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Kapitel 1

Noel

Ich kannte Lucia schon seit sie ein Kind war. Sie hatte diesen Blick, diese Lächeln, das jeden in seiner Umgebung fesselte und den Augenblick plötzlich unglaublich wertvoll machte. Die Zeit schien dann immer langsamer zu vergehen, all der Stress, all die Hektik war vergessen. Man lebte für diesen kurzen Atemzug im Hier und Jetzt, hörte das Schlagen des eigenen Herzens, die Wärme auf der Haut und vernahm ein wundervolles Gefühl von Geborgenheit. Diesen einen Wimpernschlag war die Welt ein schöner Ort, ohne Angst, Schmerz oder Krieg.

 

Manchmal wünschte ich mir, ich hätte mich in ihrem Blick ewig verlieren können; der Gedanke nicht aufwachen zu müssen und in die Gegenwart geschleudert zu werden war verlockend. Doch selbst ich, der eingehüllt in der Schwärmerei für sie war, musste erkennen, dass auch sie, der ewige Quell des Friedens und der Ruhe, von der Dunkelheit der Welt verschluckt werden wird.

 

Sie verlor ihr Lächeln nicht, als festgestellt wurde, dass sie Kräfte vergleichbar mit der ihres angebeteten großen Bruders hatte, Kräfte, die auch mit meinen vergleichbar waren. Ein Leben voller Training, Schmerz und Tod war damit vorhergesagt.

 

Sie verlor ihr Lächeln nicht, als sie damals mit zehn Jahren fast starb, da sich ihre Aura von der Macht in ihr fast hat überwältigt worden ist.

 

Sie verlor ihr Lächeln nicht, als ihr geliebter großer Bruder an meiner Seite im Krieg starb.

 

Doch sie wird ihr Lächeln verlieren, es war nur eine Frage der Zeit.

 

Ich würde sie immer lieben und immer mit ihren sanften, blonden Locken, den Augen, so blau wie ein Ozean und ihren kleinen Rüschenkleidern in Erinnerung behalten. Irgendwie musste dieser kleine Lichtblick in einer sonst so finsteren Welt erhalten bleiben.

Kapitel 2

Lucia

 

Ich sah das Blut, dass aus seinen Körper strömte, wie es sich zu kleinen Rinnsalen formte und bishin zu meinen bereits erschlafften Körper floss. Das Blut fühlte sich trotz des kalten, dreckigen Betonbodens seltsam warm in den Händen an. Ich konnte mich nicht bewegen, wollte es auch inzwischen nicht mehr. Vielleicht würde mir der Anblick der Leiche zu viel sein. So unendliche viele Tote hatte ich bereits gesehen und dennoch hätte ich seinen reglosen Körper nicht verkraftet.

Der Tod überraschte immer und immer wieder mit seiner Grausamkeit und Unaufhaltsamkeit; immer, wenn man glaubt daran gewöhnt zu sein, fuhr er wieder seine dunklen Krallen aus und nahm sich das nächste Leben.

 

Ich spürte, wie ich weinte, konnte es aber nicht beeinflussen. Man weinte nicht als 0-Soldat, hatten sie immer gesagt, man darf nicht weinen. Es war ein Ausdruck der Schwäche. Verrückt in einer Welt zu leben, in der Gefühle Schwäche bedeuten. Sie waren immerhin nicht hilfreich, wenn man jemanden kaltblütig ein Messer in die Brust rammen musste. Manchmal fragte ich mich, wie die Welt wäre, wenn es keine Magie gebe, keine Supersoldaten, keinen Hass, keinen Krieg.

 

Der Gedanke schien soweit in der Ferne zu sein, dass ich ihn kaum greifen konnte. Doch es war ein schöner Gedanke, ein schöner letzter Traum. Vielleicht würde ich hier sterben, dachte ich. Ich hatte keine Angst vor dem eigenen Tod, nur vor dem was er verursachen würde. Ich konnte meine Familie nicht zurücklassen, meinen süßen Prinzen, und Artemis, meinen treuen Gefährten.

 

Immer wenn der Tod so nah ist, dass man ihn beinahe schon greifen konnte, wurde es nicht dunkel; die meisten glaubten an die ewige Finsternis nach unserem Leben. Ich wollte die Geschichte der Götter glauben, die uns in Form von Seelen auf die Welt hinabsetzten und uns ein eigenes Schicksal zuwiesen. Es war ein beruhigender Gedanke, dass wir alle einen eigenen Sinn in unserem Sein hatten und die Möglichkeit Teil eines riesigen, gigantischen Prozesses zu sein.

 

Ich sah das weiße Licht auf mich zurauschen, spürte in diesem Moment einen warmen hellen Schein, der sich auf mich richtete. Sterben war im Moment des Augenblicks schön; eine wohltuende Woge aus positiven Emotionen, die nur noch mehr Endorphine erweckte. Doch ich würde heute nicht sterben, irgendwo tief in mir drin, wusste ich, dass es stimmte.

 

„Lucia, verdammte Scheiße!“

 

Ein leises Hallen, weit, weit weg von meiner jetzigen Gegenwart…

 

„Wach auf Lucia!“

 

Aufwachen, aufwachen, aufwachen; ein fremdes Wort, nicht wahr?

 

„Stirb mir hier nicht weg, du darfst verdammt noch mal nicht sterben!“

 

Ich lächelte, als ich seine Aura spürte. Ich lächelte und spürte dann, wie mich das Licht losließ und die Krallen der dunklen Welt mich in meinen Körper zurückzerrten.

„Mein Prinz“, flüsterte ich sanft und gab mich seiner wunderschönen, tobenden Aura hin, als ich schließlich in das dunkle Nichts gezogen wurde und langsam in eine Welt zurückglitt, die trotz allen im Herzen gut ist.

 

Lange Zeit spürte ich gar nichts außer der großen, bedrückenden Dunkelheit meiner Ohnmacht, doch irgendwann schien die Welt wieder Konturen anzunehmen und in ihrer eigenen Art und Weise wieder zu erblühen. Meine Aura spürte wieder das tiefe, dunkle Pochen des Weltherzes, die Quelle des Lebens und alle Guten und Bösen. Irgendwann wurde aus dem Ursprung dieses einzelnen Herzschlages ein Orchester aus Eindrücken und Geräuschen und bildete die Welt, wie ich sie kannte.

Hektisch, schnell, eng und gleichzeitig unendlich groß. Mein Prinz war manchmal da, manchmal war er weg und doch schien er niemals die Verbindung zu meinen Herzen zu verlieren. Er war das womit meine Welt endete und begann.

 

Ich erwachte während eines lauten Unwetters und konnte das Gebrüll des Windes und Regens gegen die Fenster peitschen hören. Die angenehme Umarmung der wohlbekannten blauen Energie ließ mich wissen, dass ich bereits im blauen Reich war, weit weg von der Grausamkeit der Schlacht, die mir nach wie vor in den Knochen lag. Mein Körper schmerzte fürchterlich und wollte sich gegen die Schmerzen wehren, schien fast müde zu sein von meinen sturen Drang am Leben festzuhalten. Die blonden langen Locken fielen mir ins Gesicht, als ich mich aufrichtete. Sie waren wirr und heller als sonst, doch sie waren immer noch da, so stetig wie meine Existenz auf dieser Welt.

 

Ich spürte Artemis bevor ich sie sehen konnte; ihre weiche, sanfte Aura, die sie schon besessen hatte, seit ich sie damals im Wald gefunden hatte, umwarb mich zu einer zärtlichen Begrüßung. Ich lächelte als sie ihre weißen, langen Gliedmaßen elegant und fließend erhob, um mir ihre feuchte Schnauze an die Hand zu drücken. Eine Flut von Bildern erschien mir noch im gleichen Moment.

Die Unschärfe verriet mir, wie besorgt sie war und auch der Inhalt verstärkte diesen Eindruck. Sie zeigte mir unendliche viele Stunden von ihrem Warten und meinen Körper, der vollkommen und leblos dalag.

 

Zudem erschienen mir Szenen von meinem Prinzen, der gebadet in einem Gemisch aus Verzweiflung, Angst und Wut über mich hütete. Er griff sich immer wieder in das kurze dunkle Haar und zerzauste es; so wie ich es immer tat, wenn ich ihn ärgern wollte. Er hatte tiefe Augenringe unter seinen Smaragdgrünen Augen, die mir von Tag zu Tag bedrohlicher erschienen. Seine Krise wurde nur ab und an durch die Anwesenheit meiner Eltern oder meiner kleinen Schwester unterbrochen.

So künstlerisch und unverbesserlich sie war, hatte sie mir jede Woche wieder ein Bild gebracht. Manchmal von Artemis, die sie immer wieder versuchte mit nach Hause zu nehmen. Doch Artemis war stur. Sie zeigte mir ein Strom von Bildern in den sie mir ihre Loyalität vermitteln mochte, indem sie sich weigerte zu Essen und zu Trinken in der Gegenwart meines starren Körpers. Es war eine traurige Szenerie, die mir Kummer bereitete und zugleich berührte.

 

„Lucia“, hörte ich die hohe klare Stimme von Finja, des einzigen noch lebenden Kindes der Hauptfamilie der Noir neben mir. Sie sah so unendlich jung aus in ihren blauen Kleid und den geflochtenen braunem Haar. Sie war nur wenige Jahre jünger als ich, doch zwang sie ihre Heilgabe nicht dazu so schnell zu altern, wie ich oder viele anderen Soldaten. Ich liebte den Gedanken, dass wenigstens sie vor den grausamen Anblicken der vielen Schlachten zwischen dem blauen und rotem Reich bewahrt wurde. Sie hatte einen großen, kunstvollen Blumenstrauß in ihren Händen, den sie fast fallen ließ, als sie mich bemerkt hatte.

 

„Finja“, sagte ich sanft und spürte ein Lächeln auf meinen Lippen, welches sich abermals fast mit Tränen vermengte. Ich hatte kaum bemerkt, wie wund und spröde sich meine Herz anfühlte. Der Tod Matthews hatte die tiefen Wunden über den Tod meines Bruders, Alectus, wieder aufgerissen und wollten mich in die damalige Dunkelheit zurückziehen. Irgendwie brachte mich die stürmische Umarmung und der kurze Aufschrei von Schmerz, der durch meinen Körper jagte, aus den Sog der Melancholie.

 

„Es tut mir Leid“, flüsterte sie mir ins Ohr und ließ mich nicht los. Die Trauer vermischte sich mit dem Gefühl von Liebe und Geborgenheit, die mir meine Schwester schenkte.

 

„Mir auch“, sagte ich leise. Meine Stimme war spröde und die Worte schmerzten im Hals, doch es war mir gleich. Für diesen einen Moment wollte ich vergessen, wo und wer ich war. Ich wollte nur hier sein und die Wärme genießen.

 

„Wie geht es dir?“, fragte sie besorgt und richtete sich auf, als sie die Umarmung langsam löste. Ihre bernsteinfarbenen Augen, vergleichbar mit den meines Vaters, blickten mich intensiv an, schienen mir fast bis auf den Grund meiner Seele zu folgen.

 

„Es wird besser“, meinte ich, kam aber nicht umhin selbst eine Art von Verbitterung in meiner Stimme zu vernehmen, „Wie sieht es momentan da draußen aus?“

 

„Die Schlacht ist vorbei. Beide Reiche haben alles daran gesetzt wieder einen kurzfristigen Waffenstillstand aufzusetzen. Beide Lager sind vollkommen erschöpft und nachdem sie dich gefunden haben waren mehrere Leute durchaus dazu bereit die Waffen für ein paar Jahre ruhen zu lassen“, antwortete sie sofort, wohl um mich zu beruhigen. Sie sah mich abermals direkt und intensiv an und holte kurz Luft, als sie erneut zum Reden ansetzte:

 

„Du hättest Mutter und Vater sehen müssen. Sie wären fast ausgetickt vor Sorge, nach Alecs Tod verkraften sie deinen Tod nicht auch noch. Und du hättest Noel sehen müssen“

 

„Wie geht es ihm?“, unterbrach ich sie hektisch.

 

„Entsprechend der Umstände. Er sagte er könnte deinen Tod jetzt einfach nicht verkraften und dass es nicht fair wäre und so weiter…“

 

„Ich weiß nicht was wie alle erwarten“, meinte ich plötzlich bitter, spürte meinen neue erwachten Zynismus wieder aufleben, der seit Alecs Tod phasenweise auftrat, „ich bin Soldatin und regelmäßig in großer Gefahr. Man muss tagtäglich damit rechnen, dass ich sterbe und ich muss damit rechnen, dass sie …, dass sie…. So ist das nun mal in unserer Welt. Sie sollen sich nicht so haben!“

 

Finja antwortete nicht sofort. Sie sah aus den Fenstern und in den Horizont, des sich bereits legenden Sturmes. Ihr Blick wirkte unglaublich müde und langsam. Er sagte so viel gleichzeitig aus, dass ich mich augenblicklich darin wiederfand. Ich wünschte ich könnte ein anderes Leben führen; ein Leben an der Seite der Seelentiere, mit Noel, unseren Kindern, den neckenden Witzen meines Bruders. Ich würde sie alle über alle Maße lieben. Selbst meine Schwester, mit der ich mich früher immer wieder in die Haare gekriegt habe, würde ich friedlich zu leben wissen.

 

Und doch war ich hier, sah diesen unglaublich traurigen Blick, der vor Sehnsucht und Angst geprägt war. Da war nicht ihr üblicher Widerstand, ihr übliches „benimm dich nicht schon wieder wie eine Zicke“, sondern nur dieser Blick.

 

„Es tut mir Leid.“

 

Meine Worte waren leise und undeutlich, aber ich wusste, dass ich sie aussprechen musste. Nicht nur ich lebte in dieser dunklen Welt, ich teilte sie mir mit vielen anderen, die ihr Schicksal auf den Schultern tragen und damit leben mussten.

 

„Schon gut“, meinte Finja mit einen müden Lächeln, „ich sag den anderen Mal bescheid, die wollen bestimmt auch wissen, dass es dir gut geht.“

 

Sie ging. Mit ihr ging dieser kurze Augenblick von der innigen Intensität zwischen uns beiden. Solche Momente waren unglaublich selten und ich hatte ihn kurzerhand zerstört.

Finjas Schwäche, ihre Launenhaftigkeit und starken Emotionen hatten sie früher unberechenbar und anstrengend gemacht; ein Dorn im Auge, wenn man wie ich jeden Tag der Woche 20 Stunden nur mit Training, Selbstkontrolle und Lernen verbracht hatte.

Nach mehreren Schicksalsschlägen war meine Schwester so still und leer geworden, manchmal, wie in dem Augenblick in dem sie den Raum verlassen hatte, wirkte sie wie eine Puppe.

 

Ich wusste nun wieder, warum ich mich fortwährend an das Leben und die Hoffnung klammerte; weil es sonst vielleicht keiner tun würde.

Kapitel 3

Satasha

Ich war aufgeregt; immerhin würde ich heute vielleicht ein paar Soldaten und Mitglieder des hohen Adels sehen. Meine Beine wippten euphorisiert hin und her, ein permanentes Grinsen und ein erwartungsvoller Blick schmückten mein Gesicht.

 

Mein erster Tag als Heilerin in einen der angesehensten Notfallkrankenhäuser. Atlantis war die erste Anlaufstelle, sozusagen die erste nennenswerte Stadt, im Umkreis des Kriegsgebietes. Mir war klar, dass sie mich wahrscheinlich nur wegen des großen Andrangs an Patienten so kurzfristig aufgenommen hatte, doch die hohe Chance einen S oder sogar 0-Soldaten zu sehen war zu verlockend.

 

„Sei doch realistisch, Sascha“, zischte Nahmi von der Seite, genervt von meiner Aufregung während des Fluges und der jetzigen kurzen Busfahrt, „du bist eine etwas bessere C-Rang Heilerin. Die werden dich nicht mal in die Nähe eines ihrer ach so tollen Supersoldaten lassen.“

 

„Ich hab gehört das Noir Mädchen ist dort auch“, mischte sich plötzlich die Stimme eines Mädchens mit karamellfarbener Haut und kurzen Rasterlocken ein. Sie gesellte sich augenblicklich zu uns und stellte sich unmittelbar neben meinen Sitz.

 

„Sie ist ja angeblich der Grund für den plötzlichen Waffenstillstand.“

 

„Es können tausende Soldaten sterben, aber Gott behüte es stirbt eine einzige Adelige“, meinte Nahmi, während sie ihren Ärger mit wilder Gestikulation Ausdruck schenkte. Ihre langen, unbeholfenen Armen ließen sie wie eine verrückte Tänzerin aussehen und ich musste lachen.

 

„Das ist nicht witzig! Mein Cousin liegt im Sterben!“

 

„Das tut mir Leid“, meinte plötzlich abermals die dunkelhäutige Heilerin, „Jeder Tod ist trotz der Menge noch eine Tragödie.“

 

Nahmi schenkte ihr einen kurzen Blick und ein Anflug von einem Lächeln, bedankte sich aber nicht. Sie gehörte noch nie zur netten und höflichen Variante von Mensch.

 

„Wir sind da“, verkündete ich schließlich um der unangenehmen Still Einhalt zu gebieten.

Das Gelände, auf das wir zustießen war Chaos pur. Ein gigantisches Krankenhaus erstreckte sich vor uns, vorausgehend war eine vollkommen überfüllte Notaufnahme-Einfahrt. Eine gehetzte Heilerin kam auf uns zugerannt, als wir gerade den Bus verließen. Ihr Ansatz war fettig, sie hatte große Augenringe und ihr Haar war vollkommen zerzaust. Sie jonglierte unbeholfen mit zwei großen Taschen herum, die einer der Heiler ihr freundlicherweise abnahm.

 

Die Einweisung war kurz, ungenau und vollkommen unübersichtlich. Eigentlich konnte ich mich nicht an mehr erinnern, als dass sie uns Pieper in die Hand gedrückt hatte und etwas murmelte von „bringt niemanden um“. Die verwirrten und irritierten Blicke meiner Mitfahrer bestätigten mir, dass das alles andere als ordinär oder hilfreich war.

Wir mussten uns einen Zettel auf die Krankenhauskleidung kleben in dem unser Rang vermerkt wurde und ich fühlte mich nahezu unsichtbar, als ich mich mit dem großen, gelben C auf meiner Brust schmückte. Man hatte mir nicht gesagt, wo ich zu sein hatte und wem ich unterstellt war.

Also irrte ich meinen Kollegen hinterher, die alle nacheinander von irgendjemand mit den „du da, ich brauch dich hier“ gerufen wurden. Doch sie alle trugen ein oranges B oder ein rotes A und ich fragte mich nach einer halben Stunde allmählich, ob ich überhaupt gebraucht werde. Die meistens Soldaten waren so schwer verletzt, dass sich kein Heiler eines niedrigeren Rangs an ihnen versuchen sollte. So sehr ich auch versuchte in der Menge einen Patienten meines Ranges ausfindig zu machen; ich war bis weiteren erfolglos.

 

Ich blieb stehen.

 

Dieses Stockwerk war ruhig, viel zu ruhig. Ich konnte mich nicht mal daran erinnern hier her gekommen zu sein. Der Gang war im genau gleichen kahlen Stil, wie der Rest der Krankentrakte gestaltet und unterschied sich nicht. Nur die Hektik, die fluchenden Schwestern und Heiler fehlten vollkommen. Allmählich erschlich mich das Gefühl, dass ich nicht hierher gehörte.

 

Da ertönte plötzlich eine engelsgleiche Stimme aus einer sich öffnenden Tür. Das erste, das ich sah, war ihr wunderschönes, langes blondes Haar. Es lockte sich spielerisch und verlieh ihr noch mehr Schönheit, als sie sowieso schon besaß. Ihre Schritte waren zielbewusst, doch sie zuckte zusammen. Sie musste schlimme Schmerzen haben.

 

Ich wollte irgendetwas unternehmen, doch jetzt da sie mitten im Gang stand und Richtung Tür zurücksah, bannte mich ihr Anblick vollkommen. Sie hatte diese blauen, leuchtenden Augen, die ihre unglaublich sanften Züge in zwei Fixpunkten vereinigten. Ein einfaches schwarzes Kleid, dass sie trug, verlieh er die Anmut eines Engels; die Art wie sie sich bewegte, ihre Stirn runzelte und sprach faszinierte mich vollkommen. Ich war wie erstarrt. Sie hatte dieses Leuchten, um sich, dass die Welt langsamer schlagen ließ und alles andere in den Hintergrund rückte.

 

Lucia

Der Schmerz zog mir so plötzlich ins Bein, dass ich nicht anders konnte, als davon zurückzuschrecken. Ich musste hier weg, diese Bilder, Szenen, die sich in meinen Kopf eingeprägt hatten irgendwie loswerden und in einen Bericht verfassen. Doch mein Vater wollte nicht.

„Lucia, Hergott nochmal!“, stieß er aus und ich war dazu gezwungen mich nach meiner schnellen Flucht umzudrehen. Mir war furchtbar schwindelig, der Kopfschmerz war ein einziges, gigantisches schmerzhaften Pochen in meinen Schläfen. Ich war Schmerz gewohnt, gewohnt ihn zu ignorieren und mich nicht davon beeinflussen zu lassen. Es ging mir vollkommen auf die Nerven, dass ich mich der Nebenwirkungen des Komas nicht entziehen konnte.

 

„Noel ist in der Hauptstadt und mitten in den Waffenstillstandsverhandlungen mit seinem Vater und den anderen Vertretern der Militärkoalition. Ich musst Kardis hinschicken, weil sie noch einen kühleren Kopf bewahren konnte als ich.“

 

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, als ich den Namen meiner Mutter hörte. Kardis, die mächtige Ehefrau des noirschen Hauptvertreters Marios. Seit Alectus Tod war ich die neue Erbin dieses gigantischen Vermächtnisses und war vollkommen überfordert damit. Der einzige Gedanke, der mich momentan beherrschte, war der, dass mich weitere 20 Stunden Flug von meinen Prinzen trennten.

 

„Ich bleibe nicht hier. Da unten sterben hunderte von Soldaten und ich belagere schon seit Wochen ein einzelnes Zimmer. Ich kann laufen, Vater! Ich bin in der Lage zur Hauptstadt zu reisen.“

 

„Ach ja?“, meinte mein Vater skeptisch und setzte wieder diesen vielsagenden, wissenden Blick auf. Ich hasste es, wenn er das machte. Es brachte mich immer in die Verlegenheit meine eigene Unvernünftigkeit einzugestehen. Doch ich war vollkommen ausgezerrt, spürte immer noch den Tod meines bestens Co-Soldaten in den Knochen, und die tiefe, trübe Trauer meiner Schwester.

 

Ich war ausgebrannt auf physischer und psychischer Basis.

 

„Dieser verdammte Waffenstillstand soll endlich über den Tisch, Vater“, meinte ich verzweifelt und gestikulierte entschlossen mit meinem linken, bereits verheilten Arm. Resignation machte sich in meiner Aura bemerkbar, die Frustration und Verzweiflung der letzten Jahren fühlte sich so unendlich schwer auf meinen Schultern an. Innerlich dankte ich abermals der Sensibilität der noirschen Abstammung, als mein Vater mit Leichtigkeit das Gemenge meiner Emotionen allein anhand meiner Energie ablesen konnte.

 

Die Aura meines Vaters veränderte den starren, widerstrebenden Charakter in etwas Warmes und Familiäres. Ich spürte ein müdes Lächeln auf meinen Lippen, ein stummer Dank für das Nachgeben meines Vaters.

 

„Ich muss noch in der Stadt bleiben, ich habe hier Verhandlungen, aber deine Schwester solltest du mitnehmen.“

 

Ich nickte und schlang kurz darauf die Arme um den Hals meines Vaters. Seine zärtliche Erwiderung und das kurze Streichen über den Kopf erinnerten mich an Zeiten, in denen noch vieles einfacher war. Als ich noch mit Artemis den ganzen Tag rumtoben konnte, mich mit Finja gezankt und Lieder für Noel auf dem Klavier geschrieben hatte.

Bittersüße Melancholie erfüllte mich bei diesen Erinnerungen, doch ich erhob eine Mauer bevor die Emotion mein Herz erreichen konnte.

 

Mein Blick richtete sich geradewegs in die Richtung dieses dünnen Mädchens, das mich mit großen Rehaugen betrachtete; fast als hätte es Angst von mir. Die Kleidung, die sie trug, war ihr zu groß, das C prangte schief und grell auf ihrer Brust. Mir war klar, dass sie kein einziges Wort verstanden haben konnte, doch allein ihre Anwesenheit auf diesem Stockwerk irritierte mich.

 

Vater bemerkte zwar ebenfalls die Anwesenheit des Mädchens, verabschiedete sich jedoch nach einen kurzem Blick von mir und lief mit gewohnter Hektik zum derzeitigen Arbeitsort.

Ich überlegte kurz, ob ich das Mädchen nicht einfach ignorieren sollte, entschied mich dann jedoch für die andere Option.

Ihre Aura war unruhig, schwach und fast schon erstarrt. Solche Reaktionen waren beinahe normal; berücksichtige man den Unterschied zwischen einer schwachen Heilerin und den Kräften einer hohen Adeligen.

Ich hatte nie viel Zeit gehabt mich mit „Nicht-Adeligen“ zu beschäftigen, nicht, weil ich sie nicht mögen würde. Sondern einfach nur aus dem Grund, dass ich keine Zeit hatte, bestand mein Leben doch nur aus Training, Einweisung und wenigen anderen ausgewählten Lernvarianten. Ich hatte ungemein wenig mit anderen Bürgern zu tun. Sie bewegte sich nicht, als ich näher kam.

 

Komisch.

 

Wäre eine Verbeugung nicht normal?

 

Ich nahm keinen Anstoß daran, war dennoch irritiert.

 

„Hallo?“, begrüßte ich sie vorsichtig, immer noch verunsichert aufgrund ihrer dünnen, zitternden Aura. Die standardisierte Sprache des ersten Sektors des blauen Reiches fühlte sich schon in der Begrüßung taub auf der Zunge an.

 

Das Mädchen setzte nach einer halben Ewigkeit zum Sprechen an, wurden jedoch jäh von Damiens Stimme unterbrochen:

 

„Lu, Lord Noir meinte du bräuchtest eine Eskorte zum Flughafen?“

 

Abermals erstarrte die dünne Heilerin und ich riss mich endlich von ihrer seltsamen Gestalt los, als ich mich zur muskulösen Gestalt der Stimmquelle bewegte. Seine gerunzelte Stirn verriet mir, dass ihn die Situation ebenfalls zu verwirren schien. Ich zuckte als Antwort mit den Achseln.

 

„Wir müssen meine Schwester noch mitnehmen.“

 

„Natürlich.“

Kapitel 4

Lucia

 

Die Stadt erlag der Menschenmenge, die sich hektischer und unkoordinierter als gewöhnlich bewegte. Eine allgegenwärtige Unruhe, gemengt mit Angst, machte sich immer bemerkbar, umso länger der Wagen durch die Straßen fuhr.

Ich sah meinen Begleiter mit hochgezogener Braue an; er hatte diesen stetig konzentrierten und fokussierten Blick, den er aufsetzte, wenn es an ihm lag mich zu beschützen. Diese Haltung erinnerte mich an frühere Zeiten, bevor sich meine Gabe entwickelt hatte und ich stetig auf den Schutz eines speziell ausgebildeten Soldaten angewiesen gewesen bin. Razor war ein alterbekannter Weggefährte meiner Familie. Er war irgendwie immer gegenwärtig; auf eine angenehme Art und Weise, die mir immer das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte.

 

Mittlerweile wäre ich nicht mehr auf seinen Schutz angewiesen, bestände nicht die Tatsache, dass jede einzelne Zelle meines Körpers zu schmerzen schien. Das Pochen in meinen Kopf war präsenter denn je und die Masse an Verkehr, der in der Stadt herrschte, schien meinen Verstand vollkommen zu überrumpeln. Noirs mussten schon früh in ihren Leben vollkommene Kontrolle über ihren Körper beherrschen, da sie sonst an den unzählbaren Sinneseindrücken zu Grunde gehen würden.

 

„Was ist in der Stadt los?“, meinte ich schließlich, als Razor nicht auf meine Mimik reagiert hatte. Er sah mich kurz mit gerunzelter Stirn an, fast als wäre die Frage überflüssig.

 

„Die Schlacht herrscht noch und der Großteil der Armee wird grad schwerverletzt in die Stadt eingeliefert. Was sollte denn deiner Meinung nach für eine Stimmung herrschen?“

 

Ich antwortete nicht sofort und ließ stattdessen meinen Geist abermals über die Auren der Menschen schweifen; ein anstrengendes Unterfangen, dass ich vielleicht lassen sollte.

Doch abermals irritierte mich diese gehetzte Atmosphäre, die wie die Luft, die sie atmeten, in den Lungen der Menschen wütete.

 

„Ich kenne die Stimmung nach oder am Ende eines Krieges. Sie ist anders. Ich frage dich noch einmal: Was ist los?“

 

Er seufzte. Es war ein schweres, zittriges Seufzen, dass mir nun endgültig verriet, dass etwas nicht stimmte. Er antwortete nicht, so dass ich gezwungen war nachzuhaken:

 

„Razor, lass mich nicht die verdammte „ich steh über dir-Karte“ spielen, und verrate mir endlich was los ist. Ich werde sowieso erfahren.“

 

„Es reicht, wenn du es in der Hauptstadt erfährst“, seine Stimme klang plötzlich streng, autoritär; wie früher, als ich mich davonschleichen wollte, um heimlich meine Freunde zu besuchen. Aufgrund unserer langen Vorgeschichte durfte sich Razor im Umgang mit mir und meiner Schwester viel erlauben.

 

Er war ein entfernter Abkömmkling der Knight-Familie; den buchstäblichen Kämpferherzen unseres Reiches. Seine Familie hatte sich abgekoppelt und auf Geleit- und Personenschutz spezialisiert. Diese Ambitionen hatte sie weit gebracht, waren sie doch mittlerweile in der Stellung über Adelige, wie mich, bedingt zu befähigen. Zumindest fühlte er sich dazu in der Lage.

 

Ich liebte Razor auf eine familiäre Art und Weise, die mich ihn vollkommen respektieren ließ. Bisher hatte ich nie das Bedürfnis gehabt, mich ihn überstellen zu müssen; doch Schmerz, Trauer und tiefste Sorge trieben mich dazu.

 

„Verdammt Razor, behandle mich nicht wie einer deiner kleinen Gören. Ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, was los ist oder ich ziehe es dir aus deinen Kopf heraus!“

 

War das zu viel?

 

Razor zuckte bei meinen Worten zurück, als hätte ich ihn geohrfeigt. Ich selber war überrascht von der Härte, die ich mitgeführt hatte und runzelte augenblicklich die Stirn.

 

Der Blick meines Gegenübers war nunmehr mit etwas erfüllt, dass ich in Verbindung mit seiner Aura, als Sorge interpretierte. Irgendetwas in mir wollte die Situation entschärfen, doch was brachte es mir? Früher oder später würde ich nur noch so reden.

Das sagten meine Eltern zumindest fortwährend.

 

„Du bist anders als früher“, stellte Razor mit nachdrücklichem Bedauern fest und fuhr fort, „der König liegt im Sterben. Es ist nicht sicher, ob er es überlebt.“

 

Unangenehme Stille erfüllte den Raum, nachdem er fertig gesprochen hatte. Die tiefe Furche zwischen seinen Brauen verstärkten die Falten, die sich mittlerweile immer mehr ausgeprägte hatten. Irgendwie zerstörte diese Nichtigkeit das Bild von den jungen, herzensguten Soldaten, der mir immer zu Seite gestanden hatte, als ich die letzten Jahre meiner schönen Kindheit genießen wollte.

 

„Keine Reaktion? Nicht mal ein Augenzucken?“, meinte Razor skeptisch, als ich nicht reagierte.

 

Als Antwort zuckte ich mit den Schultern. Ich war totale emotionale Kontrolle gewohnt; das Gefühl einer starken, aufbrodelten Regung in meinen Inneren war ein treuer Weggefährte. Doch ich war selbst irritiert darüber, dass ich genau in diesen Moment nichts als Leere verspürte.

Immerhin war da ein schwacher Widerhall von so etwas wie seelischem Schmerz; nichts davon war jedoch vergleichbar zu den Wall an Emotionen, die mich vorhin im Krankenhaus erfasst hatte oder beim Anblick der wirren Menschenmenge.

 

„Ich glaube ich stumpe langsam ab“, erwiderte ich schließlich mit einem Anflug von Resignation, „Noel muss es schrecklich gehen.“

 

„Der Prinz schlägt sich tapfer“, warf er entschlossen hinein.

 

„Alle, an das ich vorhin denken konnte, ist so sinnlos im Angesicht der Tatsache, dass unser König, sein Vater, stirbt. Ich werde wohl auch egoistischer.“

 

Razor schien abermals zu einer Erwiderung ansetzen zu wollen, doch ich unterbrach ihn mit einen Kopfschütteln.

 

„Schon gut, Razor. Wir sind eh gleich am Internat meiner Schwester.“

 

Er nickte kurz zur Bestätigung und setzte abermals seinen Bodyguard-Blick auf; professionell wie eh und je. Irgendetwas beruhigte mich an der Tatsache.

 

Finja zeigte sich zunächst wie erwartet nicht sehr begeistert von der Tatsache ihr geliebtes Internat für die besten Heiler des blauen Reiches zu verlassen. Sie hatte die restliche Zeit nur damit verbracht im Krankenhaus auszuhelfen und sich dann schließlich im Internat kurz auszuruhen.

 

Razor versuchte sein Bestes zu überzeugen; ein Unterfangen, dass ich stumm mitverfolgte. Doch sie wehrte sich vehement gegen seine Argumente und beharrte wiederholte Male darauf, dass sie hier bleiben musste.

 

„Die brauchen mich hier, Razor! Hast du mal in das Krankenhaus gesehen? Die können nicht auf mich verzichten.“

 

„Das ist mir durchaus bewusst, Finja. Aber eurer Vater, Lord Noir, befahl mir euch sicher in die Hauptstadt zu geleiten.“

 

Sie zog ihren Mund zu einer Schnute und betrachtete nun plötzlich mich. Ihre Hände waren trotzig ineinander verschränkt und ihre Beine im festen Stand vor mir ausgebreitet.

 

„Hast du dazu nichts zu sagen? Ich bin mir sicher, dass es dir zuzuschreiben ist, dass sie uns in die Hauptstadt bringen.“

 

Ich seufzte. Ich war so müde, so erledigt.

 

„Fin…“

 

„“Fin“ mich nicht, Lucy! Ich bleibe hier. Vater ist doch auch hier, du kannst ja alleine fahren, wenn du unbedingt willst.“

 

Für einen Moment war ich erstarrt, irritierte mich doch reichlich die aufblitzende Erinnerung bei meiner Schwester, die das Gespräch zwischen uns kurz nach meinen Erwachen zeigte.

 

„Warum schickst du mir das?“

 

„Du kannst mir vertrauen“, sagte sie plötzlich mit Nachdruck in der Stimme und ihren abermals intensiven Blick.

 

„Fin, ich versteh ja, dass du bleiben willst. Aber Vaters einzige Bedingung für meinen Flug in die Hauptstadt, war, dass du uns begleitest.“

 

Finja hob abermals ihre Augenbrauen; das tat sie immer, wenn sie zu einer lauten, widerstrebenden Stimme im Streit ansetzte.

 

„Der König ist schwerverletzt, Noel braucht mich und Atlantis ist nicht sicher, solange der Waffenstillstand nicht ausgehandelt ist. Du wirst mitkommen!"

 

„Es ist doch- “

 

„Nein, Fin!“

 

„…unwichtig, ob ich-“

 

„Ich warne dich!“, fuhr ich ihr nun zornig dazwischen.

 

„…dich dann begleite!“

 

Dann reichte es mir.

 

Meine Aura lebte plötzlich auf und die Welt um uns kam ins Beben. Alle der Frust, die Angst, die Trauer und die schmerzhaften Szenen in meinen Köpfen, die Sorge um Noel und den König.

Ich hatte keine Geduld für diesen Streit, für die Vehemenz meiner kleinen Schwester. Mich überkam das Gefühl festzustecken, sinnlos zu sein in dieser Situation; ich musste in die Hauptstadt, an der Seite meiner Mutter und meines Prinzen irgendwie für Frieden sorgen.

 

Die Schlacht…

 

Musste es immer so sein?

Mussten immer so viele Menschen sterben, bevor etwas vergleichbares wie „Frieden“ herrschen konnte?

Musste man mir so viel nehmen, damit endlich zu der Führungsperson wurde, die meine Eltern von mir verlangten?

 

„Steig jetzt in dieses verdammte Auto ein, Finja Noir!“

 

Diesmal gab es keinen Widerstand. Ihre nun großen Augen sprachen von Angst, ihr Gang war schlürfend und die zusammengezogenen Schultern waren frei von ihrem sonstigen Selbstbewusstsein.

 

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Razors Blick und den aufkeimenden Widerstand in seiner Aura.

Er hielt meine Reaktion für angebracht. Doch ich hob nur scharf die Hand; das Beben erstarb.

 

„Kein Wort, Razor!“, zischte ich und stieg ins Auto; das Pochen in meinen Kopf war schmerzhafter als je zuvor.

Kapitel 5

Noel

„Sie hat was?“, fragte ich ungläubig und mit gleichzeitig scharfem Ton.

 

„Man konnte nachweisen, dass das Beben in der Innenstadt auf Miss Noir zurückzuführen ist“, wiederholte sich der Bote abermals und verabschiedete sich dann mit einer tiefen Verbeugung.

 

„Was ist los?“, hörte ich die besorgte Stimme meiner Mutter, die gerade die kunstvolle Wendeltreppe der Königsvilla hinabstieg.

Ich sank mit einem tiefen Seufzer in den Sessel und spürte meine Aura innerlich wirbeln. Das letzte Training war zu lange her; hatte ich überhaupt trainiert, seit ich aus dem Krieg zurückgekehrt war?

 

„Lucia, sie –“, setzte ich mit müder Stimme an, wurde jedoch hektisch unterbrochen.

„Geht es ihr gut? Ist sie, ist sie…?“

 

„Es geht ihr gut. Irgendwie“, versuchte ich sie schnell zu beruhigen und fuhr mir dabei über die tiefen Augenringe meines Gesichtes. Auch, wenn ich es ungern zugeben wollte, die Situation überforderte mich.

 

Der nahende Tod meines Vaters, der „Fast-Tod“ meiner Verlobten, die Unruhen, der todbringende Krieg; ich wurde auf einiges vorbereitet, aber auf eine solche Flut von Problemen war nie die Rede.

 

„Sie hat wohl ein Beben am Internat ihrer Schwester verursacht. Die Leute waren beunruhigt, weil sie jeden Moment mit einem direkten Angriff auf Atlantis rechnen.“

 

„Das klingt nicht nach ihr“, meinte Leija, die Königin und meine Mutter, mit besorgter Stimme und setzte sich neben mich. Sie drückte sanft meine Hand.

 

„Vielleicht hat sie der Krieg diesmal vollends verändert. Es war klar, dass ihr guter Geist als 0-Soldatin irgendwann verloren geht.“

 

Meine Mutter versuchte zu lächeln; wohl um mich zu beruhigen. Sie hatte einen seidenen Bademantel an und ihre braunen Haare waren wirr.

Ein großer Kontrast zu ihren sonst so üblichen makellosem Äußerem, dass sie der Welt fortwährend präsentierte. Meine Mutter war nicht mehr als eine Erbträgerin; sie besaß weder Heil- noch Kampffähigkeiten, konnte aber sehrwohl magische Gaben an ihre Kinder vererben.

 

Natürlich war meine Mutter vielmehr, als das, hatte sie als Königin das Gleichgewicht am Hofe beizubehalten und stetig über alles informiert zu sein. Sie war eine gute Mutter. Geduldig, tadelnd, aber nur, wenn sie um uns besorgt ist, sorgsam und intelligent. Sie war es damals, die mir nach meiner ersten Bekanntschaft mit der zauberhaften kleinen Lucia verhalf, eine Ehe mit eben jener zu arrangieren.

 

Alles wurde komplizierte, als sie plötzlich die Erbin ihrer Familie wurde und keine Aussicht auf einen weiteren Erben bestand. Die Noir waren durch ihre mächtigen Gaben Gejagte des roten Reichs. Sie waren selten und wertvoll, auch wenn es mir manchmal zu sehr danach klang, als bezeichnete man sie als wichtiges „Gut“ des Reiches.

 

Es war ersichtlich, dass es schwierig wird, wenn sie sowohl die Pflichten der Noir, als die Plichten einer Königin tragen wird müssen. Zudem war sie bisweilen mit der Last ihrer mächtigen Gaben überfordert; würde sie das alles zu Schultern lernen? Ich hatte von klein auf Zeit mich auf die Bürde des Königs vorzubereiten, sie war 15, als sie verlobt und ihr Bruder umgebracht worden war.

 

„Lucia ist viel stärker, als du denkst. Sie hat schon so manche Dinge gemeistert, an die sie selbst nicht einmal geglaubt hatte.“

 

„Ich weiß“, seufzte ich, „ich vermisse sie.“

 

„Sie lebt“, sagte die Königin mit fester, sicherer Stimme, „das ist alles, was zählt.“

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.12.2016

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