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Kapitel 1

Seit nun mehr als drei Jahren arbeitet die 30-Jährige Mary Vega-Smith als Projektingenieurin bei Enviro-Solution. Sie übernimmt viel zu oft die Aufgaben einer Sekretärin, erhofft sich aber noch ihren großen Durchbruch durch einen ganz bestimmten Fall. Enviro-Solution arbeitet mit namhaften Anwaltskanzleien und Großkonzernen rund um den Globus zusammen und deckt Umweltsünden auf.

Es ist bereits 21Uhr und Mary sitzt noch immer an ihrem Schreibtisch. Das Licht auf der 12. Etage des Hamilton-Buildings ist bereits erlöscht, nur ihre Schreibtischlampe spendet ihr Licht beim Bearbeiten der Wontec-Akte. Wontec ist eines der größten Chemie-Technik-Unternehmen in Asien und auf der Abschussliste der Behörden. Durch eine Vielzahl von Vertuschungen sollen etliche Mengen Giftmüll in unterschiedlichen Formen in Wohngebieten entsorgt worden sein. Enviro-Solution sorgt bekanntlich dafür, dass solche Unternehmen schnellst möglich geschlossen und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Doch dieser Fall ist anders. Michael Won, Gründer von Wontec, suchte selbst den Kontakt zu Ethan Sonders, Chef von Enviro-Solution. Mr. Won vermutet eine Verschwörung gegen ihn und seine Familie und ist sich der angeblichen Giftmüllentsorgungen keiner Schuld bewusst.

Mary studiert an diesem Abend die verschiedenen Giftstoffe, die durch Bodenproben in den besagten Wohngebieten identifiziert wurden und versucht diese zu Wontec zurück zu verfolgen. Die Sache scheint eindeutig zu sein; alle Chemikalien kommen bei Wontec zum Einsatz. Doch würde Mr. Won sich ausgerechnet bei Mr. Sonders melden, dem Experten für derartige Umweltvergehen, wenn er von seiner Unschuld überzeugt wäre?

Es ist 10.30 am nächsten Tag, als sich die Tür zu Enviro-Solution öffnet. Ein Mann meldet sich am Empfang und wird um Geduld gebeten. Mary eilt zu ihm: „Hi, Sie müssen Mr. Won sein! Ich bin Mary Vega-Smith. Ich habe mich mit Ihrem Fall beschäftigt.“ – „Hallo, ja ich bin Mr. Won.“ Seine Jacke abnehmend geleitet Mary Mr. Won in den Wartebereich und bringt ihm auf Wunsch einen Kaffee. „Ich möchte Sie nicht überrumpeln, Sie warten sicher auf Mr. Sonders, aber wie erklären Sie sich denn selbst diese merkwürdige Situation bei Wontec? Ich habe mich umfassend mit Ihrem Unternehmen beschäftigt und so eine, nennen wir es doch einfach mal Katastrophe, passt dort aus meiner Sicht nicht hin. Sie und Ihr Unternehmen haben bis jetzt großartige Arbeit in der Pharmaindustrie geleistet, die Umsätze sind der Wahnsinn. Das wollen Sie bestimmt nicht durch so einen Skandal aufs Spiel setzen, aber die Beweise sind sehr ernüchternd“ – „Ich bin erfreut, dass Sie sich so für Wontec engagieren, ich hoffe Mr. Sonders tut es Ihnen gleich.“ – „Mary, belästigen Sie den Mann doch nicht, bringen Sie uns lieber einen Kaffee, aber einen richtigen, mit Koffein und ohne dieses Sojazeug, schwarz muss Kaffee sein und kräftig. Haben Sie das notiert Mary?“ Seufzend bringt Mary den Herren Kaffee und widmet sich anschließend wieder der Akte und den Untersuchungsergebnissen. Ein weiterer Mann betritt die Büroräumlichkeiten, doch Mary beachtet ihn nicht. Es handelt sich um Dr. Aaron Harms, Anwalt und Spezialist auf dem Gebiet Umweltrecht. Er meldet sich ebenso beim Empfang und wird von der Empfangsdame zu Mr. Sonders‘ Büro geleitet. „Mr. Won, darf ich vorstellen? Dr. Harms. Unser bester Anwalt“ – „Und der teuerste.“ fügt Harms lachend hinzu. Die Herren unterhalten sich angeregt über eine schnelle Lösung des Problems, sowie die Aufspürung der wahren Schuldigen. Indes steht Mary am Kopierer und beobachtet die Situation durch die Glastür von Mr. Sonders‘ Büro. „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in den nächsten Tagen die Zeit nehmen könnten, um mein Unternehmen zu besichtigen. Sie sollen sich vor Ort selbst Ihre Meinung bilden und vielleicht entdecken Sie ja bereits Hinweise, die auf meine Unschuld deuten.“ sagt Mr. Won zu Dr. Harms. „Ich werde mich bemühen das einzurichten. Mr. Sonders wird mir doch sicher eine Assistenz zur Seite stellen?“ lächelt Dr. Harms. „Wie wäre es mit der Dame, die mich so freundlich empfangen hat? Sie scheint sich sehr für den Fall zu interessieren.“ sagt Mr. Won und zeigt in Richtung des Kopierers, an dem Mary steht. In diesem Moment kommt Michelle, die Empfangsdame, zu Mary und fragt diese, ob sie kurz den Kopierer nutzen kann. Mr. Sonders und Dr. Harms schauen zur Glastür hinaus zu Michelle und sind sich einig. Michelle entspricht jeglichen Klischees von Empfangsdamen; sie ist sehr attraktiv, Mitte 20, hat langes blondes Haar und trägt einen auffällig kurzen Rock sowie hohe Schuhe. Dr. Harms ist über die Zustimmung sehr erfreut und verabschiedet sich von den beiden Herren. Beim Verlassen der Räumlichkeiten zwinkert er Michelle zu: „Wir sehen uns nächste Woche.“ Michelle schaut verdutzt und schweigt.

Nach Beendigung des Gesprächs geleitet Mr. Sonders Mr. Won aus seinem Büro. Mr. Won sucht nach Mary. Als er sie erblickt läuft er aufgeregt zu ihrem Schreibtisch, gefolgt von Mr. Sonders: „Ich freue mich, dass Sie Dr. Harms in meinem Fall unterstützen werden. Ich erwarte Sie dann nächste Woche.“ Mr. Won nimmt seine Jacke und verlässt die Räumlichkeiten. Zurück bleiben die fragenden Gesichter von Mary und Mr. Sonders.

Mary packt ihre Koffer, als ihr Mann Jonas das Schlafzimmer betritt und seine Frau irritiert fragt: „Fahren wir weg?“ – „Ich habe dir doch erzählt, dass ich morgen nach Shanghai fliege.“ sagt Mary traurig mit dem Wissen, dass Jonas es wieder vergessen hatte und fügt gekränkt hinzu: „Lass nur, ich bestelle mir morgen früh ein Taxi.“

Kapitel 2

Am nächsten Morgen steigt Mary in das Flugzeug und trifft dort nicht wissentlich auf ihren Partner für die nächsten Wochen. Schon bevor das Flugzeug abhebt kommt es zu den ersten Reibereien zwischen Mary und Dr. Harms. „Hey, auch andere Passagiere wollen noch einsteigen! Machen Sie doch mal Platz!“ fährt Mary Dr. Harms an, der mit seinem Handgepäck kämpft. „Immer mit der Ruhe, ist gleich geschafft!“ entgegnet dieser und stopft seine Tasche mit Mühe in das Gepäckfach. Mary nimmt vor ihm Platz, schnallt sich an, setzt ihre Kopfhörer auf und dreht die Musik laut. Nach dem Start versucht sie ihre Lehne mit Schwung zurück zu klappen, sehr zum Ärger von Dr. Harms, der sich beschwert. Aufgrund der Lautstärke ihrer Musik bekommt Mary davon nichts mit und versucht es immer weiter mit ihrer Lehne, die jedes mal an Dr. Harms‘ Knien anschlägt. Wütend löst dieser seinen Gurt, springt auf und reißt Mary die Kopfhörer von den Ohren. „Was ist denn mit Ihnen nicht in Ordnung? Merken Sie noch was?“ – „Schreien Sie mich nicht so an! Ich bin doch nicht taub!“ – „Ach ja? Kaum zu glauben bei Ihrem Musikgeschmack!“ – „Was geht Sie denn mein Musikgeschmack an? Lassen Sie mich bloß in Ruhe, sonst…“ – „Es ist genug!“ unterbrach sie die Stewardess. „Sie setzen sich sofort auf Ihre Plätze und halten beide den Mund, verstanden? Wir sind noch eine Weile unterwegs, also kommen Sie miteinander aus!“

Nach 17 Stunden Flug nimmt sich Mary ein Taxi und fährt zum Hotel. Nur wenige Minuten später kommt auch Dr. Harms im selben Hotel an. Nur durch einige Zufälle laufen sich die Beiden im Hotel nicht über den Weg. Mr. Won hat für den nächsten Tag 11Uhr ein Treffen vereinbart. Und wieder ist es ein Zufall, dass Mary und Dr. Harms nicht dasselbe Taxi zu dem Treffen nehmen. Dr. Harms betritt als erster den Konferenzraum und bereitet seine Unterlagen vor. Mary wird auf dem Weg dorthin von Mr. Won abgefangen und sie unterhalten sich über die Entwicklung des Falls. Beim Betreten des Konferenzraumes trifft beide beinahe der Schlag. Wortlos und angespannt stehen sich Mary und Dr. Harms gegenüber. Mr. Won versteht die Situation überhaupt nicht und scherzt: „Na das muss wohl Liebe auf den ersten Blick sein, he!“

„Was macht die denn hier?“ fragt Dr. Harms verwirrt. „Na das ist Mrs. Vega-Smith, Ihre Assistenz von Enviro-Solution.“ antwortete Mr. Won zögerlich. „Das muss doch eine Verwechslung sein.“ bemerkt Dr. Harms genervt und verdreht die Augen. Mary steht ihm noch immer wortlos gegenüber. „So nun setzen wir uns erst einmal. Ich besorge uns einen Kaffee und dann geht es los an die Arbeit.“ versucht Mr. Won die Szene aufzulockern und verlässt den Raum. „Sie sind also Doktor? Für was denn? Blödes Benehmen?“ fauchte Mary Dr. Harms an. „Ach und was können Sie, außer große Töne spucken? Reißen Sie sich bloß zusammen! Dieser Fall ist verdammt wichtig! Und ich bin nicht gewillt mit einer spät pubertären Zicke zusammen zu arbeiten!“ Das ist zu viel für Mary. Sie nimmt ihre Tasche und verlässt ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen den Raum. Die Anrufe, die sie auf dem Weg zum Hotel von Mr. Won erhält, ignoriert sie.

Wütend schlägt Mary die Tür ihres Hotelzimmers hinter sich zu und schreit in ein Kissen. Das kann doch alles nicht wahr sein, denkt sich Mary. In ihrer Handtasche sucht sie nach ihrem Handy um Jonas anzurufen. Die Zeitverschiebung ist ihr in dem Moment völlig gleich. Doch wie sie schon erwartet hat geht er nicht an sein Handy. Mary legt ihr Gesicht in ihre Hände, da klopft es plötzlich an der Tür. „Hey nun seien Sie mal nicht eingeschnappt. Machen Sie schon auf.“ ertönt die Stimme von Dr. Harms. Nach weiterem Klopfen öffnet Mary widerwillig die Tür und Dr. Harms stürmt ohne ihre Erlaubnis an ihr vorbei. „Warum verhalten Sie sich bloß so unprofessionell? Was soll denn der kleine Japaner von uns denken? Wissen Sie überhaupt, um wie viel Geld es hierbei geht? Und warum sind Sie eigentlich hier und nicht das hübsche Ding vom Empfang?“ überhäuft er sie mit Fragen. Mary schließt die Tür und setzt sich auf die Bettkante. „Es liegt vielleicht einfach nur am Jet-leg oder an den Migräneanfällen, die mich überkommen, sobald Sie Ihren Mund aufmachen. Aber dafür können Sie ja nichts. Ich muss mich ausruhen. Und der Japaner ist übrigens ein Chinese. Dr. Harms, wir sollten es morgen noch einmal versuchen. Wer weiß, vielleicht bessert sich meine Laune ganz plötzlich.“ sagt Mary in einem ironischen Unterton und öffnet Dr. Harms die Tür. „Gut, dann verbleiben wir eben so. Ich bin gespannt, was der morgige Tag bringt. Sie können mich gerne Aaron nennen. Bis morgen.“

Mary versucht nochmals Jonas zu erreichen, vergeblich. Enttäuscht über den Tag legt sie sich ein paar Stunden hin und erwacht am Nachmittag durch das Knurren ihres Magens. Nach einer belebenden Dusche setzt sie sich für eine Mahlzeit in das Hotelrestaurant, welches um diese Uhrzeit nur spärlich besucht ist. Während des Essens schaut sie zu dem Fernseher, auf dem die Nachrichten zu sehen sind. Die Sprache versteht sie nicht, doch die Bilder machen ihr Angst. Aufgeregte Menschen mit verzweifelten Gesichtern laufen schreiend die Straßen entlang. Sie isst hastig auf und geht zur Rezeption, wo sie nach Aarons Zimmernummer fragt. Während Mary im Fahrstuhl nach oben fährt klingelt ihr Handy. Es ist Jonas. Doch sie geht nicht ran.

Kapitel 3

Ungeduldig steht Mary vor Aarons Hotelzimmer und überlegt, ob sie klopft. Die Entscheidung nimmt er ihr ab und öffnet zufällig die Tür. „Gibts ein Problem?“ fragt Aaron überrascht. „Ich weiß nicht. Ich habe mir eben die Nachrichten angeschaut. Irgendwie war das unheimlich. Es schien, als seien die Menschen vor etwas geflohen. Wissen Sie was da vor sich geht? Ich möchte ja keine Panik verbreiten, aber da stimmt doch etwas nicht.“ - „Ein Unwetter zieht wohl auf, ein Sturm oder so. Nichts besonderes. Machen Sie sich mal keine Sorgen. Gibt es in der Hotelbar Bier? Bestimmt gibt es da Bier. Begleiten Sie mich zur Bar? Ist zwar noch nicht dunkel, aber im Fernseher läuft eh nichts.“

Mary begleitet Aaron zur Hotelbar. Als die beiden aus dem Aufzug steigen verdunkelt sich der Himmel schlagartig. Aaron steuert auf die Bar zu und bestellt zwei Bier, während Mary angespannt aus dem Fenster blickt. Ein Rauschen ist zu vernehmen und auch Aaron widmet nun seine Aufmerksamkeit dem Wetter. Das Rauschen wird immer lauter und wächst zu einem lautstarken Getose.

Impressum

Bildmaterialien: Cover Shanghai Tower
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2013

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