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Erste Liebe

 


© Mara & Hincha


Aufgeregt stehe ich vor dem Schrank und überlege krampfhaft, was ich anziehen soll. Ich gebe zu, der Inhalt meines Kleiderschrankes ist recht überschaubar, aber ich will mich nicht beklagen. Wer hat in der heutigen Zeit schon das Geld um es in teure Kleider zu stecken? Ich jedenfalls nicht. Mir ist wichtiger, dass vernünftiges Essen auf den Tisch kommt.

Ich kann von Glück reden, dass mir meine Mutter die Gabe des Schneiderns vererbt hat. Auf diese Art und Weise kann ich mir das eine oder andere schicke Teil nähen. Stoff ist zwar teuer, aber da ich oftmals für die wohlsituierten Damen kleine Näharbeiten verrichte oder ihnen im Hinterzimmer schöne Kleider auf den Leib schneidere, kann ich mir auch manchen Meter Stoff gönnen. Damit erfülle ich mir dann meine eigenen Träume.

Ich halte mir das geblümte Sommerkleid vor und betrachte mich im Spiegel. Verträumt lächle ich meinem Spiegelbild zu und beginne eine leise Musik zu summen. Im Takt drehe und schwinge ich meinen Körper wie bei einem Tanz. Nur dass eben genau das mein Problem ist. Ich kann nicht tanzen. Daher habe ich meine ganzen Ersparnisse zusammengerafft und mich bei einem Kurs angemeldet, der heute startet.

Mit hochrotem Kopf stehe ich vor der Tür und bemühe mich, entspannt zu erscheinen. Wenn nur nicht diese Schüchternheit wäre. „Was, wenn ich keinen Tanzpartner finde? Was, wenn ich wie ein Mauerblümchen als Einzige sitzen bleibe?“ Ein letztes Mal hole ich tief Luft, dann drücke ich die Türklinke runter und trete ein.


Da sitze ich nun in dem großen Hinterzimmer eines Restaurants, das auf dem Schild vor der Tür mit gutbürgerlicher Küche wirbt. Die unbequemen Holzstühle sind akkurat nebeneinander aufgereiht. Eine Seite der Wand ist für die Männer reserviert, die andere für die Damen. Die Fenster sind geschlossen und es riecht muffig. Irgendeine Mischung aus Schweiß, Kaugummi und Alkohol liegt in der Luft.

Der Tanzlehrer sitzt hinten an einem Tisch, auf dem ein Schallplattenspieler und ein paar Singles stehen. Er sieht sehr vornehm aus und ich wette, seine edlen Kleider haben mehr gekostet, als mein Vater in einem halben Jahr verdient. Mein Blick wandert an mir hinab und ich bin froh, dass mein Onkel mir seinen Anzug geliehen hat. Die schwarze Hose mit der schneidigen Bügelfalte passt sehr gut zum weißen Hemd und der Krawatte. Die Manschettenknöpfe glänzen wie meine Lederschuhe und die Brisk-Creme in den Haaren darf auch nicht fehlen.

Ich sehe in die Gesichter der anderen Männer, die auch in meinem Alter sind. Ein paar von ihnen kenne ich noch aus meiner Schulzeit, andere leben in meinem Viertel. Die Namen wollen mir nicht einfallen und ich fühle mich ziemlich einsam.

Nicht nur das. Selbst, wenn es mir niemand anmerken kann, so bin ich innerlich sehr aufgeregt. Gleich werden die Mädchen durch die Tür kommen. Was werden sie denken, wenn sie mich sehen? „Was ist denn das für ein Typ? Wie sieht der denn aus? Wie kann man nur solche Kleider anziehen? Und dann noch Pickel im Gesicht. Ob ich mit dem tanzen muss?“

Eine von ihnen werde ich auffordern müssen. Ich, der keine Ahnung hat, wie sich einen Frau anfühlt. Und dann soll ich auch noch mit ihr tanzen? Diese Vorstellung lässt meine Hände schwitzen.


Zögernd trete ich ein. Mich unsicher umsehend, wage ich mich weiter ins Innere des Vorraums zum Restaurant. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Wangen sind vor Aufregung gerötet. Meine Hände zittern und meine Knie sind weich. Am liebsten möchte ich gleich wieder umkehren und davonlaufen.

Nervös nestle ich am Griff der Tasche herum, die mir Gisela, meine beste Freundin, geborgt hat. Presse sie fest an mich. Hoffentlich bemerkt niemand meine Unsicherheit….

Ich schrecke auf, als ich angesprochen werde. Die Frau, die lächelnd auf mich zukommt und sich nach meinem Namen erkundigt, schüchtert mich ein. Ihr Blick und ihre Stimme, als sie mich fragt, ob ich auch zum Kurs angemeldet bin, schüchtern mich auch ein.

Leise antworte ich ihr. Lasse mich von ihr am Arm fassen und zu dem Pulk schwatzender Mädchen führen.

Ich scheine die Letzte gewesen zu sein, denn sofort führt sie uns zu dem großen Raum, in den ich beim Hereinkommen einen Blick werfen konnte. Der, der für die Gruppe des Kurses freigehalten wurde.

Ängstlich bleibe ich in der Tür stehen und lasse die anderen an mir vorbeiziehen. Meine Blicke verlieren sich in den Tiefen der Räumlichkeit. Das Einzige, was mir Sicherheit gibt ist, die Positionierung der Sitzgelegenheiten. Dass Männer und Frauen getrennt sitzen. Gleichzeitig erhöht diese Situation meine Bedenken, dass ich als Einzige übrig bleiben werde.

Ich nehme Platz. Meine Hände umkrampfen den Bügel der Handtasche, die ich auf meinen Schoß drücke. Immer wieder grabe ich meine kurzgeschnittenen Nägel in das Skai der Tasche.

Meinen Rücken halte ich gerade wie ein Brett. Wie es mir von klein an eingeimpft wurde. Ich bin aufgeregt. Dennoch wage ich einen kurzen Blick auf die gegenüberliegende Seite. Der mir anerzogene Sinn für Disziplin macht es mir leichter. Schamvoll fährt mein Blick – sich immer wieder senkend und hebend – über die Männer, die uns gegenüber Platz genommen haben.

Aus den Augenwinkeln nehme ich Bewegung wahr, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Mein Blick fällt auf den jungen Mann mit den mittelbraunen Haaren. Eigentlich sieht er lieb aus, aber warum knetet er ständig seine Hände? Ist er auch aufgeregt?


Eine halbe Stunde lang hat uns Herr Happersberger, so heißt der Tanzlehrer, sehr ausführlich erklärt, wie der Kurs ablaufen wird. Er hat die Tänze aufgezählt, die wir in den nächsten drei Monaten lernen werden, und uns mit Hilfe seiner Gattin die ersten Schritte Rumba und Walzer vorgeführt. Ich habe kaum zuhören können, denn mein Blick war immer wieder verstohlen zu der blonden Frau gewandert, die mir im Sommerkleid und hellen Lackschuhen gegenüber sitzt.

Plötzlich ertönt die Melodie von „Lonely boy“ aus den Boxen. Jeder im Saal kennt diesen neuen Song und Paul Anka fängt zu singen an: „I`m just a lonelyboy, lonely and blue.“ In meinem Kopf hämmert es: „Du musst jetzt aufstehen und eine Tanzpartnerin finden.“ Viel lieber wäre mir, ein großes Loch würde sich unter meinen Füßen auftun und mich verschlucken. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, vergesse den Pudding in meinen Beinen und gehe die 10 Meter zu diesem fremden Mädchen in der Hoffnung, dass sie mich nicht abweist.


Sicherheitshalber senke ich beim Erklingen der Musik den Kopf. Zupfe an meiner Tasche herum und beseitige imaginäre Flusen von meinem Kleid. Zu groß wäre die Schmach, mit ansehen zu müssen, wie sich alle jungen Männer auf die anderen Mädchen stürzen. Als ein Paar schwarze gewienerte Schuhe vor mir auftauchen, bleibt mir fast das Herz stehen. Innerlich jubiliere ich und erwartungsvoll hebe ich den Blick.


Wie wurde uns aufgetragen? Ach ja ... Mit einer leichten Verbeugung nehme ich ihre rechte Hand und schaue in zwei dunkle Augen. Irgendetwas passiert mit mir in diesem Moment, an den ich mich später noch lange erinnern werde. Als ich sie nach ihrem Namen frage, antwortet sie mir: „Hallo, ich heiße Klara. Und du?“


Schweigend steht er vor mir und ich überlege, ob er mich überhaupt verstanden hat. Oder spürt er das Zittern meiner Hand? Hastig ziehe ich sie zurück. Nie im Leben habe ich damit gerechnet, dass ausgerechnet ER mich auffordert. Mein Blick fährt tastend über sein Gesicht, unsere Blicke treffen sich und ich muss trotz meiner Röte grinsen. Als ich ansetze, ihn nochmals nach seinem Namen zu fragen, stößt er hervor: „Hallo Klara, ich bin Friedrich.“ „Friedrich … was für ein schöner Name“, denke ich und mein Herz galoppiert wild vor sich hin.

Ich wische meine feuchten Hände – nicht gerade damenhaft – an meinem Kleid ab. Noch eben den Stoff glatt streichen, dann lege ich abermals schüchtern meine Hand in seine. „Seht her, seht alle her! Ich bin nicht sitzen geblieben! Ich habe einen Tanzpartner gefunden! Habt ihr gesehen, wie schnell er mich aufgefordert hat? ER! Mich!“, möchte ich laut jubilieren. Doch ich bleibe stumm und gehe mit wackligen Knien und stolz erhobenen Hauptes neben ihm her Richtung Tanzfläche.


„Klara. Der Name gefällt mir richtig gut“, kommt mir in den Sinn, und ich bewundere sie, weil sie so stolz neben mir her geht. Ich hingegen hoffe, dass mich niemand beobachtet und mir meine Verlegenheit ansieht. „Warum fängt der Lehrer ausgerechnet mit einem Walzer an? Alle sagen doch, Rumba sei viel schöner“, ärgere ich mich innerlich.

„Rücken gerade, Brust raus, Kinn nach oben, die rechte Hand auf das Schulterblatt der Dame und die linke nimmt ihre Hand. Beide Arme zeigen nach vorn, die Ellenbogen sind leicht durchgedrückt. Der Mann führt stolz und locker. Das erkennt man in jedem Tanzschritt. Das Paar sieht sich in die Augen und glotzt nicht in der Gegend herum.“ Ich versuche mich an diese Lektion zu erinnern. Stattdessen ist mein Rücken krumm und Paul singt: „I've got everything. You could think of...“

Verzweifelt wandert mein Blick hinab zu meinen Füßen und ich verfalle langsam in Panik. Zwischen Klara und mich würden zwei Telefonbücher passen und ich habe keine Ahnung, wie ich anfangen muss. „Eins, zwei, drei“ zähle ich laut und sehe dabei wieder in ihre Augen. Sie kann sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen.

„Verflixt, wieso finde ich diese erste Taktzeit im Rhythmus nicht“, schimpfe ich mich selbst. Sie wartet artig auf mein Zeichen, wie sie es soeben gelernt hat, und dann drücke ich leicht meine Finger in ihre Schultern. Es geht endlich los ... und mein erster Vorwärts-Schritt landet genau auf ihrem Fuß. Autsch.

Nächster Versuch … und diesmal läuft es etwas besser. Wir halten uns aneinander, weil wir so unbeholfen sind, und das gibt uns etwas Sicherheit. Der Tanz sieht wie mehr nach Stech-Schritt als Wiege-Schritt aus und wir treten uns ständig auf die Füße. Aber wir lachen dabei und sehen uns an, während wir uns im Kreis drehen.

Plötzlich gibt es nur noch Klara, die Musik und mich. „Nein Paul, ich bin kein lonely boy. Nicht lonely and blue…” Wir gleiten immer schneller über das Parkett und ganz zaghaft erfüllt mich ein bisher fremdes Gefühl, von dem ich bis heute nur gelesen oder gehört habe. Ich glaube, ich habe mich verliebt. Einfach so. In Klara, die ich jetzt fest mit meiner Hand halte. Aber das würde ich niemals zugeben wollen…


Meine Schuhe sind schmutzig von seinen Sohlen, aber es ist mir egal. Niemals habe ich mich so wohl gefühlt. Wie oft habe ich davon geträumt, in den Armen eines Mannes zu liegen und mich gefragt, wie sich das wohl anfühlen wird. Und es fühlt sich gut an. Sehr gut sogar! Die wohlige Wärme, die von seiner Hand ausgeht, jagt mir kleine angenehme Schauer über die Haut.

Es tut so gut, mit ihm zu lachen! Er hat ein wunderschönes Lachen. So eins, das auch seine herrlichen braunen Augen mit einbezieht. Und wie attraktiv er ist! Ich glaube, ich habe mich verliebt, doch das darf niemand merken. Friedrich schon gar nicht. Nicht, dass er sich Flausen in den Kopf setzt.

Je länger wir miteinander tanzen, desto besser klappt es. Die anfänglichen Schwierigkeiten sind verschwunden und ich wundere mich über mich selbst, wie leicht es mir fällt im Takt zu bleiben.

Immer, wenn sich unsere Blicke begegnen, habe ich das Gefühl zu schweben. Ich möchte die Arme ausbreiten und mich dem Rhythmus der Musik hingeben. Leicht wie ein Schmetterling. Tanzen ist so schön! Ich könnte mit ihm um die Welt tanzen!


Leider nähert sich die Tanzstunde schon ihrem Ende und ich wünschte, sie würde noch ewig weiter gehen. Herr Happersberger und seine Ehefrau haben uns den ganzen Nachmittag nur selten gestört. Klara und ich sind einfach nur glücklich gewesen. Aber jetzt tanzen wir den letzten Tanz des Nachmittags.

Ich sehe dabei in ihre schönen Augen, die vor Freude glitzern. Darunter die zarte Haut mit den süßen Sommersprossen und der kleinen Nase. Die blonden Locken rahmen die ebenmäßigen Konturen ihres Gesichts ein und Klara riecht so verdammt gut. Zum ersten Mal achte auf ihre schönen Zähne und die schmalen Lippen. Wie es sich wohl anfühlt, wenn man sie küsst?

Plötzlich, es war wirklich nicht meine Absicht, spüre ich ihre Brust an meiner. Irgendwie muss ich Klara zu nah gekommen sein. Für einen Augenblick habe ich ihre zarte Rundung spüren dürfen, die so unglaublich weich ist. So fühlt sich also der Busen eines Mädchens an.… Mir ist, als würden zehntausend Volt durch meinen Körper jagen. Von jeder Haarspitze bis hinunter in die Zehen. Ich erschrecke, weil ich große Angst vor ihrer Reaktion habe und trotzdem kribbelt meine Haut, als würde ich in Ahoi-Brause baden.


Oh! Ich vergesse meinen Tanzschritt und trete Friedrich prompt auf die Füße. Schamröte jagt mir ins Gesicht und meine Kehle wird eng. Meine Hände fangen an zu zittern und ich traue mich nicht, ihn anzusehen. Ich hauche eine Entschuldigung und bemühe ich mich, wieder in den Rhythmus zu kommen. Hat er das extra gemacht? Meine Augen jagen umher und ich hoffe, niemand hat etwas gesehen.

Plötzlich flattern tausend Schmetterlinge in meinem Bauch umher und meine Gedanken und Gefühle fahren Achterbahn. Heiße Lava schießt durch meine Adern und meine Brust beginnt zu kribbeln. Verkrampft halte ich den Blick gesenkt, um ihn ja nicht ansehen zu müssen.

Das Schlimmste ist, dass ich mir eingestehen muss, dass es sich angenehm anfühlt, was hier mit mir passiert. Deshalb kann ich Friedrich auch nicht ansehen. Hoffentlich bemerkt er nichts. Ich meine, die mahnenden Worte meiner Mutter zu hören, schiebe sie aber bewusst zur Seite. Wie kann etwas so Schönes unanständig sein? Etwas, das solche Gefühle in mir hervorruft.

Wie mag es sein, wenn er das mit seiner Hand machen würde? Würde mir das auch gefallen? Bestimmt. Aber vielleicht habe ICH ja jetzt Flausen im Kopf und alles war nur ein Versehen?


Nun ist das letzte Lied des Nachmittags verklungen. Was soll ich jetzt tun? Klara war nicht erzürnt und hat mir keine Ohrfeige gegeben, nachdem wir uns so nah gekommen waren. Andererseits hat sie mir auch mit keiner Geste gezeigt, dass es ihr gefallen hat. Kein einziges Wort kam über ihre Lippen. Spürt sie denn nicht dieses pure Glücksgefühl, das ich spüre? Möchte sie mich überhaupt noch als Tanzpartner haben? Ich bin echt hilflos und zerrissen.

Als ich Klara zu ihrem Stuhl geleite, läuft noch ein Mal der Song von Paul und bei den Zeilen „Send her to me. I'll make her happy. Just wait and see“ wird mir plötzlich klar, was ich tun muss. Ich habe nur 5 Pfennige für eine Flasche Apfelsaftschorle in der Tasche, aber die möchte ich mit Klara trinken. Nicht hier im Restaurant, sondern allein im Stadtpark…

Mein Herz pocht bis zum Hals, als ich sie auf dem Weg zum Ausgang mit zitternder Stimme frage: „Hast du Lust, mit mir in den Park zu gehen und etwas zu trinken? Es ist noch früh, das Wetter ist so schön und ich habe noch etwas Zeit.“ Beschämt gebe ich zu: „Leider ist mein Fahrrad kaputt und ich habe noch kein Geld für eine NSU.“


Es ist so lieb von ihm, mich zu einer Apfelschorle einzuladen! Mit gebührendem Abstand laufen wir nebeneinander her. Schweigen liegt zwischen uns. Ich bin verlegen und weiß nicht, was ich sagen soll, bis Friedrich sich räuspert und über unsere anfänglichen Missgeschicke zu reden beginnt.


Der Weg führt uns über holpriges Kopfsteinpflaster vorbei an dem Eisenwaren-Laden, der Hutmacherin, dem Friseur und diesem uralten Geschäft, in dem es nur Bonbons und Krimskrams gibt. Zum Park sind es noch ein paar Meter. Erst weiß ich nicht, was ich sagen soll, weil mir die richtigen Worte fehlen. „Wie spricht man denn mit Mädchen? Wie unterhält man sich mit ihnen?“ Das habe ich nie gelernt.

Die Stille zwischen uns ist mir peinlich, also sage ich einfach das, was mir in den Sinn kommt und mich am meisten beschäftigt: „Ach Klara, mir tut es so unendlich leid, dass ich zu Beginn der Stunde ständig auf deinen Füßen stand. Sie tun bestimmt sehr weh. Aber du musst zugeben, dass wir von Minute zu Minute besser wurden. Unser Tanzlehrer war vermutlich sehr zufrieden mit uns. Es hat so viel Spaß gemacht, mit dir zu tanzen.“

Etwas Stolz mischt sich in den Klang meiner letzten Worte, die so hölzern sind. Klaras Haar weht leicht im Wind und sie fängt zu lachen an, als wir uns an den ersten Tanz erinnern. „Ich bin der glücklichste Mann der Welt“, möchte ich jedem Passanten zurufen, und nehme ihre Hand in die meine. Wie sanft und weich sie doch ist.


Laut lachen wir über unsere „Auftritte“ und sofort ist die bedrückte Stimmung wie weggewischt. Als er den Abstand zwischen uns verringert und ich seine Hand fühle, die zaghaft nach meiner tastet, lasse ich es geschehen. Meine Hand verschwindet fast in seiner und die Schwielen vom Arbeiten machen mir nichts aus. Wie warm sie sich anfühlt…

Wir laufen noch ein gutes Stück, bis Friedrich stehen bleibt und mich fragend ansieht. „Magst du einen Schluck?“ Er hält mir die Flasche hin und dankbar lächle ich ihn an. „Ja, gerne. Danke.“ Ich beuge mich vor und nehme den Strohhalm in den Mund. Vorsichtig trinke ich einen kleinen Schluck, als er mich fragt: „Sollen wir uns dahinten ein bisschen auf die Wiese setzen? Die Sonne scheint noch so schön.“ Ein wenig zögerlich stimme ich - innerlich jauchzend - zu.


Ein paar Minuten später führe ich Klara auf die kleine Wiese im Park. Obwohl es schön warm ist, sind wir scheinbar die einzigen Menschen hier. Kein Wunder, denn fast alle Männer verfolgen das Endspiel „Frankfurt gegen Offenbach“ im Radio. Ich kann nicht verstehen, wie man sich für Fußball begeistern kann.
Unter der großen Kastanie breite ich die Jacke auf dem Gras aus. Klaras Kleid soll auf keinem Fall schmutzig werden. Wie ich meinem Onkel die Grasflecken erklären soll, werde ich mir später überlegen.


Ein bisschen mulmig ist mir schon zumute, aber ich möchte zu gerne noch eine Weile mit Friedrich beisammen sein. Er ist so fürsorglich. Nicht nur die Sache mit der Jacke. Nein, auch wie er mir hilfsbereit die Hand hält, damit ich mich setzen kann.

Ich möchte seine warme Hand nicht loslassen, als ich mich setze, doch wie würde das aussehen? Daher blicke ich nur dankbar zu ihm auf und rücke ein Stückchen zur Seite, um ihm etwas Platz zu machen.


Mein Herz pocht schon wieder, als wir nebeneinander sitzen und schweigen. Die Natur blüht in allen Farben und der Wind erfrischt meine Haut. Verstohlen schaue ich zu Klara rüber und kann nicht anders, als meinen Arm um ihre Hüfte zu legen. Unter dem dünnen Stoff ertaste ich ihren Körper, der sich so fremd und gleichzeitig wundervoll anfühlt. Sofort wirbeln tausend Gedanken in meinem Kopf herum. Und genauso viele Gefühle sind in meinem Herzen... „Möchte Klara das, wonach ich mich sehne? Sie hat eben ohne zu zögern meine Hand genommen, das ist doch ein gutes Zeichen? Oder irre ich mich?“


Ich bin total verwirrt, als ich Friedrichs Arm um meine Hüfte spüre. Mir wird heiß und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Am liebsten würde ich mich an ihn schmiegen. So intim hat mich noch niemand berührt. Meine Wangen glühen und ich bin dem Wind dankbar, dass er kühlend über meine Haut streicht. Mein Herz pocht heftig und ich halte aufgeregt den Atem an…


Langsam drehe ich meinen Kopf zu ihr und sie tut das gleiche. Zögerlich, schüchtern, zaghaft, vorsichtig, neugierig und keck. All das liegt in dieser einen Bewegung und dann meine ich eine Art stumme Aufforderung in Klaras Augen zu sehen…


Unsere Blicke treffen sich und ich kann seine langen dichten Wimpern erkennen. Wie große seidige Fächer umrahmen sie seine Augen. Seine wundervoll geschwungenen Lippen ziehen mich magisch an. Ehe ich es mir anders überlegen kann, hole ich tief Luft und flüstere leise: „Friedrich … oh Friedrich, es ist so schön, mit dir hier zu sitzen. Ich würde so gerne … weißt du….“ Darf ich das überhaupt sagen? Hält er mich dann nicht für ein leichtes Mädchen? Ich gebe mir erneut einen Ruck, biete ihm meine Lippen an und wispere: „Würdest du mich küssen? Nur ein ganz kleines Bisschen?“


Klaras Worte sind so zaghaft und scheu, aber sie fließen in mein Ohr und klingen wie eine süße Melodie. Ich kann nicht glauben, dass sie mich das gefragt hat. Mein Herz droht vor Glück zu zerspringen und gleichzeitig wird mir ganz heiß. Möchte sie mich wirklich küssen? Ausgerechnet mich, diesen unscheinbaren Typen? Ich drehe mich ganz zu ihr, lege meine Arme um ihre Schultern und berühre ihre roten Lippen. Erst ganz feinfühlig, weil ich nichts falsch machen möchte. Spüre die Feuchtigkeit und Wärme, das Weiche und die Zerbrechlichkeit, den Geschmack und die feinen Linien. Ich schließe die Augen, während Klara meinen Kuss ohne Zögern erwidert.


„Ja, ja!“ Ich schwebe. Mein Herz explodiert. Es fühlt sich so schön an, seine weichen Lippen auf den meinen zu fühlen. Erst halte ich ganz still und genieße diese unbekannte Intimität. Alles in mir kribbelt, sogar tief in meinem Unterleib und die Welt beginnt sich um mich zu drehen. Ich rücke näher an Friedrich heran. Meine eine Hand fasst zaghaft an seine Schultern und wandert von dort zögernd zu seinem Nacken.


„Ich kann nicht mehr klar denken, denn dieser Moment ist einfach unfassbar. Wie kann man so viel auf einmal fühlen? Klara, was machst Du nur mit mir?“ Ihre Hand streichelt ganz leicht meine Haut und fühlt sich so unglaublich zart an.

Ihre Zärtlichkeiten verleihen mir so viel Mut und ich gleite mit meiner Zungenspitze langsam über ihre Unterlippe. Noch nie habe ich eine Frau geküsst und dieses Gefühl ist das Intensivste, was ich je erlebt habe. „Träume ich oder ist es die Wahrheit? Darf ich so ungestüm sein? Klara, ich möchte mehr von dir und kann nicht mal beschreiben, wie viel mehr. Dafür sind noch keine Worte erfunden worden.“ Ich würde mich nie trauen, diese Gedanken auszusprechen. Sie drückt sich an mich, öffnet ihre sinnlichen Lippen und unsere Zungen streicheln sich plötzlich.


Ich wische alle Gedanken beiseite, als ich Friedrichs Zunge mit der meinen berühre. Vergesse alles um mich herum. Es gibt nur noch ihn und mich. Und diesen Kuss. Diese Intimität, die alles bisher Dagewesene übertrifft. In mir Gefühle frei setzt, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Wie weich sich seine Zunge anfühlt.

Wie gut, dass Gisela und ich mal übers Küssen gesprochen haben. Sonst wäre ich womöglich entsetzt zurückgeschreckt. Nun ja, als sie mir erklärte, wie Küssen funktioniert, war ich im Moment entsetzt. Habe es mir aber nicht anmerken lassen.

Nie im Leben habe ich geglaubt, dass es sich so schön anfühlen könnte. Einerseits überschwemmt mich eine unbekannte Unruhe, andererseits möchte ich verharren. Wünsche mir, die Zeit möge still stehen.


Ich kann nicht anders und muss meine Augen geschlossen halten, während wir uns liebkosen. Als ob das eine ohne das andere gar nicht möglich ist. Meine Zungenspitze taucht etwas tiefer in ihren Mund, bis sich unsre beiden Zungen erneut berühren und unser Münder erforschen. Noch schöner als eben und etwas vertrauter… In mir drin tanzen unzählige Schmetterlinge und ich nehme Klara fester in den Arm und streichele ihren Rücken.

Die Welt hört auf sich zu drehen und ich spüre ihren Körper an meinem. Ihre nackten Oberarme, die schmalen Finger und ihre weiche Brust. Noch nie habe ich etwas so unglaublich Schönes für so lange Zeit fühlen dürfen. Alles andere verliert an Wichtigkeit und ich nehme nichts mehr wahr außer Klara. Und Pauls Sätze klingen in meinem Kopf: „ Someone to love. Someone to kiss. Someone to hold. At a moment like this” Oh ja, genau so fühle ich mich jetzt.


Ich falle. Falle in diesen unglaublichen Kuss hinein. Diese wundervolle Zärtlichkeit, die er mir schenkt. Die Wünsche, die sie in mir freisetzt. Ich verstehe das alles nicht. Nur eines weiß ich. Ich möchte dies alles, was ich mir wünsche, mit Friedrich erleben. Mit Friedrich, meiner ersten Liebe.


Ich löse mich langsam von Klaras Lippen und sehe in ihre glänzenden Augen. Meine Arme sind immer noch hinter ihrem Rücken verschränkt und ertasten vorsichtig ein weiteres, kleines Stück ihres Körpers. Sie wirkt so zerbrechlich und fremd. Und gleichzeitig so neu und bezaubernd. „Klara“, flüstere ich in ihr Ohr, während mein Blut vor Aufregung durch meinen Körper rauscht, „es ist so wunderschön. Ich möchte so gern mehr von dir fühlen. Bitte…“


Ich schlucke. Ziehe meine Hand von seinem Nacken weg und vergrabe sie in meinem Schoß. Knete den Stoff meines Kleides mit meinen Händen. „Friedrich … Friedrich ….“ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Einerseits wünsche auch ich mehr von diesem wundervollen Gefühl, aber andererseits frage ich mich, ob es noch schöner werden kann, als es jetzt ist. Gibt es wirklich eine Steigerung? Meint er das, was ich vermute?

Immer mehr zerknittere ich den Stoff. Traue mich nicht ihn anzusehen. Als er abwartend schweigt, mich aber dennoch zärtlich weiter streichelt, hole ich tief Luft und flüstere, kaum hörbar: „Friedrich … ich … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Du … ich … es ist so schön mit dir. Ich habe so etwas … weiß du … es ist alles so fremd für mich.“ Ich hebe eine Hand und streichle vorsichtig mit den Kuppen meiner Finger über sein Gesicht.

Gleite die Linie seiner Wangenknochen entlang und traue mich sogar, sanft über seine Lippen zu fahren. Dann ziehe ich - mich zur Ordnung rufend - rasch meine Hand zurück und lege sie wieder in meinen Schoß. Meine Lippen kleben und am liebsten würde ich einen Schluck trinken. Stattdessen befeuchte ich sie mit meiner Zunge.

Mein Herz pocht heftig, als ich seinen Geschmack von meinen Lippen lecke. Die, die er eben noch so zärtlich berührt hat. Abermals muss ich schlucken, bevor ich scheu hauche: „Meinst du nicht, dass das ein bisschen früh ist? Weißt du … wir haben uns heute erst kennen gelernt und ich möchte nicht….“


Klaras Worte sind zögernd, aber letztlich doch sehr deutlich. Mein Blick wandert in die Ferne, weil ich etwas irritiert bin. Oder enttäuscht? Ich hätte so gern mit ihr ein kleines Stück des Landes erkundet, das mir bis heute Morgen unbekannt war. Die geheime Tür geöffnet, die bisher verschlossen schien. Aber ich kann Klara gut verstehen. Sie ist wohl erzogen und aus gutem Hause. Ihr Zaudern passt zu ihr und zu dem, was ich seit ein paar Stunden lieb gewonnen habe. Trotzdem.... Ich möchte ihr zeigen, was ich für sie empfinde, auch wenn ich mich nicht traue, es laut aussprechen.

Langsam rücke ich etwas weg von Klara und nehme wieder ihre Hände, die ich erst loslasse, als ich ihre Füße in meinem Schoß liegen habe. Das Kleid ist bis zu den Waden hochgerutscht und vorsichtig ziehe ich ihre Lackschuhe aus.

Endlich sind die geschundenen Füße, die eben so viel aushalten mussten, von jedem Zwang befreit. Wie schade, dass ich mich zunächst nur um einen kümmern kann. Meine Handflächen umfassen Sohle und Ballen wie einen kostbaren Kelch und drücken leicht auf die Ferse. Gleichzeitig kreisen meine Daumen über den Spann und massieren zärtlich den oberen Teil des Fußes.

Klara wackelt dabei mit ihren Zehen und wir müssen beide lachen, weil es so kitzelt. Jede einzelne möchte ich spüren und knete sie liebevoll zwischen Daumen und Zeigefinger, weil sie so empfindsam und zerbrechlich wirken. Wie innig und schön diese Berührungen doch sind. Genau das habe ich mir gewünscht...


Das tut gut! Er hat genau gewusst, wie weh mir die Füße tun. Diese wunderbare Fürsorge lässt mein Herz zu ihm fliegen. Im ersten Moment hatte ich solche Angst, dass er mir böse ist, aber diese Bedenken hat er schnell zerstreut. Er ist sooo lieb zu mir….

Ich fühle mich wie befreit, hier neben ihm zu sitzen und mit ihm zu lachen. Ein bisschen peinlich war es mir schon, als ich lachen musste. Aber es hat so sehr gekitzelt, dass ich nicht anders konnte.

Seine Massage ist wunderbar sanft und plötzlich ist es wieder da. Dieses seltsame Gefühl. Als zögen magische Fäden an uns. Vereinten uns und das Kribbeln in meinem Bauch verstärkt sich und wandert durch jede Ader.

Als sich unsere Blicke treffen, liebevoll ineinander tauchen, raffe ich allen Mut zusammen und beuge mich nach vorn. Schnell gebe ich ihm einen winzigen Kuss auf den Mund.

Mit einem leisen Seufzer lege ich mich auf den Rücken und strecke die Arme weit über meinen Kopf. Ich betrachte die kleinen Schäfchenwolken, die hoch oben am Himmel stehen, schließe mit einem seligen Lächeln die Augen und meinen Lippen entschlüpft ein „Hhhmmm“…


Meine Finger streicheln ihre Zehen und Knöchel, während ihr Kuss mich schon wieder kräftig durcheinander wirbelt. Wie anmutig und umwerfend schön Klara da liegt. Und sie scheint keine Angst zu haben, dass ich etwas tun könnte, was sie erschrecken oder ihr gar missfallen könnte. Sie schließt sogar die Augen und genießt meine Hände. Ein Bild, das ich für immer in meiner Seele festhalten möchte.

Als ich mich ein klein wenig von der aufregenden Berührung ihrer Lippen beruhigt habe, ziehe ich Klara ihre Schuhe an, lege mich zu ihr und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Sie hüpfen wie Popcorn, das es seit Neustem im Kino zu kaufen gibt, in meinem Kopf herum. Scheinbar habe ich bis heute noch gar nicht gelebt, denn ich bin so glücklich wie nie zuvor und die letzten Stunden werden immer in meinem Gedächtnis bleiben.

Klara hat zuerst meine Hände und Schultern und danach meine Lippen und mein Herz berührt. Zum ersten Mal habe ich so etwas wie Liebe gespürt. Klara. Dieser Name wird mein Leben lang wie eine magische Melodie klingen, was immer auch mit uns passieren wird. Viel zu schüchtern, um all das auszusprechen, lege ich meinen Kopf an ihren und höre ich mich sagen: „Das ist der schönste Tag meines Lebens.“


Mit geschlossenen Augen liege ich da und atme aufgeregt ein und aus. Friedrich so nah bei zu spüren, den Duft seines Haares wahr zu nehmen, ist mehr als ich mir erträumt habe. Obwohl seine Haare mich an der Stirn kitzeln, halte ich ganz still. Will diesen wunderschönen Moment nicht zerstören. Lasse seine Worte tief in mir nachklingen…

Wie hat sich die Welt doch seit heute Morgen verändert. Bin das noch ich? Diese Frage kann – nein – muss ich mir einem klaren „Nein“ beantworten. Meine Welt ist NICHT mehr dieselbe wie am Morgen. ICH bin nicht mehr dieselbe wie heute Morgen! Was hat er nur mit mir gemacht?

Sobald ich seinen Namen stumm vor mich hin flüstere, ihn in Gedanken ausspreche, habe ich sein Bild vor Augen. Seine lächelnden Lippen und seine strahlenden Augen, die mich so zärtlich anschauen. Wiege mich mit ihm zur Musik. Spüre seine Arme, die mich halten und seine Lippen, die sanft die meinen berühren. Tanze mit ihm in den Himmel hinein.

Mein Herz schlägt Purzelbäume und ich liege da und lasse es zu. Das Tor zu meinem Herzen habe ich weit geöffnet und dann nehme ich allen Mut zusammen und drehe mich zu ihm um. Seine sanften braunen Augen blicken mich liebevoll, aber gleichzeitig fragend an, als seine Stirn eng an meiner liegt. Wieder kann ich nicht umhin, ihm zart über seine Wange zu streicheln.

Nur so eben berühren sich unsere Lippen, dann wispere ich: „Friedrich … ich … auch für mich war das der schönste Tag meines Lebens. Das … heute … der Kurs hat gerade erst angefangen … wir … wir haben noch so viel Zeit“, stoße ich schüchtern hervor. „Ich möchte dich bitten … gib mir Zeit. Es ist alles so neu für mich….“

 

 

Impressum

Texte: Mara und Hincha im Frühjahr 2013 / Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autoren.
Bildmaterialien: google
Lektorat: Mara Brendt
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

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