Cover

Prolog

Leise fauchend rülpst die Maschine Schwall um Schwall heißen Kaffees in den gemusterten Porzellanbecher. In der Notaufnahme ist für den Moment Ruhe eingekehrt. Endlich Gelegenheit für eine Pause. Seine Augen fühlen sich wund an, überreizt durch das helle Licht der Behandlungsräume, dem er schon seit Stunden ausgesetzt ist.

Roderick Benthien schließt für einen Moment die Lider und atmet durch. Die Dunkelheit mildert das Brennen und beruhigt seine gequälten Sehnerven.

Doch der Kaffee bleibt stehen. Zu heiß, um ihn rasch hinunterzustürzen. Draußen tönt das Schrappen eines Hubschraubers. Der nächste Patient.

Schon hasten die Rettungssanitäter mit der Trage in die Vorhalle.

»In den Schockraum!«

Eine Schwester lotst sie, eine Kollegin protokolliert.

»Männlicher Patient, um die vierzig, Verkehrsunfall. Nicht ansprechbar. Oberschenkeltrauma. Tourniquet von Allgemeinmediziner angelegt. Weitere Versorgung durch Notarzt. Schnittverletzungen im Gesicht. Glassplitter. Kieferfraktur. Quetschungen am Brustkorb. Zervikalstütze angelegt.«

Es folgen im Stakkato die Vitalwerte. Schnelle Schritte bringen Benthien an die Seite des Patienten. Dessen Gesicht ist unter Wundauflagen verborgen. Die sichtbaren Partien sind geschürft, geprellt, blutig.

Ein Pfleger eilt hinzu.

»Alle anfassen!«, ruft Benthien. »Vorsicht! Die HWS!! Jetzt – auf drei!«

Acht Hände heben den Patienten mit einer kraftvollen, aber schonenden Bewegung an.

»Gleichmäßig!«, warnt Benthien.

Sie legen ihn mit äußerster Vorsicht auf dem Behandlungstisch ab.

»Blutbild und CT!«

Die Sanitäter ziehen wortlos ab.

»OP fertigmachen. Anästhesie und Gefäßchirurg anfordern!«

Benthien arbeitet hochkonzentriert, nichts Anderes im Sinn, als das Leben des Mannes zu retten.

 

Einige Stunden später wird er sich fragen, ob er das Richtige getan hat.

 

 

Aufnahme

 

»Jetzt bitte scharf links abbiegen.«

Jörg Markmann warf einen ungläubigen Blick auf das Display des Navigationsgerätes. Zu seiner Linken führte eine Straße hügelaufwärts und setzte sich als Fußweg unter Bäumen fort. Wollte ihn der Computer in eine Sackgasse locken?

Aufgeblendete Scheinwerfer und wütendes Gehupe drängten ihn zur Weiterfahrt. Leise schimpfend gab Markmann Gas. Also herunter von der Hauptstraße. Dann langsam weiter, mit suchendem Blick.

Sein Misstrauen erwies sich als unbegründet. Zwischen den Häusern zweigte rechter Hand eine Gasse ab und führte weiter den Hang hinauf.

»Sie befinden sich in der Zielstraße«, informierte ihn die warme Frauenstimme aus dem kleinen Bildschirm, der von einem Vakuumnapf am unteren Ende der Windschutzscheibe gehalten wurde.

Dicht an dicht parkende Fahrzeuge säumten die ansteigende Berghain-Straße. Eine ziegelfarbene Kirche, eine scharfe Linkskurve. Weiter bergauf. Ab da war die gesuchte Adresse nicht mehr zu verfehlen. Unterhalb der Hügelkuppe ragten zwei schachtelartige Gebäude hoch über die umliegenden Wohnhäuser. Ein mächtiger Stapel gleichförmiger Etagen mit schmutzigweißen Fensterbändern und moosgrün abgesetzten Balkonwänden. Die Reha-Klinik.

Auf dem kleinen Parkplatz waren alle Buchten belegt. Vor dem Haupteingang durfte höchstens sechzig Minuten lang gehalten werden. Markmann nutzte eine breite Bungalowzufahrt zum Wenden und parkte hinter dem letzten Fahrzeug. Nur die vordere Hälfte seines Wagens befand sich in der zugelassenen Parkzone. Er beließ es dabei, nicht willens, sein Gepäck über eine längere Strecke zu schleppen.

Waschbetonplatten markierten den Weg zur Pforte. Patienten und ihre Besucher standen beisammen, ein Taxifahrer lud Gepäckstücke aus. Raucher genossen ihre Zigaretten, die ihnen innerhalb der Gebäude verboten waren.

Drinnen bugsierte Markmann seinen Rollkoffer durch humpelnde, eilig kreuzende oder geduldig wartende Mitmenschen. Viele trugen Freizeit- oder Sportkleidung, einige hatten Bademäntel übergeworfen. Die Sitzgruppe in der Mitte der großen Eingangshalle war vollständig besetzt. Manche Patienten unterhielten sich, andere blätterten gelangweilt in irgendwelchen Unterlagen oder Zeitschriften, einige stierten dumpf vor sich hin.

Die Anmeldung entdeckte er seitlich versetzt gegenüber dem Windfang, durch den er eben eingetreten war. Ein geschlossenes verglastes Abteil, das Markmann an den Bargeldschalter seiner Bank erinnerte. Der Anlaufpunkt für neue Patienten und alle anderen, die Informationen benötigten.

»Ich sollte mich heute Morgen hier einfinden.«

Die Dame am Empfang, eine gepflegte Erscheinung in dunklem Kostüm, höflich, aber ohne Lächeln, überflog routiniert eine Liste auf einem Klemmbrett.

»Herr Markmann aus Berlin? Willkommen in den Berghain-Kliniken.«

Sie deutete in den Bürobereich des Glaskastens, wo eine Angestellte an einem Schreibtisch saß und mit einer älteren Dame sprach, die ängstlich den Griff des neben ihr stehenden Koffers umklammerte.

»Meine Kollegin wird Ihre Einweisung entgegennehmen und Sie mit allem Weiteren vertraut machen. Sie müssen leider ein wenig warten. Die Herrschaften dort drüben sind ebenfalls heute angereist und noch vor Ihnen an der Reihe.«

Markmanns Augen folgten ihrem Blick zu einer kleinen Ansammlung von Menschen unterschiedlichen Alters. Fast alle mit Koffern, einige in Gesellschaft von Angehörigen, die unsicher auf den rechten Moment warteten, in dem sie sich verabschieden konnten, ohne taktlos zu erscheinen.

Während er ausharrte, beobachtete er das Treiben in der Eingangshalle. Direkt neben dem Windfang waren in einem U-förmigen Winkel hölzerne Schließfächer untergebracht. Hier herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Manchmal ergab sich ein kleines Gedrängel.

Einige der Gespräche waren nicht zu überhören.

»Ich kann nicht verstehen, warum die mir das jetzt doch wieder aufgeschrieben haben«, beschwerte sich eine Patientin. Sie stützte sich mit einem Ellenbogen auf ihre Gehhilfen, während sie mit dem Zeigefinger empört auf das Papier piekte. »Die Ärztin hat doch gesagt, ich soll das nicht mehr kriegen.«

»Dann sprich einfach noch mal mit ihr«, empfahl ihre Begleiterin.

»Das geht doch nicht. Die nächste Sprechstunde ist erst am Freitag, aber ich muss da morgen schon hin.«

»Wenn du einmal ausfallen lässt, wird schon keiner was sagen.«

»Das darf man doch nicht. Hier!« Sie hielt ihre Behandlungskarte so, dass ihre Freundin mitlesen konnte. »Da steht’s: Nur nach Rücksprache mit dem ärztlichen Personal darf man Termine ausfallen lassen.«

Die Jüngere schüttelte schwach den Kopf. Sie verbiss sich ihren Kommentar, solange sie sich in Hörweite der Klinikangestellten befanden. »Lass uns mal«, sagte sie nur und führte die gehbehinderte Freundin vorsichtig davon.

Eine Stunde war vergangen, als Markmann endlich in den Glaskasten gerufen wurde. Im Tausch gegen seine Einweisungspapiere erhielt er Informationen über die Abläufe in der Klinik, die Behandlungskarte mit seinen Patientendaten, eine Liste von Verhaltensregeln, eine Kurkarte, seinen Zimmerschlüssel. Am klobigen hölzernen Anhänger baumelte ein zweiter, kleinerer Schlüssel mit einer Nummer.

»Für Ihr Schließfach«, erläuterte die junge Frau hinter dem Schreibtisch, die dort seit Stunden hockte und bereits ein wenig in sich zusammengesunken war. Ihre Haltung verkürzte ihren Hals, ließ ihn beinahe verschwinden.

»Im Fach werden Ihre Therapiepläne hinterlegt. Die Verteilung erfolgt morgens, mittags und nachmittags. Schauen Sie mehrmals täglich hinein, weil sich Therapiepläne manchmal kurzfristig ändern können. Außerdem finden Sie in Ihrem Fach persönliche Nachrichten und Ihre Post.«

Auf ihren fragenden Blick hin nickte Markmann zum Zeichen, dass er so weit mitgekommen war.

»Gut, dann wird Sie jetzt unsere Hausdame zu Ihrem Zimmer führen.«

 

 

Das Labyrinth

 

Die ältere, sportive Dame in Jeans und kurzem, blau-weiß gestreiftem Kittel wartete bereits auf ihn.

»Herr Markmann? Mein Name ist Weber. Ich darf Ihnen Ihre Räumlichkeiten zeigen. Wir müssen rüber nach Haus B. Wir fahren erst mal mit dem Fahrstuhl hinunter ins Untergeschoss. Zu Fuß über die Treppe geht es schneller, aber mit dem großen Koffer ist der Fahrstuhl günstiger.«

Im Untergeschoss schlug ihnen aus Richtung des Kneippbeckens ein beißender Chlorgeruch entgegen. Zwei Patientinnen mittleren Alters hatten ihre Hosenbeine hochgekrempelt und staksten dort mit offensichtlichem Vergnügen durch das türkisfarbene Wasser.

»Wir haben gerade die Handwerker.«

Frau Weber zeigte auf die klaffenden Öffnungen in der Decke, die den Blick freigaben auf ein Gewimmel an Versorgungsleitungen. An mehreren Stellen hingen Stromkabel herunter, wie übergroße Halteschlaufen einer Straßenbahn.

»Wir bekommen neue Feuerschutz- und Klimaanlagen. Es kann sein, dass es tagsüber mal zu Lärmbelästigungen kommt. Das lässt sich leider nicht vermeiden. Die Arbeiter haben aber Anweisung, die Ruhephasen einzuhalten.«

Provisorisch hatte man nackte, trübe Glühlampen als Beleuchtung installiert, die dem Gang einen schummrigen, tunnelartigen Charakter verliehen. Am Ende aber wartete helles Licht. Das Café, aus dem ein gedämpftes Gewirr aus Musik und Stimmen nach draußen drang.

Der Hanglage wegen befanden sie sich nun auf Erdgeschossebene. Wieder ein weiß gefliester Korridor, eine zwischen Glaswänden sanft abfallende Rampe, im Gegensatz zum vorigen teilweise von Tageslicht erhellt. Rechts fiel der Blick auf einen ungepflegten Garten, links auf den asphaltierten Wirtschaftshof, der zur Berghain-Straße hinaufführte. Am Ende ein weiteres, halbdunkles Foyer, ausgestattet mit robusten Grünpflanzen, einem Wasserspender und einer Sitzgruppe, die von einer Gruppe strickender Frauen vereinnahmt wurde.

Die Fahrt mit dem Lift ging bis zur zweiten Etage. Eine Schwingtür, breit genug, um Krankenbetten Raum zu geben, öffnete sich durch Druck auf einen Schalter. Dessen Platte war irgendwann zerborsten, nun musste man einen kleinen Stift im Inneren des Gehäuses drücken. Kein Problem, wenn man die Hände frei hatte und nah genug herankam. Gleich auf der anderen Seite befand sich das Schwesternzimmer und davor auf einem Tischchen ein Gerät zur Blutdruckmessung.

»Heute ist niemand mehr da, aber morgen früh müssen Sie sich hier vorstellen. Heute müssen Sie noch in das Schwesternzimmer in Haus A, damit die Schwestern wissen, wer Sie sind. Und mit Ihrer Behandlungskarte gehen Sie zum Speisesaal. Da müssen Sie sich auch vorstellen.«

Markmanns Zimmer lag ganz am Ende des Ganges, rechts neben einer Glasgittertür, die, wie dicke schwarze Lettern befahlen, nur im Notfall geöffnet werden durfte. Die Einweisung war schnell erledigt. Behindertengerechte Dusche, Notrufeinrichtung. Frische Handtücher alle drei Tage. Frisches Bettzeug einmal alle zwei Wochen. Lebensmittel durften nicht mit aufs Zimmer gebracht werden.

»Hier einmal unterschreiben, dass Sie im Zimmer keine Elektrogeräte außer Rasierer und Föhn benutzen.« Brandschutzvorschriften.

Die Telefonnutzung kostete Geld. Internet auch, WLAN-Knotenpunkte gab es nur im Foyer und im Café, wo entsprechende Guthaben erworben werden konnten. Weitere Informationen in der Mappe auf dem Schreibtisch. Der umlaufende Balkon war zugleich Fluchtweg. »Darum bitte nicht blockieren. Keine Wäscheständer oder dergleichen.«

»Wer bringt denn einen Wäscheständer mit zur Kur?«, staunte Markmann.

»Haben wir alles schon gehabt«, entgegnete die Hausdame achselzuckend. »Manche bringen den halben Hausstand … Heute und morgen gibt es jeweils um fünfzehn Uhr eine Führung durchs Haus. Treffpunkt vorne bei der Anmeldung. Wir empfehlen immer, dass neue Gäste da mal teilnehmen, dann kommen sie besser zurecht. Sie werden gerade am Anfang viele Termine haben. Da ist es gut, wenn man weiß, wo man hin muss. – Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Markmann sah sich um. »Im Moment wohl nicht.«

Er setzte seinen Koffer auf einem der Lehnstühle ab. Als Erstes musste jetzt schnellstens das Auto aus dem Parkverbot entfernt werden. Draußen auf dem Gang traf er auf eine Frau in einem blaugrauen Kittel und nahm an, dass sie zum Klinikpersonal gehörte.

»Entschuldigen Sie – ich bin eben angekommen und muss noch Gepäck aus meinem Auto holen. Muss ich da den ganzen Weg durch den Vorderbau nehmen oder gibt es noch einen anderen Ausgang?«

»Gehen Sie geradeaus, an der Treppe und am Aufzug vorbei, einmal rechts und einmal links um die Ecke und dann weiter durch den Flur bis ins nächste Treppenhaus. Da dann runter, unten gibt es einen Ausgang zum Hof. Sie gehen direkt drauf zu.«

Er folgte der freundlichen Empfehlung und gelangte über die Treppe in einen schmalen, schmucklosen Eingangsbereich. Dort gab es mehrere Türen, eine führte rechts in einen Bürotrakt. Sie wurde gerade geöffnet, eine sportliche Mittdreißigerin mit vollem dunklen Haar trat heraus. Höflich hielt Markmann die Außentür auf. Sie quittierte die Geste mit einem verbindlichen Lächeln.

»Dankeschön, nett von Ihnen.«

Sie sprach melodisch, in einem weichen Diskant, in Markmanns Ohren klang es vielversprechend. Neugierig sah er ihr nach, als sie sich mit energischen Schritten in Richtung Angestelltenparkplatz entfernte.

Der erste Tag

Markmann schlenderte am Büfett entlang und betrachtete das Angebot. Wurst, Käse, Honig, Marmelade. Vollkornbrot, das nach harter Arbeit für die Zähne aussah. Kerniges Müsli. Viel Ballast, wenig Geschmack. Nicht sonderlich appetitanregend.

Vermutlich Absicht, denn in dieser Klinik wurden auch Menschen mit Gewichtsproblemen bearbeitet.

Die Brötchen hatten die Größe von Boxhandschuhen, aber weniger Geschmack. Viel Luft, wenig Gehalt. Schade um die Marmelade, die eine würdigere Tragfläche verdient gehabt hätte. Er trank ohne Genuss vier große Becher des schalen Kaffees, aber es gelang ihm nicht, seine Müdigkeit zu vertreiben.

Der erste reguläre Tag seiner Rehabilitation hatte begonnen. Die Termine auf seinem Therapieplan waren eng gesteckt. Von der Blutentnahme und dem »Anreise-EKG« hetzte er zur Oberarztvisite bei Frau Doktor Freling, dann zur Eingangsuntersuchung bei Frau Doktor Nørby.

Er schaffte es gerade rechtzeitig, nachdem er erst im falschen Gang gelandet war. Tröstlich, dass das Leitsystem in dieser Klinik nicht nur ihm Rätsel aufgab. Immer wieder sah er Patienten, die verloren durch die Flure irrten.

»Die Untersuchungsergebnisse gehen dann an Ihren Stationsarzt. Der wird alles Weitere mit ihnen besprechen«, sagte die Ärztin mit dem nordischen Namen, die wider Erwarten nicht blond, sondern dunkelhaarig war.

»Ich dachte, Sie seien meine Stationsärztin.«

»Nein, ich mache die Eingangsuntersuchung. Der Stationsarzt wird Ihnen noch genannt.«

Für weitere Fragen blieb keine Zeit, denn in Haus B erwartete ihn laut Behandlungsplan bereits eine »Ergotherapie Raps«. Nachdem er zunächst an der schmalen, schlecht beleuchteten Treppe vorbeigelaufen war, stieg er hinunter ins Tiefparterre und klopfte. Keine Antwort. Markmann zögerte einen Moment. Dann trat er ein.

Zwei stämmige Therapeutinnen betreuten gerade je einen gehbehinderten Patienten. Mit Hilfe technischer Geräte wurden sanft Unterschenkel angehoben, Knie gebeugt, Arme gestreckt.

Die Begrüßung klang wie eine Zurechtweisung. »Sie müssen nicht klopfen. Einfach reinkommen.«

»Sie haben arthritische oder rheumatische Beschwerden?«, fragte die ältere der beiden unbeteiligt.

»Nein … Nichts dergleichen.«

Die Therapeutin warf ihm einen zweifelnden Blick zu, sparte sich aber jeden weiteren Kommentar. Markmann wurde zu einer runden, mit Rapssamen gefüllten Wanne gewiesen. Zwei ältere Frauen hatten dort bereits Platz genommen, fuhren, von warmem Rotlicht bestrahlt, mit den Fingern durch die Körner, kneteten sie, fischten nach kleinen Plastikfigürchen und Murmeln, die irgendwo in der Tiefe versteckt waren.

Markmann sollte es ihnen gleichtun. »Zehn Minuten«, kam es im Kommandoton, dann wandte sich die Therapeutin wieder ihrem Patienten zu.

Das Herumharken in der Wanne war angenehm, der Zweck des Ganzen blieb Markmann verborgen. Er machte mit, grub sich durch die öligen rostbraunen Körnchen, ließ sie durch die Finger gleiten, förderte einige Murmeln zutage.

Als gut zehn Minuten verstrichen waren, verabschiedete er sich höflich. Die Therapeutinnen schenkten ihm keine weitere Beachtung.

Später am Tag absolvierte er sein erstes Walking, ein strammer Spaziergang durch das umliegende Gelände. Darauf folgte eine halbe Stunde Wassergymnastik. Nach dem Abendessen fiel Markmann ächzend und mit schmerzenden Gliedern ins Bett. Während er langsam wegdämmerte, kamen Erinnerungen hoch an einen Aufenthalt im Schullandheim, der ihn im siebten Schuljahr aus Berlin heraus und in eine ländliche Jugendherberge geführt hatte.

Dort war es, obgleich der Unterricht weiterlief, weit we- niger anstrengend zugegangen.

 

Blutiger Waschtag

 

Als Kornelia Büchow die Beine aus dem Bett schwingt, erzeugt ihre Bewegung ein aufreizendes Geräusch, das ihr so schmerzhaft in die Zahnhälse fährt wie das Schaben abbrechender Kreide auf einer Tafel oder eines schlierenden Fingers auf einer feuchten Scheibe. Schuld hat der hygienische Kunststoffbezug zwischen dem Spannbettlaken und der Matratze, der bei der kleinsten Körperveränderung quälend quietscht.

Natürlich darf er nicht entfernt werden. Die Hausordnung will es so.

Die Vorhänge hat sie offen gelassen. Das Waldstück unterhalb ihres Fensters hinter Haus B liegt in einer Mulde. Von dort kann niemand hereinsehen. Im Osten, hinter dem Höhenzug jenseits des Tales, zieht der Tag herauf. Drinnen aber ist es noch finster. Sie knipst das Licht an.

Es ist gerade erst fünf Uhr durch und noch still im Haus. Gelegentlich hört man eine Wasserspülung von einem der oberen oder benachbarten Zimmer. Die porösen Wände sind geräuschdurchlässig wie Presspappe.

Büchow steht gerne früh auf und ist bereits hellwach. Am Abend zuvor hat sie ihre schmutzige Wäsche zusammengetragen und in zwei große, eigens für diesen Zweck mitgebrachte Ikea-Tragetaschen gefüllt. Im Keller von Haus B gibt es einen Raum mit Waschautomaten. Nur sechs an der Zahl und ebenso viele Trockner. Für beide Häuser, also knapp fünfhundert Patienten.

Glück und viel Geduld gehören dazu, wenn man seine Wäsche innerhalb der Klinik erledigen möchte. Es hatte schon des Öfteren unschöne Szenen gegeben, wenn darum gestritten wurde, wer zuerst an der Reihe war. Büchow will das vermeiden und die erste sein, die ihre Wäschetrommel befüllt.

Rasch zur Toilette, vorerst nur eine flüchtige Katzenwäsche, den Jogginganzug überstreifen. Das muss für den Moment genügen. Duschen und Make-up auflegen wird sie später, wenn die Maschine läuft.

Sie tritt leise aus ihrem Zimmer. In der Hausordnung ist zwar genau definiert, wann die Nachtruhe beginnt – unter der Woche um zweiundzwanzig Uhr, am Wochenende um dreiundzwanzig Uhr –, aber wann sie endet, steht nirgendwo verzeichnet. Die Einhaltung der Nachtruhe bedeutet unter anderem, dass die Nutzung der Fahrstühle untersagt ist.

Mit behutsamen Schritten durchquert sie den Flur, zuckt zusammen, als die automatische Tür aufschwingt und das bei Tag kaum wahrgenommene mahlende Geräusch in der stillen Umgebung plötzlich die Lautstärke einer Kinderrassel entwickelt.

Sie dreht den Kopf und lauscht – es scheint sich nichts zu rühren. Am Fahrstuhl brennen die Betriebsleuchten, aber sie ignoriert den Lift und biegt um die Ecke zum Treppenhaus. Die zufallende Türe bremst sie sanft mit ihrem Turnschuh, weiterhin bemüht, keinen Lärm zu verursachen.

Das Treppenhaus ist leer, auch im Keller begegnet sie keinem Menschen. Kornelia Büchow setzt ihre Taschen ab. Die schwere Stahltür des Wäschekellers kann sie nur mit beiden Armen öffnen. Der Sicherheit wegen gibt es einen kräftigen Schließmechanismus, der gewährleistet, dass die Tür stets geschlossen bleibt.

Büchow ist gespannt, besteht doch die Möglichkeit, dass der Raum über Nacht verschlossen wurde. Sie drückt die Klinke, zieht kräftig und glaubt einen Moment lang, Glück zu haben – denn die Türe bewegt sich.

 

Eben hat Schwester Beate in Haus A die Akten der Patienten abgeholt, die heute bei ihr vorstellig werden sollen. Jetzt befindet sie sich auf dem Weg ins Haus B, um im dortigen Schwesternzimmer ihren Dienst zu beginnen. Für sechs Uhr ist die erste Blutabnahme angesetzt.

Die Patientenordner sind unhandlich, immer wieder muss sie nachfassen, damit sie ihr nicht entgleiten und zu Boden fallen. Ein Computernetzwerk würde die Arbeit von Schwestern und Ärzten erheblich erleichtern, aber Klinik-Software ist teuer, und der Träger des Hauses hat Sparmaßnahmen angeordnet. Also werden täglich Berge von Akten zwischen den Stationen, den Sprechzimmern, der Verwaltung hin und her geschleppt.

Schwester Beate nimmt die Abkürzung durch das Notfalltreppenhaus. Die Beschriftung auf der Drahtglastür besagt, dass der Zutritt nur im Brandfall gestattet ist. Aber die Oberärzte verhalten sich nicht anders, und um diese Zeit gibt es ohnehin keine Zeugen.

Im zweiten Stock zückt sie ihr Schlüsselbund, als sie auf das Schwesternzimmer zutritt.

In dem Moment gellt ein spitzer Schrei durchs Haus und fährt ihr durch Mark und Bein. Im ersten Schreck lässt sie Ordner und Schlüssel fallen, fängt sich aber rasch. Während in den Zimmern Tritte und Gepolter verraten, dass die Bewohner aus dem Schlaf gerissen wurden, überlegt sie fieberhaft, wie sie mit den Akten verfahren soll. Immerhin handelt es sich um vertrauliche Daten. Kurz entschlossen sperrt sie die Tür auf, stößt den Aktenberg mit dem Fuß hinein, zieht die Tür wieder zu. Dann rennt sie hinaus, die Treppen hinunter. Sie drückt die Tür zum unteren Foyer auf, streckt mit angespannten Nerven den Kopf durch den Spalt. Wachsam und bereit, sich blitzschnell zurückzuziehen.

Niemand da.

Sie tritt hinaus, schaut um die Ecke in die Korridore zu den Sprechzimmern der Psychotherapeuten – keine Menschenseele.

Sie muss in den Keller.

Zurück im Treppenhaus, tönen ihr die Hilferufe einer Frau entgegen. Sie eilt die Stufen hinab.

Dort steht eine Frau, im Eingang zum Waschkeller, verstummt jetzt, mit schrecklich verzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Schwester Beate erkennt die Frau. Ihr Name fällt ihr nicht ein. Sie ist eine Patientin ihrer Station.

Im ersten Moment glaubt sie an einen schizophrenen Schub. Als sie aber die unterste Stufe erreicht hat, sieht sie den leblosen Körper jenseits der Schwelle, eine andere Frau, lang hingestreckt, ein Anblick, der Beate den Magen umdreht. Das Blut ... eine gelierte Pfütze auf dem Boden ... klebrige Masse im verwilderten Haar der Frau ... eine rostrote Fleckenlandschaft auf deren Top ... aber kein Gesicht …

 

 

 

Dienstbeginn

Der dichte Berufsverkehr auf der A 3 forderte Lohses ganze Aufmerksamkeit. Im Osten war ein Streifen bleichblauen Morgenlichts aufgezogen und breitete sich langsam aus. Unten auf der Straße herrschte dagegen noch tiefste Dämmerung. Lohse blinzelte. Die Nacht saß ihm noch in den Knochen, und die Scheinwerfer der anderen Fahrzeuge marterten seine Sehnerven.

Er legte abschattend die Hand über seine Stirn. Sein Hintermann war sehr nah aufgefahren. Das kalte Xenonlicht der hochtourigen Limousine bohrte sich schmerzhaft in seine Augäpfel. Eilig klappte Lohse den Rückspiegel um. Die Reflexion wurde abgeschwächt, blieb aber unangenehm und störend.

Der andere Fahrer zog ohne zu blinken abrupt auf die dicht befahrene Überholspur und trieb seinen Wagen mit hohem Tempo bis nah an einen Lieferwagen. Der fuhr ihm zu langsam, der Verkehrsrowdy wechselte wieder auf die rechte Spur, sodass Lohse Geschwindigkeit wegnehmen musste, um eine Kollision zu vermeiden, wobei er seinerseits den Aufprall seines Hintermanns riskierte.

Der Raser gab weiterhin Gas, rutschte wieder nach links und verschwand aus Lohses Blick.

Lohse bemerkte, dass sich seine Hände um das Lenkrad krampften. Wie immer in solchen Momenten wünschte er sich inständig, eine Leuchtkelle zur Hand zu haben, um gemeingefährliche Rüpel wie diesen aus dem Verkehr zu ziehen und ihnen nach allen Regeln der Kunst die Uhr einzustellen. Er rollte die Schultern, flatterte mit den Fingern, schwamm gleichmäßig im Verkehrsstrom. Es gelang ihm, sich ein wenig zu entspannen.

Im Radio wurden die Nachrichten angekündigt. Er wollte eben lauter stellen, als sein Handy klingelte. Mit einem gequälten Seufzer griff er nach den Stöpseln, drehte einen davon in die Ohrmuschel, doch der Knopf saß zu locker und flog wieder heraus, als Lohse nach dem Schalter tastete. Er fluchte, versuchte es erneut, stellte endlich die Verbindung her.

»Ja?«, bellte er in Richtung des Handys, das neben ihm in der Mittelkonsole lag.

»Björn?«

»Jaa. Wer ist da?«

»Ich bin’s, Claude. Morgen.«

»Morgen. Was gibt’s denn? Ich bin noch auf der Autobahn, mitten im Verkehr.«

»Bist du an Bad Giehringen schon vorbei?«

»Nein, kommt noch.«

»Ah, Glück gehabt. Fahr doch bitte da mal ab. Ein Leichenfund. Den örtlichen Kollegen zufolge eindeutig Fremdeinwirkung. Rechtsmedizin und Erkennungsdienst sind schon da. Du machst bitte die Tatortübernahme. Ich schicke dir Unterstützung, sobald die Kollegen kommen. Hat ja keinen Wert, wenn ich noch die Nachtschicht loshetze.«

»Wenn’s denn so sein soll … Wo muss ich denn hin?«

»Zu einer Kureinrichtung, den Berghain-Kliniken. Mehrzahl. Liegen praktischerweise an der Berghain-Straße. Ich schicke dir eine SMS mit der genauen Adresse aufs Handy. Melde dich, sobald du klarsiehst.«

Mit einer Kurklinik verband Lohse vage Vorstellungen von einer Art Sanatorium. Ihm spukten Bilder aus dem Film »Willkommen in Wellville« im Kopf herum. Auch eine Verfilmung von Thomas Manns »Zauberberg«, die er vor vielen Jahren mal im Fernsehen gesehen hatte, kam ihm in den Sinn.

Einen Berg hatte er vor sich, aber von Zauber konnte keine Rede sein. Nachdem er, immer wieder durch den dichten Morgenverkehr gebremst, den Ortskern hinter sich gelassen hatte, hielt er an einer Hangstraße vor einem Gebäudekomplex aus zwei schmucklosen Hochhäusern und einem niedrigeren Nebentrakt.

Rundum befanden sich Wohnhäuser, Pensionen und Praxen. Jeder verfügbare Raum war zugeparkt, mit Ausnahme der einspurigen Einbahnstraßen in dem Wohngebiet gegenüber der Klinik.

Direkt vor dem Haupteingang gab es ein eingeschränktes Halteverbot, und normalerweise hätte Lohse sein Auto kurzerhand dort abgestellt, aber er hatte in seinem Privatwagen keines der Hinweisschilder, mit denen Fahrer polizeilicher Zivilfahrzeuge anzeigen konnten, dass sie sich im Einsatz befanden. Er war nicht gewillt, sich auf den mit einem Bußgeld verbundenen langen Papierkrieg einzulassen.

Er fuhr langsam wieder an, vorbei an der breiten, mit Betonsteinen gepflasterten Betriebszufahrt der Kliniken, weiter die Berghain-Straße hinauf, vorbei an kleinen Villen mit Baumbestand und sorgfältig gepflegten Gärten, an Ein- und Mehrfamilienhäusern. Ein L-förmiger Bungalow, dessen Außenwände vollständig mit weißen Kacheln verkleidet waren, gefiel ihm besonders gut. Er dachte an sein eigenes Haus und dessen Mieter und überlegte kurz, wie es wäre, es zu verkaufen und dafür, sofern der Erlös denn ausreichte, eine dieser schmucken Behausungen zu erwerben. Ohne Mieter, dafür gemeinsam mit Lilo. Was sie wohl dazu sagen würde …

Lohse sah, dass bei einem weiter oben abgestellten PKW die Lichter angingen. Er schob sich heran und signalisierte per Blinker, dass er den Parkplatz übernehmen wollte.

Als er zurücklief und am beschrankten Klinikparkplatz vorüberkam, sah er auf dem unterhalb der Straße liegenden Wirtschaftshof einen Streifenwagen der örtlichen Kollegen neben einem Dienstfahrzeug der Kollegen vom Limburger Erkennungsdienst.

Den Patienten und Mitarbeitern der Klinik war die Anwesenheit der Beamten nicht verborgen geblieben. Draußen vor dem Haupteingang wie auch drinnen im geräumigen Foyer standen Menschen in kleinen Grüppchen beisammen. Lohse konnte im Vorbeigehen hören, wie Gerüchte und Spekulationen die Runde machten. Er verhielt sich diskret, ging seinen Weg ohne Hast und wie selbstverständlich, als gehörte er irgendwie zum Haus. Drinnen hatte er mit schnellem Blick den Empfang entdeckt. Vor ihm stand eine Dame um die fünfzig, neben sich einen Rollkoffer und eine größere Handtasche. Sie gab gerade ihren Zimmerschlüssel zurück und erhielt von der Angestellten hinter dem Schalter ihre Entlassungspapiere.

Lohse musste seine ganze Zurückhaltung aufwenden, um nicht umgehend einzuschreiten.

Als die Dame sich mit umständlichen Worten verabschiedet hatte, tat er einen schnellen Schritt nach vorn. Er verbarg seinen Dienstausweis diskret in der hohlen Hand und hielt ihn so, dass er nur von der Empfangsdame gesehen werden konnte.

»Guten Tag«, sagte er. »Mein Name ist Lohse. Ich wurde hierherbestellt.«

Mit einem Kopfnicken gab die Klinikmitarbeiterin zu verstehen, dass sie Lohses Absicht verstanden hatte.

»Willkommen in den Berghain-Kliniken, Herr Lohse«, sagte sie. »Es kommt gleich jemand, der Ihnen weiterhilft.« Mit gesenkter Stimme fügte sie an: »Sie müssen nach Haus B. Da ist die Sache passiert.«

Lohse beugte sich vor und sagte leise: »Ich habe eben mitbekommen, dass Sie eine Patientin entlassen haben.«

»Richtig. Heute ist einer unserer Abreisetage.«

»Das muss gestoppt werden. Wir brauchen die Aussagen der Leute, ehe sie abreisen.«

»Aber das geht doch gar nicht … Viele Gäste müssen zum Zug oder werden abgeholt. Und die Zimmer müssen hergerichtet werden und werden ab Mittag neu belegt. Wo sollen wir denn die Leute solange lassen?«

»Das müssen wir später besprechen. Fürs Erste jedenfalls wird keiner mehr entlassen.«

Die Empfangsdame sah ihn verunsichert an, dann griff sie zum Telefonhörer.

»Warten Sie bitte einen Moment.«

Einige Minuten später sah Lohse einen Mittvierziger auf sich zukommen, der inmitten der vielen freizeitlich gekleideten Menschen durch seine förmliche Garderobe und seine steife Gangart auffiel. Er trug einen gedeckten Geschäftsanzug, dazu ein weißes Hemd und eine dezente Krawatte, die mit einer goldenen Klemme an der Knopfleiste gehalten wurde. Der Mann suchte den Blick der Empfangsdame, die mit einem unauffälligen Kopfnicken in Richtung Lohse wies.

»Frank Grothe«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus. »Ich bin der Verwaltungsdirektor unseres Hauses.«

»Björn Lohse, guten Tag.«

Grothe musterte Lohse kurz und bat ihn dann in das gläserne Büro hinter dem Empfangsschalter. Für die Begrüßung hatte Grothe einen verbindlichen Tonfall gewählt. Nun, außer Hörweite der Patienten, legte er einen Hauch von Härte in seine Worte.

»Wie ich höre, haben Sie Anweisung gegeben, dass keine Patienten mehr entlassen werden. Unterliegt so etwas überhaupt Ihrer Befugnis?«

»Aber gewiss doch. Wir sind sogar verpflichtet, die Personalien und Angaben etwaiger Zeugen festzustellen und auch dazu, möglicher Verdunkelung vorzubeugen.«

Grothe presste die Lippen zusammen. »Aber wie soll das denn gehen? Die Herrschaften haben ihre Abreisetermine und Zugverbindungen. Wir können sie nicht einfach zurück in ihre Zimmer schicken. Unsere neuen Patienten kommen im Laufe des Tages und müssen untergebracht werden.«

»Sie müssen die Leute ja nicht tagelang hierbehalten«, antwortete Lohse. »Um wie viele Personen geht es denn?«

Grothe drehte sich zur Rezeptionistin. »Wie viele Entlassungen haben wir heute?«

Die junge Frau sah in eines der Fächer unterhalb des Tresens und zählte eine Reihe von Umschlägen durch. »Noch sechzehn«, antwortete sie. »Eine Dame und ein Herr sind bereits abgereist.«

»Von denen brauche ich unbedingt die Namen und Heimatadressen«, sagte Lohse schnell. »Und von den anderen auch. Wie viele Patienten haben Sie hier insgesamt?«

»In der Regel um die vierhundertachtzig.«

Lohse mahlte beunruhigt mit den Zähnen. Er zog sein Handy aus der Jackeninnentasche und drückte die Direktwahltaste. Der Kriminaldirektor ließ nicht lange auf sich warten.

»Claude, ich bin in Bad Giehringen in der Kurklinik. Wir haben hier mehr als vierhundertachtzig potenzielle Zeugen, und sechzehn von ihnen wollen heute Morgen abreisen. Zwei sind schon weg. Ich brauche dringend ein paar Kollegen zur Verstärkung.«

»Was liegt denn eigentlich vor? Hast du dir schon ein Bild machen können?«

»Nein, ich bin noch im Gespräch mit dem Direktor. Das ist ein ziemlich großer Komplex hier. Aber die Personalien brauchen wir auf jeden Fall.«

»In Ordnung. Ich stelle ein vorläufiges Team zusammen. Moment, lass mich nachsehen … Du kriegst Pflüger, Kannebeck ist frei … Genau … Wen haben wir noch? Seeger und den Anwärter, Dennis Finsler.«

»Den kenne ich nur vom Sehen. Wie macht er sich bislang?«

»Gute Noten. Wenig Praxis. Aber dafür ist er ja hier.«

Lohse hörte es mit gemischten Gefühlen. Einerseits war er nicht sonderlich erfreut, dass er während seiner Ermittlung auch noch Ausbildungsaufgaben übernehmen sollte. Andererseits musste er für jede personelle Verstärkung dankbar sein. Er beschloss, den jungen Mann mit dem Erfahrensten der Gruppe, mit Hanns-Heinz Kannebeck, zusammenzuspannen.

»Wenn eine Moko gebildet werden muss, kannst du alle vier aufnehmen. Darüber hinaus müsste ich anderweitig Leute abziehen. Darum brauche ich schnellstmöglich eine Lage vor dir, auch damit ich den Staatsanwalt und die Pressestelle informieren kann.«

»Wie immer … Schick gleich alle los. Ich melde mich.«

Lohse schaltete ab.

»Wie sollen wir jetzt mit den Entlassungen verfahren?« Die Frage der Empfangsdame galt dem Verwaltungsdirektor.

Der zuckte nervös mit den Schultern. »Haben Sie Frau Fränkel heute schon gesehen?«, fragte er zurück. Die Rezeptionistin schüttelte stumm den Kopf.

Grothe wandte sich wieder Lohse zu. »Frau Fränkel ist meine Büroleiterin. Sie kümmert sich um die praktischen Dinge. Normalerweise ist sie noch vor mir am Arbeitsplatz. Dass sie sich ausgerechnet heute verspäten muss …«

Eine weitere Mitarbeiterin klopfte an die Glastür. Grothe winkte sie herein. »Frau Zelnick«, stellte er sie vor, »auch aus meinem Büro. Frau Zelnick, ist Frau Fränkel jetzt da?«

Die Angesprochene verneinte.

»Hat sie eine Krankmeldung geschickt?«

Auch das war nicht der Fall.

»Merkwürdig«, sagte Grothe. Er klang ehrlich besorgt. »Das ist so gar nicht ihre Art … Frau Zelnick, haben Sie eine Idee? Die Kriminalbeamten wollen die Patienten sprechen, die heute entlassen werden, noch vor deren Abreise. Wie können wir das organisieren? Wo können sich die Leute solange aufhalten?«

Irmgard Zelnick musste nicht lange überlegen. »Wie wäre es, wenn wir die Herrschaften vorerst in den unteren Vortragsraum bitten? Der wird im Augenblick nicht genutzt. Dann wäre zumindest das Foyer schon mal entlastet und wir können auf jeden Fall die Neuaufnahmen durchführen.«

Grothe schnaufte erleichtert. »Ja, genau, der Vortragsraum.«

Die Empfangsdame wurde angewiesen, keine Entlassungspapiere mehr herauszugeben. »Schicken Sie die Leute in den Vortragsraum. Und informieren Sie alle Kollegen! Und alles sehr zuvorkommend, ja?!«

»Sagen Sie einfach, es gibt dort eine Verabschiedung«, riet Irmgard Zelnick ihrer Kollegin.

»Ich komme nachher selbst in den Vortragsraum oder schicke jemanden«, sagte Lohse. »Jetzt muss ich mir aber erst einmal anschauen, was überhaupt passiert ist.«

»Ja – ja – sicher«, antwortete Grothe, dem die ungewohnte Situation sichtlich zu schaffen machte. »Kommen Sie, ich führe Sie hin. Unterwegs kommen wir am Vortragssaal vorbei, dann wissen Sie schon mal, wo Sie nachher hinmüssen.«

 

Am Tatort

Lohse wunderte sich über die seltsame Architektur der Anlage, als Grothe ihn durch zwei lange unterirdische Korridore bis ins Foyer im Untergeschoss von Haus B geleitete.

Sie drängelten sich durch die dort versammelten Menschen bis zum Treppenhaus. Der Weg in die oberen Stockwerke war frei, vor den abwärts führenden Stufen verstellten zwei uniformierte Beamte den Zugang.

»Guten Morgen«, grüßte Lohse ernst. »KHK Lohse, Regionale Kriminalinspektion Limburg.«

»Morgen. Zwei Kollegen vom Erkennungsdienst sind gerade noch mal raus zu ihrem Wagen und holen ihre Koffer.«

Der Polizist sprach leise, er wirkte bedrückt. Seine Kollegin blieb still. Sie stand im Türrahmen, die Schulter leicht angelehnt.

Ihr Gesicht war aschfahl.

Lohse ließ die Zurückhaltung der beiden unkommentiert. Jeder seiner Kollegen im K 10 hatte seine eigene Art, die Begegnung mit dem Tod, insbesondere Leichenfunde unter grausigen Umständen, zu verarbeiten. Aber diese Schutzmechanismen wurden einem weder von der Natur und auch nicht durch die Ausbildung mitgegeben, sondern mussten sich erst nach und nach herausbilden. Für die jungen Giehringer Kollegen, die noch nicht in ihrem Beruf wurzelten, hatte dieser Prozess gerade erst begonnen.

Ein Polizeihauptmeister und ein Mann in Zivil kamen die Treppe herauf und stiegen über das Absperrband. Lohse kannte Dieter Babrock von der Regionalen Tatortgruppe; sie waren seit langem per Du.

»Coldey, P. v. O.«, stellte sich der andere kurz vor. Er wirkte ähnlich mitgenommen wie seine Untergebenen. Sein Gesicht war ernst und ohne Farbe und er musste sich mehrmals räuspern, bevor er ohne lange Vorrede zu einem Lagebericht ansetzte.

»Wir haben eine weibliche Person, liegt im Keller, in einem Raum mit Waschautomaten. Der Rechtsmediziner ist gerade unten. Wir haben den Tatort gesichert, einen Pfad angelegt und Fotos aufgenommen.«

Er sah auf ein Klemmbrett, das er mit der Linken hielt und in der Armbeuge abstützte. »Die Tote wurde heute Morgen zwischen halb sechs und sechs Uhr von einer Klinikpatientin gefunden, die ihre Wäsche machen wollte. Dann waren eine Krankenschwester der Klinik vor Ort und der Arzt von der Nachtschicht, der aber auf Erste-Hilfe-Maßnahmen verzichtete. Wenn Sie den Auffindeort sehen, wissen Sie, warum. Und auch, warum Fremdverschulden als sicher vorausgesetzt werden kann.« Seine Stimme wurde spröde. Er wandte sich ab und erstickte den aufkommenden Husten in einem Stofftaschentuch.

Lohse wandte sich an Babrock. »Dieter, der Arzt hat schon angefangen?«

Babrock nickte. »Ja, musste sein. Die Tote liegt in der Waschküche. Die hat eine dicke Stahltür. In dem Raum ist es warm und feucht, draußen eher kühl. Wir hielten es für angebracht, dass er erst mal die Raum- und die Körpertemperaturen aufnimmt, ehe ständig die Tür auf und zu geht und sich das Raumklima verändert. Es wird ohnedies zu Ungenauigkeiten kommen. Du hast ja gehört, dass schon mehrere Personen im Raum waren. Jedes Mal die Tür auf und zu, da kriegt er natürlich Probleme, wenn er den Todeszeitpunkt bestimmen will. Wir haben aber die Position der Leiche schon dokumentiert, und er wird auch weiter nichts verändern. Er muss halt nur sein Thermometer einführen.«

Lohse nickte. »Dieter, ich habe eine Bitte: Kannst du mir mit einem Schutzanzug aushelfen? Ich bin direkt von zu Hause hergekommen und habe keine Ausrüstung dabei.«

»Klar«, antwortete Babrock und zog ein Funkgerät aus seiner Jackentasche. Ein unangenehm kratziger Seufzer wurde laut, als er es einschaltete und einen der Kollegen bat, eine zusätzliche Garnitur Schutzkleidung mitzubringen.

Der Verwaltungsdirektor Grothe zog die Brauen zusammen. »Ganz schön altmodische Technik. Ich meine, in Zeiten der Smartphones –«, wunderte er sich.

»Aber sie funktioniert«, wurde er von Babrock belehrt. »Und zwar auch da, wo es keine Funkmasten und WLAN-Anschlüsse gibt.«

»Wann waren Sie vor Ort?«, fragte Lohse den Gruppenleiter.

»Der Anruf der Leitstelle kam um sechs Uhr neun. Ich bin mit einem Kollegen direkt zu Fuß hier rüber; unsere Dienststelle liegt drüben gleich hinter dem Kurpark. Wir hatten gerade mit der Arbeit begonnen. Die übrigen Kollegen sind per Dienstwagen gekommen.«

»Sie mussten durch den ganzen Kurpark?«

Trotz seiner Betroffenheit musste Coldey schmunzeln. »Ja«, sagte er. »Unser Kurpark ist ziemlich schmal. Aber dafür lang.«

Auch Coldeys rangniedrigere Kollegen wurden durch Lohses Frage aufgemuntert. Der Klinikdirektor schaute verstimmt, verzichtete aber angesichts der Umstände auf einen Kommentar.

»Wo sind die Zeugen?«, wollte Lohse wissen.

»Die Patientin ist in der psychotherapeutischen Intensivstation. Sie hat eine psychische Vorerkrankung und ist vorerst nicht vernehmungsfähig. Die Krankenschwester wurde abgelöst. Sie und der Arzt warten in einem der Sprechzimmer. Eine meiner Beamtinnen ist bei ihnen.«

»Wir bekommen in absehbarer Zeit Verstärkung«, erklärte Lohse. »Die Autobahn war eben noch ziemlich dicht, aber die Kollegen sollten bald hier sein. Dann müssen wir sofort mit der Personalienaufnahme beginnen. Es gibt Patienten, die heute entlassen werden und abreisen wollen. Ich habe mit Herrn Grothe vereinbart, dass die Herrschaften vorerst in den Vortragsraum gebeten werden. Können Sie jemanden dorthin schicken, der die Leute so weit informiert?«

Uwe Coldey nickte. Er trat ein paar Schritte beiseite und sprach in sein Dienstfunkgerät.

»In Ordnung«, meldete er kurz darauf. »Ein Kollege ist gleich vor Ort.«

»Danke.« Lohse hatte noch eine wichtige Frage. »Kennen wir die Identität der Toten?«

»Nein. Die Identifizierung dürfte schwierig werden …«

In diesem Moment traten die beiden kriminaltechnischen Angestellten zu der kleinen Gruppe. Graugesichtig und müde, begrüßten sie Lohse ohne viele Worte mit leichtem Handschlag. Sie trugen ihre Koffer und hatten in Folie eingeschweißte fusselfreie Schutzkleidung dabei. Lohse erhielt eine Garnitur ausgehändigt. Der stille Polizeiobermeister zog die Tür zur Vorhalle so weit zu, dass Lohse und die Kriminaltechniker den Blicken der Neugierigen verborgen blieben.

Während sich die Ermittler in ihre Tyvek-Overalls schlängelten, kamen allerdings Patienten von den oberen Stockwerken herunter. Kaum einer, der nicht unterwegs stehen blieb, um sich die unerwartete Szene anzuschauen. Sie wurden von den Schutzpolizisten zum Weitergehen aufgefordert.

Lohse stand auf Strümpfen an der Seite und zog sich die Schulterpartie des Schutzanzugs über die Achseln. Seine Jacke hatte er abgelegt. Während er in die Knie ging, um in seine schwarzen Reeboks zu schlüpfen und die weißen Polypropylen-Galoschen überzustreifen, sprach er in die Runde: »Können wir das Treppenhaus nicht weiter oben schon sperren?«

Die Polizisten richteten fragende Blicke auf den Verwaltungsdirektor.

Grothes Miene verriet, dass ihm jede Abweichung von den gewohnten Abläufen widerstrebte, aber er fügte sich ins Notwendige.

»Im Verwaltungstrakt« – er deutete hinter sich – »gibt es ein weiteres Treppenhaus. Im Patiententrakt« – dieser Teil des Gebäudes lag genau entgegengesetzt – »könnten wir das Notfalltreppenhaus nutzen. Wobei das feuerpolizeilich eigentlich nicht erlaubt ist –«

»Wir übernehmen die Verantwortung«, unterbrach Lohse. »Kollegen, könnten Sie das organisieren? Die Treppe ab dem nächsthöheren Stockwerk abriegeln. Außerdem hier unten im Foyer einen größeren Radius um den Zugang zum Treppenhaus absperren und schnellstens einen Sichtschutz aufstellen. Danke euch.«

»Kommen Sie«, sagte der Polizeiobermeister zu Grothe. »Zeigen Sie mir, wo das ist.«

Die beiden wandten sich nach oben. Coldey trat hinaus, um die dort wartende Beamtin mit der Absperrung zu beauftragen. Die junge Frau war dankbar für die Ablenkung. Vielleicht half die Beschäftigung, die entsetzlichen Bilder aus ihrem Kopf zu bekommen.

 

Lohse stülpte die Kapuze des Overalls über den Kopf, zupfte ein Paar Einmalhandschuhe aus dem Spender, den Babrock ihm hinhielt, zog die Fingerschlaufen des Schutzanzuges über seine Daumen und folgte dem Chef der Spurensicherung in den Keller.

Die Treppe hatte auf halber Höhe einen Absatz und mündete unten in einen Vorraum, von dem aus nach allen Seiten Türen abgingen. Direkt gegenüber der Treppe führte eine Glastür in einen hell erleuchteten Korridor mit unverputzten weißen Wänden. Eine gute Armlänge weiter rechts befand sich eine Stahltür. Der Weg dorthin war mit kleinen Fußbänkchen markiert. So vermieden die Beamten direkten Bodenkontakt und die Beeinträchtigung etwaiger Spuren. Babrock balancierte hinüber und klopfte.

»Ja, ich bin fertig«, rief eine Stimme von drinnen. »Ihr könnt hereinkommen.«

Babrock zog die schwere Tür auf, hielt sie geöffnet und gewährte Lohse so einen ausschnitthaften Einblick in einen in hartes Neonlicht getauchten schmalen Raum, dessen Wände von münzbetriebenen Waschmaschinen und Trocknern gesäumt wurden. Direkt hinter der erhöhten, gemauerten Schwelle, die im Falle eines Wasserschadens ein Ausbreiten der Überschwemmung verhindern sollte, lag der Körper eines Menschen.

Lohse bewegte sich vorsichtig näher heran.

Rechtsmediziner Dr. Thomas Schadelang hatte eine Nachtschicht hinter sich und sah Lohse unter der weißen Kapuze hervor aus rot geäderten, übernächtigten Augen an, als der ihm matt einen Guten Morgen wünschte. Schadelang gähnte ausgiebig und hielt sich dabei den Unterarm vor den Mund.

»Du hast nicht zufällig einen Kaffee mitgebracht?«, fragte Schadelang den Hauptkommissar. Die beiden verstanden sich gut. Gleich bei ihrem ersten gemeinsamen Fall hatten sie sich auf das Du geeinigt.

Lohse schniefte leise. »Könnte selbst einen gebrauchen. Ich komme quasi direkt aus dem Bett. Meine Frau meinte mal, für nächtliche Morde sollte es automatisch eine Strafverschärfung geben.«

Schadelang nickte. »Du hast eine sehr kluge Frau abbekommen.«

»Habe sie aber dann auch wieder verloren«, erinnerte Lohse tonlos.

Schadelang verzichtete darauf, das Thema zu vertiefen. Der Arzt stützte sich auf das linke Knie und erhob sich ächzend.

Lohse tat einen vorsichtigen Schritt auf das nächste Treppchen, sodass er nunmehr den gesamten Raum überblicken konnte. Im nächsten Moment schmeckte er jenes säuerliche Aroma, das der Magen als Vorboten schickt, ehe die Würgekrämpfe einsetzen. Lohse war nie zartbesaitet gewesen und hatte im Laufe seiner Karriere schon manch üblen Anblick ertragen. Und doch sprach er später davon, dass dieser Fund vielleicht der widerwärtigste war, den er je gesehen hatte.

Vor sich sah er den entseelten Körper einer schlanken Frau mit sportlicher Figur, die im Sterben eine Embryohaltung eingenommen hatte. Ihre Kleidung war bereits wieder geordnet, dort, wo der Rechtsmediziner ein Thermometer eingeführt hatte. Sie trug hautenge schwarze Sportleggings im Capri-Stil, darüber eine Sportjacke mit aufgenähten Taschen und einer dünnen Kapuze, die sich mit Blut vollgesogen hatte. Blut war auch in das üppige, wild zerzauste Haar geflossen, das sich wie ein makabres Dekor lang über den dunklen Betonboden ergoss. Die dunklen Locken hatten eine schaurige kupferfarbene Tönung bekommen.

Den verstörendsten Anblick bot das Gesicht. Oder das, was davon übrig geblieben war. Die Züge der Toten waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, völlig zermalmt, eine breiige Masse aus Blut, Knorpeln und Knochensplittern.

Lohse musste den stickigen Raum für einen Moment verlassen und mehrfach heftig schlucken. Beinahe hätte er den Steg aus Fußbänkchen verfehlt, er konnte sich gerade noch fangen.

»Tief durchatmen! Durch den Mund«, sagte Schadelang, der dem Kommissar gefolgt war und ihm stützend den Arm unter den Ellenbogen legte.

»Ich weiß«, presste Lohse leise hervor. Er überwand die Krise, indem er den Rat des Arztes befolgte und ein paar Mal kräftig schluckte.

»Alles klar?«, fragte Schadelang.

Lohse nickte. Er sog noch einmal tief Luft in die Lungen, drückte das Rückgrat durch und machte sich daran, die Untersuchung fortzusetzen. Die beiden Ermittler staksten zurück in die Waschküche, wo Dieter Babrock inzwischen den Platz des Rechtsmediziners eingenommen hatte und mit einer Taschenlampe akribisch den Boden ableuchtete.

»Also?«, fragte Lohse.

Schadelang deutete stumm auf die obere Kante der Waschmaschine, die dem Ausgang am nächsten stand. Vor allem an der Ecke, aber auch an der umlaufenden Aluminiumschiene war verkrustetes Blut zu erkennen, durchsetzt mit Haaren und Gewebe. Die Situation bedurfte keines Kommentars. Der oder die Täter hatten die Tote offensichtlich wiederholt mit großer Wucht auf den Maschinenrand geschlagen.

»Du Scheiße«, murmelte Lohse.

»Das war zügellose Wut«, sagte Schadelang kaum hörbar und mehr zu sich selbst. Dann erfolgte, nach kurzem Räuspern, seine amtliche Ansage: »Angaben zum Todeszeitpunkt sind momentan nicht möglich. Der Raum ist warm und außergewöhnlich feucht, und die Tote ist durchtrainiert. Raum- und Körperkerntemperaturen wurden festgehalten, sind aber unter diesen Umständen nicht hinreichend aussagekräftig. Dasselbe gilt für die Bewertung der Leichenstarre. Jetzt ist erst mal die Spurensicherung dran. Danach setze ich die Untersuchung fort. Aber es gab einige Faktoren, die wir nicht mehr genau nachhalten können. Daher kann ich dir bestenfalls nach der Obduktion verbindliche Daten liefern. Sobald Dieter und seine Leute fertig sind, lasse ich den Leichnam abtransportieren.«

Während Schadelangs Zusammenfassung wanderten Lohses Blicke durch den Raum. Die Waschküche war vielleicht drei Meter breit und knapp doppelt so lang. Auf der Eingangsseite reihten sich die Waschmaschinen, gegenüber die Trockner. Die Geräte waren erkennbar seit langem in Gebrauch, die Armaturen matt, die Bedienelemente abgegriffen. Der Bereich dazwischen ließ wenig Platz zum Arbeiten. Trafen mehrere Personen aufeinander, wurde es eng.

Auf einem der Trockner lag eine große Kunststofftasche. Mehrere Stücke Damenfeinwäsche, offenbar frisch aus der Maschine und für den Transport flüchtig zusammengelegt, quollen heraus, andere befanden sich noch im Trockner darunter. An der Stirnseite hing ein Automat, an dem Münzen für die Geräte und den Waschmittelspender gelöst werden konnten. Rechts zwischen den Waschmaschinen gab es einen türlosen Durchgang in einen noch kleineren Nebenraum, eine Art Alkoven. Lohse reckte den Hals, um hineinsehen zu können.

Babrock sah es und erklärte: »Das Bügelzimmer. Wenn man denn von einem Zimmer reden möchte.«

»Mhem. Gut, das schaue ich mir später an.«

Polizeihauptmeister Coldey kam die Treppe herab, blieb auf einer der mittleren Stufen stehen und winkte mit seinem Klemmbrett.

»Der Befundbericht wäre so weit fertig.«

Lohse stelzte zu ihm hinüber und sah den Protokollbogen durch. Er enthielt die Personalien der Frau, die die Tote gefunden hatte, der Krankenschwester, die ihren Hilfeschreien gefolgt war und des Klinikarztes, der hinzugerufen worden war. Auch die Namen der beteiligten Ermittler waren verzeichnet. Lohse verglich die Angaben zur Auffindesituation mit seinen eigenen Beobachtungen. Er zeichnete den Bogen ab, damit lag die Verantwortung fortan bei der Kriminalpolizei.

»Dann seid ihr jetzt dran«, sagte Lohse in Richtung der wartenden Kriminaltechniker. Die zogen ihre Schutzmasken hoch und stiegen hinab in den dumpffeuchten Wäschekeller, der irgendwann in der vorausgegangenen Nacht zu einem Tatort geworden war.

 

 

Unter Schaulustigen

 

Als Jörg Markmann die Armbanduhr anlegte, fühlte er sich unausgeschlafen und schlechter Stimmung. Wenn er ein Frühstück bekommen wollte, musste er bis spätestens um acht Uhr im Speisesaal sein. Sein Therapieplan hätte ihm erlaubt, noch eine Stunde Schlaf anzuhängen. In diesem Punkt kam man den Patienten entgegen. Bei einem einführenden Vortrag hatte der Leiter der psychosozialen Klinik kurz erwähnt, dass, so weit möglich, auf den Biorhythmus der Patienten Rücksicht genommen werde. Markmann, der nicht gerade zu den Frühaufstehern zählte, hatte sich daran erinnert, als er seinen Vorstellungstermin bei Stationsärztin Dr. Krajkowski hatte. Die war ohne Weiteres bereit, die Therapieplanung entsprechend zu informieren. Die Küche allerdings hatte ihre eigenen Abläufe. Und da war ein spätes Frühstück nicht vorgesehen.

Dr. Krajkowski hatte Markmann von frühmorgendlichen Turnübungen entbunden. Viel mehr blieb ihr an jenem Morgen nicht zu tun, denn ihr lag keine Krankenakte vor, wie sie fröhlich mit unverkennbar slawischem Akzent erklärte.

»Ich kann Ihnen deswegen überhaupt gar nichts sagen«, gurrte sie und lächelte dabei, als hätte sie ihrem Patienten gerade die totale Gesundung attestiert. »Bitte kommen Sie in meine normale Sprechstunde. Dann habe ich hoffentlich die Papiere, und wir werden alles Weitere besprechen.«

Markmann hatte nur ergeben mit den Schultern gezuckt und sich davongemacht. Noch wusste er nicht, dass sich ihm nur wenig Gelegenheit bieten sollte, Dr. Vera Krajkowski zu konsultieren. Sie hielt ihre Sprechstunden dreimal pro Woche ab, montags, mittwochs und freitags jeweils von acht Uhr dreißig bis neun. Als er am Freitag pünktlich vor dem Büro der Ärztin erschien, klebte dort ein Zettel mit der handschriftlichen Mitteilung, dass Frau Doktor erkrankt sei und ihre Sprechstunden bis auf Weiteres ausfallen mussten. Die Berghain-Kliniken beschäftigten, wenn man dem farbenfrohen Hausprospekt Glauben schenken durfte, eine ganze Armada von Ärzten. Trotzdem gab es offenbar niemanden, der für Dr. Krajkowski einspringen konnte.

An diesem Morgen war er zur Atemgymnastik beordert, wollte aber vorher einen Kaffee. Auf dem Weg nach unten stoppte er vor dem Schwesternzimmer, um wie vorgeschrieben Gewicht und Blutdruck zu messen und in das entsprechende Formular seiner Krankenunterlagen einzutragen.

Während er die Manschette des Messgerätes überstreifte, trat eine seiner Mitpatientinnen aus ihrem Zimmer. Sie grüßte und verschwand durch die Tür Richtung Treppenhaus.

Er hatte gerade seine aktuellen Werte abgelesen und notiert, da wehte ihm der Luftzug der aufschwingenden Tür ins Gesicht. Die Flurgenossin kam zurück, mit vor Aufregung rot angelaufenem Gesicht.

»Wissen Sie, was da los ist? Eine Etage tiefer steht ein Polizist an der Treppe und sagt, der Weg nach unten sei versperrt. Wir sollen das Notfalltreppenhaus nehmen.«

Markmann sah auf. »Ich habe keine Ahnung. Ich bin eben erst aus meinem Zimmer gekommen.«

Er faltete eilig seinen Formularbogen zusammen, wollte selbst sehen, was vor sich ging. Im ersten Stock stand tatsächlich ein uniformierter Polizist vor kreuzweise gespanntem polizeilichen Flatterband, das den Weg nach unten versperrte.

Der Beamte hob seine Hand wie eine fleischgewordene Kelle.

»Tut mir leid. Diese Treppe ist im Moment gesperrt. Nehmen Sie bitte den Fahrstuhl oder den Weg über das Notfalltreppenhaus – zurück durch die Tür, dann den Korridor bis ganz zum Ende. Sie gehen direkt darauf zu.«

»Ich weiß, danke. Aber was ist denn passiert?«

»Ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben. Bitte haben Sie Verständnis und verlassen Sie das Treppenhaus. Sie kommen auf dem beschriebenen Weg nach unten.«

Markmann drehte sich um und stieg wieder hinauf. Seine Zimmernachbarin hatte auf ihn gewartet.

»Hat er Ihnen verraten, was da los ist?«

»Nein. Er kann angeblich nichts sagen.«

»Wie bei mir … Ob es gebrannt hat?«

»Unwahrscheinlich. Dann hätte man uns sofort aus dem Haus geholt. Gehen wir nach unten, vielleicht erfahren wir dann mehr.«

Das Notfalltreppenhaus mündete im Untergeschoss in einen breiten Korridor. Für Markmann unbekanntes Terrain. Im Vorbeigehen las er die Namensschilder an den Türen. Offenbar waren hier vor allem Sprechzimmer der Psychotherapeuten untergebracht. Es gab auch Gruppenräume und einige Türen ohne besondere Kennzeichnung. Durch eine gläserne Doppeltür gelangten sie in das Foyer im Parterre. Es wirkte unvertraut, dunkler als sonst, denn es war bevölkert mit dicht an dicht stehenden Menschen.

Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Zugang zum Treppenhaus. Einige wippten auf den Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Markmann versuchte es auch, aber die Sicht war verstellt. Zwischen zwei Köpfen gewahrte er eine Dienstmütze. Offenbar waren auch hier Polizisten im Einsatz.

Seine Begleiterin nahm ihren eigenen Weg, er selbst hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau und erkannte mitten in der Gruppe Hennes Rossrath, den munteren Kölner, mit dem er schon einige Male bei der Gruppengymnastik und beim Essen zusammengetroffen war. Vorsichtig schlängelte er sich durch die Reihen, entschuldigte sich nach rechts und links, wurde zurechtgewiesen und erntete strafende Blicke, konnte sich aber nach und nach bis zu Hennes vorarbeiten. Er klopfte seinem Bekannten auf die Schulter.

»Morgen, alter Sportsfreund«, grüßte der Kölner. Er hatte eine zugängliche und muntere Art, die bei anderen aufdringlich gewirkt hätte, aber sein freundlicher Mutterwitz und sein rheinischer Charme machten Hennes zu einem angenehmen Zeitgenossen.

»Was ist denn hier los?«, fragte Markmann. »Oben steht ein Polizist an der Treppe, und der Volksauflauf hier sieht nicht nach Walking-Gruppe aus …«

Hennes Rossrath zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht genau. Eben hat jemand erzählt, dass man einen Toten gefunden hätte. Vorhin habe ich mal jemanden in einem weißen Schutzanzug gesehen.«

»Schutzanzug? Ein Chemieunfall oder was?«

Eine Frau drehte sich zu ihnen um. »Nee, det iss keen Schemieunfall«, berlinerte sie, hörbar stolz auf ihren Kenntnisstand. »Die ham da unten ’ne tote Frau jefunden. De janze Zeit schon is’ die Polizei zujange. Man sieht nur leider nüscht.«

»Gibt’s doch nicht«, sagte Rossrath. »Was ist denn passiert?«

»Weeß ick doch nich’. Die schweigen ja wie meine Mutter sein Jrab.«

Rossrath und Markmann stellten abwechselnd Spekulationen an. In einem der Kellerräume befand sich ein Brennofen für Patienten, die in der Kreativtherapie Töpferarbeiten herstellten. Außerdem waren dort auch die Handwerker tätig, die neue Leitungen verlegten und eine moderne Brandschutzanlage installierten.

»Bestimmt ein Unfall«, vermutete Rossrath.

Markmann sah es ähnlich.

Rossrath reckte sich noch einmal in die Höhe und versuchte, einen Blick auf die abgesperrte Zone rund um das Treppenhaus zu werfen. »Da tut sich nichts«, meldete er enttäuscht. »Bringt wohl nichts, hier weiter zu warten. Außerdem habe ich Hunger. Ich ziehe dann mal ab«, sagte er. »Kommst du mit?«

»Nee … Ich gucke noch einen Moment …«

»Na, Mann, ins Leere gucken kannst du auch am Fenster im Speisesaal. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen, sage ich immer. Kannst ja nachher erzählen, ob sich hier noch was abgespielt hat.«

»Mach ich«, versprach Markmann. »Auf jeden Fall.«

»Wir sehen uns dann vielleicht beim Mittagessen.«

Rossrath schob sich seitlich durch die Reihen nach außen, Markmann wandte den Blick wieder nach vorn.

Lange Zeit tat sich nichts. Derweil kam man rundum miteinander ins Gespräch und tauschte Vermutungen über das rätselhafte Geschehen. Auch einige ziemlich bizarre Ideen drangen an Markmanns Ohr und riefen ihm ins Bewusstsein, dass er sich in Gesellschaft von Patienten mit psychischen Problemen befand.

Nach und nach verloren viele der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Harald Keller
Bildmaterialien: RikoBest/Shutterstock
Cover: keller-kultur-kommunikation
Satz: keller-kultur-kommunikation
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5460-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Elke, Karoline, Monika, Ulli und den anderen Harald.

Nächste Seite
Seite 1 /