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Blut von Stan Carry

 

 

 Stan Carry ist ein deutscher, pensionierter Kriminalhauptkommissar. Sein Roman „Blut" spiegelt mit viel kriminalistischem Feingespür seine fast 40-jährige Diensterfahrung wider. Detailgetreu versteht er es, komplexe Zusammenhänge packend zu beschreiben und die kriminalistischen Gedankengänge eines routinierten Polizeibeamten in eine vielschichtige Geschichte zu verpacken. Ein authentischer Thriller von einem Mann, der als erfahrener Kriminalist detailverliebt aus dem inneren Zirkel der Ermittlungsbehörden berichtet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright ©2021 by Stan Carry

Alle Rechte vorbehalten

stan.carry@gmx.de

 

 

1. Auflage

Coverfoto: StockImages AT (www. istockphoto.com)

Artwork: Frank Schaub (www.frankschaub.de)

 

 

 

 

 

 

Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen lagen nicht in der Absicht des Verfassers.

Kapitel 1

 

1

 

 

Lara, mehr ein kleines Mädchen und lange noch kein Teenager, war ein Schlüsselkind und für ihr junges Leben schon überaus selbstständig. Die Kollnikovs arbeiteten beide und waren sehr stolz, ihre Tochter zur Eigenständigkeit erzogen zu haben. Aber leider war Lara nie eine begeisterte Frühaufsteherin. Im Gegenteil, den Wecker, den ihre Eltern ihr abends stellten, damit sie rechtzeitig zur Schule gehen konnte, überhörte sie viel zu oft. Sie fand einfach viel zu selten die Kraft, ihre Beine über die Bettkante zu schwingen, um sich aus den Federn zu wälzen. Heute war der erste Schultag des neuen Schuljahrs in der fünften Klasse. Das fahle Licht des nebligen Morgens schien matt durch das kleine Fenster ihres Kinderzimmers. Eine seichte Windbö von der Förde trieb die restlichen Nebelfetzen an ihrem Fenster vorbei, irgendwie gespenstisch, dachte Lara. Nicht, dass sie Angst hatte, allein in der Wohnung zu sein. Nein, Angst hatte sie nicht, aber wohler wäre ihr schon, wenn ihre Eltern zuhause wären. „Gott ist immer bei dir“, sagte ihre Mutter oft, „du brauchst nie Angst zu haben“, und streichelte dabei zärtlich ihre Wangen. Augenblicklich war sie dann mutiger, wenn sie an die Worte ihrer Mutter dachte, hatte aber jetzt wenig Zeit darüber weiter nachzudenken. Auch heute musste sie sich wieder einmal umso mehr sputen, sonst wäre wieder eine Klassenbucheintragung fällig gewesen. Zweimal schon waren die Eltern von ihrer Lehrerin einbestellt worden. Aber jedes Mal gelang es ihnen, die Probleme ihres ständigen Zuspätkommens telefonisch mit der Lehrerin abzuhandeln. Mit einem Blick zur Küchenuhr war sich Lara sicher, dass sie der Lehrerin heute keinen Grund geben würde, sich wieder bei den Eltern zu beklagen. Heute würde sie noch rechtzeitig zur Schule kommen, hoffentlich. Gewiss, das Frühstück musste wieder ausfallen, das Pausenbrot, das die Mutter ihr schon am gestrigen Abend gerichtet und in den Ranzen gelegt hatte, musste ausreichen. Als sie mit dem Schulranzen in der Hand aus dem Treppenhaus auf die Straße rannte und über die Fahrbahn eilte, übersah sie das heransausende Auto. Vom linken Kotflügel wurde sie erfasst und über die Straße gegen die Hauswand geschleudert. Blut schmeckte sie in ihrem Mund, das mit Speichel vermischt über die Wange auf den Gehsteig rann.

 

 

Kapitel 2

 

2

 

 

Immer wenn er an seine Jugend dachte, erfüllte sich sein Herz mit unbändigem Hass auf seine Zwillingsschwester und seine Eltern. Wie weit er sich auch zurück erinnerte, stets hatten seine Eltern diese Göre von Schwester mit Zuneigung und Liebe überhäuft und ihn mit Verachtung behandelt, was sich stets bis zur Unerträglichkeit steigerte, wenn dieser Fratz mal wieder kränkelte, was viel zu oft geschah. Dann war es so, als wollten die Eltern ihn dafür strafen, dass er kerngesund geboren und seine um wenige Stunden jüngere Zwillingsschwester die Geburt nur knapp überlebte.

Heute, nach seinem Medizinstudium, wusste er, seine Mutter litt in der Schwangerschaft an einer chronischen Plazentainsuffizienz, die in Russland nicht erkannt wurde. Dort gab es keine Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen. Von ihrer Leibesfrucht konnte daher nur einer der beiden Zwillinge ausreichend ernährt und mit Sauerstoff versorgt werden. Auch ihn hätte die Mangelversorgung im Mutterleib treffen können. Das Schicksal hatte sich Gott sei Dank gegen seine Schwester entschieden, c’est la vie!

Der Einsatz der maroden Gerätemedizin konnte zwar das Schlimmste bei der Geburt abwenden, aber nicht die neunmonatliche Minderversorgung mit Sauerstoff ausgleichen. Die Folge war eine schwache geistige Behinderung seiner Zwillingschwester. Als dann die Schwester im vierzehnten Lebensjahr plötzlich und unerwartend verstarb, fühlte er in seinen Lenden ein seltsames aber angenehmes Gefühl, das er bisher noch nie genossen hatte. Anderntags schlüpfte er in die Kleider seiner toten Schwester, um seinen Eltern in ihrer Trauer ein wenig Freude zu bereiten. Doch beide, Vater und Mutter, prügelten ihn windelweich. Fortan hasste er die Eltern um ein Vielfaches mehr. Er sehnte den Tag herbei, an dem er erwachsen und sich wehren, vielleicht auch Rache nehmen konnte.

In der Schulzeit merkte er dann sehr schnell, dass man durch Leistung zwar keine Zuneigung, aber Anerkennung erhalten konnte. Das Lob der Eltern bei seinen ständig guten Schulzeugnissen war ihm inzwischen aber völlig egal geworden. Im Gegenteil, diese Lobhudelei war ihm mittlerweile unerquicklich und zuwider, erinnerte er sich doch jedes Mal an die Tracht Prügel, die ihm von beiden verabreicht wurde, als er die Eltern nach dem Tode seiner Schwester zu trösten versuchte. Unbefangen seinen Eltern gegenüberzutreten, war ihm schon lange nicht mehr möglich. Die verkorkste Kindheit wog zu schwer, als dass er noch irgendwelche Gefühle für die Eltern aufbringen konnte. Schaute er in sich hinein, sah er nichts als Hass und Verachtung. Immer stärkere Mordgelüste gegen seine Eltern brodelten in ihm hoch. Es machte ihn schaudern.

Die schönste Zeit seines Lebens begann mit dem Auszug aus der elterlichen Wohnung und dem Medizinstudium in Göttingen. Seinen Kommilitonen und Korpsbrüder half er, wann immer seine Hilfe gefragt wurde, was sehr oft der Fall war. Ihm selbst schien alles zuzufliegen. Obgleich er viele Vorlesungen schwänzte, legte er seine Zwischenprüfungen immer mit Bestnoten hin. So blieb reichlich Zeit, mit seinen Korpsbrüdern um die Häuser zu ziehen und handfeste Kommersabende zu feiern und andere zu arrangieren.

Die vielen Kommilitoninnen, die um ihn buhlten, interessierten ihn nicht. Nicht eine unter ihnen, die auch nur ansatzweise seine Neugier und Interesse zu wecken in der Lage war.

Sein Doktorvater war von ihm begeistert und drängte ihn, in einigen Jahren zu habilitieren. Der Dekan wollte ihn mit allen Mitteln an der Universität halten.

Er trat ans Fenster und zog langsam die Gardine zurück und schaute gedankenverloren auf die Straße. Nein, seine Kindheit war nicht die Schönste, im Gegenteil, sie war ein Horror.

Der feine Nebel war inzwischen verweht und der Wind hatte aufgefrischt. Von Westen zogen dunkle, schwere Wolken heran. Es schien, als wollten sie seine Gemütsverfassung widerspiegeln. Es roch nach Regen. Der Sommer war nun endgültig vorbei, der Herbst kündigte sich an.

Laut quietschende Bremsgeräusche und ein dumpfer Aufprall rissen ihn aus seinen trüben Gedanken.

Der Verkehrsunfall, der sich unmittelbar unter dem Fenster seiner Wohnung ereignete, berührte ihn seltsam. Das junge Mädchen sah aus wie seine vor langer Zeit verstorbene Schwester. Die Ähnlichkeit war erschreckend. Es war von einem viel zu schnell fahrenden Auto gegen die Hauswand geschleudert worden und blutete stark. Sicher, er hätte als ausgebildeter Mediziner sofort Erste Hilfe leisten können und müssen, aber er tat es nicht. Von dem Blut, das über den Gehsteig rann, war er fasziniert. Bizarre Erinnerungen und Empfindungen stiegen wieder von seiner Lende in ihm hoch, er erinnerte sich an den Tod seiner Schwester.

Erschrocken musste er feststellen und sich eingestehen, dass es ein Lustgewinn war, das Mädchen in seinem Blut auf dem Bürgersteig leiden zu sehen. Jetzt begann er zu ahnen, wie ihn die vermurkste Kindheit und Jugend zu einem Monster hat werden lassen. Das Fensterbrett hielt er vor Anspannung festgepackt, seine Fingernägel bohrten sich ins weiche Holz.

Gleichwohl reifte langsam, ganz langsam und immer deutlicher in ihm ein Plan, ein Plan, der sein Leben in voller Fahrt auf eine Katastrophe zurasen ließ, hielte er jetzt nicht inne. Die leise Warnung aus einer entfernten Ecke seines Gehirns drang nicht zu seinem Bewusstsein durch. Auch war sein scharfer Intellekt nicht in der Lage, ihn rational handeln zu lassen oder ihn in seinem Vorhaben zu bremsen. Ohne auf seine innere Stimme zu hören, stürmte er los und polterte die Treppe hinunter auf die Straße und eilte zu dem verletzten Mädchen. Schaulustige waren nicht zu sehen und der Unfallwagen war verschwunden. Keiner schien etwas bemerkt zu haben. Der Fahrer hatte Fahrerflucht begangen. Ein glücklicher Umstand, der sein Vorhaben beflügelte und es leichter umsetzen ließ, ohne dass später Zeugen etwas zum Verschwinden der Kleinen der Polizei hätten berichten können.

Aus der Froschperspektive bemerkte Lara den großen Mann, der sich zu ihr runterbeugte und wie ein guter Samariter beruhigend auf sie einredete.

„Tut dir was weh?“ hörte sie wie aus weiter Ferne, „kannst du dich bewegen, kannst du aufstehen?“

Seltsam dachte Lara, gewöhnlich war ein Sturz beim Spielen immer mit Schmerzen verbunden. Und jetzt? Nein, Schmerzen hatte sie keine und wollte sich schon wieder aufrappeln.

Aber ihre Beine versagten. Irgendetwas hielt sie auf dem Gehsteig zurück. Übelkeit stieg in ihr hoch.

„Es wird besser sein, ich fahre mit dir kurz ins Krankenhaus“, hörte Lara noch und konnte sich den harten Griff des Mannes nicht erwehren, der sie rasch zu einem Auto trug.

„Nein nein, ich muss in die Schule, bitte“.

Dann trommelten dicke Regentropfen auf das Autodach und vermischten sich mit einem tiefen Grollen aus der Ferne. Als die ersten Blitze durch die tiefen Wolken zuckten, war Lara von einer gnädigen Ohnmacht in eine tiefschwarze Dunkelheit getaucht.

Eben noch sah er seine Schwester wie durch eine dichte Nebelwand auf dem Tisch liegen, tot und mit Blut besudelt. Ein tiefes Wohlgefühl mit einer angenehmen Wärme hatte sich seiner bemächtigt, der Hass der letzten Jahrzehnte hatte sich verflüchtigt. Endlich war sein Körper wieder in die lang vermisste Wärme getaucht. Er hatte seinen Frieden gefunden. Schön war es, die Wärme und Ruhe zu spüren, die in ihm hochstieg. Hoffentlich währte dieses Wohlgefühl immerfort.

Doch dann ebbte der Rausch, der ihn befallen hatte, ab und sein scharfer Intellekt kehrte langsam zurück. Augenblicklich roch er Blut, wo er auch hinsah, Blut, nichts als Blut.

Der Nebel um ihn herum wurde lichter und verdunstete rasch. Plötzlich sah er nicht seine tote Schwester, sondern das verletzte Schulmädchen nackt auf dem Tisch seines Ferienhauses wie auf einem Obduktionstisch liegen. Sie war tot. Schulmäßig war der Leichnam mit einem Y-Schnitt aufgebrochen. Die entnommenen Organe waren um den Leichnam drapiert. Schrecklich dieser Anblick.

In seinem Inneren machte das eben noch genossene Wohlgefühl einer Panik Platz. Was war hier in den letzten Minuten geschehen? Nein, wer hier gewütet hatte, brauchte mehr als nur Minuten, es müssen Stunden gewesen sein.

So sehr er sich auch mühte, er konnte sich an nichts erinnern. Trotz größter Anstrengung gelang es ihm nicht, die vergangenen Stunden Revue passieren zu lassen. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass ihm mehr als fünf Stunden fehlten. Fünf Stunden, die aus seinem Gedächtnis gestrichen waren. Die Dunkelheit in seinem Kopf ließ sich nicht vertreiben. Nicht das kleinste Licht, das ihn den Weg zu den heutigen Morgenstunden erkennen ließ.

Dieser Fakt machte ihm Angst. Verwirrt sah er sich um, konnte seine verhasste Schwester nirgends sehen. Nur das tote Schulmädchen ausgenommen wie nach einer Obduktion, brannte sich immer tiefer in seine Netzhaut ein.

Hinter seiner Stirn liefen die Synapsen heiß. Das Einzige, was er aus den Tiefen seiner Erinnerungen hervorkramen konnte, war der Unfall vor seinem Fenster. Diese Rückschau legte sich bleischwer auf seine Seele. Wie, wann und warum er mit dem verletzten Kind in seinem Ferienhaus gelandet war, nichts konnte er rekonstruieren.

Sein Intellekt erkannte, dass diese Frage letztlich von akademischer Natur war. Sein scharfer Verstand hatte längst zwei und zwei zusammengezählt und die blutigen Tatsachen in seinem Wochenendhaus logisch miteinander verknüpft. Das Resümee war erschreckend. War er schizophren oder vom Teufel besessen oder gar beides? Die erkannten Zusammenhänge lösten schmerzhafte Wellen aus, die seinen Körper durchfluteten. Nur noch schwach erinnerte er sich an das Wohlgefühl, das er eben noch beim vermeintlichen Anblick seiner toten Schwester verspürte und genossen hatte, es ließ sich leider nicht zurückholen. Mit schauderhaftem Entsetzen erkannte er, dass er und nur er für diese Gräueltat hier verantwortlich war. Ihm war plötzlich klar, er war ein Mörder. Hatte er gar aus Mordlust getötet, war er gar ein Lustmörder? Er wusste es nicht, konnte sich auch an seine Gefühle, die ihn während der Tat durcheilten, nicht erinnern. Seine Kniee fingen an zu zittern. Er begann zu ahnen, viel stand auf dem Spiel, seine Existenz, sein Renommee, alles war verloren, alles ging den Bach runter, geriete er auch nur in den Verdacht, für diese Untat verantwortlich zu sein. Er musste hinter sich aufräumen, mit Akribie, und das schnellstens. Blutverschmiert wie er war, setzte er sich in seinen Fernsehsessel, brachte den Sessel in die Liegeposition und überlegte, was zu tun war, um nicht nur die Spuren seiner Tat zu verwischen, nein, auch der Leichnam musste verschwinden, gänzlich vernichtet werden. Sein medizinisches und biologisches Wissen, ließen ihn sehr schnell erkennen, dass dieses Vorhaben kaum durchführbar war. Er wusste von einem befreundeten Gerichtsmediziner, der während seiner Ausbildung in Göttingen oft seine Hilfe in Anspruch nahm, wie erschreckend gut sich in den letzten Jahren die Methoden der Kriminaltechnik entwickelt und verfeinert hatten. Mit Blut besudelte Gegenstände waren quasi nicht zu reinigen. Luminol ließ Blut noch in tausendfacher Verdünnung bei Dunkelheit wie eine Biolumineszenz leuchten. Nein, sein Wochenendhaus ließ sich nicht säubern, das Blut der Kleinen würde immer nachweisbar und DNA-fähig bleiben. Und der Leichnam, wie sollte er den Leichnam beseitigen, wusste er doch, dass der nahe See auch keine Alternative bot, eine Leiche verschwinden zu lassen. Jeder Kadaver schwimmt nach einer gewissen Zeit wieder auf, wenn die Faulgase den Kadaver aufblähen und ihm genügend Auftrieb verleihen. Bei den zurzeit herrschenden Außen- und Wassertemperaturen würde jede Leiche nach fünf bis sieben Tagen wieder aufschwimmen.

Langsam, erst schwach, dann immer deutlicher zeichnete sich ein Gedanke ab, der einen Ausweg aus seiner misslichen Lage erkennen ließ. Sicher würde es sich lohnen, diesen Plan im Detail zu verfeinern. Die Kaskaden seiner Gedanken rauschten ihm erst wirr und dann immer schneller und präziser durch den Kopf. Mit zittrigen Händen zündete er sich eine Zigarette an und sog den Qualm bis in die letzten Verästelungen seiner Lunge gierig ein. Seine Brust blähte sich wie ein Blasebalg und entließ dann entspannt den Zigarettenrauch. Nach mehreren Zügen war er in der Lage, seine Gedanken zu ordnen und eine Abwehrstrategie zu planen, die ihn nicht in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen brachte. Mit eiskalter Logik durchdachte er die erforderlichen Schritte. Wenn man es geschickt anstellte, war der nahe See als nasses Grab für den Teenie doch gut geeignet, er war tief genug und nur von wenigen Anrainern bewohnt. Zwar war seine kleine Segeljolle am See bekannt, jedoch würde keiner Anstoß nehmen, wenn er mit ihr in den späten Nachmittagsstunden in den See hinausführe. Viel zu oft war er zu dieser Jahreszeit mit seinem Boot zum Angeln in die Dämmerung hinausgefahren, als dass heute bei einem Anrainer irgendein Verdacht aufkeimen würde.

Als ausgebildeter Mediziner war es ihm möglich, die Leiche fachgerecht zu zerlegen und die Teile so zu präparieren, dass sie am Seegrund für alle Ewigkeiten blieben. Die Faulgase eines jeden Kadaverstückes sollten entweichen können und durften somit den einzelnen Leichenteilen keinen Auftrieb verleihen. Präzise und enggesetzte Schnitte durch die Epidermis bis tief in das Muskelfleisch eines jeden Leichenteils waren am besten geeignet, die Faulgase entweichen zu lassen.

Sein Seesack würde den zerteilten Leichnam fassen und ließe sich auch bequem und unverdächtig zur Jolle bringen und im Kielwasser zur tiefsten Stelle des Sees schleppen. Nein, an Bord des Bootes durfte der Sack nicht. Sicher würde Blut durch das grobe Leinen sickern und noch nach Jahren im Boot nachweisbar sein. Anschließend, das sah sein Plan vor, würde er das Wochenendhaus in Brand setzen. Der Inhalt seines Reservekanisters im Auto würde die Brandstiftung beschleunigen und einen sauberen Abbrand bis auf das Fundament des Hauses garantieren. Die freiwillige Feuerwehr aus dem Nachbardorf würde nicht rechtzeitig zur Stelle sein, um noch effektiv löschen zu können. Ihre Feuerwache lag schlicht und einfach zu weit entfernt. Nur noch verkohlte oder glimmende Hölzer würde die Wehr vorfinden.

Völlig entspannt zündete er sich die zweite Zigarette an. Seine Abwehrstrategie war nun festgelegt. Die Polizei würde nichts Verdächtiges finden. Jetzt galt es, sein Vorhaben in klugen, taktischen Schritten umzusetzen.

Kapitel 3

 

3

 

 

Nun hatte er den Selenter See schon mehrere Kilometer hinter sich gelassen und fuhr mit seinem Passat-Kombi auf der B 202 mit gemächlichem Tempo nach Hause. Aus weiter Ferne sah er in der beginnenden Dämmerung nur noch den Feuerschein seines brennenden Feriendomizils. Seine Gedanken kreisten immer wieder um das grausame Geschehen. Auch jetzt konnte er sich an die eigentliche Tat nicht erinnern. Die bestialischen Folgen wurden langsam in den Hintergrund geschoben und tauchten nur noch als Marginalien aus einer fernen Vergangenheit in seinen Gedankengängen auf. Dafür wuchsen seine Sorgen, er könnte schizophren sein, ins Unermessliche. Sicher, es gab diverse Neuroleptika, die ein schizophrenes Delirium zu lindern in der Lage waren und bei stärkerer Dosierung jeden Anfall auf null bringen konnten. Die Beschaffung war kein Problem. Und für einen Mediziner schon gar nicht.

Was, wenn die Erinnerungen an seine Schwester wieder aufbrachen, wenn ihm wieder ein Mädchen über den Weg lief, das seiner Schwester ähnelte? Könnte er dann wieder in einen unkontrollierten Blutrausch verfallen und sich anschließend an nichts erinnern? Das erschien ihm als das eigentliche Problem. Ein Riesenproblem, sich an nichts erinnern zu können, hieße doch, nicht hinter sich aufräumen zu können, um tatspezifische Spuren zu vernichten. Er ließ den Wagen ausrollen und kam auf dem Schotterbankett zum Stehen. Pure Angst stieg in ihm hoch. Wieder einmal fühlte er sich als Schuljunge, als würde er von den verhassten Eltern gemaßregelt, wieder einmal war die Zeit zum Stillstand gekommen, wieder einmal bewegte sich alles in Zeitlupe, wieder einmal drangen alle Laute wie durch Watte an sein Ohr. Wieder einmal war es, als hielte die Welt den Atem an.

Ein lautes Klopfen an die Fahrerscheibe riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Ein Passant erkundigte sich sorgenvoll nach seinem Wohlbefinden und trollte sich erst von dannen, als ihm erwidert wurde, dass alles in Ordnung sei.

Der Verkehr in Kiel, fast so dicht wie zur Rushhour, ließ ihn nur langsam heimkommen. Es war nicht Angst, die in ihm hochstieg, als er die zwei Streifenwagen vor seiner Haustür sah, eher eine große Erregung mit rasenden Herzklopfen. Darauf war er aber seit frühester Kindheit trainiert. Immer dann, wenn seine Eltern ihn angifteten, war es sein Sinnen und Trachten, Gelassenheit zu demonstrieren. Im Laufe der Jahre wandelte sich die Gelassenheit in Überheblichkeit, was die Eltern noch mehr reizte und sie oft zur Weißglut anfachte.

Er stieg aus, als er die zwei Polizisten auf seinen Wagen zukommen sah. Es war nicht nötig, dass sie einen Blick ins Auto werfen konnten. Rasch ging er auf die beiden zu und fragte, ob im Haus eingebrochen worden war. „Einbruch? Nein, nein, ein kleines Mädchen wird seit den frühen Morgenstunden vermisst. Wir befragen alle Nachbarn, ob sie sachdienliche Hinweise geben können“.

„Soll das heißen, dass das Mädchen hier im Viertel gewohnt hat?“

„Ja, dort drüben ist der Schulranzen des Kindes gefunden worden“, antwortete einer der beiden Polizisten und wies auf die gegenüberliegende Hauswand.

„Haben Sie heute früh etwas Verdächtiges bemerkt?“

Schulranzen, schoss es ihm durch den Kopf, verdammt habe ich den Tornister angefasst? Er wusste es nicht mehr, konnte sich aber plötzlich daran erinnern, dass ein sintflutartiger Regenguss einsetzte, als er das Kind ins Auto trug und hoffte, dass seine Epithelien und Fingerabdrücke vom Regen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stan Carry (stan.carry@gmx.de)
Bildmaterialien: StockImages_AT (www.istockphoto.com)
Cover: FrankSchaub(www.frankschaub.de)
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9769-2

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Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen lagen nicht in der Absicht des Verfassers.

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