Cover

Der Anfang

 

Marinella Charlotte van ten Haarlen

 

 

 

 

Achmed schwimmt

Deutsche 11. Ausgabe, Januar 2020

 

In Cooperation with kasaan-media, Johannesburg, (Berea, Hillbrow)

South Africa.

 

ISBN: 978-3-96593-060-5

11.Ausgabe: September 2019

All Copyrights by Marinella Charlotte van ten Haarlen, 2013

 

 

Dies ist ein Roman. Die geschilderten Ereignisse sind frei erfunden. Leider, jedoch in diesem Fall nicht weit hergeholt.

Die geschichtlichen Ereignisse sind rein zufällig. Entsprechen dem Storyboard dieses Buches. Diese haben sehr wenig oder nichts mit der Realität schon überhaupt nicht mit lebenden oder verstorbenen Personen zu tun. Das wäre natürlich rein zufällig. Orientieren sich lediglich an den damaligen und geschichtlichen Gegebenheiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den Kindern dieser Welt gewidmet.

Den syrischen und ägyptischen Kindern.

In Gedenken an die tapferen Paolo Borsellino und Giovanni Falcone, für den Mut gegen einen Feind anzutreten, der mächtiger war als sie. Leider.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Mutter und meinen Vater,

meinen Geschwistern

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sommer 2013

 

Achmed schwimmt

 

Nur langsam kam er wieder zu Bewusstsein, immer wieder verlor er die Kontrolle über seine Beine. Sein Bauch war mit Wasser voll, er würgte und erbrach. Aber es kam nichts heraus. Wie spasmische Zuckungen durchzog ihn ein weiterer Krampfanfall. Die See war aufgepeitscht. Ein scharfer Wind pfiff aus dem Süden, drehte innerhalb von Minuten auf West. Krampfhaft suchte Achmed in den haushohen Wogen nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Seine Hände griffen ins Leere. Als er den Kamm einer Welle erreicht hatte, probierte er den Horizont auszumachen. Es schien unmöglich. Der helle Ozean verschwamm irgendwo im Grau mit dem Himmel, aber die Farben verwischten. Verschwammen in einer trüben Brühe. Der Teil eines Schiffes, ein ganzer, rostiger Aufbau, schleuderte nur wenige Meter an ihm vorbei, dann kam schon der nächste sich brechende Kamm, der wie, in einer weißen Wand, sich Meter hoch vor ihm aufbaute und ihn erneut unter Wasser zog.

Die Strudel waren tückisch und Achmed sparte Kraft, solange er es vermochte und ihn nicht wieder die natürliche Angst vor dem Ertrinken überkam.

Die Strömung ließ ihn los, seine Ohren knackten, als er wie von einem Ungeheuer ausgespien wieder an die Wasseroberfläche kam. Er japste nach Luft. Nach einem Hustenanfall konnte er für ein paar Minuten wieder atmen.

Achmed schwamm, wieder trieb eine Tonne an ihm durch die Wellen vorbei. Der Wind zischte leise, wie ein hoher Ton. Er spuckte, hustete Wasser, sein Magen brannte von dem Salz, seine Rückenmuskeln begannen zu krampfen. Er verlor jede Sekunde mehr Kraft, zitterte am ganzen Körper. Es war dunkel geworden, durch die schäumende Gischt konnte er nur schwerlich erkennen, was sich in einigen Metern Entfernung abspielte. Der aufgezogene Sturm hörte nicht auf, im Gegenteil, dieser verstärkte sich. Achmed beschloss das Treiben inmitten des Meeres als eine Art Spiel zu sehen, da er sonst fürchtete, wahnsinnig zu werden. Ein Baumstamm aus Mahagoni, der sich sicher aus einer Fracht gelöst hatte, die ein Schiff über den Ozean einst schipperte, traf ihn fast in diesem Moment, flog nur haarscharf an seinem Kopf vorbei.

„Wo war das Schiff?“, flüsterte der junge Mann. Es war das letzte, an was sich Achmed erinnern konnte, bevor er bewusstlos geworden war.

Was war in der Zwischenzeit geschehen? Wo war er, wo war das nächste Land?

In der Entfernung hörte er das Geräusch eines tiefen Brummens, das langsam näher kam und sich dann wieder entfernte. Es waren nur Minuten.

Ein Schiff zog vorbei.

Die Qualen in dem linken Bein wurden unerträglich. Das Meer wirkte wie ein Monster auf ihn; langsam begann es, zu regnen. Achmed öffnete den Mund, um das frische Wasser zu schlucken. Es erfrischte ihn, machte ihn wieder wach.

Der Regen prasselte auf seinen Kopf. Es wollte nicht mehr aufhören, nach kurzer Zeit fühlte sich seine Haut wie mit Sandpapier geschliffen an.

Achmed war seit Stunden in den riesigen, sich aufschaukelnden, Wellen gefangen. Er fühlte sich wie in einem Karussell, indem er gegen seinen Willen hin-und her geschleudert wurde.

Achmed schwamm weiter, er versuchte sich zu drehen, verglich seine Lage im Geiste mit einer riesigen Wüste, die er ohne Hilfe durchqueren musste. Die Flosse eines Fisches berührte sein Bein, er riss es zur Seite. Es war Angst, reine Fantasie. In der Welle sah er das Tier, es war größer und sicherlich auch schwerer als er. Er schätzte den silberglänzenden Fisch auf drei bis vier Meter Länge. Dieser verschwand in der rauen See nach rechts. Norden, Westen, Osten, Süden?

Achmed dachte an seinen Onkel Hassan, der in Kairo lebte und 2006 nach Syrien gegangen war, als er Fatima kennenlernte. Nun war auch Fatima tot, vergast durch Assad oder wen auch immer. Es war ein paar Tage erst her. Achmed wurde kalt, er drohte wieder bewusstlos zu werden. Er spürte eine intensive Gänsehaut. Plötzlich halluzinierte er seine Nachbarn, jede Familie, die in den nächsten Häusern in Kairo gelebt hatte. Der Junge roch das Aroma des Brotes aus dem Ofen, selbst die Sonne schien auf seine Haut. Für einige Zeit wärmte sie ihn. Dann hörte er den Ruf seiner Mutter, das Brot zu kosten.

„Wo ist das Schiff?“, röchelte er augenblicklich. Es gab sicher einen gewaltigen Knall, ein Knirschen und ein Klopfen, ein Tosen. Fragmente seiner Erinnerung kehrten zurück. Dann plötzlich platzte das Deck, eine riesige Wasserfontaine spritzte hoch, das ohrenbetäubende Wehklagen der Frauen der Kinder- dann hörte er Stimme seines toten Vaters, er sah ihn nochmals, wie er in das weiße Leichentuch eingenäht wurde. Die dunkle Erde, die kurz nach der Beerdigung den Körper bedeckte. Die vielen Gebete, die Freunde und Nachbarn sprachen. Vor zwei Wochen in Kairo.

Wo war Kairo? Wo der Nil?

Es waren die Zeiten der Revolution. Oder das, was andere als diesen Umbruch bezeichneten, um eine Ausrede für Gewalt und Mord zu haben.

Wo war Ali, sein großer Bruder, der ihn zuvor immer beschützt hatte?

Seine Schwester Leila, die von Männern angefasst wurde, die ihr die Kleidung vom Leib rissen, als sie versuchte, zu fliehen. „Deine Vagina gehört allen!“, lachten die Männer, schrien und johlten vor Freude. Sonst mischten sie sich unter die guten Bürger Ägyptens, um mit Molotowcocktails oder gezielten Schüssen in die Menge, Unruhe zu stiften. Es war offensichtlich, dass die Frauen, die Mütter des Tahir Platzes, vergewaltigt werden sollten. So benahm sich kein guter Moslem oder Christ. Was war der Unterschied, im Tod waren alle Gläubigen gleich. Sie hetzten Leila wie eine wilde Bestie durch die brennenden Straßen von Kairo. Der schwarze Rauch von dem qualmenden Plastik war so dicht, dass niemand mehr atmen konnte. Niemand sah die Schatten in der Nacht. Die Bestien in Menschengestalt nahmen sich ihre Beute. Wie eine Glocke stand die schwarze Asche über der ägyptischen Metropole. Vierzig, fünfzig Männer hetzten eine Frau. Später, als sie wie eine Fackel durch die Straße lief, dachte er an die Zeit, als Obama mit dem Spruch „Yes, we can!“ warb. Flüchtlinge, Andersdenkende wurden in dem neuen Ägypten gequält. Eine andere Frau wurde hinter dem Auto, an der Stoßstange aufgehängt. Dann rollte der Mazda los. Nach ein paar Metern war die schöne Unbekannte tot. Auf der anderen Seite quälten sich verschiedene Gruppen mit heißem Plastik gegenseitig. Sie übergossen sich, verbrühten und verbrannten den Gegner. Mädchen und Frauen wurden mit Stöcken vergewaltigt, bis sie tot waren, inmitten der protestierenden Menschenmenge, die vor Fahrzeugen mit Wasserwerfern hergetrieben wurden.

Es waren die Tage der Freiheit? In Kairo, in dem luxuriösen Stadtteil Samalek, wo die mondänen Menschen lebten, nicht die, die nur glaubten und die nur regierten. Wenn die Aufständischen niemanden mehr fanden, den die Radikalen aller Seiten quälen konnten, fanden sie die Frauen, die Mädchen. Die Geschöpfe, die sie einst geboren hatten, um ihre eigenen Wurzeln zu zerstören.

In diesen Momenten floss Blut in Strömen.

Vor dem Sinken des Schiffes; was war mit all den Menschen geschehen?

Achmed wurde wieder bewusstlos, er trieb dahin, in seinen Gedanken starb er immer wieder. Er ertrank sekündlich, zuckte dann einmal unbewusst hoch.

Plötzlich schlotterte er, es waren Rufe laut geworden, ein Boot, ein Schiff, wahrscheinlich war es wieder ein Trugschluss. Jetzt jedoch sah er den rostigen Kahn zwischen den Wellen. Darin saßen die Menschen wie Puppen, er versuchte, seine Hand zu heben. Es gelang Achmed nicht.

Einige erbrachen, der Wellengang löste Seekrankheit aus. Achmed konnte ganz genau die Gesichter erkennen. Das Schiff verschwand, vielleicht kam bald ein neues Boot.

Es war wie damals, als er die ersten sexuellen Erfahrungen machte, die Schmerzen, die er nun sekündlich erfuhr, waren mit denen von den Tagen vor einigen Monaten vergleichbar. Die erste Erfahrung machte er mit dem muskulösen Körper von Ramzi, der machte, was er wollte. Drei Tage konnte Achmed nicht sitzen, laufen, stehen oder liegen. So bohrte sich der Schmerz in seinen zierlichen Körper. Die greise, grauhaarige Großmutter war an Gicht erkrankt, jeden Tag schlug sie der neue Mann, der wie ein blutroter Schatten aus Damaskus über die Familie gekommen war. Aus dem Nichts der syrischen Revolution, kam der Schmuckhändler. Seine ganze Hose war mit Juwelen und Gold gefüttert, erzählte die Großmutter, als sie frische Falafeln zubereitete. Mubarak stand wieder vor Gericht in diesen Tagen. Die Muslimbrüder versuchten das ganze Land zu einem Gottesstaat zu machen, Ägypten verkam, verrohte mehr und mehr unter den Radikalen, die sich Hilfe aus Teheran geholt hatten. In der Nachbarschaft wohnte ein solcher Mann aus Teheran, der Gott predigte und etwas Anderes meinte. Die Scharia war wichtiger als die Zivilisation. Mubarak hatte sich wie ein Pharao benommen, wie einer, der sich seiner Macht so sicher war, dass er nichts mehr bis zum Tod fürchten musste. Mubarak sollte baumeln, am Strick, wie Saddam. Mursi allerdings regierte das Land nicht, er formte es unablässig zu einem Regime der Willkür. Kairo verkam zu einem Sultanat.

Langsam kam Achmed wieder zu sich.

Luftmatratzen und Schwimmtiere segelten über die Wellen, die immer höher wurden, die Täler wirkten bedrohlich. Lebensbedrohlich. Sie waren so hoch, dass alleine der Mut nicht ausreichte, gegen sie anzuschwimmen.

Wieder kam ein Flüchtlingsschiff vorbei. Einer der Passagiere sah Achmed, einen Augenblick später wurde eine Leine von Bord geworfen.

Mehrere Männer zogen ihn an Bord. Achmed blieb liegen, schlief ein, bis er durch den spitzen Stiefel des Bootsmannes geweckt wurde. Er war ein grobschlächtiger Kerl.

„Da glaubst Du, weil Du mit Deinem Schiff gesunken bist, dass Du bei uns mitfahren kannst. Das geht leider nur gegen erneute Bezahlung. Das ist im normalen Verkehr auch so. Wenn man Bahn fahren will oder ein Taxi holt.“

Die Stimme war sehr freundlich. Der Mann zog ihn hoch, schrie ihm dann unvermittelt etwas ins Gesicht.

Achmed wollte die Worte nicht glauben, die er hörte. Gierig trank er das Wasser aus dem Krug neben sich.

„Das ist ganz einfach, hast Du US$ oder Euro, sonst musst Du leider wieder von Bord oder die anderen zahlen für Dich.“

„Aber ich habe doch schon bei Ihnen gezahlt!“, röchelte er in Arabisch.

„Ja, aber das war für eine andere Fähre in die Freiheit, das musst Du doch verstehen. Du kannst noch austrinken, dann musst Du wieder schwimmen.“ Der Mann lächelte ergeben.

„Das ist mein sicherer Tod!“, flüsterte Achmed.

„Das weiß ich, Dich werden bald 32 Jungfrauen ins Paradies begleiten. Ich habe Kosten, die ich decken muss. Wenn Du nicht freiwillig gehst, müssen wir Dich erschießen.“

Der Mann steckte sich ein Kaugummi in den Mund, schmatzte drauf los.

„So hast Du die Chance, circa 128 km zu schwimmen, das Wasser ist gratis. Weit ist das nicht mehr, wenn Du Dich beeilst, kannst Du das tatsächlich überleben. Das Trinkwasser schenke ich Dir, auch einen Keks, weil ich guter Mensch bin, der immer für andere Menschen nur das Beste will.“

Wie tumb taumelte der Junge zu der Reling, andere wagten nicht aufzusehen oder etwas zu sagen.

Kraftlos sprang Achmed in das Wasser. Er tauchte tief ein. Der Bootsmann warf ihm noch einen Keks hinterher. Das Seehorn blies zwei Mal. Es war der größte Hohn der gesamten Reise. Niemand war in der Lage gewesen, ihm zu helfen. So sah Achmed das Heck des Schiffes sich in den Wellen entfernen und war nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch leben wollte.

 

Es waren keine drei Stunden vergangen, seitdem er wieder im Meer war, zumindest empfand er das so, nachdem er die Sekunden gezählt hatte. Irgendwann vergaß er einfach die Zahlen und buchstabierte weiter. Plötzlich schwammen Leichen an ihm vorbei, die von den Wellen, wie auch einzelne Wrackteile, kreisförmig verteilt wurden. Ein riesiger Ölteppich hatte sich ausgebreitet. Das Wasser schillerte in allen Regenbogenfarben.

 

Das Schiff hatte sich gedreht und stand mit der Unterseite aus dem Wasser. Niemand schien das Unglück überlebt zu haben. Langsam schwamm Achmed weiter, war froh, dass der unbekannte Europäer ihn gezwungen hatte, wieder von Bord zu gehen.

 

Mit letzter Kraft erreichte er den Container des Roten Kreuzes, wie auch immer dieser auf die Oberfläche des Mittelmeeres gekommen war, wahrscheinlich einfach vom Schiff gefallen oder Piraten, von denen gab es hier viele. Er fürchtete sich vor ihnen. In der westlichen Literatur gab es einen Mann, der Robinson Crusoe hieß. Er war dereinst auf einer Insel gestrandet, die Achmed nun ängstigte. Jahre musste dieser bärtige Mann dort ausharren, ehe ein Schiff ihn, der sich auf dem Eiland eingerichtet

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.11.2019
ISBN: 978-3-7487-1992-2

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