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Der Traum vom Kreislauf des Lebens

 

Marinella Charlotte van ten Haarlen

Der Traum vom Kreislauf des Lebens

 

 

aus der Kurzgeschichtensammlung

Der Fluss des Lebens entspringt auf dem 13. Mond von rechts

Intermediales Märchen – Erzählung Sprokie-Storie

Deutsche Ausgabe

Aus dem englischen und afrikaansen Original

Van die oorspronklike Afrikaans en Engels

Uitgawe in Afrikaans :

Die droom van die sirkel van die lewe

Een speel in 5 dade

Dieses Buch ist erschienen im kasaan media publishers

Hier die boek is gepubliseer op die kasaanmedia Uitgewers

ISBN: 978-3-96593-168-8

 

6. überarbeitete Ausgabe Mai 2021

All Copyrights by Marinella Charlotte van ten Haarlen, 1985–2021

Johannesburg, (R.S.A)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort:

 

An einem sonnigen, südafrikanischen Montagmorgen, irgendwo bei Kroonstad im Vrystaat, kam mir die Idee.

In einem Roadblock, einer befestigten Straßensperre der SAP (südafrikanischen Polizei) und der SADF (South African Defence Force).

Es entstand ein ungeplanter Zirkel von Büchern mit untereinander vernetzten Kurzgeschichten, die für das Theater gedacht waren, umgesetzt in Erzählungen, die ich nun in diesem und den folgenden Bänden publiziere.

Es waren die Tage der erbärmlichen Diktatur einer zynischen Klasse, nicht etwa der weißen Rasse.

Ich war sprachlos, lautlos geworden.

Ein Leben bedeutete nichts mehr.

Nur noch wenig, auf beiden Seiten der verzweifelt kämpfenden Südafrikaner.

Geprägt von außen und von innen, durch unsägliche Barbarei, perversen Hass, von unerfüllten Hoffnungen auf eine bessere, erträglichere Zukunft entfloh ich in eine Welt, die ich mir selbst gestaltete, schuf, weil ich die, die real war, nicht mehr ertrug.

Nicht mehr ertragen wollte.

Im Laufe der vielen, folgenden Jahre verstand ich die politische Augenwischerei derer, die versuchten uns für ihre Zwecke zu ändern, zu formen. Die, die sich die Regierenden nannten und nennen.

Von Zeit zu Zeit entfloh ich wieder in mein Refugium.

In die andere, in die selbst geschaffene, nicht existente Welt.

Die herrschenden Klassen auf diesem unserem einen Planeten entpuppten sich mehr und mehr als die Klasse der rücksichtslosen Gewinner; wir, die Völker der Erde, gewannen nur die Nachsicht.

Nicht das erhoffte, so sehr erstrebte Glück.

Dieses Buch widme ich besonderen Menschen.

Allen, die gegen die Diktatur Dr. jur. Pieter Willem Bothas und seiner verächtlichen Mitstreiter kämpften. Daran ihr Leben ließen, die Listen sind unvorstellbar lang. Erschreckend lang. Auf der Seite der Opfer, die Listen der Täter sind länger.

Ihnen wurde vergeben.

Gott schütze Südafrika und sein wundervolles Volk.

An erster Stelle, meinem Gefühl nach, für all die Hilfe, die sie mir in der unmittelbaren Realisation meines Traumes gaben:

Für das, was man mit Geld nicht bezahlen kann. Für unsere Ideale, die wir erhofften, aber im Leben niemals erreichen konnten. Vielleicht erlauben wir uns zu träumen von dieser, ach so besseren Welt.

Für A.A., J.F.: so ruhig in Hektik zu bleiben, verdient großen Respekt.

Für G.M. 1990: eine Kuh und der auf der Strecke gebliebene Traum von dem bisschen Glück des Lebens.

Für K.S.: Die Tage im Jahr 1995 blieben mir unvergessen, auch wenn das Leben einen anderen Weg ging. Gehen sollte.

Ich träumte, träume weiter.

Die Autorin

Johannesburg, Transvaal, 2021

 

Musikliste zum Buch:

Roy OrbisonIn dreams, Sam Cooke – You send me, Bobby Goldsboro – See the funny little Clown, Monty PythonAlways look on the bright side of life, Glenn Miller – St. Louis Blues March, Süddeutsches Salonorchester – In einer Pagoda, Beach Boys – Surfin' Safari, Electric Light Orchestra Livin' Thing, Coon Sander's Nighthawks What a girl, what a night, Electric Light Orchestra – Telefone line, André Rieu Wiener Blut, André Rieu Tritsch Tratsch Polka, Supremes Where did our love go?, Roberta Flack Killing me softly with his song, Frank Sinatra Love is the tender trap, Beatles Do you want to know a secret, BeatlesIn my life, BeatlesIf I fell, Scott Mc- KenzieSan Francisco, Janis Joplin Me and Bobby McGee, Doors Light my fire, Rudolf Schock Dein ist mein ganzes Herz, Rigoletto La donna è mobile, Paul PottsNessum dorma, Julie London I left my heart in San Francisco, Julie London Perfidia, Belle BakerBlue Moon, Bobby DarinBeyond the Sea, Andy Williams Can't take my eyes off you, Hair Aquarius, Ted Weems – You're the cream in my coffee, Puhdys Alt wie ein Baum, Johannes R. Becher, Hanns Eisler Auferstanden aus Ruinen, Heino Schwarzbraun ist die Haselnuss, Lale Andersen Lilli Marleen, Ernst Mosch Erzherzog Albrecht Marsch, Teddy Stauffer Did I remember, Beatles She loves you, Beatles The long and winding road, Sam Cooke – Twisting the night away, Dooley WilsonsAs time goes by, Bobby Rydell Volare, Carrie Koo Mei Bengawan Solo, Carrie Koo MeiWhen we were young, Carrie Koo MeiDreams, Judy Garland Somewhere over the rainbow, Ritchi Valens We belong together

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Irgendwann, irgendwo in der fernen, doch so nahen Zukunft, sofern es diese gab oder geben sollte

 

Etwas, ein wahrlich vertrautes, geläufiges Geräusch, weckte mich.

Blechern schepperte es, knallte dazu geräuschvoll. Monoton. Stupide, immer wieder. Wie die mächtigen Schritte eines unbekannten, gefürchteten Riesen, der auf einer glatt polierten, ebenen Fläche lief, langsam schritt.

Träge, unsicher drehte, wand ich mich. Öffnete, blinzelte mit meinen tränenden, verweinten Augen.

Die vielseitige, körperangepasste Gasmatratze rauschte, pfiff ein wenig, zischte hernach. Die veralteten, sicherlich verschmutzten Elektronikinduktoren luden die von mir am Vorabend gewünschte, eingestellte Wärme wieder auf.

Noch leicht benommen, verschlafen rief ich laut, krächzte heiser dabei:

„Licht! Helles Licht!“

Der automatische Halogenprozessor im Schlafzimmer reagierte gewöhnlich erst beim zweiten Anruf.

Das über mehr als eine Dekade gebräuchliche, hoffnungslos veraltete System war während der letzten, vergangenen Nacht heruntergefahren.

Natürlich auch, um die biotechnische, statische Flüssigkeit in der aus modifizierten, gestylten Genen bestehenden Adaptionsnervenknoten einer programmgemäßen Reinigung und konformen Wartung zu unterwerfen.

Schließlich piepste, klimperte es schrill, gleich mehrfach hintereinander.

Die noch nach Jahrzehnten des täglichen Gebrauchs befindliche, meinen kleinen Geist faszinierende Neonkristalltapete an der gestreckten, jedoch gleitend konvex verlaufenden Außenwand sprang an. Flackerte, züngelte elektronisch, regelte sich. Zunächst verschiedenfarbig.

Blau-weiß-rot-gold.

Dazu ein geheimnisvolles, wahrlich beruhigendes Indigo. Verschwamm in Sekundenbruchteilen mit einem leuchtenden, aufdringlichen Karmin, um dann in einem fast gleißenden, reinen Weiß zu enden. Alles rahmte sich innerhalb der vorgegebenen Konstanten von einem gezeichneten, verschnörkelten, geschwungenen, eigenartigen gelblichen Silberton ein. Dieser wärmte mich nachhaltig, erregte mich zugleich ungemein sexuell. Das war natürlich ausdrücklich erwünscht. Von mir!

Was war ein Mensch, eine Frau ohne flammende, drängende Sexualität? Ohne die gelebte Körperlichkeit des eigenen, des schüchternen Begehrens.

Und ohne die nötige, lebenslang unstillbare Gier gerade danach.

In gewollter, temporärer Zeitlupe wechselten die vielen, spitzen und runden Kristalle in der markanten, wellenden, wogenden Struktur der wohl einmaligen Wanddekoration. Bildeten verschieden zyklopische, wie verzaubernde, zarte Sternbilder in dem dichten, schwadigen, transparenten Neon, innerhalb der sich erneut verbindenden, fantasiebezogenen Gestaltung der elektronischen Tapete.

Einzelne, paarweise und zusammenhängende Prismen, Kreise, Ovale, Rechtecke, die sich zu symbolischen Dreiecken, absonderlichen Quadraten formten. Ineinanderflossen, voneinander trennten, sich wieder in neue unvermutete Farben vereinten und seltsam anzusehende Anordnungen kollektivierten.

„Guten Morgen! Heute ist der 21. Dezember 2108. Es ist 4.43 Uhr südwestafrikanischer Standardzeit. Die gemessene Außentemperatur beträgt 29,8 Grad Celsius. Die derzeitige Luftfeuchte liegt bei 91,8 %. Die UV- Strahlung bei 71, 4 % der Gefahrenskala nach Jerrett.“

Es knackte. Wieder und wieder. Lauter und lauter. Das monotone, ewig sich wiederholende Geräusch war mir noch von den Tagen, Wochen, Jahren zuvor geläufig.

Meine persönliche, über mehr als ein Jahrhundert erstellte Hitparade spielte auf, für diesen, einen weiteren reumütigen Tag. Nach Roy Orbison´s „In Dreams“ lauschte ich andächtig Sam Cooke´s „You Send Me”, tief versunken in meine Gedanken, meine gelebten Erinnerungen.

Diese geliebte Musik machte mich systematisch melancholisch. Jedoch zu der sentimentalen Stimmung, die mich urplötzlich und recht unvorbereitet beschlich, erfasste, war es der passende depressive Auftakt.

War es doch nicht besser als die letzten Tage zuvor. Wie die davor, die ungezählten Wochen, die endlosen Monate, die vielen vergangenen, verdrängten Jahre.

Die grenzenlose, körperlich und seelisch ermattende, lähmende Schwüle begann erneut. Wie in einem nicht enden wollenden trägen Kreislauf.

Wie in einem kochenden, überquellenden Topf ließ diese noch nicht einmal in den kurzen, quälenden Nachtstunden nach. Es bereitete mir zunehmend schwere gesundheitliche, bedenkliche Probleme.

Die freundliche, schnarrende, männliche Stimme vermeldete noch einige Temperaturen aus den umliegenden Städten:

Neo-Windhoek: 42 Grad Celsius, die waren nicht besser dran, eher schlechter, kam mir so in den Sinn.

Ich lächelte verloren, vielleicht bloß schadenfroh. Zog die weinrote, gesteppte Algenfaserdecke nochmals über mich. Rekelte, lümmelte mich regelrecht wohlig unter ihr. Frönte einem der wenigen, verbliebenen Vergnügen, die ich noch empfand. Empfinden konnte.

In Mariental-Metropolis durften geschätzte fünf Millionen Menschen, so genau wusste das niemand, wollte es gar erkennen, bei fast 60 Grad Celsius in den gelb-tönernen, pyramidenförmigen, ovalen, kreiselnden Trabantensiedlungen, geeigneten Schutz vor der sengenden Himmelsglut suchen. Schwitzten, hungerten und dürsteten. Darbten. Marterten sich. Vegetierten.

In der wild zusammengewürfelten Siedlung gab fast kein frisches, sauberes Wasser mehr. Alles regenerierte, synthetisierte sich aus energieaufwendigen Luftentfeuchtern. Wer es sich leisten konnte, vermochte in sehr großem, angenehmem Luxus zu leben.

Sonst waren die einzigen, noch im Überfluss vorhandenen Ernährungsquellen ausgemachte monströse, längst verbotene dicke, nackte, schalenlose Zuchtwürmer, deren einzelne, exakt strukturierte Glieder genetisch gezogen 1,6 kg wogen.

Drei Wochen, 21 Tage und Nächte, von der lieblosen Befruchtung bis zur maschinellen Reifung, der grausamen Schlachtung des abnormen, gefühllosen, toten, aber doch lebendigen, von den Händlern des Monopols angepriesenen Tieres.

Es schrie, zuckte und pfiff, röchelte bei diesem martialischen, maschinellen Prozess. Gewiefte Vererbungsforscher steigerten, potenzierten die absurde Genese der vielen Millionen Eier, die ein geschlechtsreifes Tier ohne eigentliches Geschlecht nach schon drei Tagen legte.

Wie benützte, überdehnte Fahrradschläuche, prall, bis zum Platzen aufgepumpt, wuchsen diese bizarren, künstlichen Wesen schnell auf, bis zu 160 kg, obwohl die bekannte, hinlänglich erforschte Nahrungskette etliche Seuchen, wie das immer tödlich verlaufende, ja raffende Pilonenfieber, übertrugen. Doch erlaubten die gleichgültigen, territorialen Behörden durch konstantes Stillhalten, normales Wegsehen allseits um sich greifende, verleugnete Korruption, die unwürdige Zucht auf engen, speziellen Reifungsmatten, auf denen sich die Wesen eng drängten. In tiefen, unergründlichen Becken, ungeheuer wirkenden, unterirdischen Seen gediehen diese Würmer, fraßen sich gegenseitig, ihre eigene Art gierig, sonst kultiviert, versorgt mit salzigem, sandigem, steinigem Futter. Ohne nahrhafte Substanz. Selbst für diese Spezies war der Koeffizient nachhaltig mit außergewöhnlichen Gewinnmaximalen berechnet worden.

Tote, rußende Teerbäume hausten in abstruser, unvermuteter Symbiose mit wandelnden, spitzzahnigen Hyänensträuchern zusammen, die sich zur geschickten Tarnung verfärbten und bei den unzähligen Opfern mittels eines weit wirkenden, gelblichen Pulvers Halluzinationen auslösten. Diese seltsamen, immer braunen, in der Blütezeit schwarzen, fein verästelten Gewächse, ein hinterhältiges Kampfmittel aus dem Ersten Genkrieg, gaukelten dem sicheren Fang einen wundervollen, abnormen Traum vor, der mit dem Tod und dem Verzehr der Bedauernswerten endete. Diese unnatürlichen, destruktiven Lebensformen breiteten sich immer weiter aus. Dienten den mutigen Bewohnern aber als günstiges, willkommenes Rauschmittel, machten die Ernte der vermeintlichen Gewürzpflanze besonders profitabel. Eine militärische Züchtung aus dem frühen 21. Jahrhundert machte die gierigen, rohen Dealer über Nacht reich.

Wiegende Regenbogenstämme, natürlich gewachsen an Land, weiter existierende, schwarzblaue, reflektierende Korallenbänke mutierten zu atmenden, schnell kriechenden Muscheln über Wasser, über an Land liegenden, folgenden Sandkämmen. Diese Tiere waren von einer unglaublichen, immer tödlich verlaufenden Gefährlichkeit beseelt.

Die einst so wunderbare, unbeschreiblich schöne Welt begann ausnahmslos feindlich, aggressiv zu werden. Quicklebendige, sich zu voluminösen Ballons aufblasende Seeanemonen verfärbten ihre Spuren eisenrostrot, kreuzten sich mit wildem, wie Rotoren federleicht durch die Luft zirkulierendem Rhabarber, wuchsen zunächst zu regelrechten, standortflexiblen Stämmen heran.

Ein wandernder Monourwald dehnte sich wie eine krüppelige Wolke vor dem vulkanischen, wohlig warmen, hitzebedürftigen Gipfel, dem steinernen Kegel aus. Das zähe, wie Kohle an der Oberfläche pulverisierte, staubende Harz versprach in minimalen, fast unsichtbaren Mengen einen monatelangen, schweren Rausch in den verbliebenen sogenannten Trinkhöhlen. Schmutzige, nach zähem, süßem Eiter und faulig modernden Exkrementen weithin riechende Plätze, an denen wilde, schier unfassbare Exzesse stattfanden. Immer neu erfunden wurden. Meistens verdursteten die Süchtigen, die geschickten, über alle Gesetze erhabenen Drogenschieber richteten ständig neue Felder ein, die innerhalb von Stunden wunderschön anzusehen blühten, gediehen. Nach der reichen, gewinnträchtigen Ernte zogen sie weiter, diese menschlichen, diese verkommenen, nackten Erdratten. Tausende der verzweifelten, soziologisch entarteten Süchtigen verkamen in der glühenden, erbarmungslosen Hitze der ausgedehnten, nicht enden wollenden Wüste, vertrockneten zu sandigen, welken, faltenreichen Mumien, zu mahnenden Denkmälern der destabilisierten Kultur des gemeinen, aber geduldeten Rausches.

Um möglichst viel zu verdienen, gierigen, steten Profit, an dem grausamen Ende derer zu realisieren, aber auch dabei das finale, sichtlich genossene Erlebnis des Todes zu kultivieren, versprachen die kriminellen, recht gewissenlosen Betreiber dieser täglich an anderen Orten verkaufenden, sehr mobilen Plantagen, dass die letale Droge jegliche Form des möglichen, natürlichen Alterns verhinderte, ja gar bekämpfte, umkehrte. In minimalen, homöopathischen Dosen, tagtäglich eingenommen, machte dieses verrückte Kraut auch für einige Zeit besonders schön, attraktiv. Die hauptsächlich weibliche Klientel entwickelte, je nach emphatischen Gedanken, ein körper-eigenes, sehr individuelles Parfüm, das sich zu einem penetranten, fauligen Gestank potenzierte. Das Manourkraut bediente, weckte die angeborene Eitelkeit einzelner Lebender, so vieler, die aber, dann nach anfänglicher, deutlich sichtbarer Umkehrung des fortschreitenden Altersprozesses, bei lebendigem Leibe austrockneten. Auf Dauer, nach ein paar Wochen, siechten die vielen Opfer, starben qualvoll an völliger Dehydration. Unheilbar krank, innerlich buchstäblich zerfressen. Entleibt. Ganze Gliedmaßen mumifizierten, das Antlitz verkam zu einer starren, trockenen Maske, wie die eines konservierten Pharaos aus dem alten, längst vergangenen Ägypten.

Es gab junge und alte Frauen, geplagt von verzehrendem, quälendem Liebeskummer oder nagender, entwaffnender Perspektivlosigkeit, inmitten der Hilflosigkeit des totalitären Systems, die sich in der wandernden Selbstmordbar zur altägyptischen Mumie schmücken und töten ließen.

Freudig den nahen, schleichenden, jedoch gewollten Tod begrüßten, diesen im Allgemeinen als willkommene, ersehnte Erlösung sahen. Wie mit einem schon entrückten, verzückten Jauchzen, lustvollen Stöhnen, inmitten der anderen Gleichgesinnten, den synthetischen „Final Shot“ der Designerdrogen in sich, gierig hineinschlangen, die in ungeahnter Windeseile den menschlichen Körper völlig auflösten. Zum Schluss tanzten sie motivlos, ihre knöchernen Arme, Beine zerstoben, letztlich der Körper zu Asche, zu schwarzem Staub, wie auf einem bizarren, verwirrenden Maskenball. Proklamierten die Opfer dieser absonderlichen Prozessionen im tiefen Rausch des letzten Wahns, das eigene unerhebliche, vorgegaukelte Königreich, lauschten dazu Bobby Goldsboro, einem Sänger aus dem vorvergangenen Jahrhundert, zynischerweise am liebsten – „See the funny little Clown“–, während sie langsam selig dahinglitten. Wohin auch immer.

Kleine, leichte, schwebende Sandboote, sogenannte „EMPA Vorstadtmulis“, ritten über die steil abfallenden, aufwirbelnden Wellenkämme der schroffen, unübersichtlichen Wüstenküste, deren Dünen wie die ausgenommene Kunst einer vergessenen Kultur wirkten. Durch Wind, Sturm und Sand geprägte, wellenartige Kreise. Das offene, unübersichtliche Gelände war unkontrollierbar geworden. Hinter jedem dieser versandeten Objekte stand zu befürchten, dass sich die schnell operierenden, professionell agierenden Umweltterroristen verbargen. Tarnten. Auf dem länger und länger werdenden Pfad der Mumien. Tausende, gar Millionen lagen, ruhten da, dort, hier. Charakteristische Symbole der heillosen, unvermeidbaren Flucht aus aller Herren Länder, ins Nichts der erbarmungslos gewordenen Geschichte.

Zahllose verzagte, sicher hoffnungslose, überlebende Flüchtlinge hausten dort, in der buchstäblichen Mitte des ausgemachten Nirgendwo, mit hemmungslosen Schmugglern, die reich bestückt mit allen verfügbaren Waren aus der ganzen Welt, landauf, landab, ersprießliche, einträgliche Geschäfte machten.

Vegetierten in den sagenumwobenen Ruinen der verlassenen, unheimlichen Doppelhelix-Klöster, die, wie hügelige, bergige, wie menschliche Ameisenhaufen angelegt, dunkle, von kraterähnlichen, ungeordneten Gräben durchzogene Kammern beinhalteten.

Vor Jahren gruben, scharrten diese verbliebenen, mutmaßlichen Mönche eine klaglose, undurchsichtige Bruderschaft in den widernatürlichen, unheimlichen Höhlen, die von gigantischen, breiten, fluoreszierenden, blauen und rostroten Wänden in hallenförmiger Struktur, säulenartigen Kavernen, in denen uralter, evolutionärer Schachtelhalm und alles begrünende Mooswälder existierten, umgeben waren.

Diese wohl duftenden, verzückenden Wälder, wie ein letzter sichtbarer, wirklicher Goldschatz, wurden unter Mühen eingeschlagen. Zwischen unterirdischen Seen, reißenden Flüssen, sprudelnden Wasserfällen, wandernden Bergen und Bächen sammelten sie das leichte, dünne Holz, errichteten regelrechte Sägewerke, um das im Holz enthaltene rosa-flüssige Harz zu gewinnen. Die wie dereinst goldgelbe Bananen gebogenen, kümmerlichen Zapfen dieser ungewöhnlichen Pflanze waren essbar und sehr nahrhaft, wenn auch nicht schmackhaft.

Vormals lebten Tausende von Menschen in den sich ziehenden, unterirdischen Gängen, sammelten den umfassenden, faulenden Müll einer untergehenden Zivilisation in speziellen, eigens dafür errichteten Lagerräumen. Die bizarr ineinander verschlungenen Reste von ganzen Schiffen, angespülten Wrackteilen, die zerlegt, zerkleinert wurden, verarbeitet und wieder zu Rohstoffen zurückverwandelt, zu künstlerischen, gewundenen Gegenständen und zur weiteren, inneren Einrichtung der Konkaven präpariert wurden.

Zunächst bemerkte niemand die ständig wachsenden Hügel, bis diese von einem Tag auf den anderen förmlich in aller Munde waren.

 

Riesige Trümmer wurden in der Nähe von Mariental-Metropolis angespült, angeschwemmt. Zahlreiche diffuse, nicht zu widerlegende Heldensagen und über Jahre gewobene Legenden begleiteten das im Volksmund getaufte Geisterschiff in einen jeden Hafen. Treibende Unmengen an Müll, Unrat folgten immer wieder in dem braunen, verdorbenen Kielwasser.

Das beobachteten die mit dem destruktiven Abbau eines merkwürdigen Schiffes Beauftragten, erzählten sich die Leute, wollten sich es aber nicht nehmen lassen, ihre eigene ungestillte, natürliche Neugier zu befriedigen. Die Bewohner mochten die suspekten Mönche gewiss nicht, lynchten gar einige derer, stellten sie auf moderne, elektrische, wohlig zischende Scheiterhaufen nach der grausamen, hochnotpeinlichen Folterung, trällerten die zahlreichen, gut bezahlten Folterknechte das Generationen überdauernde Lied der selbst ernannten Henkersgilde „Always Look On The Bright Side of Life“ dabei.

Irgendwann in diesen trüben, tristen Zeiten vernahmen wir dann aber von einer außerordentlichen, unterirdischen Kirche, in der hochheilige Gottesdienste auf schaukelnden, auf dem Wasser schlingernden Booten inmitten eines grün-bläulich schimmernden Kristallsees stattfanden. Einem aus Millionen von leuchtenden, funkelnden Steinen gewachsenem Kreuz, aus dem auch mehr und mehr der geschundene Körper des allgemein als wiederkommender Erlöser verstandenen Jesus am Kreuz wie modelliert entsprang. Zweifelsohne wurde dieses gestreute, aber inhaltliche Gerücht als unverhohlenes Wunder des sonst so öden, tragischen Momentes empfunden.

 

Der Anfang der Odyssee der „Environmental Peace“

 

Aber noch etwas Unsagbares gesellte sich plötzlich dazu: Ganz überraschend und ohne jedwede Vorwarnung dümpelte das unsagbare Schicksal der lange vermissten „Environmental Peace“ vor den trüben, verwitterten Gestaden. Über dieses dereinst der staunenden, konstatierten Öffentlichkeit vorgestellte, unvermutete, schwimmende Luxusrefugium für Reiche und Superreiche gab es in den vergangenen Jahren zuvor die seltsamsten Nachrichten oder gruseligsten Gerüchte. Die mit großen zelebrierten, krachledernen Paraden des berühmten, durch alle unterspülten, des mit hohen Sandsackbarrikaden geschützten New Yorks hallenden „St. Louis Blues March“.

Die, die sich diese extravagante Tour leisten konnten, flohen vor den drohenden, täglich zu befürchtenden Umweltkatastrophen im Jahr 2020. Von allen winkenden, jubelnden Zuschauern an der gestreckten Hafenmole damals beneidet, stach die schwimmende Stadt in See. Zweifellos erinnerte es an die Abreise der Titanic ein Jahrhundert zuvor. Kreuzte in ovalen, elliptischen Bahnen durch das noch offene Meer. Eine diffizile Automatik nützte die ab 2025 unberechenbaren, ständig wechselnden Strömungen aus, zweifelsohne ein bemerkenswertes Wunderwerk der modernen Erfinderkunst. Der seiner Zeit weit vorauseilenden Technik. Nur der schuldbeladene Mensch und seine altbekannten Fehler führten zu dem, was dann folgte:

Das robuste, noch intaktes Kamerasystem des nautischen Logbuchs gab uns Jahrzehnte danach erschöpfende Auskunft über den langsamen, aber stetigen sozialen Verfall. Zu diesem selbst inszenierten Untergang spielte das automatische, elektronische Salonorchester an Bord auf. Danach breitete sich der beginnende schleichende Tod über das ganze Refugium, dieses runde, ungemein fortschrittliche, aber immer mehr sinkende Schiff aus.

Einst fanden sich etwa 4000 Superreiche zusammen, denen es an nichts mangelte. Die sich vehement, aber angenehm die energiefressende Langeweile nach dem völligen, endlichen Zusammenbruch der internationalen Märkte, aller Währungen, aller Staatssysteme, die Zeit vertrieben. Mit allerlei von abartigen Animateuren entwickelten Perversitäten unvorstellbarer Art versüßten.

Der letzte Schrei der ersten in dem stadiongroßen Ballsaal gefeierten Festlichkeit zu Weihnachten 2020, drei Monate nach Ablegen der „Environmental Peace“, war das lang erwartete, prickelnde Erlebnis des tausendfachen, sichtlich genossenen, lustvollen Gruppensexes zwischen aus Genfleisch geformten Mutanten, hergestellten, gepressten Truthähnen. Auf schiefen Tischen, zwischen laufenden, halb nackten, deliziösen Kunstkaviar jonglierenden Kellnern und entblößt tanzenden Gendienern.

Diese kamen aus meiner ehemaligen, zurückgelassenen Heimat. Meinem doch so fernen Geburtsland. Ehemalige Arbeitslose, Willenlose, die man mittels einer verordneten medizinischen Therapie ihrer eigenen, von der damaligen, rücksichtslosen Parteien-Politik als überflüssig bedachten Identität beraubte.

Wie billige, anspruchslose Sklaven, jämmerliche, von der eigenen Gesellschaft verspottete Leibeigene zeigten sie sich willens, wie mechanisch, automatisch, wie vorgesehen, diese, jegliche oder andere niedere Dienste, beschämende, schlicht erniedrigende Arbeiten auszuführen.

Für eine schimmelige, faulige Scheibe Brot ließen sie sich seelisch vergewaltigen, dabei lächelten sie noch, bedankten sich überschwänglich. Diese besagte, grausame Schmerzen verursachende, sogenannte Mitwirkungstherapie – niemand wusste, wie diese vonstattenging – ermöglichte dem riesigen Tross der „Verächter“, sich endlich wieder die schwarzen Lacklederschuhe glänzend lecken zu lassen.

Bis sie schließlich, da sie durch die Gentherapie keinerlei Hunger oder Anspruch verdienten, tot umfielen. Weggeworfen wurden, von der Gesellschaft oder dem prahlenden, an den Menschen vollkommen desinteressierten Politvolk, die sich in eitle Grabenkämpfe miteinander, gegeneinander, untereinander verstrickten.

Der perfide, abartige Grundgedanke stammte aus einem verachtenswerten, von boshaften Zynikern konstruierten Gesetz, das zur Jahrtausendwende, mir war nicht mehr genau erinnerlich, wann, geschaffen wurde, um den Krieg im fernen Orient am nun mittlerweile auch zerstörten Khaiberpass zu finanzieren.

Irgendwann begann die damalige Bundesrepublik Deutschland, weil sie fürchtete, machtpolitisch ein absolutes Vakuum, ein ständiger Herd der moralischen Unruhe zu werden, diese eigens für diese Ziele geschaffene untere Klasse schlicht zu verkaufen, um den maroden, Jahrzehnte heruntergewirtschafteten Staatshaushalt für das weitere Wohlergehen der politischen Streiter zu sanieren.

Über geschäftige Agenturen, die natürlich wertloses Geld dafür erhielten, als Obolus.

„Made in Germany“ gewann in diesen Tagen eine ganz neue Bedeutung.

Eine bestialische Orgie der perversen Dezennien zuvor vorgelebten Dekadenz einer etablierten Finanzkleriker-Kaste und deren wahnhafte Vorstellungen der ewigen Milch der geschlachteten Kuh.

Überall herrschte auf der „Environmental Peace“ von Anfang an eine sehr greifbare und dichte Weltuntergangsstimmung. Tanzende, durch ständige Relaxantien mechanisierte Frauen, die sich schlaff zu „In einer Pagoda“ wie unweigerlich bewegten, synchron, vollkommen, jedoch gewollt entrückt.

Gepaart mit unsäglicher und kaum kontrollierbarer Aggression, gipfelte das kollektive Entkommen schnell in einem blutigen Streit, einer eskalierenden Fehde zwischen sich bildenden Grüppchen ehemaliger Manager, verlorener Politikergenerationen, deren sämtlich mitreisendem Hofstaat.

Anfang 2026 berichtete, zunächst nicht glaubhaft, weil das Vorgetragene nicht vorstellbar, schlicht unfassbar war, eine junge Frau aus Irland darüber.

Sie, die dralle Rotblonde, mit aufregender, praller Figur ausgestattete Mätresse, eines von der realitätsfremden Justiz, wie viele andere, die auf dem Schiff ihre Heimat gefunden hatten, gesuchten Boniclub-Reisenden. Als er ihrer überdrüssig geworden war, wurde die Irin einfach von mehreren starken Männern in einer Nacht, anweisungsgemäß, von Bord geworfen.

Die weitere, vorab sehr undurchsichtige Errettung dieser ewig plappernden, auf den Monitoren ständig erscheinenden Empörten verschlug selbst eingefleischten Befürwortern solcher losen, sexuellen Verhältnisse den sarkastisch ausgelächelten Atem.

Auf einer zauberhaft bewachsenen, immergrünen Vulkaninsel im ehemaligen Südpazifik gesichtet, auf die sie sich mit letzten, kraftlosen Schwimmzügen, nach tagelangem Treiben im wogenden Meer retten konnte, nahm sie die „Jennifer“, ein kleines Forschungsschiff, an Bord.

Da tauchten unverzüglich die ersten, wenn auch noch geraunten Gerüchte auf, die durchaus gerechtfertigte Rede vom empörenden Kadavertourismus. Das nachmittägliche, voyeuristische, durchaus schnell langweilende Beobachten, nahe der verlassenen, entvölkerten Häfen von der in leichtes, verziertes Kristall gefassten Aussichtslounge aus. Der zum Schluss den qualvollen Tod von Tausenden in den brennenden, von bürgerkriegsähnlichen Zuständen geschüttelten Regionen zum absoluten Amüsement der Reichen verkommen ließ. Ein besonderes Vergnügen stellte in den ersten Monaten der Reise das Tsunamiwellenreiten mit dem ganzen Schiff dar. Zu meinem schieren Entsetzen spielte das 1962 von der Band die Beach Boys gesungene „Surfin' Safari“ auf, während das Schiff in den tosenden Fluten zu sinken drohte.

Die totale, entsetzliche Perspektive vom bequemen Schiff aus erlaubte die automatische Verwendung digitaler Prismengläser zur Vergrößerung der sich offenbarenden Katastrophe. Das grausige Absaufen ganzer Städte, ganzer, alter Kulturen unter dem in festliche Garderobe gewandeten, johlenden, wettenden Publikum zu zelebrieren. Dazu grölten die Passagiere ein Lied des altertümlichen Electric Light Orchestras „Livin' Thing“, freuten sich, schlossen schnell noch ein paar Wetten ab, auf den martialischen Tod, auf das voyeuristisch genossene Leid, applaudierten wie in einem gut besuchten Theater nach einer gelungenen Premiere.

Ein paar Familien versuchten mit einer selbst gebauten Montgolfière zu fliehen, dem innerhalb der gewollten Isolation entstehendem Wahnsinn zu entkommen. Es geschah, während einer der vielen hemmungslosen Partys dieser Tage auf einem künstlichen, im Bug des Schiffes erzeugten, steilen, jedoch eisigen Gletscher, der ziel- und planlos geisternde Fahrgäste magisch anzog. Diese glitten mit elektrischen Surfbrettern und Snowboards über die weißen, prächtigen Gletscher.

An jenem Abend, in der feucht-fröhlichen, folgenden Nacht entwichen andere, nahmen einige, wenn auch wenige Rationen aus dem riesigen Kühlhaus im Bug des Schiffes mit. Gemeinschaftliche Kanister Wasser aus der Klarwasseranlage im inneren, menschenleeren Ring, einen reich gefüllten Picknickkorb aus der Austernzucht, über der das tägliche Oldtimerrennen mit dem nachgebauten „Blitzen Benz“ in der äußeren Röhre stattfand. Dort donnerte, toste, röhrte der Raketenantrieb. Der Saal tobte zu der elektrischen Version von Coon Sander's Nighthawks „What A Girl, What A Night“ aus 1928, vorgetragen von einem musikalisch begabten Geneunuchen. Einem in einer lauen, tropischen Nacht entmannten, qualvoll kastrierten Oberkellner aus der ersten Klasse.

Die geflohenen Familien verschollen, wohin auch immer, wurden nie wieder gesehen.

Zwei Jahre musste die schöne Irin Rachel ein karges Leben fernab der gewohnten, lieb gewonnenen Luxusartikel führen. Ernährte sich von ein paar monströsen Kokosnüssen, riesigen, schuppigen Fischen, die sie angeblich selbst fing; mit einer eigens konstruierten Angelrute, sang sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0097-4

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