanken doch wieder auf die wichtigen Dinge des Lebens.

 

„Eincremen!“, ermahnte ich mich, „dann erst lesen.“ Ich begann, in meiner Badetasche nach den entscheidenden Gegenständen zu kramen, und förderte die Sonnenmilch und mein Buch zutage.

Nachdem ich mich einmal kurz umgesehen hatte, um nach etwaigen Spannern zu fahnden, zog ich mein Shirt aus und durchsuchte die Badetasche nach weiteren lebenswichtigen Utensilien. Neben Bergen von altem Kaugummipapier fand ich eine etwas angeschmuddelte Bürste, einen in völliger Auflösung begriffenen Labello, eine weitere, wenn auch halb leere Flasche Sonnenmilch, ein paar Tempo-taschentücher, verknüllt und von undefinier-barer Farbe, und eine einsame Socke, die dem Geruch nach zu urteilen schon seit meiner frühen Jugend ihr Leben in dieser Tasche fristete. Ich stopfte alles wieder an seinen Ursprungsort zurück und behielt nur die Bürste, das Buch und die Sonnenmilch draußen.

 

Es war ein unglaublich heißer Tag, der sich wirklich nur halb nackt und an einem einsamen Strand ertragen ließ. Ich glaube, es war der heißeste Sommer meines ganzen bisherigen Lebens.

 

Langsam und in großem Abstand war ich ihr gefolgt. Plötzlich war sie verschwunden und ich musste ein wenig suchen, bis ich sie schließlich etwas abseits im hohen Gras entdeckte.

 

Innerhalb kürzester Zeit spürte ich die Sonne meine Haut förmlich rösten. Ich angelte also noch einmal nach der Sonnenmilch und cremte ein weiteres Mal sorgfältig meine Schultern, meine Nase, die Brüste und den Bauch ein. Dann löste ich das Gummiband, das meinen Dutt notdürftig zusammenhielt und begann, meine hüftlangen Haare zu bürsten. Ein, wie immer, wirklich anstrengendes und schmerzhaftes Unterfangen.

 

Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!

 

Nach einigem Ziehen und Zerren tüddelte ich sie dann aber doch nur zu einem losen Zopf zusammen, rollte mich endlich auf den Bauch, kreuzte die Füße übereinander und schlug mein Buch auf: „Angélique und der König“. - Ja, ich weiß, es gehörte nicht zur anspruchsvollsten Lektüre, aber ich hatte schließlich Urlaub und wollte mich einfach nur weit, weit wegbeamen, mit den Musketieren fechten und von einer Intrige in die nächste stolpern.

 

Um mich herum wisperte der Strandhafer, die Möwen kreisten kreischend hoch oben im strahlend blauen Himmel und in langen Abständen brandeten die Wellen der hellgrünen Ostsee endlos auf den weißen Strand. Es war wunderbar beruhigend. Die Sonne wärmte meinen Rücken, das Buch rutschte aus meinen Händen, der Kopf sank auf die Arme und mir fielen einfach die Augen zu.

 

Leise näherte ich mich. Als ich den Titel des Buches sah, musste ich schmunzeln - leichte Beute, dachte ich. Die Kleine schien mir ein rechtes Heimchen zu sein - und ich hockte mich neben sie.

 

„Du solltest unbedingt deine Beine eincremen“, sagte plötzlich eine dunkle Stimme neben mir. Ich wandte erschrocken den Kopf und blinzelte irritiert in die Sonne. Wer wagte es, mich zu stören? Mein Gehirn musste sich erst einmal wieder auf das grelle Sonnenlicht einstellen. Ich riss meine Augen weit auf und versuchte, etwas zu erkennen. Neben flirrenden bunten Pünktchen und plötzlich auftretenden Kopfschmerzen nahm ich erst nur die dunkle Silhouette eines Menschen wahr. Ich richtete mich halb auf, kniff die Augen zusammen. Als sich die bunten Schleier lichteten, zog sich mein Magen sekundenschnell zusammen und verknotete sich dann zu einem gefühlt dreifachen Salto, denn ich blickte am Rande meiner himmelblauen Insel direkt in die graugrünen Augen des jungen Marinesoldaten.

 

„Meine Beine gehen dich einen Scheiß an!“, blaffte ich ihn über eine Schulter hinweg, wenn auch eine Spur zu laut an, denn innerlich war ich einer Ohnmacht nahe.

 

Hoho, sieh an! Anscheinend habe ich mich gerade geirrt. Die Kleine scheint nicht auf den Mund gefallen zu sein. - Na dann: Volle Fahrt voraus! 

 

„Gut“, war sein ganzer Kommentar zu meiner Attacke. „Ich heiße Christopher. Lass uns doch einfach erst mal essen gehen und sehen, was vielleicht noch kommt.“ Er grinste mich an. Ich stutzte. Was hatte den denn gebissen? Aber irgendwie war so viel Unverfrorenheit doch auch schon wieder entwaffnend. In meiner Magengrube begann es leise zu kribbeln. Ich wollte etwas sagen, machte den Mund aber gleich wieder zu. Oh Gott! Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für eine Makrele.

 

Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu. Ich habe einen Freund, wollte ich ihn gerade informieren, da fiel mir der dämliche Streit mit Wilfried wieder ein und sein ständiges Genörgel, wie blöd er mich fand und was ich alles falsch machte. Vielleicht sollte ich wirklich langsam mal anfangen, all die Dinge zu tun, derer er mir sowieso ständig verdächtigte.

 

Etwas umständlich setzte ich mich auf und war mir dabei wohl bewusst, dass ich vom Bikinihöschen aufwärts nackt war. Innerlich zuckte ich die Achseln. Er sollte mich bloß nicht für prüde halten. Weiß Gott, wie lange der arme Junge auf See gewesen war. Ich betrachtete es also gewissermaßen als meinen Dienst am Vaterland, ihm ein bisschen was für seinen unermüdlichen Einsatz auf den Weltmeeren zu bieten.

 

Ich biss mir auf die Zunge. Ich wollte auf keinen Fall irgendetwas Falsches sagen. Dumme Sprüche können einem nicht immer den Weg ebnen. Unter Aufbietung all meiner inneren Stärke versuchte ich, ihr weiter in die Augen zu schauen.

 

Einen Arm schützend vor meinen beachtlichen Busen haltend, angelte ich etwas umständlich nach meinem T-Shirt und zog es langsam - man soll ja nichts überstürzen, wenn man erhitzt ist – über meine Brüste herunter. Dann streckte ich ihm mit aufmunterndem Lächeln beide Hände entgegen. Er verstand den Fingerzeig und zog mich grinsend mit so viel Schwung auf die Füße, dass ich mein Gleichgewicht verlor und mit einem leisen Quieken in seinen Armen landete. Er hielt mich fest. Sein Körper strahlte eine unglaubliche Hitze aus. Seine schlanken Arme waren fest wie Baumstämme und die wohlgeformten Hände schlossen sich hinter meinem Rücken zu einer Stahlklammer - ich kam mir mit meinen 170 Zentimetern richtig winzig vor. Der Knabe war mindestens einen Viertelmeter größer als ich. Innerlich stieß ich einen hingebungsvollen Seufzer aus.

Wilfried war so groß wie ich, na ja, vielleicht zwei Zentimeter größer, und ich vermisste es manchmal durchaus, mich nicht einfach fallen lassen zu dürfen, ohne Angst haben zu müssen, mein Gegenüber von den Füßen zu reißen. Für den Bruchteil einer Sekunde saugte ich dieses geborgene Gefühl in mich auf und zappelte dann aber anstandshalber doch ein bisschen herum, um meine Arme wieder freizubekommen, und er ließ mich anstandshalber auch sofort los.

 

„Ich heiße Leah“, murmelte ich in die entgegengesetzte Richtung, während ich ihm den Rücken zuwandte, um energisch den Sonnenschirm aus dem Sand zu ziehen und ihn eben-so energisch zusammenzuklappen, Sonnen-creme, Buch und Handtuch einzusammeln und alles in meine Tasche zu stopfen. Um mich herum wirbelten die Sandkörnchen durch die Luft und in meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ich bekam plötzlich eine Gänsehaut und hätte nichts lieber getan, als mich wieder gegen ihn zu lehnen und seine Wärme zu spüren. Oder mich wenigstens hinzusetzen und zu warten, bis sich mein Blutdruck wieder normalisiert hätte. Aber ich ließ es. Warum ich plötzlich anfing, meine Sachen zusammenzupacken, wusste ich nicht. Irgendwie verspürte ich einen sehr starken Fluchtreflex.

 

Leah? Eine kleine, bissige Löwin. - Du lieber Gott, hör auf, den ganzen Sand aufzuwirbeln!

 

Angélique und der König? Hm ... hab ich auch gelesen.“ Mein Herzschlag setzte unvermittelt aus. Ich warf ihm über die Schulter einen leicht verunsicherten Blick zu, während ich die Bür-ste aus dem Sand sammelte. Der Knabe war doch nicht schwul, oder? Nein, schalt ich mich im selben Augenblick, dann wäre er wohl nicht hier. Aber ich entschied mich doch, lieber das Thema zu wechseln. Schließlich wollte ich mit ihm keine Diskussion über den zeitgenössischen Liebesroman führen.

 

„Wo sind denn deine Kameraden? Hast du die wieder im Zoo abgegeben?“ Ich schenkte ihm einen unschuldigen Augenaufschlag und ein strahlendes Lächeln, reichte ihm meinen Sonnenschirm, hängte mir die Tasche über die Schulter und wandte mich zum Gehen, ohne ihm die Chance auf eine gestotterte Antwort zu geben. Etwas perplex nahm er den Sonnen-schirm entgegen, während er sich mit einer Hand die Sandkörnchen von der Uniform klopfte.

 

So geschah es mir recht. Eigentlich wollte ich irgendeinen theatralischen Spruch an-bringen, aber sie ließ mir keine Chance. Und ich stand da und spuckte Sand. 

 

Ich schlug den etwas weniger anstrengenden Weg über die pinienbestandene Asphaltstraße an den Campingplätzen entlang ein, hatte dabei aber nicht bedacht, dass ich ja keine Schuhe dabeihatte. Überall lagen kleine Glasscherben und Steinchen, Pinien- und Erlenzapfen herum und ich musste furchtbar aufpassen, um mich nicht zu verletzen, während ich in unregelmäßigen Schlangenlinien über das schattige Pflaster schlingerte. Der raue Asphalt malträtierte meine geschundenen Fußsohlen, aber ich hielt mich wacker.

 

„War das dein Ernst mit dem Essengehen?“, fragte ich ihn nach ein paar Metern über die Schulter hinweg und schielte von halbschräg unten zu ihm hoch, während ich geschickt einem größeren Tannenzapfen auswich.

 

„Ja. Klar!“ Lieber Himmel, war die naiv!

 

„Okay.“ Fünf Meter weiter: „Dann muss ich aber noch mal an Bord, mich umziehen.“

 

„Du kannst mein Hemd haben.“ Mach doch nicht so viele Umstände, Kleine! So hast du weniger auszuziehen!

 

Ich bremste. Den Bruchteil einer Sekunde ploppten die Worte „tugendhaft“ und „ungebührlich“ in den Sinn, da hatte ich mich schon zu ihm umgedreht, die Tasche fallenlassen und hob ihm mit herausforderndem Blick beide Arme entgegen. Er grinste süffisant, ließ den Schirm gleich neben die Tasche fallen und begann langsam, in aller Seelenruhe, sein Hemd aufzuknöpfen. Er streifte es, ohne mich aus den Augen zu lassen, über seine braun gebrannten, ausgeprägten Schultermuskeln und Oberarme und reichte es mir mit einem fast spöttischen Ausdruck in den Augen, der mir die Knie weich werden ließ.

 

Innerlich musste ich grinsen. Den Blick kannte ich. Als ich ihr das Hemd reichte, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen. Wie auch immer, allein für diese Reaktion lohnte sich die Schinderei auf der Kampfbahn.

 

Ich verbot mir die Schnappatmung, konnte aber nicht verhindern, dass mein Mund ganz trocken wurde, als er so mehr oder weniger halb nackt vor mir stand. Ich hatte lange nicht mehr so definierte Brust- und Bauchmuskeln gesehen und ertappte mich dabei, wie ich auf seine Brustwarzen - zu meiner Entschuldigung sei gesagt: sie waren in Augenhöhe - starrte. Sein Oberkörper war haarlos glatt und glänzte ein wenig und die Brustwarzen glotzten klein und dunkel zu mir herüber. Gewaltsam riss ich mich von diesem Anblick eines griechischen Halbgotts los und fing seinen selbstgefälligen Blick auf. Sofort kippte meine Stimmung. Dieser arrogante Armleuchter wusste genau, wie atemberaubend er aussah!

Immer noch amüsiert grinsend half er mir in sein Hemd und begann, die Knöpfe zu schließen. Dabei drückte er seine Fingerknöchel ganz sachte gegen meinen Brustansatz und ließ seine Hände langsam immer weiter die Knopfleiste hinuntergleiten. Das Hemd war warm von seinem Körper und verströmte einen unverwechselbaren Duft von Seeluft und Lagerfeld. Einen winzigen Augenblick lang gestattete ich mir, dieses erregende Aroma und die kaum wahrnehmbare Berührung seiner Hände zu genießen. Dann riss ich ihm aber doch, wenn auch etwas zu abrupt und erschrocken über meine wenig tugendhaften Gedanken, die Knopfleiste aus den Fingern, indem ich einen für uns beide überraschenden Sprung rückwärts aus der Reichweite seiner Arme machte.

 

Uups … Mäuschen! Keine Angst. Ich tu dir schon nichts!

Nichts, was du nicht willst.

Und wenn ich noch so gerne wollte.

Und ich will … unbedingt.

Du bist wirklich niedlich in deiner Panik.

 

Ich konnte ihn nicht ansehen, wollte mich jetzt nur irgendwie aus dieser Situation retten. Die Luft um uns herum flirrte von all den sich selbstständig vervielfältigenden Pheromonen. Leicht errötet und mit etwas erhöhter Atemfrequenz sah ich an mir herunter: das Hemd reichte mir fast bis zu den Knien, die langen Ärmel bedeckten meine Hände, die Manschetten schlackerten um meine Finger und die Schultern hingen irgendwo auf halb acht. In diesem Aufzug konnte ich auf keinen Fall in einem ernst zu nehmenden Restaurant erscheinen. Ich sah aus wie ein Marine-Clown auf Landgang. So würde ich nur die Blauen Jungs in Verruf bringen. Das konnte ich meinen Vorvätern, die alle bei der Marine ihren Dienst versehen hatten, unmöglich antun!

 

So könntest du öfter mal rumlaufen! Zu Hause, morgens, vor dem Frühstück. – Stop, Blödmann! Sie ist nur irgendein Mädchen!

 

Ich zerrte mir das Hemd also schneller wieder über den Kopf, als ich es angezogen hatte, und reichte es ihm, immer noch ein wenig atemlos, wieder zurück. So unterkühlt, wie es mir im Moment möglich war, sagte ich:

 

„Danke. Nein. Das ist sehr lieb gedacht, aber ich muss doch noch mal an Bord.“ Christopher nickte nur, nahm gelassen sein Hemd entgegen und zog es ohne Umstände wieder an.

 

Denk so was bloß nicht noch mal, du blöder Hund!

 

Ich nahm also sowohl meine Tasche als auch den Slalomlauf auf der schattigen Allee wieder auf. Etwas gedankenverloren schlenderte ich zwischen den Pinienzapfen einher. Den Phantomdruck seiner Hände spürte ich noch ganz deutlich an meinem Brustansatz, spürte ihm nach und bemerkte plötzlich eine Wolke von Schmetterlinge sich erheben und wie wild in meinem Bauch durcheinander toben.

Die dreihundert Meter geradeaus bis zum Fähranleger lief er wortlos neben mir her, den Sonnenschirm unter den Arm geklemmt und den Blick wie gebannt auf die Straße gerichtet. Und auch mir fiel absolut nichts ein, um das Schweigen mit etwas Sinnvollem zu füllen. Unsere Gedankengänge waren zugestopft mit den Geräuschen unserer Umgebung, das Wispern der Blätter im Wind, das entfernte Rauschen des Meeres und das sinnlose Gemurmel der Urlauber am Strand.

 

Erst als wir linksherum an der PASSAT vorbeimarschiert warenen, ich versuchte immer noch die Schmetterlinge einfach zu ignorieren, und auch den Minigolfplatz, die Seglermesse und den Parkplatz in Sichtweite von Steg E links hatten liegen lassen, fasste ich einen Entschluss: ich würde mich von Wilfried trennen. Komme, was da wolle. Der Drops war gelutscht! Und das hatte nichts mit dem Mann zu tun, der mir ergebenst meinen Sonnenschirm hinterherschleppte.

 

Als wir am Parkplatz vorbei waren, bat ich ihn, einen Augenblick auf der Bank neben der kleinen Holzpforte am Steg E zu warten.

 

„Ich bin gleich wieder da“, flüsterte ich etwas heiser. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, denn ich hatte Angst, er würde sofort in meinen Augen lesen, dass die Schmetterlinge mittlerweile ihre rosaroten Brillen herausgeholt hatten und dabei waren, mich völlig um den Verstand zu flattern. Schon in Höhe des Zollhäuschens war mir von der Toberei der Biester ein bisschen übel geworden.

Er sah mich an, zog die Augenbrauen ein wenig hoch und grinste. Sein „Echt?“ kam irgendwie ernüchtert rüber.

 

Den Spruch hörte ich immer mal wieder. Wenn sie in zehn Minuten nicht zurück ist, such ich mir ein anderes Betätigungsfeld.

 

„Ganz echt!“, versicherte ich ihm und traute mich nun doch, ihm dabei sehr ernst, sehr tief in die graugrünen Augen zu blicken. Und während er mich mit süffisantem Grinsen fixierte, versuchte ich vorsichtig den Sonnenschirm aus dem festen Druck seines Oberarms zu ziehen, drehte mich um und sauste los, Steg E entlang, dass die Wanten nur so klatschten, die Trittleiter hoch und übers Deck in den Deck-salon.

 

Sie ist ein Kind. Irgendwie unschuldig und sich ihrer Wirkung überhaupt nicht bewusst. Oder ist das alles nur gespielt?

 

Hier begann ich endlich wieder Sauerstoff zu konsumieren, ließ Tasche und Schirm einfach fallen, griff mit beiden Händen an die Kante der Türluke zum Vorschiff und schwang mich über die drei Stufen in die Kajüte hinunter. Während ich die fünf Schritte Richtung Vorpeek lief, zerrte ich mir schon das T-Shirt über den Kopf und streifte mir die Bikinihose halb über den Po. Wo meine Schuhe lagen, wusste ich, bei dem Kleid war ich mir nicht so sicher.

Oh, shit - und dann fiel mir Wilfried auf einmal wieder ein. Ich blieb wie angewurzelt stehen, einen Arm noch im Shirt und die Beine in der Bikinihose, die sich irgendwo um meine Knöchel ringelte, und sah mich vorsichtig um. An den hatte ich bis gerade eben überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet. Glücklicherweise war er nicht da. Wo war er bloß? Auch wurscht! Ich war sowieso nicht allzu scharf darauf, ihm zu begegnen! Vorsichtshalber reckte ich noch einmal den Hals nach hinten, ob er nicht doch in der Achterkajüte lauerte. Aber da war niemand.

Im Vorschiff kletterte ich auf meine Koje und begann systematisch, meinen dort deponierten Kleiderhaufen zu durchwühlen. Rot-weiß geringelt sollte einem doch wohl ins Auge stechen. Und da war es: mein Lieblingskleid von Fiorucci, der In-Marke für Popper. Ich war zwar keiner, auch wenn meine Mutter das sehr begrüßt hätte, obwohl ich gelegentlich dunkelblaue Penny Loafers trug und auch einen marineblauen Blazermantel besaß. Und eben dieses Kleid von Fiorucci. Es saß wie eine zweite Haut, mit einem tief angesetzten, weiten, gerafften Röckchen, Spaghetti-Trägern und einem fast taillentiefen Rückenausschnitt. Dazu meine roten Peep-Toes (unter der Koje) und, natürlich, einen roten Schlüppi. Ich versenkte meine Nase in die Falten des Kleides und nahm einen tiefen Atemzug. Es roch nach Bac-Spray und ganz entfernt nach Nikotin, vom letzten Discobesuch. Doch! Das ging noch mal!

 

In Windeseile hatte ich mich umgezogen und mir eine Bürste geschnappt. Ein nahezu sinnloses Unterfangen. Leise fluchend und mit lahmen Armen bekam ich aber doch einen einigermaßen ordentlichen Bauernzopf hin und kletterte gerade mit den Schuhen in der Hand schon wieder von Bord, als mir Wilfried auf dem Steg entgegenkam.

„Wo willst du denn hin?“, fragte er misstrauisch mit einem bedeutungsschwangeren Seitenblick auf meine schicken Schuhe. Mein Gehirn implodierte und versuchte sich dann wie Phoenix aus der Asche zur Höchstform aufzuschwingen:

 

„Ich bin mit Edith verabredet“, schwindelte ich und kletterte die Leiter hinunter, ihm den Rücken zukehrend, um zu verbergen, dass ich prompt rot geworden war. Aber er schien es nicht bemerkt zu haben, sondern nickte nur und trollte sich seines Weges.

 

Ach, sieh an, sie kommt tatsächlich wieder. Vielleicht wird dieser Abend ja doch noch interessant.

Während Wilfried sich anschickte, die Leiter hinaufzuklettern, nahm ich einen tiefen Atemzug sommerlicher Seeluft. Das war ja noch mal gut gegangen, dachte ich, während ich langsam meinen Weg Richtung Hafenstraße fortsetzte. Jetzt nur keine hastigen Bewegungen. Da fiel mir mein Matrose wieder ein und ich sprintete so schnell los, dass die Wanten der Boote am Steg wie wild anfingen zu schlagen.

„Langsam, Old Smuggler, langsam!“, rief mir Karl-Heinz von der TAURUS hinterher.

„Ja, ja, keine Zeit!“, rief ich zurück, ohne mich umzudrehen.

 

Ob das ihr Bruder ist? Ihr Onkel vielleicht, oder doch ihr Freund? Sie ist leichte Beute. Langweilig. Aber ich hab ihr ein Essen versprochen, nun soll sie ihr Essen auch haben.

 

Als ich leicht keuchend oben ankam, saß der Marinesoldat immer noch gemütlich auf der Bank, die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet, die Beine weit von sich gestreckt, und genoss mit halb geschlossenen Augen die nachmittägliche Sonne.

 

„Da bin ich wieder!“, rief ich fröhlich, ließ mich neben ihn auf die Bank plumpsen, klopfte mir den Schmutz von den nackten Fußsohlen und schlüpfte in meine Schuhe.

„Wohin jetzt?“, fragte ich interessiert und breitete meine Arme, es ihm gleichtuend, auf der Rückenlehne der Bank aus, wobei ich seine Arme ein wenig beiseite schubste, streckte meine zauberhaft beschuhten Füße Richtung Straße und schlug die Knöchel übereinander.

 

Wo zum Klabautermann soll ich mit dir nur hin? Ich will da ja nicht ein kleines Vermögen investieren und am Ende kommt nichts bei rüber. Andererseits hat sie ja was. Ach, was soll`s! Ich fang mal klein an.

 

„Magst du Cheeseburger?“

Ich setzte mich abrupt auf und starrte ihn ungläubig an. Ich war die Schönste der Schönen, wir hatten 95 Grad im Schatten und der Knabe wollte mit mir an die Frittenbude? Ich erhob mich so damenhaft wie möglich und baute mich vor ihm auf.

 

„Du hast aber schon bemerkt, dass ich umwerfend aussehe, oder?“, fragte ich ihn ein wenig beleidigt und deutete von den Schultern an abwärts mit beiden Händen auf meine wunderbar weiblichen Attribute.

 

Ja, verdammt, sie ist schon irgendwie bezaubernd. Und d i e s e Augen! Zum Verlieben, die Kleine! – Hey Ho! Seemann, hab Acht!

 

Er war aufgestanden, nahm meine Hand und schubste mich eine Armlänge von sich weg. Ich warf mich in Pose: Kinn hoch, Knie zusammen und ein Fuß leicht ausgestellt, meine Hand in seiner, die andere senkrecht in die Luft und: hinreißend lächeln! Eine Mischung aus Freiheitsstatue und Betty Boop.

 

„Wer war eigentlich der Typ, mit dem du eben geredet hast?“ Meine Pose brach zusammen. Mir wurde heiß.

„Welcher? Der eben auf dem Steg?“ Mir fiel nix ein. Mein Hirn war leer und der Mund wurde ganz trocken. „Ach, das war nur ein Bootsnachbar, der wissen wollte, wo ich hingehe. Hier meinen alle immer, sie müssten auf mich aufpassen“, log ich mit einem unguten Gefühl im Bauch.

„Aha.“ Er machte nicht den Eindruck, als würde er mir glauben. Warum lügt sie? Das muss wohl doch ihr Freund gewesen sein.

 

Als er mir seinen Arm bot, hakte ich mich bei ihm unter, warf noch einen vorsichtigen Blick zurück - keiner an Deck! - und trippelte auf meinen knallroten Peep-Toes neben ihm her Richtung Norderfähre.

Auf dem Weg dorthin sagte ich kein Wort. Es lag mir schwer im Magen, ihn angeschwindelt zu haben. Schlechter Stil und eigentlich nicht meine Art.

 

Vielleicht kann ich ihr ja doch noch auf die Sprünge helfen. Mal sehen. Ich wage mal einen Schuss ins Blaue.

 

„Ich mag Menschen, die auf ihre Nachbarn achten und aufpassen, dass ihnen nichts Schlechtes widerfährt“, sagte er mit einem wissenden, irgendwie sich in mein Gehirn bohrenden Seitenblick. Es sträubte sich mir das Nackenhaar. Er wusste, dass ich gelogen hatte! Ich schluckte. Warum hatte ich bloß geglaubt, die Unwahrheit sagen zu müssen? Aber ich kannte diesen Knaben doch gar nicht. Ich wurde trotzig. Was bildete der sich eigentlich ein? Warum machte es mir überhaupt etwas aus? Es konnte mir doch eigentlich herzlich egal sein, was er von mir dachte, oder?

 

Oh du lieber Gott, sie sieht ja aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. Na, komm schon! Du musst nicht lügen. Und ich wüsste schon gerne, was Sache ist. Ich merke doch, dass es dich stört, deine kleine Schwindelei.

 

Während ich noch darüber nachdachte, wie ich einigermaßen unbeschadet aus dieser Geschichte wieder herauskäme, waren wir beim Anleger angekommen und über die Eisenstufen an Bord der Fähre geklettert. Alles Volk drängte schnatternd und lachend mit Sonnenschirmen und Kühltaschen an die Reling. Ich blieb einfach unter dem Dach des Achterschiffes stehen. Hier war es besonders laut, denn hier stampften unter einem großen hölzernen Lukendeckel die Dieselmotoren. Eine Unterhaltung war also annähernd unmöglich und ich konnte überlegen, ob ich unsere bevorstehende, zweifellos große Liebe mit einer Lüge beginnen wollte.

 

Ach, Mäuschen. Wir kennen uns doch kaum. Und dies wird nur eine gemeinsame Nacht. Dann bin ich weg und du kannst zu deinem Wicht zurück.

 

Sekunden später legte die Fähre ab und tuckerte in großem Bogen quer über die Travemündung, um nach zwei Minuten auf der anderen Seite an der Promenade wieder anzulegen.

Die Passagiere drängten immer noch lachend und schnatternd mit Sonnenschirmen und Kühltaschen von Bord. Mein Marinesoldat stellte sich hinter mich und schützte mich mit seinem Körper vor der sich zum Ausgang schiebenden Masse Mensch. Ein Service, den ich sehr zu schätzen wusste, denn ich hasste es, wenn die Leute wie die Lemminge an Land stürzten.

 

In meinem Kopf rotierten die Gedanken. Ich hatte gelogen. Man darf nicht lügen. Wer lügt, kommt in die Hölle! Auch wenn man nicht katholisch ist.

Endlich war der gröbste Ansturm vorbei und ich kletterte die dreistufige Holztreppe und die hohe Eisenstufe empor und sprang auf den Steg. Er wandte sich sofort nach rechts, Richtung Ausgang, aber ich zögerte und hielt ihn an einem Hemdzipfel zurück. Ich konnte ihn immer noch nicht ansehen. Mein Gewissen drückte mir die Schultern nieder.

 

„Warte mal“, sagte ich leise und zog ihn rückwärtsgehend an das den Steg umgebende Geländer. Er drehte sich zu mir um und ein kaum merkliches überhebliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Ich sah ihm an, dass er ahnte, was jetzt kam. Gleichzeitig lag in seinem Blick diese Mischung aus genervter Resignation und abwehrendem Ich-hab's-ja-gleich-gewusst.

 

Na? Kneift sie jetzt auf die letzte Sekunde und läuft schnell zu ihrem Lover zurück, lässt sich zusammenfalten und hat hinterher schlechten Versöhnungssex? Oh bitte, Kleine. Nicht heulen! So schlimm ist es nicht! Du kannst auch gerne zurückgehen und nichts ist gewesen, also ...

 

Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Ich kannte ihn doch kaum. Eigentlich sollte es mir doch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Corinna Spanhake
Bildmaterialien: Corinna Spanhake
Cover: Corinna Spanhake
Lektorat: Dr. Lotte Husung – Lektorat Buchstäblich - mail@buchstaeblich-lektorat.de
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2019
ISBN: 978-3-7487-0900-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
R.D. RiF Diese Geschichte ist gewidmet allen Kameraden, lebenden wie toten – besonders aber den Kameraden Ferdinand, Jens, Harald, Christopher, Steffen und Thomas. Oder wie auch immer sie heißen mögen.

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