Cover

Prolog

 

  1. überarbeitete Auflage April 2020

 

Copyright © Corinna Spanhake, Wentorf bei Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlaggestaltung © Corinna Spanhake

 

Foto: lizenzfrei

 

Korrektorat Dr. Lotte Husung, mail@buchstaeblich-lektorat.de

 

Druck und Bindung WIRmachenDRUCK, Backnang

 

ISBN 978-3-7487-2365-3

 

 

 

Corinna Spanhake, geboren 1959 in Hamburg, Mutter zweier Töchter, hat in den 80er Jahren als Referentin auf der MS CAP SAN DIEGO gearbeitet, ist in England zur Schule gegangen und hat ein Dolmetscher-Diplom in irgendeinem Karton liegen.

 

Ihr Vater hatte eine Praxis in Hamburg, ihre Mutter hat wirklich rote Locken und ihre Schwester heißt nicht Judith.

Die Flaschenpost-Trilogie ist keine Biographie, sondern eine durch und durch fiktive Geschichte, die teilweise, und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, das wirkliche Leben wiederspiegelt.

 

Corinna Spanhake, die das erste Buch dieser Trilogie noch unter dem Pseudonym Leah B. Morgenstern veröffentlicht hat, lebt in der Nähe von Hamburg.

 

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten oder in einem Schrödinger-Experiment gefangenen Personen sind unbeabsichtigt, aber möglich, denn das Leben ist nun einmal das Leben und es beschert uns mehr Dinge zwischen Himmel und Hölle, als unsere Schulweisheit sich jemals hat träumen lassen …

 

 

Jahreswechsel 1986/1987 Christopher erzählt

 

Zwei weitere Jahre lang hatte ich versucht, Leah Morgenstern irgendwie irgendwo zu begegnen. Ich hatte gehofft, dass jetzt, wo ich an der Hamburger Uni für mein Physikstudium eingeschrieben war, es doch ein Leichtes sein sollte, sie endlich ausfindig zu machen. Morgenstern. So viele Ärzte mit diesem Namen konnte es in Hamburg doch nicht geben! Und so fing ich an, nach meiner großen Liebe zu suchen.

 

Dr. Morgenstern, Zahnarzt, war schnell gefunden. Und was jetzt? - Ich könnte mich als alter Schulfreund ausgeben, der sich einfach mal nach ihr erkundigen und nachfragen wollte, wie es ihr geht, dachte ich. Das wäre eine Möglichkeit. Vielleicht erführe ich so auch ihre Wohnadresse.

 

Aber ich verwarf diese Idee schnell wieder. Was, wenn sie ihrem Vater alles über unsere Affäre erzählt und dieser mich bereits vorverurteilt hätte? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich als Marinesoldat als Jungfrauenschänder und Mädchenverführer beschimpft worden war.

Wobei ich an dieser Stelle gerne einräumen möchte, dass diese Beschimpfungen nicht immer gänzlich grundlos waren. Und unsere, Leahs und meine, amouröse Vergangenheit hätte Dr. Morgenstern nicht gerade vom Gegenteil überzeugt! Aus Leahs wenigen Bemerkungen über ihn hatte ich geschlossen, dass er sich für seine Töchter eher die rechte Hand hätte abhacken lassen, als sie wissentlich irgendeiner Gefahr auszusetzen.

 

Eine Suchanfrage über das Einwohnermeldeamt hätte möglicherweise zum Erfolg führen können. Aber sie verlief im Nichts, als hätte sie diesen Weg vorhergeahnt und dem Amt verboten, ihre Adresse herauszugeben.

 

Blieb zu hoffen, dass wir uns irgendwo über den Weg liefen. Ganz zufällig. So, wie damals in Travemünde. Einfach, weil das Schicksal es so wollte.

Travemünde! Ja, das war`s. Sie würde doch im Sommer bestimmt wieder dort sein, an Bord der MY Old Smuggler. Ich musste mich also nur in der Nähe postieren und würde sie treffen.

Sommer 1985 und Sommer 1986 - beide Male waren leider erfolglos. Das Boot war da, Leia leider nicht.

 

Dann, am 31. Oktober 1986, sah ich zufällig den NDR-Bericht über die zweite Jungfernfahrt der Cap San Diego von Cuxhaven nach Hamburg im Fernsehen und die Interviews mit den Fahrgästen, überraschenderweise auch mit ihrem Vater, wie ich dem Untertitel entnahm.

Aus dem Bericht erfuhr ich, dass die Cap San Diego ursprünglich derselben Reederei gehört hatte, für die Leia damals als PR-Assistentin arbeitete. Und sie war auch kurz zu sehen, mit Wilfried an ihrer Seite. Sollte sie wirklich wieder mit ihm zusammen sein? Dann war der Traum ausgeträumt. Noch einmal würde sie sich wohl nicht von dem Wicht trennen. Schon gar nicht nach meiner Aktion damals, im Sommer 1983 in Travemünde!

Ich resignierte.

 

 

Aber ich konnte sie einfach nicht vergessen. Über die Monate verfolgte ich die Berichte über die MS Cap San Diego im Hamburger Abendblatt und spielte gelegentlich sogar mit dem Gedanken, einfach mal am Schiff vorbei zu schlendern in der Hoffnung, von ihr bemerkt zu werden. Ja, selbst der Gedanke, eine Party an Bord zu organisieren, ging mir kurzfristig durch den Kopf. Aber all das hatte ich nie getan. Zu jener Zeit wollte ich ihr vermeintliches Glück unter keinen Umständen stören. Das redete ich mir jedenfalls ein. Ehrlicherweise möchte ich zugeben, dass ich panische Angst vor einer Begegnung hatte.

 

Auch wenn meine Herangehensweise an die Bewältigung von Gefühlschaos eine andere ist, war mir durchaus bewusst, dass sie an den Folgen unserer Trennung sehr gelitten haben musste. Kurz tauchte vor meinem inneren Auge ihr Anblick auf, als ich nochmals kurz an Bord gegangen war, um meine vergessenen Bücher zu holen. Zusammengerollt wie ein junger Hund hatte sie in der Koje gelegen. Fast hätte ich mich damals hinreißen lassen … ich verdrängte diesen qualvollen Gedanken und die säureheiß aufsteigenden Gefühle sofort wieder.

 

Im Jahre 1987 bekam der junge amerikanische Autor J. Yulsman den Kurt-Laßwitz-Preis für den besten Science-Fiction-Roman des Jahres. Es war sein Erstlingswerk: ‚Elleander Morning oder der Krieg, der nie stattfand‘. Ich hatte das Buch bereits 1984 – welche Ironie in vielerlei Hinsicht – in der Originalausgabe gelesen und es als utopisches, aber durchaus spannendes Gehirnjogging abgetan.

 

Der Roman erzählt von der Suche einer Enkelin nach den Spuren ihrer Großmutter, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den unbekannten, jungen Kunststudenten Adolf Hitler erschoss und später dafür hingerichtet wurde. In der Realität der Enkelin hatte der Zweite Weltkrieg also nie stattgefunden. Trotzdem entdeckt die junge Frau zwei Ausgaben des Time Life-Magazins, in denen eben dieser Krieg thematisiert wird.

 

Und eine Idee begann in meinem Hirn heranzureifen. Mit meinem langjährigen Freund und Marinekameraden Harald „Ham“ Dehn und dem jungen Doktoranden Tom Schramm begann ich eine These zu entwickeln.

 

Zeit ist nun einmal relativ und wenn man nur lange genug Zeit in die Zeit investiert, kann man sie vielleicht sogar umkehren.

 

 

 

 

 

... wenn ich je die Zeit zuurückdrehen könnte ...

 

 

Seit den späten 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts forschten Christopher Jacobi und seine Kollegen an der Theorie des Zeitsprungs. Sie hatten einen geheimen Etat vom Verteidigungsministerium, den sie in hundert Leben nicht würden ausschöpfen können und genossen im Institut eine gewisse Narrenfreiheit. Einsteins und Hawkings Theorien waren ihr täglich Brot. Viele ihrer Ideen verliefen im Sande, einige gingen ins Leere. Aber eine Idee wurde immer weiter verfolgt und begann sich sehr vielversprechend zu entwickeln.

 

Sie hatten kleine Erfolge. Ein paar Sekunden lang konnten Gegenstände bereits in die Zukunft versetzt werden. Und sie forschten weiter. Aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten Stunden.

 

Aber Christophers vorherrschender Gedanke bei all seinen Versuchen war: Was würde passieren, wenn er einen Weg fände, Leah eine Nachricht in die Vergangenheit zu schicken? Könnte er ihre individuelle Zukunft wirklich entscheidend verändern ohne erheblichen Schaden für den Rest der Menschheit anzurichten? Könnte ihm die Möglichkeit gegeben worden sein, ihre einzeln verbrachte Vergangenheit in eine gemeinsame Zukunft zu verwandeln?

Der Rest der Menschheit war ihm eigentlich ziemlich egal, trotzdem hatte er die leise Hoffnung, den Klimawandel aufzuhalten, das Bienensterben zu beenden und endlich im Frühling, morgens um vier Uhr, wieder vom piepsenden Pfeifkonzert der lokalen Vogelwelt geweckt zu werden.

 

In den Achtzigern hatte es ihn noch ziemlich genervt, spätestens um halb vier von irgendeinem außer Rand und Band geratenen Kleiber aus dem Schlaf gerissen zu werden. Mittlerweile störte ihn das gelegentliche zaghafte Piepsen der eher sporadisch vorhandenen Singvögel im Jahre 2011 erheblich mehr. Er vermisste den nervigen Kleiber sogar.

 

Seine eigene Vergangenheit konnte und wollte er nicht ändern, Leahs Vergangenheit auch nicht, aber die Zukunft. Die Zukunft, die für ihn heute bereits Vergangenheit war. Ihre gemeinsame Zukunft, die er ab morgen unbedingt in ihre gemeinsame Vergangenheit verwandeln wollte.

 

Und so forschte er in jedem wachen Augenblick. Die Jahre rannen vorbei. Das Leben plätscherte dahin bis zu dem Tag X im Jahre 2011, als er sich endlich zu fast 89 Prozent sicher war, dass er verstanden hatte, wie das erworbene Wissen richtig einzu- setzen sei, um mehr als ein paar Stunden oder Tage oder Monate in die Vergangenheit der gemein- samen Zukunft zurückzugehen.

 

Er vermutete, dass Leah in einem anderen Universum, auf einer anderen Zeitschiene, mit Wilfried verheiratet war. Er vermutete aber auch, dass in einem anderen Universum sein Leben mit ihr bereits stattfand. Trotzdem wollte er es jetzt und hier und sofort haben. Sie sollte nicht nur im selben Universum mit ihm existieren, sondern an seiner Seite. Hier. Ganz nah. Zusammen mit den Menschen, die sie liebten. Aber besonders egoistisch betrachtet eben mit ihm.

 

Er hasste das Leben ohne sie. Und er hatte es einmal zugelassen, sie zu verlieren. Diesmal würde er notfalls das gesamte Universum auf links krempeln, um sie wiederzubekommen.

 

Und alle Gefahren außer Acht lassend, krempelte er das gesamte Universum auf links.

 

 

 

 

Am 30. Januar 2011 versuchte Christopher Jacobi ein Telex an seinen Institutsanschluss mit dem Hinweis „Kapitän a.D. Jacobi, Abt XXX, 1. Feb 2011, 15 h“ zurück in die Vergangenheit zu senden. Und das bisher unmöglich Geglaubte geschah:

am 1. Februar 2011, um eine Minute nach 15 Uhr klopfte es an der Tür seiner institutseigenen Denkfabrik und ein Bürobote warf ihm achtlos einen verblichenen, hellbraunen Umschlag auf den Schreibtisch. Eingangsstempel war der 28. Juli 1988. Wenn dieser Bote geahnt hätte, was für eine physikalische Sensation er da so gleichgültig behandelte, vielleicht wäre er ein wenig demütiger mit dem Umschlag umgegangen.

 

Mit vor Aufregung zitternden Fingern griff Chris nach dem Umschlag, der ein Telex enthalten musste, das gestern abgeschickt worden war und trotzdem in über zwei Jahrzehnten Gilb angesetzt hatte. Mit einem Gebet an einen allweisen Gottvater im Herzen, den er schon lange nicht mehr als wegweisende Kompetenz anzuerkennen glaubte, riss er die bereits halb abgelöste Umschlaglasche auf und förderte einen einfach zusammengefalteten, blassgelben, leicht brüchig gewordenen Lochstreifen mit dazugehörendem datierten Telexausdruck nach nunmehr achttausendzweihundertdreiundzwanzig Tagen ans neongrelle Tageslicht.

 

Es hatte wirklich und wahrhaftig geklappt!

 

Einen Moment war Chris wie erstarrt. Dann murmelte er noch ein kleines Dankgebet an die deutsche Ordnung, Präzision und Pünktlichkeit und machte sich ohne Umschweife daran, einen Text für Leah zu entwerfen. Was genau wollte er ihr mitteilen? Und wie hatte er sich das eigentlich gedacht? Würde sie ihn überhaupt wiedersehen wollen nach allem, was er ihr angetan hatte? Damals, vor fast dreißig Jahren.

 

Einen Augenblick hielt er in seinem Tun inne. Lohnte sich der Aufwand überhaupt? Dann schüttelte er den Kopf - es lohnte sich schon aus wissenschaftlichen Gründen - und brütete weiter über dem Text, der Leah einfach davon überzeugen musste, sich einmal mehr auf das Abenteuer ihrer beider Leben einzulassen.

 

 

Donnerstag. 28. Juli 1988 Leah erzählt

 

 

„Na, Miezi, freust du dich schon auf deine Hochzeit?“ Meine Mutter saß gemütlich in einer Ecke ihres großen hellbeigen Sofas des in zartem Apricot gestrichenen Wohnzimmers mit den dezenten weißen Stuckelementen in der Mitte der hohen Zimmerdecke und lackierte hingebungsvoll ihre wohlgeformten rosigen Fingernägel.

 

Eigentlich wohnte ich mit Wilfried zusammen in einer gemütlichen, kleinen Dachgeschosswohnung an der Mundsburg, mitten in Hamburg. Aber ich war oft bei meinen Eltern. Insgeheim wünschte ich mir, wieder zurück nach Bergedorf zu ziehen, andererseits war es auch schön, in der Innenstadt zu wohnen ... aber eben auch laut, denn die U-Bahn fuhr fast direkt durch unser Wohnzimmer. Und das von morgens um vier bis Mitternacht.

 

Ich betrachtete sehr eingehend meine eigenen Fingernägel, stellte einmal mehr kapitulierend fest, dass meine Hände eher den fest zupackenden, kräftigen Händen meines Vaters glichen, und antwortete nicht sofort. Meine Mutter blickte alarmiert auf.

 

„Was ist denn los?“, fragte sie mit einem Hauch von Panik in der Stimme. Ich setzte mich auf meine Hände und rutschte auf meiner Sofaecke hin und her. Eigentlich wusste ich ja selber nicht, was los war. So ein Gefühl eben. In lichten Momenten fragte ich mich manchmal: Willst du das wirklich?

 

„Ach, ich weiß auch nicht. Angst wahrscheinlich. Keine Ahnung.“

 

„Aber Muzikam, du liebst Wilfried doch, oder nicht?“, fuhr meine Mutter in etwas zu beiläufigem Plauderton fort. Ich zögerte. Wie sollte ich ihr das erklären? Hatte ich Wilfried überhaupt je geliebt? Wir verstanden uns im Bett wirklich gut. Aber reichte das für ein ganzes Leben? Er betete mich an. Zumindest meistens. Meine kleine Schwester mochte ihn gerne, meine Tante fand ihn einfach nur unglaublich großspurig und meine Eltern hielten sich aus meiner Beziehung heraus. Sollte das wirklich Liebe sein?

 

Ich erinnerte mich an meine große Jugendliebe Alex. Meine unglückliche Liebe, versteht sich. Damals war ich 16 und brannte lichterloh, wenn nur die Rede von ihm war. Er war mit einer der Gründe gewesen, warum ich nichts dagegen hatte, meine Schulbildung in England fortzusetzen, denn er war verknallt in Susanne, die mit den langen rotblonden Locken, und hatte mich überhaupt nicht auf dem Schirm. Für einen gutaussehenden, sportlichen Jungen von 18 Jahren war ich wahrscheinlich einfach zu vorlaut.

Ich interessierte mich weder für Fußball noch für irgendeine andere bei Jungs beliebte Sportart, sondern hatte eine Vorliebe für klassisches Ballett, Swingmusik und die Filme der 30er, 40er und 50er Jahre, besonders wenn darin gesungen und getanzt wurde. Meine Idole waren Ginger Rogers und Ann Miller, die Idole meiner Altersgenossinnen waren Marianne Rosenberg und die Mädels von Abba. Mit einem tiefen Seufzer musste ich mal wieder feststellen, dass ich schon als Teenager irgendwie anders gewesen war.

 

Mit einem deutlichen „möglicherweise“ in der Stimme fragte ich vorsichtig:

 

„Was wäre, wenn ich die Hochzeit jetzt noch abblase?“ In zwölf Tagen sollte das Spektakel über die Bühne gehen. Meine Mutter, die ihr Gepinsel seelenruhig wieder aufgenommen hatte, erschrak so heftig, dass sie einen dicken Klecks ihres korallenroten Nagellacks auf die weiße Batistdecke kleckerte. Sie schnappte hörbar nach Luft und starrte nur entsetzt auf den sich langsam ausbreitenden Fleck.

 

„Aber dein Kleid! Und der Hut! Und die Gäste! Da musst du Papi fragen“, protestierte sie leicht zerstreut, während sie hektisch versuchte, den Nagellack mit einem Taschentuch von der zarten Tischdecke zu tupfen, wobei sie die pastose Masse nur noch tiefer in das empfindliche Gewebe rieb.

 

„Aber ich kann ihn doch nicht wegen des Kleides heiraten!“, begehrte ich verhalten empört auf. Meine Mutter hielt mit dem Getupfe inne und sah mich über den Rand ihrer großen, goldenen Brille hinweg einen Moment lang forschend an, bevor sie leise aber eindringlich sagte:

 

„Nein, Mutzi, natürlich nicht. Letztendlich musst du das selber wissen.“

 

Wenn ich geahnt hätte, dass sie am liebsten gesagt hätte, „Blas alles ab. Halb so wild. Wir kriegen das schon hin“, vielleicht hätte ich genau das getan.

Freitag. 29. Juli 1988

 

Am nächsten Tag saß ich nachmittags in meinem Büro an Bord des MS Cap San Diego am Vorsetzen und sortierte meine Unterlagen für die nächste Pressekonferenz. Dabei fiel mir meine eigene Reservierung für den kommenden Sonnabend in die Hände. Wilfried und ich wollten den Polterabend an Bord „meines“ Schiffes feiern. Wo auch sonst!

 

Die Blumen waren bestellt, das Catering war besprochen, die Getränke besorgt, das Servicepersonal war engagiert und mein Vater und ich hatten mehrere Wochenenden darauf verwendet, diverse Musikkassetten aus unserem Riesenfundus an LPs und Singles aus sechs Jahrzehnten zusammenzustellen und aufzunehmen. Ich blätterte meine Zettel durch, die umfangreiche Hochzeitsliste vom Geschenkehaus am Rödingsmarkt und dann natürlich die ziemlich lange Gästeliste: alle meine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nachbarinnen und Nachbarn, Arbeitskolleginnen und -kollegen, mein schwuler Freund Willi mit seinem Freund, Freunde meiner Eltern und natürlich Wilfrieds Eltern nebst Bruder und Freundin. Gemeinsame Freunde? Irgendeine Art von Freundeskreis oder auch nur Freunde von ihm oder nur von mir - außer meinem liebsten Willi? Hatten wir nicht!

 

Ich las die Liste durch und fing an zu heulen. Ich fühlte mich in die Enge getrieben, fühlte eine gähnende Leere, einen Abgrund, an dem ich stand und wankte. Es wäre so leicht, sich einfach fallen zu lassen, in ein unendliches Nichts zu trudeln. So mühelos. So bequem. Aber alle erwarteten eine Riesenparty, eine traumhafte Hochzeit und Friede, Freude, Eierkuchen. Doch ich wäre am liebsten über Bord gesprungen.

 

Ich saß also in meinem Büro und heulte über mein wunderschönes Hochzeitskleid, meine Blumengestecke aus rosa Rosen und Schleierkraut, das verkniffene Lächeln meiner Schwiegermutter - sie verabscheute mich und alles, was ich, ihrer Meinung nach, repräsentierte -, das freudige Lächeln meines Schwiegervaters - wir mochten uns einfach -, das etwas angewiderte Naserümpfen meiner Schwägerin in spe - sie war hellgrün vor Neid -, das geringschätzige Schnauben von Wilfrieds Bruder Theodor - ihm war das alles nicht Schickimicki genug. Und ich weinte über all die Chancen, die ich nicht wahrgenommen, ja, nicht einmal gesehen hatte - aus Treue, Loyalität oder Blödheit. Und so heulte ich über meine Blindheit und meine Feigheit und mein Unvermögen, Dinge zu ändern, die doch zu ändern gewesen wären, bis ich an den Tränen fast zu ersticken drohte.

 

Und im Geheimen, ganz tief in meinem Herzen, verschlossen, verkorkt und versiegelt lächelten mir graugrüne Augen zu, die ich sofort wieder in ihr Verlies zurückschickte. Meine Schwester hatte mir damals geraten, ihn einfach zu hassen. Aber Hass war eine Eigenschaft, die ich für irrational, unproduktiv und wenig hilfreich hielt, deshalb liebte ich ihn einfach weiter. - Blöd! Sogar selten blöd! Aber leider nicht zu ändern.

 

Meine Wimperntusche floss in Strömen über meine Wangen und die Anzahl meiner in meinem Zampelbüdel mitgeführten Taschentücher hatte sich bereits rasant dezimiert, als es verhalten an der Tür meiner Kajüte klopfte. Fast gleichzeitig steckte mein Bootsmann Eugen seinen Kopf zur Türe herein und fragte in bestem Hamburgisch: „Allns okee?“

 

Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und schluchzte entnervt:

 

„Seh ich so aus?“ Mein Sarkasmus traf einen gänzlich Unempfänglichen. Eugen trat ein und machte leise die Tür hinter sich zu. Er war ein stämmiger rothaariger, vollbärtiger Seemann im roten Overall, der aussah, als ob er darin auch dauerhaft wohnen würde, vorzugsweise im Maschinenraum. Meistens hatte er eine brennende Zigarette im Mundwinkel hängen, nur mein Büro betrat er stets ohne.

 

„Brauchst du was?“, fragte er weiter, das sich ihm bietende Drama weitestgehend ignorierend. Wieder bekam ich einen Heulanfall, ließ meinen Kopf ein wenig zu schnell auf meine Schreibtischplatte sinken, es rumste vernehmlich und piepste:

 

„Ja. Einen Strick!“

 

Eugen war schon in seinen Vierzigern und ließ sich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen. Er kam zu mir, tätschelte meinen Rücken mit seiner schwieligen Riesenpranke und sagte leise:

 

„Na, na, so schlimm wird's schon nicht sein.“

 

Ich sprang auf, sah ihn leicht panisch aus meinen völlig verschmierten Augen an.

 

„Du hast ja keine Ahnung!“ und griff mir mit beiden Händen an den Hals. „Ich muss heiraten!“

 

Eugen stutzte. „Du bist schwanger?“, fragte er ehrlich überrascht.

 

Es verschlug mir die Sprache, dann winkte ich ab. Was für eine Wendung der Dinge wäre das denn gewesen?

 

„Nee ... aber ich hab ein Kleid ... und eine Gästeliste ... und ...“ Wild gestikulierend versuchte ich ihm den Ernst der Lage klar zu machen, konnte aber nicht weiter sprechen. Mir fehlten nicht nur die Worte, sondern auch die Stimme. Die Rechnung vom Caterer fiel mir ein und ich ließ mich auf meinen Schreibtischsessel zurückfallen, legte den Kopf, ein wenig vorsichtiger als eben, zurück auf meine Schreibtischunterlage und brach erneut in Tränen aus. Eugen verwirrte die Situation zusehends. Er spürte, dass er mir nicht wirklich helfen konnte und wurde geschäftsmäßig.

 

„Du“, sagte er und legte einen langen, gelben Papierstreifen auf meinen Schreibtisch, irgendwo oberhalb meines Kopfes, „der Ticker in der Funkbude hat dieses Lochmuster gerade ausgespuckt. Kannst du damit was anfangen?“

 

Ich schniefte, wischte mir Tränen, Wimperntusche und Rotz von den Wangen, nahm den Streifen und murmelte mit belegter Stimme:

 

„Kannst du mir bitte mal zwei Teebeutel besorgen. Kamille. Benutzt.“ Eugen sah mich aus weit aufgerissenen Augen an, als ob ich ihn gerade gebeten hätte, sich seines Overalls zu entledigen und auf meinem Tisch einen Stepptanz in Stöckelschuhen und Federboa hinzulegen. Aber er hinterfragte meinen Wunsch nicht, sondern nickte leicht verwirrt und verließ mein Büro genauso dezent, wie er es betreten hatte. Er war es gewohnt, meinen gelegentlich unzusammenhängend scheinenden Wünschen zu entsprechen, ohne weitschweifige Erläuterungen zu verlangen.

Ich wischte mir noch einmal über meine rote, kribbelnde Nase, sog so geräuschlos wie möglich das sich darin sammelnde Sekret zurück in Rachen und Nebenhöhlen und nahm das Telex zur Hand. Immer noch schniefend, aber konzentriert, drehte und wendete ich den Streifen und suchte den Anfang.

Im Laufe der Jahre in einem Bürogebäude voller Telexmaschinen hatte ich gelernt, einen Lochstreifen zu lesen. Ohne den Sinn wirklich zu erfassen, entzifferte ich:

 

„T r e f f e n 2 9 7 8 8 1 6 h B a u m w a l l C h r i s t o p h e r“.

 

Es dauerte einen Moment, bis sich die Bedeutung dessen, was ich da entkryptet hatte, in meinen Hirnwindungen zu einer sinnvollen Information wandelte, dann wurde ich augenblicklich taub und stumm und blind. Um mich herum versank alles spontan in einer dicken, fetten Wattewolke, während die Worte und ich in der Luft schwebten und darüber nachdachten, ob wir uns einander annähern oder doch lieber weit entfernt voneinander zu Boden stürzen wollten.

Mit einem mächtigen Satz hüpfte mein Herz in meine Kehle und strebte mit aller Gewalt eigenmächtig danach, aus meinem Hals zu springen. Mit einer Hand versuchte ich es irgendwie daran zu hindern. Ich schluckte. Ungläubig starrte ich auf den zwölf Millimeter breiten, bürogelben, durchlöcherten Streifen in meiner Rechten.

Ein Telex! Von Christopher!

Mein Verstand flog aus meinem Körper und schwebte über mir, beobachtete, wie ich mich von einem heulenden Elend über eine panische Infarktkandidatin zur vielversprechenden Anwärterin auf den Titel „Irre des Jahres“ wandelte. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Erst war ich nur überrascht, dann fassungslos. Ich wurde wütend und dann wieder ganz elend.

 

Es musste fast auf den Tag fünf Jahre her sein. Travemünde. Sommer. Blauer Himmel. Mir fielen unsere gemeinsamen Tage ein, dann die gemein- samen Nächte und ich wurde rot. In meinem Bauch fing es an zu sprudeln wie in einer wild geschüttelten Seltersflasche. Ich spürte, dass jeden Augenblick mein Herzschlag aussetzen würde. Ich spürte es ganz deutlich und rechnete mit meinem umgehenden Ableben.

 

Oh - mein - Gott!, dachte ich, nein, nein, nein – Nein! – NEIN! Irgendwie versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen, der urplötzlich ausgesetzt zu haben schien. Als das Konsumieren von Sauerstoff wieder einigermaßen gelang, bemühte ich mich, eine andere, geheime Botschaft aus den vor meinen Augen tanzenden, gestanzten Löchern zu lesen, aber es blieb dabei: „29 7 - Baumwall – Christopher“.

Es klopfte an meiner Tür und Eugen betrat meine Kajüte, ein Glas balancierend, in dem zwei ziemlich aufgeweichte Teebeutel klebten. Mit der ihm eigenen unaufgeregten Art fragte er:

 

„Geht auch Darjeeling?“ Ich grinste ihn nur verklärt an, den Telexstreifen immer noch in der Hand.

„Fräulein Leah?“ Er stupste mich vorsichtig am Arm an. Ich erwachte aus meiner Erstarrung. Die Wattewolke hatte sich aufgelöst.

 

„Wie spät ist es?“, fragte ich, während ich krampfhaft versuchte, einen weiteren hysterischen Anfall zu unterdrücken, der mich möglicherweise doch noch laut schreiend kopfüber in die Elbe getrieben hätte.

Umständlich stellte er das Glas ab und sah demonstrativ langsam auf die Glasenuhr in meiner Kajüte. Mit einem Anflug von Sarkasmus sagte er dann:

 

„Möglicherweise gleich halb vier?“ Ich sprang auf, schnappte mir die beiden Teebeutel und verschwand mit Pudding in den Knien und leicht hyperventilierend in meinem angrenzenden Badezimmer.

Ein Blick in den Spiegel. Ich quiekte. Frankensteins Braut starrte mir mit irrem, blutunterlaufenem Blick entgegen, die Haare ein wasserstoffblondes, stoppeliges Drama, das Gesicht verquollen und von schwarzen Tränenspuren gezeichnet. UND ICH HATTE NUR EINE KNAPPE HALBE STUNDE!

Aber, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, klatschte ich mir kurzentschlossen die beiden Teebeutel auf die Augen und tastete nach meiner Zahnbürste. Während die Teebeutel hoffentlich ihre Wirkung taten - ich hatte keine Ahnung, ob Darjeeling genauso effektiv wäre wie Kamille -, versuchte ich, mir die Zähne zu putzen, ohne an meinem eigenen Zahnputzwasser zu ertrinken. Ich wurde hektisch. Für ein frisches Make-up war keine Zeit mehr. Ich hätte auch keinen geraden Strich hinbekommen, so sehr zitterten meine Hände. Ich wusch also nur mein Gesicht und betrachtete mich noch einmal im Spiegel ... auweia ... na ja ... egal ... das ließ sich jetzt so kurzfristig auch nicht mehr ändern! Ich strubbelte mir eine Handvoll Wasser in die Haare, versuchte noch einen Augenblick, mein bebendes Herz irgendwie wieder unter Kontrolle zu bringen, aber es half nichts. Es schlug mir bis zum Hals und betäubte schon wieder meine Ohren. Die Ankunft dieses Telex‘ hatte mich bestimmt fünf Jahre meines Lebens gekostet!

Im Eifer des Gefechts hatte mein weißer Overall ein paar dunkelblaue Wimperntuschespritzer abbekommen, aber sonst ging's noch. Breiter roter Lackgürtel in der Taille, weiße Baseballstiefel an den nackten Füßen, Hosenbeine auf Dreiviertel gekrempelt, typisch Achtziger eben, rutschte ich das Geländer zur Offiziersmesse hinunter.

Im Vorbeirutschen rief ich Eugen zu, er möge bitte ‚Klar Schiff‘ machen und sauste nach draußen. Backbordseite, Gangway. Polternd und schlingernd quetschte ich mich an ein paar späten Besuchern vorbei, die mir empört hinterher schimpften, und rannte donnernd über die Pontons und die Überseebrücke zum Vorsetzen hoch. Es war ein herrlicher, sonniger, heißer Nachmittag Ende Juli mit elbseitigem Wind und fröhlichem Schleppergetute.

 

Etwas atemlos sah ich mich nach rechts und links um. Außer dem üblichen Heer langsam dahin trödelnder Touristen war niemand zu sehen. Christopher hatte leider nicht gesagt, wo am Baumwall er mich treffen wollte. Ich lief ein paar Meter in Richtung U-Bahn-Station, konnte ihn aber nirgends entdecken. Dann kletterte ich auf eine der Bänke, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Ich war mir sicher, ihn auch nach fünf langen, unwiederbringlich vergangenen, zeitweise recht tragisch zugebrachten Jahren wieder zu erkennen. Aber nur die doofen Touristen mit Sonnenbrillen, Tennissocken und Sandalen schlen- derten schnatternd und gackernd die Promenade hinauf und hinunter.

 

In der Ferne sah ich den Uhrturm an den Landungsbrücken, es war kurz nach vier. Mein Magen krampfte sich zusammen. Und ich stand auf der Bank, reckte den Hals. Ich hatte meine Sonnenbrille an Bord vergessen, kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf, bemüht irgendwo in der Menge den Mann zu entdecken, den ich so sehr vermisst hatte. Durch meinen Kopf rauschten Tausende von ungestellten Fragen. Fragen, die ich ihm unter allen Umständen stellen, gefolgt von all den Vorwürfen, die ich ihm entgegen schleudern wollte, die ich glaubte, unbedingt loswerden zu müssen, weil ich sonst daran zu ersticken drohte. Und als ich ihn nirgends entdecken konnte, kam die Angst, ihn wieder zu verlieren, ohne ihn überhaupt gefunden zu haben.

 

Fünf Jahre hatte ich täglich damit zugebracht, ihn vergessen zu wollen, war abends mit dem Gedanken an ihn eingeschlafen und morgens mit seiner eben noch in meinen Träumen vorhandenen Präsenz aufgewacht. Und nun war er zum Greifen nahe gewesen, so wirklich wie am ersten Tag. Und obwohl ich ihn noch nicht eine Sekunde tatsächlich an meiner Seite gehabt hatte, war ich so sicher gewesen, ihn jeden Moment bei mir zu haben. Die Menge wogte lärmend an mir vorbei.

Schiffe und Barkassen tuckerten geschäftig elbauf- und elbabwärts, Schlepper tuteten mit tiefem Röhren. Man hörte das klatschende Gluckern der Wellen, die gegen die Kaimauern schlugen, während die Möwen mir ihr ewiges Klagelied entgegen kreischten. Ein „He lücht“ erzählte über Megaphon seine haarsträubenden Geschichten dem staunend lauschenden Publikum einer Hafenrundfahrt. In mir stieg ein unbändiger Hass auf diese sich amüsierenden Menschen auf.

Wie konnten sie nur! Wie konnten sie Spaß haben, während ich in den lähmenden Strudel der Erkenntnis gerissen wurde. Hinter mir, unter der Baumwallbrücke war eine Baustelle, oben sauste ratternd die U-Bahn, unten hupten die Autos um die Wette und schoben sich im beginnenden Wochenendverkehr Richtung Elbchaussee und Innenstadt. Um mich herum brandete die aggressive Symphonie der Großstadt und mir wurde speiübel.

 

Meine Stimmung, die eben noch erwartungsvoll himmelhoch jauchzend bis zur Sonne und wieder zurück geflogen war, brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Meine fast atemlose Euphorie war einer eiskalt nach meinem Herzen greifenden Gewissheit gewichen: Christopher würde nicht kommen. Die Beine gaben unter mir nach. Ich plumpste auf die Bank, auf der ich eben noch so erwartungsvoll gestanden hatte, zog meine plötzlich tonnenschweren Füße auf die hölzerne Sitzfläche und legte meinen irgendwie merkwürdig wackelig gewordenen Kopf auf die verschränkten Arme über den angezogenen Knien.

 

Hiermit war es besiegelt. Mein Leben war zu Ende. Ich würde Wilfried heiraten und versuchen, das Beste daraus zu machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich verknittert und einsam sterben würde, erhöhte sich exponentiell zu meiner Lebens- erwartung. Und die vielen Fragen, die ich mir im Laufe der Jahre immer wieder gestellt hatte, hätte mir Chris wahrscheinlich sowieso nicht beantwortet. Weil er nicht wollte. Oder nicht konnte. Oder nicht durfte. Oder was weiß ich!

 

Es war heiß. Ich kam von meiner wöchentlichen Vorlesung im Seefahrtsinstitut an der Bernhard-Nocht-Straße und wollte zurück in meinen alten Physik-Saal an der Jungiusstraße. Ein Spaziergang durch Planten un Blomen würde mir gut tun. Trotzdem beschloss ich den Umweg über die Landungsbrücken zu nehmen. Schließlich führten viele Wege nach Rom und ich liebte den Hafen mit seinen Geräuschen und Gerüchen und nutzte jede Gelegenheit, um einen Moment im Strom der Touristen abzutauchen. So auch heute.

Freitags machte ich immer diesen kleinen Schlenker am Hafen vorbei, um einen hoffnungsvollen Blick auf die Diego zu werfen, schnell wieder wegzusehen und in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten.

 

Ein Blick hinüber zu Blohm & Voss: da lag ein gigantisches Containerschiff im Trockendock. Schlepper kurvten und kreisten im Fahrwasser der Elbe und dirigierten ein weiteres Container- schiff an dicken Trossen zu irgendwelchen Schuppenanlagen in der Nähe des Gras- brookhafens.

 

Einen Moment ließ ich diesen Anblick aus Technik und Grazie auf mich wirken. Ein schneller Blick zur Diego hinüber, dann drehte ich mich um und wollte schon wieder Richtung Helgoländer Allee steuern, als mein Blick auf eine anscheinend sehr großgewachsene Frau fiel. Was für eine Giraffe, dachte ich ein bisschen abfällig und wollte mich schon wieder abwenden, als irgendetwas an ihrem Gebaren meine Aufmerksamkeit erregte. Ich weiß nicht, was es war, denn ich konnte weder ihr Gesicht erkennen, noch kamen mir ihre Haare oder Klamotten bekannt vor. Und doch! Mein Verstand machte einen Zeitsprung in den Sommer 1983 und katapultierte mich direkt an den Passathafen nach Travemünde. Vielleicht war es der Geruch nach Hafen und Brackwasser, der meinem Hypothalamus auf die Sprünge half.

 

Leia!, schoss es mir durchs Hirn. Ich schüttelte den Kopf. War das möglich? Ich sah noch einmal in ihre Richtung. Da war die große Frau plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie nur auf irgendetwas gestanden. Einen Moment blieb ich wie angewurzelt stehen und es blubberte so etwas wie Angst in mir hoch. Automatisch legte sich meine Hand auf meine Brieftasche, die seit nunmehr fünf Jahren das kleine Stückchen Seekarte mit dem einen Wort „JA“ hütete.

Vor meinem geistigen Auge tauchte die Szene im Ruderhaus der MY Old Smuggler auf, als wäre es gestern gewesen. Ich sah Leia hektisch nach dem Kugelschreiber suchen, die Seekarte zerreißen und mir das abgerissene Stück Papier geben. In Erinnerung an diese Szene musste ich lächeln. Sie war schon eine verrückte Nudel gewesen. Wahrscheinlich ist sie es immer noch.

 

Ich wusste, dass Leia in Hamburg lebte. Ich wusste auch, dass sie hier am Hafen für eines der Museumsschiffe zuständig war. Das hatte ich immer mal wieder im Fernsehen gesehen und in den Hamburger Zeitungen gelesen. Aber, obwohl ich öfter am Hafen war, hatte ich sie bisher noch nie getroffen. War ich unterbewusst einer Begegnung aus dem Wege gegangen? Gut möglich. Mein Verhalten vor fünf Jahren war zwar sicherlich der richtige Weg gewesen, aber ich war mir auch durchaus bewusst, dass ich sie mindestens ebenso tief getroffen haben musste, wie ich getroffen war. Ein bisschen hoffte ich es sogar.

 

Während diese Erinnerungen durch mein überfordertes Hirn waberten, hatten sich meine Beine irgendwie Richtung Baumwall ausge- richtet und waren, den ganzen Kerl einfach mit sich davontragend, losmarschiert.

Auf Höhe der Cap San Diego sah ich sie dann wirklich auf einer Bank sitzen, die Beine auf die Sitzfläche gezogen und den Kopf auf die Knie gelegt. Immer mehr Erinnerungsfetzen ploppten in meinem Gedächtnis auf. Ein fast unbezwingbarer Fluchtgedanke drängte mich, sofort abzudrehen und mich Richtung Institut davon zu machen. Ich zögerte.

Weinte sie etwa? Hatte irgendjemand sie versetzt? Dieser Wie-hieß-er-doch-gleich möglicherweise? Oder war sie etwa schon verheiratet? Ich unterdrückte gewaltsam meinen schon fast panischen Wunsch, diesen Ort schnellstmöglich hinter mir zu lassen, und ließ mich leise neben ihr nieder. Was würde jetzt passieren? Was sollte ich sagen? Wie ihr die Situation von damals erklären? Ich wollte mich nicht für mein Verhalten rechtfertigen müssen, trotzdem erwartete ich fast eine Art Absolution von ihr.

 

Ein auf ewig unbeantwortetes Warum schwoll im Takt meines Herzschlags in meinem Kopf an und ab. Warum hat er mich verlassen? Warum hat er sich nie gemeldet? Warum ist er nicht einmal irgendwo vorbeigekommen? Er muss doch wissen, wo ich arbeite. Warum hat er entschieden, mich nicht mehr zu lieben? Warum liebt er mich nicht mehr? Warum lebe ich überhaupt noch?

 

Ich spürte, wie jemand sich neben mich setzte, auf meine einsame Bank der Entsagung und Kapitulation, der Aussichtslosigkeit und ewigen Verdammnis. Unglaublich angestrengt hob ich den Kopf, um diesen Eindringling in meine ureigenste Privatsphäre mit einem entnervt herablassenden Blick zu vertreiben - und sah direkt in die graugrünen Augen meines Lieblingsmatrosen. Jedes eben noch so präsente Warum löste sich schlagartig in Luft auf.

In einer Zehntelsekunde war ich rittlings auf seinen Schoß gesprungen, schlang meine Arme um seinen Hals und vergrub mein Gesicht in der Halsbeuge an seiner Schulter. Ich wagte kaum zu atmen, hatte Angst, dass er nur eine Fata Morgana wäre und sich auflöste, wenn ich nur zu tief Luft holte. Er drückte mich wortlos an sich. Und plötzlich hatten die Geräusche der Großstadt alle Aggressivität verloren. Die Möwen schrien immer noch, die Schiffe tuteten fröhlich weiter, von der anderen Seite der Elbe dröhnte das dumpfe Rattern der stählernen Maschinen der großen Werften zu uns herüber. Und ich fand alles einfach nur überirdisch schön.

 

Das gleiche Gefühl. Es stellte sich sofort wieder ein. Dasselbe herzzerfetzende Gefühl wie vor fünf Jahren. Sie fühlt sich so gut an. Aber was hat sie bloß mit ihren schönen, langen Haaren gemacht?

 

Ich weiß nicht, wie lange wir so saßen, als er leise fragte: „Was ist denn mit deinen Haaren passiert?“

 

Damals lag sie in der Sonne und ich sagte irgendetwas über ihre Beine. Dieser Gedanke brachte mich zum Lächeln. Und sie war fast nackt gewesen und ihre Haare … oh mein Gott! Ihre Haare standen ihr damals in alle Himmelsrichtungen wie ein absurder Heiligen- schein!

 

Ich nahm sein Gesicht in meine Hände, sah ihm tief in die Augen und sagte leise:

 

„Ab. Hat genervt“, und betrachtete eingehend sein Gesicht, seinen Mund mit dem immer noch etwas struppigen Schnurrbart und dem kleinen Musketierbärtchen unterhalb der Unterlippe, seine graugrünen Augen, die mich aufmerksam beobachteten, in denen immer noch dieser etwas herausfordernde Funke glomm, seine Nase, immer noch irgendwie ein bisschen windschief, und die dunklen Haare, die ihm ein bisschen wild um den Kopf sprossen. Ich wollte ihn nicht küssen. Ich wollte ihn nur ansehen, mich vergewissern, dass er es wirklich war. Er war gekommen. Er hatte mich doch nicht versetzt. Und ich hatte ihm sofort verziehen. Alles! – Na ja, fast alles. Ich schloss die Augen und wartete, hoffte, dass er mir die dreißig Zentimeter, die unsere Lippen voneinander getrennt waren, entgegen käme. Aber nichts geschah. Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder und blinzelte. Er starrte mich an.

 

Was muss ich jetzt tun? Wie ihr alles erklären? Ich will nichts erklären. Ich kann sie nicht küssen. Wieso will sie mich küssen? Wir kennen uns doch gar nicht mehr. Oder doch?

 

„Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

 

„Dann halt doch einfach den Mund“, flüsterte ich, mein Mund immer noch dicht vor seinem. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie man küsst. „Hilf mir doch“, flehte ich leise und endlich, endlich berührten sich unsere Lippen. Die Geräusche um uns vereinigten sich zu einem einzigen tiefen Rauschen. Die Möwen waren mir egal. Die Touristen waren mir egal. Wilfried war mir egal. Alles was zählte, war sein Mund auf meinem Mund und seine Hände an meinem Hals. Eine Gänsehaut überlief mich vom Nacken bis in die Zehenspitzen. Ganz zart erwiderte er meinen Kuss. Und im selben Augenblick stellte sich diese unerklärliche Anziehungskraft ein und wir verglühten in der Ewigkeit zu einer untrennbaren Einheit. Der Rest der Welt war komplett ausgeblendet. Dies war das Gefühl, nach dem ich mich jahrelang gesehnt, das ich so sehr vermisst hatte und von dem ich immer wusste, dass es irgendwo wieder zu finden sein würde.

 

Diese wunderschönen Augen und dieser zarte Mund. Es ist genau so wie vor fünf Jahren. Genauso! Wie sehr sie mir gefehlt hat.

 

Als sich unsere Lippen widerwillig voneinander trennten, zog er mich ganz dicht an sich, hielt mich fest.

„Ich …“, begann er. „Sch!“, machte ich nur, ohne den Kopf zu heben, der so selbstverständlich in seiner Halsbeuge lag, denn ich wollte nichts hören. Keine Rechtfertigung für irgendwas. Es war egal. Zumindest im Moment.

 

Alles, was ich jetzt sage, wäre nur eine blöde Rechtfertigung für etwas, was ich nicht hatte ändern können. Na ja … die Art und Weise vielleicht … aber sonst …

 

Nach einer ganzen Weile machte er sich vorsichtig von mir los, drückte mich an den Schultern ein Stückchen von sich weg, sah mir tief in die Augen und fragte mit einem Tonfall ungläubigen Staunens:

„Was machst du hier?“

 

„Dich küssen“, antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte, den Abstand zwischen uns wieder zu verringern, denn ich wollte weiter seinen Körper an meinem spüren, seine Hand an meinem Hals.

 

Sie hat sich überhaupt nicht geändert. Immer noch die Kleine, die alles ganz präzise beantwortet. Also: versuchen wir es noch einmal.

 

„Nein. Ich meine, warum bist du jetzt hier?“

 

„Na, ich arbeite hier.“ Einen Moment hielt ich inne. „Also nicht hier“, ich deutete auf die Bank und dann auf die Diego: „Sondern da!" Ich versuchte, irgendwie seiner Halsbeuge wieder näher zu kommen, aber er hielt mich weiter auf Abstand. Sein Blick war wachsam.

 

Okay, Kleine. Einmal noch.

 

„Verdammt nochmal, wie kommst du ausgerechnet jetzt hierher?“ Er wurde langsam ungeduldig. Ich verstand ihn nicht. ER hatte mich doch hierher bestellt. Ich sah ihn verwirrt an.

 

„Mit der U-Bahn?“, fragte ich leicht verunsichert und zog einen Mundwinkel nach oben. Er seufzte resigniert.

 

Ob sie heimlich im Institut nach mir geforscht hat?

 

„Gut. Aber warum bist du gerade jetzt hier an dieser Stelle?“ Er sprach langsam und deutlich. Hielt er mich für schwachsinnig? Ich war verwirrt.

 

„Na, ich arbeite doch auf der Diego und hab vorhin dein Telex bekommen.“ Jetzt war es an ihm, verwirrt auszusehen.

 

„Mein Telex?“

 

Was ist hier los? Was für ein Telex? Hat sie irgendwo was falsch gelesen? Ach, ist jetzt auch egal.

 

„M-hm“, murmelte ich. Inzwischen hatte ich mich zumindest soweit befreit, dass ich meine Arme wieder um seinen Hals legen konnte. „Weißt du nicht mehr? Du hast mir eine Nachricht geschrieben“, sagte ich leise und rieb meine Nase an seinem Kinn, „dass du mich heute um 16 Uhr hier treffen willst. Und da bin ich!“

 

Ich ließ es auf sich beruhen. Ob Ham sich eingemischt hatte? War jetzt auch nicht so wichtig. Leia war damit beschäftigt, ihre Lippen auf meine Lippen zu pressen ... und sie schmeckte genauso nach Erdbeeren mit Sahne wie vor fünf Jahren. Und alles andere war sowieso egal!

 

Oh mein Gott ... er schmeckte so gut. Er roch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: Diesel, Seeluft und ein Hauch Lagerfeld pour homme. Ich wäre damit einverstanden gewesen, wenn dies der letzte Augenblick meines Lebens gewesen wäre.

 

Aber er fühlte sich irgendwie anders an. Und dann bemerkte ich den entscheidenden Unterschied: er trug keine Uniform. Aber das war jetzt auch egal. Ich hatte meine Nase gegen seinen Hals auf sein Schlüsselbein gelegt und sog seinen Duft mit geschlossenen Augen ein. Ich bekam kaum Luft und trotzdem nicht genug davon. Auf meinem Rücken spürte ich die Hitze der Sonne, spürte wie sich die Feuchtigkeit unter seinen Händen auf meinem Körper sammelte.

 

„Ich muss nächste Woche heiraten“, nuschelte ich in sein Hemd. Ich spürte, wie er scharf die Luft einsog. Dann packte er mich ein bisschen unsanft an den Oberarmen, schob meinen Oberkörper zurück und sah mich ungläubig an. Ich saß immer noch rittlings auf seinem Schoß, ein bisschen überrascht über die plötzliche Verschiebung. Er taxierte mich mit seinem graugrünen Blick.

 

Sie ist schwanger. Von diesem Wicht. Er hat sie einfach geschwängert, um sie für sich zu haben. So eine miese Tour!

 

„Du bist schwanger?“, fragte er mit einem Anflug von Entsetzen in der Stimme. Ich musste lachen.

 

„Nein! Um Gottes willen. Bloß das nicht! Wie kommt ihr bloß alle da drauf?“ Seine Anspannung ließ nach und er bettete meinen Kopf wieder in die Beuge zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Ich rutschte ein bisschen auf seinem Schoß herum, bis ich meine vorherige Position wiedergefunden hatte.

 

Oh Mann. Nicht schwanger! Aber ... warum denn dann?

 

Einen Moment blieben wir stumm. Ich spürte deutlich, wie es in ihm dachte und auch ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Solche Eröffnungen sind wirklich nicht dazu angetan, eine alte Liebe zu begrüßen. Aber ich platzte immer noch in den unmöglichsten Momenten mit den unmöglichsten Ansagen heraus. Chris küsste mich auf meine kurzen Stoppelhaare und rieb sein Kinn über meine Schädeldecke.

 

Ich hätte damals mit ihr reden sollen und nicht einfach so verschwinden.

 

„Das ist alles meine Schuld“, sagte er leise und drückte mich in einer Aufwallung von Gefühlen an sich. Ich küsste seinen Hals. Ich widersprach ihm nicht. Schuld? Na ja, ein großes Wort. Ich bevorzugte, es einfach Kismet zu nennen. Das Universum hatte es so für uns vorgesehen und gut. Warum sollte ich über verschüttete Milch weinen? Es war, wie es war und jetzt war ja alles wieder gut. Und dann fragte er mich:

 

„Geht es dir denn sonst gut?“ Ich wollte gerade mit einem fröhlichen Ja antworten, als ich spürte, wie der brennende Kloß in meinem Hals sich nicht mehr aufhalten ließ. Einen Moment lang versuchte ich noch, die Fassung zu bewahren, versuchte mit etwas unkoordiniertem Händegefuchtel, die aufwallenden Gefühle zu vertreiben, doch sie ließen sich nicht mehr zurückhalten. Meine ganze, jahrelang aufgestaute Hoffnungslosigkeit brach sich Bahn und ich fing an zu weinen.

 

„Nein. Verdammt. Es geht mir überhaupt nicht gut“, schluchzte ich, rutschte von seinem Schoß, setzte mich im Schneidersitz ihm zugewandt seitlich auf die Bank und nahm seine Hand. Ich konnte ihn nicht ansehen und begann ein wenig weltvergessen, die Finger seiner Hand nachzuzeichnen, während ich krampfhaft schniefend versuchte, das Chaos meiner Emotionen irgendwie wieder in den Griff zu bekommen.

 

Wie sollte ich anfangen? Wo sollte ich anfangen? War es nicht eigentlich egal, jetzt wo Christopher wieder da war? Aber ich musste mich bremsen. Überfall ihn doch nicht gleich wieder, schimpfte ich mit mir.

In dem Moment, als er mich geküsst hatte, war mir klar, dass ich ihn heirate, wir zwei zauberhafte Kinder bekämen und für den Rest unseres Lebens glücklich und zufrieden im Rausch der Sinne zusammen leben würden. Dabei vergaß ich vollkommen, dass er dazu vielleicht auch noch das ein oder andere zu sagen und vielleicht sogar einzuwenden haben könnte.

 

„Bist du nicht glücklich? Ich meine, man heiratet doch normalerweise, weil man jemanden liebt und Kinder haben will und Haus und Hof und einen Apfelbaum pflanzen und ... wen musst du denn heiraten? Dat Wie-hieß-er-noch?“

 

Das hatte ich eigentlich eher scherzhaft gemeint. Allen Unkenrufen zum Trotz konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass sie wirklich zu diesem kleinen Giftzwerg zurückgegangen war.

 

Ich brach erneut in Tränen aus und stotterte: „Wi-hil-fried.“ Christopher nahm mich in den Arm und strich mir über den Kopf.

 

„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht kränken.“ Ich machte mich von ihm los.

 

„Ach, Scheiße. Ich bin ja selber schuld. Warum bin ich auch wieder zurückgegangen? Aber ich wusste einfach nicht, wohin. Und es war doch meine Wohnung. Und er war eben da.“ Ich machte eine kleine Pause und fuhr dann ganz leise fort: „Und du warst wie vom Erdboden verschluckt.“ In Erinnerung an meine inneren Kämpfe, den herzzerfetzenden Schmerz sah ich zu Boden und flüsterte:

 

„Eigentlich wollte ich sterben.“ Ich blickte kurz zu ihm auf und gleich wieder weg. „Aber dann hab ich mich nicht getraut.“ Chris hielt die Luft an, nahm vorsichtig meine Hand, legte mir seine andere auf die Wange und zwang mich, ihn anzusehen.

„Aber ich hab doch dich alleine gelassen. Das hätte ich nie tun dürfen“, flüsterte er und schluckte schwer, „ich hätte sterben sollen.“

 

Warum hab ich mich nicht abknallen lassen? Das wäre einfacher gewesen. Ich ertrage es nicht, wenn sie weint. Das zerreißt mir das Herz.

 

Ich schlang meine Arme um seinen Hals, drückte sein Gesicht an meine Brust, und er schlang seine Arme um meine Taille. Wir waren uns einig, dass es so viel besser war.

 

„Hast du ‘ne Freundin?“, schniefte ich nach ein paar Minuten und fiel mal wieder mit der Tür ins Haus.

 

„Seit August 83 nicht mehr.“ Ich schnappte nach Luft und sah ihn ungläubig an.

 

„Gar kein Sex? Seit fünf Jahren nicht?“ Chris verfärbte sich doch tatsächlich ein wenig gen Rot.

 

„Doch, Sex ja. Aber keine Frau in meinem Leben, die es wert ist.“ Ich runzelte die Stirn.

 

Ich dachte an das Versprechen, dass ich dem Kapitän gegeben hatte. Sollte hier tatsächlich das Schicksal zugeschlagen haben und nachhelfen, damit ich mein Versprechen doch noch einlösen konnte?

 

Diese Aussage würde ich zu gegebener Zeit noch einmal hinterfragen. Jetzt nahm ich es einfach als Kompliment und umarmte ihn.

 

„Bin ich es denn wert?“, fragte ich leise.

 

„Ich bin der Pirat und du bist meine Beute“, antwortete Chris ebenso leise. Ich musste lachen.

 

„Dann könntest du mich ja jetzt entführen.“ Ich sah ihn herausfordernd an, immer noch ein wenig unsicher über die Wahrhaftigkeit seiner Gefühle, aber durchaus sofort bereit, Spielchen zu spielen. Chris erwiderte meinen Blick prüfend.

 

Und schon waren sie wieder da, die Bilder von damals. Auch da hatte sie mich so angesehen, und ich wusste ganz genau, wo das endete.

 

„Und dein Mann?“ Ich fiel aus allen Wolken. Das konnte er ja wohl nicht ernst meinen. Mein Gesicht lief rot an. Weniger aus Scham als vor Wut.

 

„Ich habe keinen Mann, bin nicht verheiratet und werde demnächst auch nicht heiraten“, ereiferte ich mich und boxte ihn ungehalten gegen den Oberarm. Gleichzeitig fiel mir ein Riesenstein vom Herzen. Ich hatte mich endlich zu einer Entscheidung durchgerungen und, egal, was zwischen Chris und mir passieren oder auch nicht passieren würde, ich würde Wilfried niemals heiraten. In diesem Leben nicht und im nächsten wohl auch nicht! Ganz vage schwappte eine Idee des gerade von mir erschaffenen Paralleluniversums in mein Gehirn. Ich hatte eine neue Abzweigung genommen.

 

Chris zuckte die Schultern und rieb sich die eben malträtierte Stelle. „Okay. Dann lass uns gehen.“

 

„Moment. Ich hab noch ein paar Sachen auf der Diego und ich muss dem Bootsmann Bescheid sagen, dass er abschließt. Kommst du mit?“ Chris sah zum Schiff hinüber und nickte.

 

Was war ich nur für ein jämmerlicher Feigling. Es wäre immer so einfach gewesen!

 

Ich nahm seine Hand. Besitzergreifend und wie selbstverständlich schlossen sich seine Finger um meine und wir gingen den kurzen Weg über die Überseebrücke, den Ponton entlang, die Gangway hoch an Bord.

 

„Ich bleib hier draußen“, sagte Chris und sah sich um. Man konnte entweder direkt ins Schiff hineingehen oder sich Richtung Bug oder Heck wenden. Richtung Bug waren die Ladebäume und -räume und Richtung Heck war das Sonnendeck mit dem Swimmingpool. Chris wandte sich Richtung Heck.

 

Die Worte des Kapitäns vor unserem Einsatz im Sommer 1983 und meine Antwort dazu fielen mir wieder ein. „Wenn ich je die Zeit zurückdrehen könnte, dann nur für sie! Ja, sie ist es wert!“

 

Du musst zu ihr zurück und es ihr sagen, Seemann! Versprich mir, dass du zu ihr gehst und es ihr sagst. Das ist ein Befehl, Soldat!“

 

Ich wusste immer noch sehr genau, was das bedeutet. Und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich seinen Befehl eigentlich missachtet hatte. Ich hatte kapituliert. Schon vor Jahren. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als ich das Studium in Hamburg begann, hätte ich Kontakt aufnehmen müssen. Aber ich hatte panische Angst vor einer Begegnung, vor den Fragen, die sie möglicherweise stellen würde, vor den Antworten, die ich einfach nicht zu geben bereit war. Irgendwie hatte ich mich wohl selbst boykottiert. Ich schalt mich einen Feigling, einen jämmerlichen Jammerlappen, der nicht in der Lage war, die Konsequenzen seines Handelns auszuhalten.

Einen Moment sah ich hinaus auf die bewegte Elbe. Würde ich es heute aushalten können?

 

Drinnen kam mir Eugen schon entgegen und sah mich forschend an.

 

„Na, min Deern, allns kloa?" Ich strahlte ihn an.

„Ja, mein Eugen, alles allerbestens! Kannst du heute bitte zumachen. Ich muss eine Hochzeit abblasen." Der Bootsmann schob den Unterkiefer vor und nickte wissend mit hochgezogenen Augenbrauen, die wie kleine pelzige Igel über seinen strahlend blauen Augen zuckten.

 

„Dat heff ick mi doch schon fast decht", war sein ganzer Kommentar. Manchmal entpuppte er sich als richtiger Spökenkieker!

 

Ich lief nach oben in meine Kajüte, schnappte mir meinen Zampelbüdel, es war immer noch der gleiche, den Christopher mir auf dem SSS GORCH FOCK II gegeben hatte, und rutschte das Treppen- geländer, diesmal vom Sonnendeck, hinunter.

 

Ich fand Chris an das Schanzkleid gelehnt auf die Elbe starrend. Leise trat ich näher. Doch plötzlich bremste mich mein Gewissen. Was machte ich hier eigentlich? Wilfried freute sich auf die Hochzeit. Warum wusste ich nicht, denn ich hatte ihn die letzten Jahre wirklich nicht immer nett behandelt.

 

Als ich Chris so vor mir stehen sah, wenige Meter von mir entfernt, wurde mir bewusst, dass das, was er damals mit mir gemacht hatte, genau das war, was ich Wilfried auch all die Jahre verwehrt hatte, nämlich ein neues Leben anzufangen und eine Beziehung, die einfach keinen Bestand mehr hatte, zu beenden. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen.

 

Chris hatte damals nicht gewusst, wie er mir einigermaßen schonend den Laufpass geben sollte, und hatte eben die etwas vorsintflutliche Keule benutzt. Und jetzt wollte er wahrscheinlich auch wieder nur freundlich sein.

Während mein Hirn noch vor sich hin grübelte, trugen meine Beine mich immer näher auf ihn zu. Endlich stand ich neben ihm, unfähig, ihn anzufassen,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Corinna Spanhake
Bildmaterialien: unbekannt
Lektorat: Dr. Lotte Husung – Lektorat Buchstäblich - mail@buchstaeblich-lektorat.de
Übersetzung: Corinna Spanhake (in progress)
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2365-3

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