Der erste Schnee dieses Winters fällt langsam und leise auf kalte Erde. Ich sitze bei meinen Großeltern in der Küche und höre ihrem plattdeutschen Geplauder über die Nachbarn zu. Immer wieder schleicht sich bei meinem Opa das lang gesprochene E statt der üblichen Umlaute der norddeutschen Sprache ein, ein typisches Merkmal seiner schlesischen Herkunft. Und wie so oft zu dieser Jahreszeit denke ich an 1945. Denke an meine tote Großmutter mütterlicherseits, die kein Plattdeutsch sprach, aber das R in besonderer Weise rollte, denn meine Oma kam ursprünglich aus Ostpreußen.
Gerade jetzt zu dieser Zeit, wenn durch immer mehr Münder die Parolen schallen: „Flüchtlinge raus!“, denke ich auch daran, dass ich zur Hälfte Flüchtling bin. Flüchtling in zweiter Generation.
Dann sehe ich in den Nachrichten, was die armen Teufel heute alles durchmachen, um hier her zu kommen. Was sie durchmachen, wenn sie hier sind. Und ich weiß, dass es meinen Großeltern ähnlich ging, obwohl sie in ihr eigenes Land zu ihren eigenen Leuten geflohen sind. Was für ein Armutszeugnis.
Im Vergleich zu meiner Oma erzählt mein Opa gar nichts über seine Flucht. Aber das wenige reicht, um mir in meiner Phantasie die grausigsten Dinge auszumalen, die mich manchmal wochenlang nicht schlafen lassen.
Es muss Winter gewesen sein, wie jetzt auch - nur ganz anders. Draußen Minusgrade im zweistelligem Bereich. Weit und breit nur ein paar Bauernhöfe, vereinzelte Lichtpunkte in der dunklen Nacht. Wann genau der Fluchtbefehl kam, weiß ich nicht. Aber es muss grausam gewesen sein, die Order zu bekommen, die Heimat zu verlassen. Mit klopfendem Herzen werden die nötigsten Dinge zusammengepackt. Schicht um Schicht werden die dicksten Klamotten übereinander gestreift, um der klirrenden Kälte entgegen zu wirken. Kinder schreien. Frauen weinen. Männer fluchen. Doch letztendlich müssen sie gehen. Sie wissen das es Zeit ist, denn die brennenden Dörfer, in die die russische Armee schon eingefallen ist, färben die Wolken des Nachts rot.
Mein Opa lebte auf einem Bauernhof. Grüne Wiesen, bunte Felder und einige Kühe umschlossen ein großes Bauerngehöft. Eine Scheune, in der die großen landwirtschaftlichen Geräte sowie Heu und Stroh untergebracht waren, daneben stand womöglich ein etwas kleineres Gesindehaus. Bunte Blumen und Kräuter wuchsen im großen Garten, den die Mutter hegte. Opa hat ihren grünen Daumen geerbt. Bis heute zieht er selbst auf seinem viel kleineren Grundstück Erbsen, Tomaten und anderes Gemüse.
Das alles müssen sie jetzt zurück lassen. Mitten im Winter.
Bei Tag können die Leute nicht reisen. Dafür ist der Russe zu nahe. Die Flieger würden sie aufspüren und zerbomben. Nachts ist es noch viel kälter. Aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, bis sie genug Abstand zwischen sich und den Russen gebracht haben.
Am nächsten Abend geht es los. Kinder sitzen auf Holzkarren, die von widerstandsfähigen kleinen Pferden gezogen werden, zwischen den wenigen transportablen Habseligkeiten. Dick eingepackt, nur kleine Knopfaugen schauen aus der Masse an Kleidungsstücken. Die Füße der Erwachsenen stecken in Unmengen an Socken und alten Stiefeln, die ihre besten Tage hinter sich haben. Trotzdem schleicht sich die Kälte durch jede einzelne Faser und lässt die Menschen frieren. Kinder schreien. Frauen weinen. Männer fluchen.
Ein wunderschöner Sonnenaufgang trotzt der Trostlosigkeit und markiert das Ende der ersten Etappe. Viele werden folgen. Die Menschen in dem Dorf, in das sie ankommen, empfangen sie mit heißer Suppe und kräftigendem Brot. Hilfsbereite Menschen teilen das Wenige, was ihnen der Krieg übrig ließ und schaffen Platz für die Flüchtigen. Einige bereiten sich darauf vor, sich ihnen anzuschließen. Andere zeigen versteckt ihre Verachtung für die vermeintlichen Feiglinge.
Mütter kümmern sich zuerst um ihre halb erfrorenen Kinder. Nach der langen Nacht fallen viele in einen traumlosen Schlaf. Mein Opa sucht nach seinen Geschwistern und seinen Eltern. Erleichtert findet er sie bei einer Familie. Dankbar lässt er sich verköstigen und sammelt Kraft für die nächste Etappe.
Auch er schläft bis zum Abend, der viel zu früh kommt. Wieder ziehen sich die Leute Schicht um Schicht Kleidung an, nehmen Proviant mit und schirren die Pferde vor die Karren. In nächster Zeit wird es kein Dorf geben, das sie aufnehmen könnte. Sie werden sich so durchschlagen müssen. Doch sie machen sich auf. Mann für Mann. Frau für Frau. Kind für Kind. Familien tun sich zusammen, versuchen einander nicht im Getümmel zu verlieren.
In der Nacht stoßen sie auf sich auf dem Rückzug befindliche deutsche Soldaten. Von hinten kommend verschaffen sie sich unwirsch einen Weg, Fußsoldaten stoßen die Flüchtigen zur Seite, Panzer rollen an ihnen vorbei. Es sind wenige Männer. Sehr wenige. Ihre Mütter und Frauen werden dennoch froh sein, diese Verbliebenen in ihre Arme schließen zu können. Wenn sie denn ankommen. Lebend. Kinder schreien. Frauen weinen. Männer fluchen.
Einige Zeit später ist kein nennenswerter Abstand zwischen den Flüchtlingen und der russischen Armee zustande gekommen. Man hört tagsüber die Bomben der Flieger, nachts sehen sie hinter sich eine blutrote Front den Himmel erhellen. Manchmal meinen sie die Russen rufen zu hören. Der Treck wird immer langsamer. Die Menschen sind erschöpft, dem Tod durch Erfrieren näher als dem Leben. Der spärliche Proviant ist aufgebraucht, Kinder rufen nach ihren Müttern. Männer schleppen sich mit letzter Kraft hinter den Karren her, beneiden im Stillen die Alten und Gebrechlichen, die auf ihnen neben den Kleinen zusammengekauert sitzen. Nachdem sie eine Lichtung hinter sich gebracht haben, entdecken die Ersten völlig übermüdet eine Siedlung. Hoffnung keimt auf, die sogleich wieder zerstört wird. Kein Mensch ist zu sehen. Allen wird klar, dass ein Fluchtbefehl auch hier gegeben wurde. Desillusioniert klaubt man an Essbarem zusammen, was die Bewohner zurück gelassen haben. Angeschimmeltes Brot und Gemüse wird ohne mit der Wimper zu zucken verarbeitet. Zum ersten Mal seit dem letzten Dorf werden die hungrigen Bäuche der Erwachsenen, die auf dem Weg zugunsten der Kinder auf einen Teil ihrer Ration verzichteten, bis zur Sättigung gefüllt. Opa hockt in der Küchenecke eines Bauernhauses, wie es einst sein zu Hause war. Es kommt ihm vor wie ein anderes Leben. Neben ihm, in der Stube, vor dem flackernden Kamin, sitzen Kinder und Jünglinge rund um eine Großmutter, die eine ergreifende Geschichte erzählt. Mein Opa hört ebenfalls durch die dünne Wand gespannt zu. Es ist die einzige Ablenkung, von den Grausamkeiten da draußen. Müde, aber glücklich trollen sich die Kinder wieder zu ihren Müttern, nachdem die Geschichte aus ist. Heute schlafen sie ohne Albträume zu haben. Von Mut und Freundschaft träumen sie, von Hoffnung und einem glücklichen Leben.
Flüsternd unterhält sich mein Opa mit seinen Geschwistern. Sein Vater stiert seit einiger Zeit auf ein und denselben Fleck an der Wand, hält die Hand seiner Frau. Keiner weiß, wie es weitergehen soll, wenn sie das hier überlebt haben.
Und es sind wenige genug, die lebend in dem Land angekommen, zu dem sie offiziell gehören, dessen Sprache sie dennoch nur teilweise sprechen und in einigen Regionen überhaupt nicht verstehen.
Immer wenn die Sonne untergegangen ist, zieht sich eine Schlange aus Menschen über die schneeweiße Landschaft.
Pferde brechen vor Erschöpfung zusammen. Auf der langen Reise gibt es kaum Nahrung für sie. Das Gras ist durch eine dicke Eis- und Schneemasse unerreichbar. Heu und Stroh wurden von Flüchtlingen, die vor ihnen da waren, mitgenommen oder von denen geplündert, die wie Gesetzlose in den Wäldern leben. Für die Tiere bleibt nichts. Die Lage wird immer verzweifelter, der Russe kommt immer näher. Es gibt kein vor und kein zurück. Nur den Weg über eine Meerenge, zu einer schmalen Landzunge, der einzige Ausweg um aus diesem Hexenkessel zu entkommen. Eigentlich sollte das Eis dick genug sein. Ob der Vielzahl der Überquerenden, gibt es an einigen Stellen trotzdem nach. Karren brechen in das tödlich kalte Nass ein. Familien greifen instinktiv nach ihren Kindern, nach den Großeltern. Manche kriegen sie zu packen, andere nicht. Doch was allen bis zu den Knochen durchdringt, sind die schrillen Schreie der hilflosen Zugtiere. Gnadenlos werden sie von der schweren Fracht in das dunkle Grab gezogen. Noch heute schüttelt es die Überlebenden, wenn eine Zugbremse kreischt.
Alte Menschen liegen am Wegesrand. Man bekommt nicht immer sofort mit, wenn sie sich erfroren unnatürlich steif mit den Bewegungen des schaukelnden Wagens bewegen oder gar nicht mehr. Manchmal fallen sie einfach runter und bleiben unbemerkt zurück. Keiner sieht nach ihnen. Die Wenigsten haben die Kraft sich um andere Menschen als sich selbst zu kümmern. Von Zeit zu Zeit bleibt auch ein statthafter Mann einfach stehen, bricht zusammen und überlässt sich seinem Schicksal.
Frauen reden mit Engelszungen auf ihre kleinen Kinder ein, durchzuhalten. Ihre Neugeborenen begraben sie zum Teil im Schnee. Die kleinsten der Kleinen halten der Kälte und dem Hunger nicht stand. Sie sind zu schwach. Doch die Frauen geben nicht auf. Stoisch setzten sie Fuß vor Fuß, beschwören ihr Fleisch und Blut nur noch bis zur nächsten Biegung, bis zur nächsten Übernachtungsmöglichkeit, bis zum nächsten Sonnenuntergang, bis zur nächsten... irgendwie zu überleben. Kinder schreien. Frauen weinen. Männer fluchen.
Von oben schaut der liebe Herrgott zu und beweint seine Schöpfung. Dunkle Punkte sehen von oben aus, wie vereinzelt gewachsene Bäume. Doch die Menschen unten wissen es besser.
Schier unendlich lange liefen die Menschen, die meine Vorfahren sind, durch Eis und Teufelsküche, um hier dem Krieg zu entkommen. Wie auch immer sie das geschafft haben, sie überlebten. Mein Opa, die Geschwister und seine Eltern.
Ich hole tief Luft und schaue meinen Opa über meine dampfende Teetasse an. Jede seiner Falten ist hart erarbeitet, sein Lächeln schwer verdient. Wer es bis hierher schaffte, hatte noch lange nicht alles hinter sich gelassen. Bis der Krieg endgültig vorbei war, mussten sie noch viel durchmachen. Das eigene Volk, Menschen, die sie eigentlich mit offenen Armen hätten empfangen sollen, sich hätten freuen sollen, Überlebende zu sehen, spuckten sie auf den Straßen an. Feiglinge, Verräter, Kameradenschweine waren noch die harmlosesten Titulierungen, die sie über sich ergehen lassen mussten. Für ein trockenes Stück Brot mussten sie Knochenarbeit auf den Höfen anderer verrichten, selbst die Kleinsten. Damit sie ein Dach über dem Kopf hätten, mussten sie niedrigste Arbeit tun. Von allen verachtet, wurden sie damals von Hof zu Hof gejagt, wie unnütze Wesen, weniger Wert als Sklaven. In Norddeutschland kamen sie endlich an. Eilig wurde in einem kleinen Dorf eine alte Wehrmachtsbaracke als Notunterkunft zusammengezimmert, nur um die Zeit zu überbrücken, bis die Familie wieder in die alte Heimat zurückkehren würde. Doch es gab kein Zurück. Nur Sehnsucht. Ein Leben lang. Mein Opa fand Arbeit. Später lernte er meine Oma kennen. Jahrelang war er Lkw-Fahrer und in unserer näheren Umgebung bekannt wie ein bunter Hund. Oftmals war Oma mit ihm unterwegs, wenn er Mehl oder Tierfutter von Bauer zu Bauer fuhr. Dann kamen meine Tanten und mein Vater zur Welt und Opa baute im Nachbarort ein kleines Siedlungshaus. Über einige eigentümlichen Ecken, bekam mein Vater die einst als Notbehelf gedachte Hütte für seine nun wachsende Familie überschrieben. Die kleine Baracke steht bis heute und ist Teil meines Elternhauses. Ich wünsche mir, die nächste und übernächste Generation wird in Ehren halten, was Ende und Beginn war.
Auch die andere Seite meiner Familie ist geflüchtet. Die Mutter meiner Mutter kommt aus Ostpreußen.
Panzerkanonen donnern, Russen feiern, Menschen werden wie Tiere behandelt. Diese Schrecklichkeiten musste meine Oma als junge Frau durchleben, sie war fast noch ein Kind. Wie mein Opa bekamen sie den Marschbefehl im Winter. Die gleiche grausame Wegstrecke, die gleiche klirrende Kälte, die gleichen Entbehrungen. Kinder schreien. Frauen weinen. Männer fluchen.
Und doch ist diese Flucht ganz anders verlaufen. Sie sind nicht vor den Russen hinter der Front angekommen. Die Front hat sie eingeholt. Die Russen sind nicht die Lichtgestalten, für die sie sich gerne in ihrer eigenen Geschichte heroisieren. Im Herzen sind sie so kalt wie ihre Winter, zerfressen von Hass und Rachegelüsten, denn auch die Deutschen sind keine braven, treuen Soldaten. Was sie mit den feindlichen Frauen und Kindern anstellen, ist unaussprechlich grausam. Angespornt durch ein idealisiertes Germanenbild und überzogenen Feindbildern werden, mit niedersten Gefühlen, Menschen zu Dingen ohne Seele herabgewürdigt und auch so behandelt. Dafür musste meine Uroma bezahlen. Schrecklich bezahlen. Meine Oma grausam gezwungen zuzusehen. Zur Tatenlosigkeit verdammt. Kinder schreien. Frauen weinen. Männer sterben.
Wir tragen schwer an unserer Bürde, der Vergangenheit. Opa erzählt nie viel. Alles ist ganz tief vergraben. Nicht in seinem Herzen, denn das ist zu gut dafür. Irgendwo in sich hat er die Flucht ganz tief vergraben. Oma erzählte. Viel! Viel zu viel, einer viel zu kleinen Person. Diese kleine Person wusste gar nicht wohin mit so viel Schwarz und Rot. Also nahm sie es mit. Versuchte, es so tief zu vergraben, wie mein Opa. Aber es gelang nicht. Irgendwo war eine Lücke in der starken Mauer und hat sich Bahn gebrochen. Wieder bei einer viel zu kleinen Person. Und so lebt die Geschichte in uns. Ob wir wollen oder nicht.
Gedankenversunken verabschiede ich mich von meinem geliebten Opa. Umarme ihn fest und versuche ihm all die Liebe zu geben, zu der ich imstande bin. Mein Opa ist alt. Hat viel erlebt und gesehen. Hoffentlich erlebt und sieht er noch viel mehr. Schnee fällt auf meine warme Haut, auf dem kurzen Weg zum Wagen, und schmilzt. Verschwindet dampfend und kehrt bald wieder. Mit einem Ruck öffne ich die Wagentür, setzte mich hinein und lasse ihn an. Zu einem letzten Abschied hupe ich kurz, wie meine Familie es immer tut, und winke meinem Opa, der in der Tür stehen geblieben ist, wie er es immer tut.
Heute werde ich zum ersten Mal nach langer Zeit zum Friedhof fahren. Für Oma, für meine Mutter, für mich. Ich bin Flüchtling. Flüchtling in zweiter Generation. Die Geschichte lebt, ich habe in ihr gelebt. Sie ist Ende und Beginn.
Cover: Mirko Fikentscher 'Mixplor'
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2017
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