Ich stand auf der Straße und sah zum Himmel hinauf. Es sah nach Regen aus. Das war ja mal wieder typisch. Ich sah zu den Schienen hinüber, auf denen schon seit zwei Wochen keine Bahnen mehr fuhren. Es wurde überall gebaut. Nicht das mich die Erneuerung des Bahnhofes den ich jeden Tag nutzte störte, aber es wurde doch etwas unentspannt wenn die Menschenmassen, die sich normalerweise auf zwei Züge aufteilten, in zwei Busse zu quetschen versuchten. Gut, es waren bestenfalls zwei Busse, denn die Fahrgastzählung, auf der die Berechnungen für den benötigten Schienenersatzverkehr beruhten, war am Brückentag zwischen Himmelfahrt und dem Wochenende durchgeführt worden. Das bedeutete, dass sich nun Schüler aus zwei Schulen ein bis zwei Busse teilten. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, da es relativ kühl für Juni war, und sah mich nach meiner blauhaarigen Freundin um. Ich hatte extra auf sie gewartet, da wir uns schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatten.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten des Wartens konnte ich die Schülerflut erkennen, die mir die Straße hinab entgegengewogt kam. Es war nicht schwer Taras himmelblaue Mähne in der Menge auszumachen. Noch bevor ich sie zu mir rufen konnte wurde ich schon in einer halsbrecherischen Umarmung erstickt. Verdammt, wie ich sie vermisst hatte.
Sie redete wie ein Wasserfall. Über Alles und Jeden, wobei es ihr vollkommen schnuppe war, ob ich die betroffene Person überhaupt kannte oder nicht. Sie lächelte, doch ich sah die tiefen Schatten unter ihren Augen. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht da gewesen war als sie mich gebraucht hatte. Ich hatte das Land verlassen, als mir die Probleme über den Kopf gewachsen waren. Bei dem Gedanken rieb ich mir automatisch den Unterarm. Schnellstmöglich setzte ich mein, über Jahre perfektioniertes, falsches Lächeln auf und begann ihr wieder zuzuhören. Sie hatte über nichts weiter Tiefgründiges geredet. Dachte ich mir.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich der Schienenersatzverkehr. Natürlich war es nur ein Bus. Alle stürmten darauf ein und ich fand mich eingequetscht zwischen Tara und der hinteren Tür des Busses. Es waren noch nicht einmal die Hälfte der am Bahnhof befindlichen Schüler eingestiegen und das Gefährt quoll schon wortwörtlich über. Irgendwann wurde es dem Busfahrer offensichtlich zu viel, da er immer wieder versuchte die Türen zu schließen, was die Masse zurück zwang. Als der Bus dann zumachte bemerkte ich, dass es nicht nur äußerst wenige Personen hinein geschafft hatten, sondern sogar einige der vorherigen Fahrgäste hinausgedrängt worden waren. Das Resultat war, dass sich nun mehr Menschen am Bahnhof befanden als vor Ankunft des Busses. Ich konnte das Trauerspiel nicht weiter mit ansehen und hatte absolut keine Lust hier auf den nächsten überfüllten Bus zu warten. Also schnappte ich mir kurzerhand Tara und legte fest, dass wir nun ins nächste Dorf laufen und dort den Anschlusszug nehmen würden. In dem Moment in dem wir die schnatternde Menge hinter uns ließen landete der erste Regentropfen auf meiner Nase. Ich sah zu Tara hinüber die den Himmel betrachtete. "Sieht nach Regen aus", stellte sie geistreich fest. "Regnet schon", entgegnete ich knapp und deutete auf meine Nasenspitze. Sie lächelte und ich lächelte zurück und plötzlich war es wieder wie früher, als wir noch Kinder gewesen waren. Früher, als wir der Anderen absolut Alles erzählt hatten, keine Geheimnisse voreinander gehabt hatten und unzertrennlich gewesen waren. Dieses Gefühl wollte ich einfangen und gemeinsam mit dem Geruch nach Sommerregen und der Melodie unseres Lieblingsliedes in ein Marmeladenglas stecken, für schlechte Zeiten. Wir gingen schweigend nebeneinander her und genossen einfach die Gesellschaft der Anderen. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte schließlich: "Warum bist du so traurig?" Sie sah mich überrascht, fast schockiert, an. "Du hast es bemerkt?", wollte sie fast ängstlich wissen. Ich nickte nur. Es machte mir Angst wie schwach sie klang. Sie war noch nie schwach gewesen. Dicke Regentropfen prasselten auf uns hinab und vermischten sich mit den Tränen auf ihren Wangen. Ich hatte sie noch nie weinen gesehen. Sie war die Starke von uns Beiden. Sie sah auf den Boden und begann die Leere zu erklären, die ich nur zu gut kannte und die sich nun nicht nur in meinem, sondern auch im Herzen meiner besten Freundin breit gemacht hatte. Wir hatten unterschiedliche Gründe und doch war das Resultat so gleich. Der Wunsch die psychische Qual loszuwerden und schließlich der Drang die Trauer auszubluten. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Gefühle waren wie Wolken und wenn sie zu negativ wurden, dann brach ein Gewitter aus. Die Wolken wurden dunkel und mussten sich Erleichterung verschaffen. Erst waren es nur Tränen, doch manchmal wurde man durch Tränen nicht Alles los. Zu den Tränen kamen Schreie die grollen wie Donner. Vermeintlich positives erhellte die Welt kurzzeitig, wie ein Blitz, doch nach dem Blitz wurde es noch dunkler und aus dem Tränenregen wurde blutroter Hagel.
Als sie in ihrer Erzählung an diesem Punkt ankam, an dem Punkt an dem sie mir erzählte wie sie Nachts zur Rasierklinge griff, stoppte ich unseren Spaziergang abrupt ab und schob meinen Ärmel nach oben. Mit offenem Mund betrachtete Tara die kaum sichtbaren, blassen Narben die sich über meinen Unterarm zogen. Ich hatte darauf geachtet, dass es keine deutlichen Narben wurden. Ich hatte sie niemandem gezeigt. Es hatte sie niemand bemerkt. Aber nun war es an der Zeit sie zu zeigen, denn sie waren was sie waren. Narben. Sie waren ein Zeichen für Heilung. Und der Regen fiel unerbittlich. Tara starrte noch immer vollkommen fassungslos von meinem Gesicht zu meinem Arm und zurück. "Warum?", flüsterte sie. Ich zuckte mit den Schultern und schob den Ärmel wieder hinab. "Warum hab ich es nicht bemerkt?", fragte sie nun etwas lauter. Wieder zuckte ich mit den Schultern. "Du warst glücklich und ich wollte dich nicht runterziehen. Deshalb hab ich es dir nicht erzählt. Mach dir keine Vorwürfe. Niemand hat es gesehen." Es war bitter, aber es war die Wahrheit. Ich machte ihr keine Vorwürfe, ebenso, wie ich mir nun da ich glücklich war keine vorwürfe machte, obwohl es ihr nicht gut ging.
Aus einem Reflex heraus zog ich meine älteste und beste Freundin in eine Umarmung und versuchte all die guten Erinnerungen und Gefühle die ich mit ihr verband hinein zu legen. Und sie verstand es. Es war das Verständnis zweier Schwestern füreinander.
Nach diesem längst überfälligen Gespräch begannen wir in Erinnerungen zu schwelgen. Es begann zu Donnern und der Regen wurde zum Gewitter. Wir liefen einfach weiter, beleuchtet von Blitzen und angetrieben von der Aussicht auf einen wunderbaren Nachmittag und eine Freundschaft die für die Ewigkeit gemacht war.
Als wir unser Ziel erreichten war das Gewitter vorüber und Schnitte wurden zu Narben, meinem Symbol für Heilung.
Texte: Meins. Nach wahren Begebenheiten.
Bildmaterialien: Meins.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Person die du mal warst.