Cover

Titel

 

Harald Keller

Wenn dein Schrei im Nichts verhallt …

Harald Keller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Über dieses Buch

 

Sie riss schützend die Hände hoch, aber es war zu spät. Der schnelle, wuchtige Schlag traf sie seitlich am Kopf. Wie eine Stichflamme schoss der Schmerz durch ihren Körper. Blutroter Nebel brannte sich in ihre Augen und nahm ihr die Sicht.

Und dann wurde alles lichtlose Nacht.

 

Der Mord an einer alleinstehenden Bibliothekarin gibt der Osnabrücker Mordkommission um Hauptkommissarin Bea Agarius Rätsel auf. Die Tote wurde auf dem Gertrudenberg im Bürgerpark gefunden. In einer eigenartigen Position. Mit ihrem Hund an ihrer Seite. Nur wenig später verschwindet eine junge Studentin. Ihre Mitbewohnerin macht sich Sorgen. Und begibt sich auf die Suche. In einem nahen Seniorenstift fantasiert ein dämmernder Bewohner von einem „Ropenkerl“. Einer Osnabrücker Sagengestalt. Pflegerin Asli Ozcan weiß nichts damit anzufangen. Bis sie dem »Ropenkerl« unvermittelt gegenübersteht …

 

 

Hinweis: Neuauflage

 

 

„Wenn dein Schrei im Nichts verhallt“ erschien erstmals 2019 unter dem Titel „Rendezvous mit dem Ropenkerl“ im Bookshouse Verlag. Der Roman wurde für die Neuausgabe als E-Book und Taschenbuch (Oktober Verlag, Münster) durchgesehen, aktualisiert und ergänzt.

 

Über den Autor

 

 Harald Keller ist gebürtiger Osnabrücker, freier Journalist und Verfasser von Sachbüchern und Romanen. Schon von Jugend an beschäftigt er sich mit Krimis. Als Leser, später als Kritiker und Literaturwissenschaftler. Seit einigen Jahren auch als Autor.

 

 

 

Weitere Veröffentlichungen

 

„Strände, Straßenkreuzer und der Tod in den Dünen“, Kriminalroman

„Die Nacht mit dem Holenkerl“, Kriminalroman

„Tod auf dem Zauberberg – kuren, kneippen, sterben“, Reha-Krimi

„Mordspensum“, 80er-Jahre-Krimi

„Die Geschichte der Talkshow in Deutschland“, illustriertes Sachbuch

„Der Verseschmied hat zugeschlagen“, Nonsensgedichte

 

Die Hauptpersonen

 

 Corinna Schänkenberg – wollte nur ihren Hund ausführen, kam aber von diesem Spaziergang nie zurück.

 

Beatrice »Bea« Agarius – bekommt die Leitung der Mordkommission »Rosenstrauch« übertragen. Ihre Partnerin im privaten Bereich ist Katharina Langkamp, genannt Kat. Kat ist der Ansicht, Bea brauche mehr Abstand zu ihrer Arbeit als Kriminalkommissarin. Damit könnte sie recht haben.

 

Sven Fehrenkämper – steht beruflich an Beas Seite. Manchmal hapert es beim Zusammenspiel, aber eigentlich bilden sie ein gutes Team.

 

Dr. Meinhard Schneidling – ist Staatsanwalt und hatte zufällig gerade Bereitschaft, als im Osnabrücker Bürgerpark eine weibliche Leiche gefunden wurde. Ihm ist sehr an einer raschen Aufklärung des Falles gelegen.

 

Hauptkommissar Alexander »Alex« Zielinski, Oberkommissarin Marianne Stühlmeyer, Oberkommissar Fips Czierni, Oberkommissar Berthold »Bertie« Dieken-Uphoff, Gernot van den Bleeken – werden von Fachkommissariatsleiter Gaspard Budke in die Mordkommission »Rosenstrauch« berufen.

 

Finja Sudhoff – wird von einem Todesfall in ihrer unmittelbaren Umgebung vom Studium abgelenkt.

 

Asli Ozcan – kümmert sich als Altenpflegerin liebevoll um ihre Patienten, betätigt sich als Hobbydetektivin und bringt sich damit in tödliche Gefahr.

 

Alois Inderwisch – glaubt an die Existenz des »Ropenkerls« …

 

 

Vorspruch

 

 

Und wenn man einen Wahnsinnigen direkt ansieht, dann sieht man nichts weiter als die Spiegelung des eigenen Wissens um seinen Wahnsinn, und das heißt, dass man ihn überhaupt nicht sieht. Um ihn zu sehen, muss man sehen, was er sah, und wenn man versucht, die Visionen eines Wahnsinnigen zu sehen, ist ein Umweg der einzige, der zum Ziel führt.

 

Robert M. Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, 1978

1. Teil

 

Er

Verschnaufen. Wieder zu Atem kommen. Die Muskeln lockern. Das Hochgefühl genießen.

Sein Körper ächzt noch unter der ungewohnten Anstrengung.

Aber welch ein Genuss, wenn das Blut fühlbar durch die Adern rauscht.

Wie die fiebrige Wärme unter die Gesichtshaut kroch … Wie das andere Leben unter seinen Händen schwand …

Zufriedenheit durchströmt ihn vom Scheitel bis zur Sohle.

 

Inzwischen ist die Morgendämmerung angebrochen. Doch hier drinnen herrscht dauernde Dunkelheit, aufgehellt nur von einem hauchdünnen Schleier aschfahlen Lichts, das von oben durch die engen Lüftungsöffnungen dringt.

Es gefällt ihm so, immer noch. Wie damals … Hier war sein Bau, ein zufällig beim Spielen entdeckter Zufluchtsort, ein Versteck.

Jetzt ist er es wieder. Nicht mehr geheimer Schlupfwinkel, nicht mehr Abklingbecken für die Angst, die seinen Verstand vergiftete.

Jetzt sind es die anderen, die Angst haben müssen.

Er wünscht sich, dass Mutter das noch erlebt hätte.

 

Klagelaute

Das Jaulen war schon auf halber Höhe der Wittkopstraße zu hören. Leise und entfernt, aber deutlich.

So früh am Tag lag noch Stille über der Stadt. Kein Dauerrauschen des Verkehrs, nur einzelne Fahrzeuge. Gelegentlich ein Zug. Das abgehackte Brausen durchfahrender Güterwagen. Oder ein surrender Triebwagen der Nordwestbahn, der vom Depot im Hafen kommend mit metallischem Rumpeln das Gleis wechselte, um den Passagierdienst aufzunehmen.

Als Anni Vahlbusch alle Häuser linker Hand mit Zeitungen versorgt und das Ende der steil ansteigenden Sackgasse erreicht hatte, hielt das durchdringende Geheul immer noch an. Sie war entschlossen, es nicht zu beachten. Die Zeitungen mussten, so lautete die Anweisung für die Zusteller, bis spätestens sieben Uhr in den Briefkästen stecken. Verspätungen bedeuteten Beschwerden. Der Job brachte nicht viel, aber als alleinerziehende Mutter war sie auf das Geld angewiesen. Sie wollte die Einnahmen keinesfalls riskieren.

Und dann stieg sie doch hinauf in den Bürgerpark, ging unter dem herbstlichen Laubdach in die Richtung, aus der die tierischen Laute herüberdrangen. Sie musste es tun. Sie wusste, dass ihr Gewissen ihr anderenfalls über Tage hinweg keine Ruhe lassen würde.

Sie fand den Hund im Rosengarten, einer von blickdichten Sträuchern gesäumten Anlage quadratischer Beete, auf denen einst tatsächlich Rosen gestanden hatten. Inzwischen waren sie aus Kostengründen mit kniehohen Buchsbaumhecken bepflanzt worden, zwischen denen das Unkraut spross. Mittendrin reckte sich ein glockenförmiges Postament, gekrönt von einer in Stein gehauenen Vase oder Amphore. Anni Vahlbusch wusste es nicht genau und war zu abgelenkt, um weitere Gedanken auf die genaue Bezeichnung zu verschwenden.

Zu Füßen der Stele zerrte der unaufhörlich klagende Hund an seiner Leine, die am Handgelenk seines Frauchens festgeknotet war. Die Frau wandte der Säule den Rücken zu, hatte sich wohl dort angelehnt. Aber die ruckartigen Sprünge des Hundes hatten sie zu Boden gezogen. Dort lag sie jetzt, grotesk verrenkt und an den Hund gefesselt.

Der hatte von ihr nichts mehr zu befürchten, daran gab es keinen Zweifel. Anni Vahlbusch sah die weit geöffneten, starren Augen und den klaffenden Mund unter der durchsichtigen, am Hals fest zugeschnürten Kunststofftüte.

Ihr drehte sich der Magen um. Hastig beugte sie sich in die Büsche. Die schwere Schultertasche rutschte nach vorn, und mindestens die Hälfte des Erbrochenen ergoss sich über die Zeitungen.

Anni Vahlbusch schniefte. Jetzt würde es doch wieder Beschwerden geben.

Im Morgengrauen

Bea Agarius saß im Schlafanzug und Morgenmantel am Frühstückstisch und löffelte den Rest ihres Müslis, während sie auf ihrem Tablet durch die Zeitungen blätterte. Sie hatte noch Zeit bis zum Arbeitsbeginn. Katharina dagegen war bereits aufgestanden und bereitete den Aufbruch vor.

Bea sah ihr durch die offene Tür zu, wie sie im Flur vor den Spiegel trat und den Sitz ihrer Kleidung überprüfte. Sie hatte eine gedeckte Kombination gewählt. Eine dunkle Hose mit senkrechten Abnähern, die ihr im Hüftbereich bequeme Weite gaben, ohne sie unansehnlich aufzuplustern, dazu eine schwarze Bluse. Katharina schlängelte sich in ihren dunkelblauen Blazer, der mit den blauschwarzen Pumps harmonierte.

»Du siehst wunderbar aus. Du wirst deinen Schülern und hoffentlich auch einigen Schülerinnen unanständige Träume bescheren.«

Katharina lachte. »Die sollen sich mal lieber um ihre Hausaufgaben kümmern und lernen. Übermorgen steht ein Test an.«

Ihre Freundin zog die Stirn kraus. »Dann bist du ja wieder das ganze Wochenende mit Korrekturen beschäftigt«, beschwerte sie sich und zog einen Flunsch.

»Ich hoffe nicht. Lass uns mal abwarten. Irgendetwas können wir bestimmt unternehmen.«

Bea Agarius erhob sich, um Katharina zu verabschieden. Sie trafen sich auf halbem Wege. Bea nahm Katharina am Revers und zog sie zu sich heran. Katharina erwiderte ihren Kuss, stieß sie dann aber sanft zurück.

»Vorsicht, du zerknitterst meinen Blazer.«

»Oh, hallo Madame, wollen wir denn heute noch auf den Laufsteg? Germany‘s Next Top Teacher!?«, stichelte Bea.

In dem Moment klingelte ihr Telefon. Gaspard Budke meldete sich, der Leiter ihres Fachkommissariats.

»Guten Morgen, Frau Agarius. Es tut mir leid, wenn ich so früh schon störe. Aber ich muss Sie zu einem Einsatz beordern.«

Budke hielt auf Förmlichkeiten. Während sich viele der Kollegen duzten, wählte der Erste Kriminalkommissar immer die unverbindlichere Form der Dritten Person, selbst bei engen Mitarbeitern und langjährigen Weggefährten. Zumindest in Anwesenheit anderer. Bea Agarius und ihr Kollege Sven Fehrenkämper hatten schon einmal darüber spekuliert, ob Budke hinter verschlossenen Türen vielleicht doch gelegentlich das Du anwandte …

»Im Bürgerpark wurde eine weibliche Person tot aufgefunden. Die Kollegen von der Schutzpolizei gehen von Fremdverschulden aus. Ich habe den Erkennungsdienst bereits in Marsch gesetzt.«

Katharina winkte. Ihre Lippen formten die Worte: »Ich fahr dann.«

Bea Agarius hob die Hand. »Warte noch …« Dann sprach sie wieder ins Telefon. »Entschuldigung, Herr Budke, ich war kurz abgelenkt. Wo genau befindet sich die Leiche?«

»Im sogenannten Rosengarten. Kennen Sie das Areal?«

»Nicht so genau. Wir wohnen am anderen Ende der Stadt.«

»Es ist nicht schwer zu finden. Die Bramscher Straße ist bekannt?«

»Sicher.«

»Perfekt. Wenn Sie vom Hasetor kommen, fahren Sie in die Bramscher. Dann geht gleich rechts die Wittkopstraße ab. Mehr oder weniger eine Sackgasse. An deren Ende führen einige Stufen in den Bürgerpark hinauf. Halten Sie sich halb links, dann laufen Sie auf den Rosengarten zu. Eine offene Fläche mit mehreren Beeten und so einer Art Säule in der Mitte. Sie werden es finden, die uniformierten Kollegen sind ja vor Ort.«

»Alles so weit verstanden. Ich komme direkt hin, ohne Umweg übers Büro. Meine Lebensgefährtin kann mich im Auto mitnehmen. Sie arbeitet in der Dodesheide.«

»Wie Sie meinen. Ich höre dann von Ihnen. Ich gebe noch KHK Fehrenkämper Bescheid. Er wird dort zu Ihnen stoßen.«

Das Smartphone machte ein schluckendes Geräusch. Budke hatte abgeschaltet.

»Ich muss los«, sagte Katharina.

»Nein, warte. Ein Einsatz. Ich muss zur Bramscher Straße. Ist kein Umweg. Du kannst mich da absetzen.«

Katharina sah auf ihre Uhr. »Dann beeil dich aber. Es wird wirklich Zeit …«

Bea war schon unterwegs ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

Katharina hörte sie von oben rufen. »Gib mir eine Minute. Bin gleich fertig.«

»Das kommt davon, weil du morgens immer so trödelst«, lästerte Katharina.

»Ich trödele nicht. Ich verbreite nur keine Hektik. Und anders als gewisse Leute mit hyperaktiven Neigungen nehme ich mir Zeit für mein Frühstück. Das ist nämlich gesünder.«

Bea eilte ins Bad. Sie warf einen begehrlichen Blick auf die Zahnbürste, beließ es dann aber bei einem schnellen Ausspülen mit ihrem Mundwasser. Einmal gurgeln, rasch die kurzen Haare gestriegelt, dann sprang sie die schmale Treppe hinab. Das »Handwerkszeug« durfte sie nicht vergessen. Daheim verwahrte sie es in einer verschlossenen, durch einen Metallbeschlag besonders gesicherten Lade, den Dienstausweis, ihre Heckler & Koch, die Handschellen.

Endlich war sie bereit. Katharinas missbilligenden Blick auf ihre ausgebeulten Hosen ignorierte sie. Sie war ihn gewohnt.

Der Wagen parkte gleich gegenüber. Von ihrem kleinen Häuschen an der Klarastraße ging es die Sutthauser Straße hinunter auf den Wall. Wie bald jeden Morgen um diese Zeit stockte der Verkehr hinter der sanften Kurve in Höhe des Ratsgymnasiums, weil sich die Autos auf der Linksabbiegerspur Richtung Martinistraße stauten und auch die linke Geradeausspur verstopften. Viele Fahrer versuchten auszubrechen und auf die rechte Spur zu wechseln, erzwangen rabiat das Einfädeln in die engste Lücke, ohne Rücksicht auf nachfolgende Fahrzeuge.

Bea Agarius saß auf dem Beifahrersitz und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Vielleicht hätte sie doch wie gewohnt das Rad nehmen sollen. In diesem Moment wünschte sie sich Blaulicht und Sirene. Aber ihr gemeinsam genutzter kleiner Citroën besaß dergleichen natürlich nicht.

Nach vier Ampelphasen hatten sie den Engpass endlich hinter sich. Von da ab ging es erstaunlich zügig voran. In zwei Minuten waren sie an der Bramscher Straße.

»Lass mich da vorn vor dem Zebrastreifen raus«, sagte Bea. »Dann kannst du gleich geradeaus weiter fahren.«

Sie verabschiedeten sich mit einem flüchtigen Kuss. Katharina brauste davon zu ihrer Schule, während Bea Agarius die Wittkopstraße hinaufeilte. Die Sonne erklomm gerade erst das Firmament. Scheu lugten die ersten rötlich-goldenen Strahlen über die Baumwipfel und Firste. Das altertümlich anmutende Straßenpflaster aus Kopfstein lag noch in tiefem Schatten.

Im Vorbeilaufen bewunderte Bea die schönen Wohnhäuser rechts und links, darunter solche mit Gründerzeitfassaden, mit Anklängen von Jugendstil, mit Fachwerkgiebeln oder ganz aus elegantem Backstein, manchmal sehr verschachtelt gebaut, mit Erkern und kleinen Türmchchen. Romantisch und ein wenig versponnen.

Dann richteten sich ihre Gedanken auf das, was sie oben in der Parkanlage erwarten würde.

Stummes Zeugnis

Das nervöse Fiepen des Hundes veranlasste Beatrice Agarius, sich umzuwenden. »Der Kollege sieht nicht glücklich aus«, sagte sie mit einem Kopfnicken in Richtung des Schutzpolizisten, der sich um den Vierbeiner kümmern sollte.

»Ein Border-Terrier«, hatte Sven Fehrenkämper erklärt. »Ein schönes Tier.«

Der Hund wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, sprang immer wieder am Bein des Polizisten hoch und stupste ihn mit seiner feuchten Schnauze auffordernd an. Aus Sorge um seine Uniform wich der Beamte jedes Mal ein oder zwei Schritte zurück, konnte aber den übermütigen Zuneigungsbekundungen des Tieres nicht entkommen.

»Ich weiß«, meldete Sven Fehrenkämper augenzwinkernd. »Er hat Angst vor Kötern. Genau deshalb hat er den Auftrag ja bekommen.«

»Was für eine Gemeinheit …«

»Nicht doch, Bea – das ist eine Ausbildungsmaßnahme! Nur zum Wohle des jungen Kollegen. Der muss es doch lernen. Ich hatte damals im Streifendienst oft mit Hunden zu tun, in allen möglichen Situationen. Besser, er gewöhnt sich dran. Ist ja auch schon dabei. Sein neuer Freund da ist so zutraulich, dass sich unser junger Kollege vermutlich noch freiwillig zur Hundestaffel melden wird.«

»Na, ich weiß nicht …«

Noch warteten Bea Agarius und Sven Fehrenkämper auf die Freigabe durch die Kollegen vom Erkennungsdienst, die gerade die Leiche und deren Umfeld aufmerksam untersuchten. Ein Pavillon schützte den Fundort gegen Niederschlag und herabfallendes Laub. Mobile Sichtblenden bewahrten ihn vor neugierigen Blicken und bildeten eine Barriere gegen den Zutritt unbefugter Personen.

Die Leiche wurde vor fremden Augen verborgen. Es zählte zu den Pflichten des zuständigen Arztes, noch am Auffindeort die Temperatur des toten Körpers zu messen. Ein für die Ermittlung des Todeszeitpunkts unverzichtbarer Eingriff, eine notwendige Störung des Totenfriedens, die aus Gründen der Pietät und des Takts den Ausschluss der Öffentlichkeit verlangte.

»Handschuhe?« Fehrenkämper hielt der Kollegin die Großpackung hin. Dankend zupfte sie ein Paar aus dem Spender. In dem Moment trat Heino Feldhaus auf sie zu. Begrüßt hatte man sich bereits. Der Notarzt kam gleich zur Sache.

»What you see is what you get«, begann er seinen Bericht. Falls er gehofft hatte, die Kommissarin zu verwirren, ging sein Versuch ins Leere.

»Sie sieht aus wie erstickt, und sie ist auch erstickt.« Unbeeindruckt nahm sie seine Pointe vorweg.

Feldhaus überspielte seine Enttäuschung durch lobende Worte. »Richtig erkannt. Tod durch weiche Bedeckung, das ist schon mal klar. Die Einblutungen in den Augen und in der Gesichtshaut sprechen eine eindeutige Sprache. Der Kunststoffbeutel hat Speichel angenommen. Es gibt oberflächliche Druckspuren im Halsbereich, aber die haben nicht den Tod herbeigeführt. Sie lassen sich so interpretieren, dass der Täter die Frau von hinten anfiel und ihren Hals mit der Ellenbogenbeuge in die Zange nahm.« Feldhaus hob den linken Arm und führte vor, wie sich der Tathergang seiner Meinung nach abgespielt hatte. »Währenddessen oder danach hat er ihr mit der anderen Hand, vermutlich mit der rechten, den Plastiksack über den Kopf gezogen und ihr die Luft abgeschnürt. Die Ränder haben sich sichtbar in den Hals eingeschnitten, aber oberhalb der Suffusionen. Das Ersticken ist also nach dem ersten Angriff erfolgt.«

Fehrenkämper wollte etwas sagen, aber Feldhaus hob die Hand. Seine Gelegenheit für eine Retourkutsche. »Frag gar nicht erst! Der Körper ist ausgekühlt und feucht vom Tau. Schickt die Leiche zur Obduktion. Nur die Rechtsmedizin kann euch einen halbwegs präzisen Todeszeitpunkt nennen.«

Bea Agarius neigte den Kopf und klappte treuherzig die Lider auf und ab. »Bittöö«, bettelte sie mit gespielter mädchenhafter Koketterie. »Wenigstens ungefähr … Eine klitzekleine Schätzung. Kann auch ganz ungenau sein. Wir verraten es niemandem …«

Feldhaus schmatzte unwillig mit dem Mundwinkel und sah noch einmal zurück zu der Toten. »Im Laufe des gestrigen Abends. Oder nachts.« Er funkelte die beiden an. »Grobe Schätzung. Schreib das ja nicht auf. Das gehört nicht in euren Bericht.«

»Schon gut, mein Lieber. Wir brauchen ja nur eine grobe Richtung für die ersten Vernehmungen«, sagte Agarius begütigend. »Sobald der Staatsanwalt hier ist, besorgen wir uns die Obduktionsfreigabe.«

»Wer hat Bereitschaft?«

»Dr. Schneidling.«

»Na Glückwunsch. Gute Laune bringt der sicher nicht mit. Übrigens ist die Tat nicht direkt am Fundort erfolgt. Es gibt eindeutige Schleifspuren auf dem Boden und Abriebkratzer an den Hacken der Schuhe. Die liegen ein Stück von der Toten entfernt.« Feldhaus deutete auf die schwarzen Freizeit-Ballerinas, die gerade von einem der Kriminaltechniker fotografiert wurden. Neben den Schuhen hatte er Spurensicherungsmarker platziert. Die kleinen gelben Aufsteller trugen die Nummern achtzehn und neunzehn. Einer der flachen Schuhe war in einer der Buchsbaumhecken stecken geblieben, der andere lag gut einen halben Meter entfernt auf dem gepflasterten Gehweg, aus dessen Fugen wildes Gras spross. »Sie hat sie wohl verloren, während sie zu der Säule geschleppt wurde. Und an ihren Fersen habe ich frische Hautabschürfungen entdeckt. Als ob sie aus Gegenwehr gestrampelt hätte. Aber ich will den Kollegen nicht vorgreifen. Die werden das genauer erläutern können.«

Ein lautes Blaffen des Hundes unterbrach ihn. Bea Agarius sah sich um. Der Terrier tänzelte unruhig um die Beine ihres Kollegen und sprang ihn immer wieder an. »Wenn das Kerlchen doch reden könnte«, murmelte sie gedankenverloren. Im nächsten Moment kam ihr eine Idee. Sie rief Jens Bredenkötter, einen Mann vom Erkennungsdienst, zu sich. »Jens, gibt es die Möglichkeit, dem Hund Spuren abzunehmen?«

»Was meinst du?«

»Er muss bei dem Mord dabei gewesen sein. Wenn er den Täter angesprungen hat wie hier den Kollegen, finden sich vielleicht Spuren unter seinen Pfoten. An den Krallen oder so.«

»Genial!« Sven Fehrenkämper war begeistert. Er dachte noch einen Schritt weiter. »Und wie ist das mit den Zähnen? Vielleicht hat er zugebissen?«

Bredenkötter runzelte die Stirn. »Wir können es versuchen. Ich hole mal mein Zeug.«

Er kehrte mit einem Arbeitskoffer zurück und legte ihn auf einer der verwitterten Bänke ab. Pedantisch genau suchte er nach einer Stelle, die nicht mit Vogelkot besprenkelt war. Nach kurzer Suche entnahm er dem Metallkoffer Wattestäbchen und ein Asservatenröhrchen, das er entkorkte, nachdem er frische Schutzhandschuhe übergestreift hatte. »Ihr müsst mir aber helfen«, forderte er entschieden. »Sonst geht es nicht. Am besten zuerst die Zähne.«

Um den Hund nicht weiter aufzubringen, traten sie vorsichtig näher, während die Kommissarin dem Polizeiobermeister ihr Vorhaben erklärte. »Fass ihn bitte direkt am Halsband, damit er nicht springen kann«, bat sie den Kollegen.

Sie kauerten sich nieder. Bea Agarius kraulte liebevoll das dichte schwarzbraune Nackenfell des Terriers, der ihr neugierig den Kopf entgegenreckte und sie aus aufgeweckten Knopfaugen ansah. Sacht strich sie mit dem Zeigefinger über seine Schnauze. Der lebhafte Vierbeiner ließ es sich gefallen.

»Lass mich«, sagte sie zu Bredenkötter und nahm das Wattestäbchen. Der Hund schnupperte und versuchte, ihre Hand zu lecken. Sie nutzte die Gelegenheit und hielt ihm spielerisch das Stäbchen hin. Er versuchte, es zwischen seine Backenzähne zu nehmen, um darauf herumzukauen, aber sie zog den Wattebausch schnell ein Stück zurück und fuhr mit drehenden Bewegungen über die Zahnreihen. »Geschafft«, sagte sie und reichte das Stäbchen zurück an Bredenkötter, der es sorgfältig einkapselte. »Jetzt noch die Pfoten.«

Nach einem prüfenden Blick auf den Hund ging Bredenkötter den Inhalt seines Koffers durch und entschied sich schließlich für die Blattfolie. »Vielleicht ist er dressiert«, sagte er hoffnungsvoll.

»Versuchen wir’s«, antwortete Bea Agarius und befahl dem Hund: »Sitz! – Platz! – Mach Sitz! – Platz!«

Der Hund hechelte und wedelte nur munter mit dem Schwanz. Der Kommissarin schien es, als sähe er sie fragend an. Sie streichelte über seinen Rücken, wiederholte ihre Befehle und drückte dabei sanft sein Hinterteil nach unten. Tatsächlich – er hockte sich auf die Hinterbeine.

»Braaav«, lobte sie. »Guter Hund. Und kannst du auch Pfötchen geben? Gib Pfötchen!« Sie hielt ihm ihre offene Hand entgegen.

Wieder brauchte der Hund ein wenig Nachhilfe. Vorsichtig umfasste sie seine rechte Pfote, strich mit dem Daumen über die borstigen Haare, dann hob sie das Füßchen behutsam an.

Bredenkötter war sofort zur Stelle. Er hatte bereits die Schutzfolie abgezogen und drückte den klebrigen Träger mit kreisenden Fingern zart unter die Ballen der kleinen Tatze. Das tat nicht weh, trotzdem gefiel es dem Hund gar nicht. Er begann zu knurren und schnappte nach Bredenkötters Hand, der sie gerade noch wegziehen konnte. Mit zuckenden Bewegungen versuchte der Hund, die an der Pfote klebende Folie abzustreifen. Da das nicht gelang, biss er zu und riss wütend mit den Zähnen an dem lästigen Kunststoff.

»Halt die Leine kurz und streichel ihn«, rief Agarius dem uniformierten Kollegen zu. Mit sanften Worten versuchte sie, das Tier zu bändigen. »Ruhig, mein Lieber. Wir tun dir doch nichts. Nicht beißen … nein, nicht beißen. Komm, ich helfe dir.«

Sie bekam sein Pfötchen zu fassen und riss mit einem Ruck die Klebefolie weg und damit auch einige Härchen heraus. Der Hund jaulte auf und schnappte erneut, aber der Biss ging ins Leere. »Tut mir leid, mein Kleiner. Aber das musste sein.«

Der Hund winselte leise und beruhigte sich.

»Na, das hat doch gut geklappt. Keine Verletzten, Hund und Vollzugspersonal wohlauf«, sagte Fehrenkämper in scherzhaftem Berichtston.

»Kannst du damit was anfangen?«, fragte Agarius.

Bredenkötter blickte skeptisch auf die zerbissene Folie. »Kann sein … Das wird sich erst im Labor zeigen.«

»Gebt euer Bestes«, appellierte Fehrenkämper und versuchte, optimistisch zu klingen.

Verschmitzt zog Bredenkötter beide Mundwinkel nach oben. »Wo wir sind, ist vorne. Wir kennen gar nichts anderes als Bestleistungen.«

»Wissen wir doch«, schmeichelte Bea Agarius.

»Wollen wir?«, fragte Fehrenkämper.

Gerade signalisierte der Leiter des Sicherungstrupps, dass der Auffindeort jetzt freigegeben war.

»Moment noch.« Bea Agarius nickte vielsagend in Richtung Südeingang.

 

Der Staatsanwalt hat das Wort

Fehrenkämper folgte dem Blick der Kollegin und sah Staatsanwalt Dr. Meinhard Schneidling, der einem der Schutzpolizisten seinen Dienstausweis vorzeigte und hinter die Sichtblende vorgelassen wurde.

»Grüße Sie«, sagte Schneidling. »Morgenstund hat Mord im Mund, oder was liegt vor?« Er rang mit seiner schlechten Laune. Der Anruf hatte ihn zu Hause erreicht, kurz vor Ende seiner Bereitschaft. Nur eine Stunde später, und die Meldung wäre an einen Kollegen gegangen.

»Doch, leider«, antwortete Bea Agarius. »Eindeutig Fremdeinwirkung. Der Erkennungsdienst ist durch, wir wollten uns gerade einen eigenen Eindruck verschaffen.«

»Lassen Sie sich nicht abhalten, Frau Agarius. Ich möchte inzwischen das Übergabeprotokoll einsehen. Hat schon jemand den Bestatter kontaktiert?«

»Er ist unterwegs«, bejahte die Ermittlerin und reichte Schneidling das Formular, auf dem die Erkenntnisse des ersten Angriffs durch die Schutzpolizisten festgehalten worden waren.

Der Staatsanwalt ging die Positionen durch. Angaben zur Auffindesituation, zu der Person, die den Fund gemeldet hatte, die Aufstellung der bisherigen Maßnahmen. Kein Eintrag in der Rubrik »Zeugen«.

Bea Agarius hatte nach ihrem Eintreffen das Protokoll geprüft und unterzeichnet. Damit war die Verantwortung an das 1. Fachkommissariat übergegangen.

Agarius und Fehrenkämper traten näher an die Frauenleiche heran. Einer der Kollegen reichte ihnen den Ausweis der Toten, der in einer dünnen Brieftasche, eher eine Art Mäppchen, im Inneren ihrer modischen Allwetterjacke gesteckt hatte.

»Corinna Schänkenberg«, las Fehrenkämper vor. »Wohnt in der Lindenstraße. Das ist nicht weit von hier …«

»Vermutlich war sie nur mal eben mit ihrem Hund Gassi«, überlegte Agarius, während sie eingehend den toten Körper inspizierte. Die Garderobe, körperliche Veränderungen, die Spuren der Strangulation, verursacht durch die Schnur des verschließbaren Plastiksacks. Mit dem Handy machte sie eine Reihe von Übersichts- und Nahaufnahmen.

Staatsanwalt Schneidling gesellte sich zu ihnen. Nachdem sie ihre Untersuchungen beendet hatten, gaben die Kommissare eine rasche Zusammenfassung der ersten Erkenntnisse.

Während der Unterhaltung fielen Bea Agarius die unsteten Augen des Staatsanwalts auf, der immer wieder über sie hinweg in Richtung der benachbarten Klinikgebäude schaute. Dann wurde ihr klar, woran Schneidling gerade dachte.

Im selben Moment sprach er es aus. »Wir sollten umgehend die Leitung der St. Gertruden Klinik informieren.«

Fehrenkämper sah ihn fragend an.

»Zum Klinikum gehört eine Abteilung für forensische Psychiatrie«, erklärte Schneidling. »Als deren Einrichtung damals als Planungsvorhaben durch die Presse ging, gab es massive Einwände. Von Anwohnern und von einigen politischen Hasardeuren, die das Unbehagen der Bürger für ihre Zwecke ausschlachten wollten. Keine der Befürchtungen hat sich bewahrheitet, tatsächlich haben wir bis heute nicht einen einzigen Vorfall registriert. Aber möglicherweise kochen die Ressentiments wieder hoch, wenn dieser Mord bekannt wird. Egal, ob er mit dem Klinikum in Verbindung steht oder nicht, die Leitung sollte vorbereitet sein.«

»Verstehe«, sagte Fehrenkämper.

»Ich gehe gleich hinüber und spreche mit den Verantwortlichen. Ich halte es für sinnvoll, wenn Sie mich begleiten.«

Agarius zückte ihr Telefon. »Ich gebe nur eben dem Chef Bescheid«, erklärte sie, »damit die Lagebesprechung zeitlich entsprechend angesetzt werden kann.«

 

Die Direktionsassistentin war nicht erbaut. »Der Herr Professor hat einen eng gesteckten Tagesablauf«, belehrte sie die Besucher in missbilligendem Tonfall. »Den können wir nicht einfach umstoßen. Sie müssen einen Termin vereinbaren.«

Die kleine Gruppe war ihr nicht geheuer. Der Mann im eleganten Anzug hätte ihren Vorstellungen von einem Behördenvertreter entsprochen, wären da nicht seine Begleiter gewesen, ein Kerl in verwaschenen schwarzen Jeans und Lederjacke und eine Frau in Hosen, die sie kaum in einem Osnabrücker Bekleidungsgeschäft gekauft haben konnte. Derart unmodische Stücke bot doch niemand an …

»Tut uns leid, wenn wir den Terminkalender durcheinanderwerfen«, sagte Staatsanwalt Schneidling. »Es ist aber bedauerlicherweise nötig. Wir müssen Professor Gerber im Zuge einer Mordermittlung sprechen. Ich darf Ihnen versichern, es ist ganz in seinem Sinne. Er wird Ihnen das nach unserer Unterredung gewiss bestätigen.« Er sprach höflich, aber mit Nachdruck. »Bitte melden Sie uns jetzt unverzüglich an. Es ist dringend.«

Die Vorzimmerdame griff zum Telefon.

Das Fachurteil

Nur wenige Minuten später standen sie Professor Dr. Matthias Gerber gegenüber, dem ärztlichen Direktor der St. Gertruden Klinik.

Nach einer raschen Vorstellung setzte Meinhard Schneidling den Arzt ohne weitere Vorrede über den Grund ihres Kommens in Kenntnis.

»Ich muss sagen, ich teile Ihre Besorgnis«, sagte Gerber. Er unterstrich seine Worte mit einem verständnisvollen Nicken. »Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir gleich Nachricht gegeben haben. Ich fürchte, wir müssen uns auf neue Angriffe von außen einstellen.« Er ließ ein leises Seufzen hören. »Diese degoutanten Pöbeleien … Es wäre schön, wenn es anders käme. Aber wir sollten gewappnet sein. Ich werde sofort unsere Öffentlichkeitsabteilung und meine Mitarbeiter unterrichten. Können Sie mich über Ihre Ermittlungen auf dem Laufenden halten?«

»In gewissen Grenzen – ja. Umgekehrt sollten Sie uns sofort benachrichtigen, wenn es zu irgendwelchen Auffälligkeiten kommt.«

»Das werden wir ganz sicher tun.«

Schneidling reichte dem Mediziner seine Karte.

Für Professor Gerber schien die Unterredung damit beendet. Aber Bea Agarius hatte noch ein weiteres Anliegen. »Ich weiß, es ist nicht üblich, aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten: Würden Sie einen Blick auf die Auffindesituation werfen und Ihr Urteil abgeben? Die Umstände sind ein wenig speziell.«

Sie hatte die kurz zuvor aufgenommenen Fotos aufgerufen und schob ihr Handy über Gerbers Schreibtisch.

Der Klinikdirektor schüttelte bedächtig den Kopf. »Nur auf einen flüchtigen Blick hin – nein, das wäre unseriös. Eine qualifizierte Aussage ist auf die Schnelle nicht möglich«, wies er das Ansinnen zurück. Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich müsste mich eingehender mit der Sachlage beschäftigen. Mir fehlt offen gestanden im Moment die Zeit.«

»Es geht ja nicht um ein umfassendes Gutachten. Nur um einen ersten Kommentar. Wie würden Sie dieses Szenario interpretieren?«

Staatsanwalt Schneidling sprang ihr bei. »Wir wissen, dass so eine frühe Einschätzung nur unscharf ausfallen kann. Aber auch damit wäre uns unter Umständen schon geholfen. Es ist doch auch in Ihrem Sinne, wenn der Täter schnell gefasst wird.«

»Selbst damit würde ich mich auf einer spekulativen Ebene bewegen. Ich müsste mich weitaus intensiver mit den Gegebenheiten befassen, weitere Informationen heranziehen und Fakten zusammentragen …« Während er sprach, blieb sein Blick auf dem Handy haften. Er zog es heran und begann durch den Bilderkatalog zu blättern, der offenbar doch sein Interesse geweckt hatte.

Schweigend sahen die Ermittler zu, wie Gerber einzelne Details mit einer scherenartigen Wischbewegung von Daumen und Zeigefinger vergrößerte, verschob und studierte.

Er brummelte unverständlich vor sich hin, dann hob er die Stimme. »Hm. Man müsste mehr wissen. Über das Umfeld des Opfers …« Er klang nachdenklich. »Also gut. Aber ich kann Ihnen bestenfalls eine Tendenz anbieten, keine Stellungnahme von wissenschaftlicher Präzision. Alles unter Vorbehalt. Ich wünsche auch nicht, dass meine Äußerungen protokolliert und in die Fallakte aufgenommen werden.«

Der Staatsanwalt ging ohne Weiteres auf die Bedingung ein.

»Nach jetzigem Ermessen müssen wir wohl von zwei unterschiedlichen Konstellationen ausgehen. Die Frage lautet, ob Täter und Opfer zueinander in einer Beziehung standen. In dem Fall dürfte das Motiv persönlicher Natur sein. Emotionsbedingt. Also eher Hass als Habgier. Vielleicht verschmähte Liebe. Da kann ich nur spekulieren. Hat der Täter etwas mitgenommen? Eine Art Souvenir? Oder hat er etwas hinterlassen?«

»Können wir nicht sagen«, erklärte Bea Agarius. »Wir stehen ja ganz am Anfang.«

»Es könnte auch sein, dass er fotografiert oder gefilmt hat … Gab es Spermaspuren?«

»Auch das wissen wir noch nicht. Wir müssen die Ergebnisse der Kriminaltechnik abwarten.«

»Wie dem auch sei – der Kasus stellt sich jedenfalls auf andere Weise dar, wenn das Opfer zufällig ausgewählt wurde. Dann lässt das Arrangement – wie gesagt, nur unter Vorbehalt formuliert – auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung schließen. Dem Täter könnte es um Machtgefühle gehen. Oder, präziser formuliert, um ein Überlegenheitsgefühl. Durch den Akt der Tötung setzt er es durch. Er führt es der Öffentlichkeit vor Augen …«

»Er möchte seinen Triumph vor aller Welt demonstrieren …«, warf Agarius ein.

»Ganz genau. Und damit weiter auskosten. Im Verfolg dessen stellt er die Leiche in der vorliegenden Form aus. Sie ist sozusagen seine Trophäe. Die harmlosere Variante sieht so aus, dass manche Männer ihre schönen Frauen der Öffentlichkeit regelrecht vorführen. Im Angelsächsischen spricht man, Sie haben das gewiss schon einmal gehört, recht unverblümt vom ›Trophy Wife‹. So eine Disposition kann durchaus in psychotische Extreme expandieren … Oder denken Sie an Jäger, die nach dem Halali ihre Beute aufreihen. Sie verlängern das Hochgefühl, das sie beim Abschuss empfunden haben. Zum Triumph, das Wild überlistet zu haben, gesellt sich der Stolz gegenüber den Waidbrüdern. Je nach Persönlichkeit erzielen sie sogar erst dann Befriedigung, wenn sie die Bewunderung oder auch den Neid anderer erfahren. ›Ich habe was, was du nicht hast.‹ Das kennen Sie sicher auch von Autobesitzern …«

»Oh ja.« Bea Agarius erinnerte sich mit gemischten Gefühlen an einschlägige Vorfälle aus ihrer Zeit im Streifendienst, unter anderem bei den berüchtigten »Carfreitagen«, wilden illegalen Autorennen der Tuning-Szene mit mehreren tausend Zuschauern auf der Pagenstecherstraße, die jedes Mal überregional für Schlagzeilen sorgten.

»Folglich ist bei diesem Personenkreis häufig die Tat selbst weniger ausschlaggebend als die Reaktion darauf. Eine solche Erkenntnis kann für die Prävention von immenser Bedeutung sein. Bleiben die Reaktionen aus, wird somit die beschriebene übersteigerte Eitelkeit nicht befriedigt, und es erfolgen unter Umständen keine weiteren Taten.«

»Also sollten wir uns bemühen, die Berichterstattung zu unterdrücken«, schloss Sven Fehrenkämper.

»Das wird uns kaum gelingen«, wandte Staatsanwalt Schneidling ein. »Wir müssten die Pressefreiheit beschneiden. Dafür gibt es aber selbst in solchen Fällen keine Rechtsgrundlage.«

Die Kommissare hatten aufmerksam zugehört. »Herr Professor, Sie sprechen von dem Täter. Es war also ein Mann?«, fragte Fehrenkämper.

»Der pathologische Narzissmus, der hier gewirkt haben könnte, ist nicht geschlechterspezifisch. Theoretisch könnte es auch eine Frau gewesen sein.« Der Professor legte die Stirn in Falten. Er hatte Gefallen an seinem Thema gefunden und zunehmend lebhafter vorgetragen. Jetzt klang er leicht zerknirscht. »Ich räume ein, ich bin da ad hoc eingeschliffenen Vorurteilen aufgesessen. Diese Tat muss körperliche Kraft verlangt haben. Deshalb war ich automatisch von einem männlichen Täter ausgegangen. Das ist natürlich unangemessen. Unverzeihlich. Einer der Fallstricke voreiliger Analysen …«

»Wie passt der Hund ins Bild?«, wollte Sven Fehrenkämper wissen.

»Sehr gut. Idealtypisch. Der Täter zeigt uns, dass er sich auch von dem Hund nicht hat aufhalten lassen. Symbolisch gesehen hat er ein wildes Tier gebändigt und stellt es nun aus. Er musste es nicht einmal töten. Aus seiner Warte ein Surplus. Es geht ihm ja um das Gefühl und um die Darstellung von Omnipotenz.« Das Gesicht des Arztes nahm einen besorgten Ausdruck an. »Das dürfte für Sie besonders wichtig sein: Gefahr entsteht aus dem Umstand, dass Gefühle mit der Zeit abklingen. Wenn dieses Szenario zutrifft, dann hat der Täter ein emotionales Hoch erlebt. Aber das hält nicht an. Er wird früher oder später seine Erfahrung wiederholen wollen. Und wieder töten.«

Bea Agarius riskierte eine Suggestivfrage. »Haben Sie eine solche Person unter Ihren Patienten?«

Die Antwort kam souverän. »Natürlich. Wir unterhalten eine Abteilung für forensische Psychiatrie. Aber die potenziell gefährlichen Patienten sind in geschlossenen Trakten untergebracht. Mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Da büxt nicht mal eben jemand aus, um im Park eine Frau umzubringen.«

»Dürften wir Sie trotzdem bitten, zu prüfen, ob es im Haus in den letzten vierundzwanzig Stunden zu ungewöhnlichen Vorkommnissen gekommen ist?«, erkundigte sich Staatsanwalt Schneidling.

»Dann wüsste ich längst davon«, sagte der Direktor unwillig, telefonierte aber dennoch die entsprechenden Abteilungen ab.

Es wurden keine Unregelmäßigkeiten gemeldet. Dieser Auskunft zufolge waren alle Patienten dort, wo sie sein sollten.

 

Nachdem Professor Dr. Matthias Gerber seine Besucher zur Tür geleitet und den Staatsanwalt und die beiden Kommissare auf dem Gang verabschiedet hatte, wandte er sich zurück in Richtung seines Büros, machte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Harald Keller
Bildmaterialien: Claire Bullion (Shutterstock)
Cover: Keller-Kultur-Kommunikation, Osnabrück, unter Verwendung eines Fotos von Claire Bullion
Satz: Keller-Kultur-Kommunikation, Osnabrück
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4532-6

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