SU OZBN
MENTALE QUARANTÄNE
Im Leben suchen wir nach einem Sinn. Etwas womit das Leben erträglicher ist. Was ist der Sinn des Lebens? Auf die Welt kommen, in den Kindergarten gehen, die Schule besuchen, anschließend arbeiten und eine Familie gründen? Ich denke, dass jedes Leben seinen eigenen Sinn hat. Doch die Frage, die wir uns tagtäglich stellen müssen ist: Wenn ich diese Welt verlasse, was werde ich hinterlassen?
Ich möchte meine positiven Gedanken zurücklassen. Am Ende meiner Tage möchte ich von dieser Welt gehen, mit dem Wissen, dass meine Existenz vielen Menschen Erleichterung beschert hat.
Was ist der Sinn des Lebens?
Kapitel 1. – Der Beginn meiner Schuld
„Sie müssen endlich reden!“, schreit die Kommissarin und knallt ihre Hände auf den Tisch, an welchem ich seit Minuten schweigend sitze. „Es sind bereits siebzehn Minuten vergangen! Siebzehn! Wir können diese Angelegenheit auch vor Gericht klären!“
All ihre Worte bedeuten nichts. Sie sitzt nicht hier, wo ich gerade bin. Mein Schmerz ist ihr unbekannt. Eine leblose Hülle, im Inneren eines Tornados. Mehr bin ich nicht.
Die Frau zeigt auf die Uhr an ihrem Handgelenk und erwartet, dass ich in binnen von wenigen Sekunden die vergangene Zeit ablese. Tiefe Augenringe schmücken ihr Gesicht und allgemein sieht ihre Haut nicht gepflegt aus.
Höchstwahrscheinlich hat sie eine sehr lange Woche gehabt. Den Freitagabend hat sie mit großen Augen erwartet, um mit einem gemütlichen Wochenende die Müdigkeit von ihren Schultern zu werfen. Doch stattdessen muss sich diese Frau mit meiner Wenigkeit unterhalten.
„Ich werde deine Eltern verständigen!“, beginnt sie mich zu duzen und versucht mir mit meinen Autoritätspersonen einen Schrecken einzujagen. „Wenn in den nächsten zehn Sekunden kein Wort aus deinem Mund kommt, werde ich dich in eine Zelle einsperren und du kannst den Rest dann mit deinem Anwalt besprechen!“
Darf sie mich denn einsperren? Schließlich bin ich noch eine Minderjährige und für uns gelten andere Regeln. Oder irre ich mich?
Das Ticken der Uhr an der Wand, welche mit einem Gitter gesichert ist, lenkt meine Aufmerksamkeit vom Geschehen ab. Für einen Moment fühlt es sich so an, als würde mein Herz im selben Rhythmus wie das Ticken der Uhr schlagen. Als wäre es ebenso hinter Metallstäben.
„Mit siebzehn Jahren vier Morde an einem Abend ausüben!“, beginnt die Kommissarin meine Taten des heutigen Abends aufzuzählen und verhält sich so, als wäre es halb so wild, wären die Morde an verschiedenen Tagen geschehen. „Drogen im Blut haben und zusätzlich eine Waffe benutzen! Woher wissen Jugendliche überhaupt, wie diese Mordswaffen verwendet werden? Wie ist es bloß dazu gekommen, dass die heutige Jugend so verdorben ist?“
Die heutige Jugend soll verdorben sein? Sind nicht unsere Eltern die Menschen, die uns diese Erziehung und Einstellung auf das Leben eintrichtern? Ihr Verhalten ist ausschlaggebend für unsere zukünftige Einstellung. Je nachdem, welchen Pfad unsere Eltern im Leben einschlagen, beeinflusst es uns auf irgendeine Weise. Manche Kinder haben dadurch eine sehr schwere Kindheit, welche meistens mit dem Zweifeln des eigenen Wertes endet. Es ist möglich dieses schwarze Loch zu verlassen, doch noch leichter ist es, wieder hineinzufallen. Meine Entscheidung hat mir das Leben gerettet. Irrelevant, welche Konsequenzen und Opfer sie mit sich gebracht hat.
Ich betrachte meine Kleidung und erblicke die trockenen Blutflecken an den meisten Teilen des Stoffes. Meine Beine sind von meiner Gürtellinie aus voller Blut und selbst meine weißen Schuhe haben eine rotbraune Farbe angenommen.
Mein Körper befindet sich in einer mentalen Quarantäne. Ich betrachte im Augenblick meinen eigenen Körper, doch ganz plötzlich fühlt er sich ganz fremd an. So, als wäre die Welt in einem Grauton. Mein Herz schmerzt. Das kann ich spüren. Doch die Leere, die da nun entstanden ist, verschlingt mich und meine gesamten Emotionen.
Die Worte dieser Frau dringen durch ein Ohr hinein und verlassen meinen Kopf durch das andere. Meine Gedanken driften ungewollt an den Zeitpunkt von vor wenigen Stunden zurück. Als wäre ich bloß eine Außenstehende gewesen, die einer Fremden dabei zusieht, wie ihr das Recht über ihren Körper zu bestimmen, genommen wird. Wie diese Jungen sich mit ihrem ergatterten Eigentum begnügt haben. Fast, als wären sie kleine Kinder, die ein neues Spielzeug bekommen haben und es nicht teilen möchten. Bei diesem Akt bin ich zu einer leeren Hülle geworden. Eine Marionette ihrer dreckigen Spiele. Selbst in diesem Augenblick fühle ich mich wie ein Gast in meinem eigenen Körper.
„Diese unschuldigen Jungen haben durch deine Hand den Tod gefunden!“, brüllt die Kommissarin und denkt wirklich, dass das Bild vor den eigenen Augen stets der Wahrheit entspricht.
Unschuldige Jungen? Haben diese Personen das Recht, als Menschen anerkannt zu werden? Wie kann diese Frau bestimmen, wer unschuldig ist, wenn sie die Geschichte nicht kennt? Ist anhand eines Bildes die Wahrheit herauszulesen? Was macht sie zur großen Richterin?
„I-Ich“, stottere ich und würde mich für meine Unsicherheit am liebsten ohrfeigen.
Die Kommissarin setzt sich auf den freien Sessel mir gegenüber und legt ihre linke Handfläche auf den rechten Handrücken, um mich anschließend neugierig zu mustern. Sie glaubt die erste Hürde überwunden zu haben und zu mir durchgedrungen zu sein.
Ich denke, dass ihre letzte Aussage mir einen Ausweg aus meiner mentalen Quarantäne geboten hat, welche durch die schlimmen Taten dieser Jungen hervorgerufen worden ist. Müsste ich zu diesem Zeitpunkt nicht an diesem Ort sitzen, hätten mich meine Panikattacken, existent aufgrund dieser Schmerzen, irgendwann in den Wahnsinn getrieben. Würde ich noch immer neben diesen toten Menschen sitzen, mit all dem Blut an meinem Körper, mit dem Schmerz in meinem Inneren und seinen Augen, welche leblos zu mir blicken, hätte ich mir höchstwahrscheinlich den Gnadenschuss gegeben. Ich gaukle immer vor, der starke Mensch zu sein, zu dem mich meine Eltern großgezogen haben. Doch irgendwie kann ich mich an keinen einzigen Moment in meinem Leben erinnern, an dem ich mich nicht auf einen anderen Menschen verlassen habe. Diese ganzen Poeten sprechen darüber, wie stark wir doch sind und welche Hürden wir bereits überwunden haben. Die Wahrheit ist doch, dass mit jedem überwundenen Leid, etwas Schlimmeres hinter der nächsten Ecke lauert. Tränen, die hinter verschlossenen Türen vergossen werden. Ängste, die während des Tages nicht von Bedeutung sind und uns nachts den Schlaf rauben. Ist das ein Teil des Erwachsenwerdens, oder doch des Menschseins?
„I-I-Ich ha-be“, versuche ich einen Satz zu bilden und schaffe es erneut bloß zu stottern.
Ich möchte diese Geschichte erzählen. Diese Frau soll wissen, wie es zu all dem gekommen ist. Die Welt soll wissen, was geschehen ist. So viele Frauen leben mit diesem Schmerz und wagen es nicht, diese an die Öffentlichkeit zu lassen. Aus Angst, dass sie bloß als Lügnerinnen abgestempelt werden. Ihre Stimmen verstummen und der Schmerz in ihrem Inneren währt bis zum letzten Atemzug.
Ein tiefes Ein- und Ausatmen meinerseits. Die Kommissarin hetzt mich nun nicht mehr, da ihr bewusst ist, dass die Person ihr gegenüber nun bereit ist, Licht ins Dunkle zu bringen.
„Ich habe nur überleben wollen“, spreche ich und spüre, wie meine Systeme von 100 auf 0 herunterfahren und allgemein das Reden problemlos funktioniert. „In diesem Moment hieß es, ihr Leben oder meines.“
„Was ist vor wenigen Stunden geschehen?“, möchte die Kommissarin wissen und gibt mir das Gefühl, als würde sie keinen Moment länger warten wollen. Als wäre sie der Wahrheit auf den Fersen. Unwissend, dass wenn die Antwort ihren Händen liegen würde, sie diese nicht interpretieren könnte. „Du gestehst den Mord ein. Doch, zu welchem Zweck?“
Ich denke, dass wir unsere Ängste oder Traumata gleich zu Beginn konfrontieren müssen, damit sie sich nicht manifestieren und ein Teil unseres Lebens werden können. Meine Mutter ist Psychologin und hat mir seit meiner Kindheit Bücher zu diesem Thema gekauft. Dadurch hat sich auch früh ein Interesse an der menschlichen Psyche entwickelt. Es heißt, dass der Mensch die negativen Emotionen keineswegs unterdrücken soll. Eine rechtzeitige Konfrontation ist schlichtweg der einzige Weg, um mögliche Wunden an der Seele zu verhindern. Denn irgendwann gewöhnt sich der Verstand an diese negative Energie und plötzlich wirkt das Positive unnahbar. Ich gestehe hier einen Mord ein, welcher doch bloß provoziert worden ist. Dies waren nicht meine Hände. Es waren die des Zwanges.
„Sie fragen, weshalb ich diesen Mord gestehe?“, stelle ich eine Gegenfrage und habe auch nicht die Absicht ihre eine Antwort zu geben. „Ich habe bloß leben wollen. Sie haben mich an diesem Tatort neben vier Toten gefunden. Der Anruf wurde nicht von meinem Handy getätigt. Aber meine blutigen Fingerabdrücke sind noch immer dran. Die Stimme des Anrufers ist ebenso meine gewesen. Hinterfragen Sie denn das Bild vor Ihren Augen nicht? Weshalb hat sich dieses Mädchen der Polizei gestellt? Weswegen ist sie nicht abgehauen? Sind das keine Fragen, die Sie sich stellen? Denken Sie wirklich, dass alles auf dieser Welt so einfach ist?“
Wenn ich meinen Worten so zuhöre, klingt es so, als würde jemand anderer meine Gedanken in Worte fassen. Denn wenn jemand einen Einblick in meine Seele bekommen würde, würde diese Person automatisch einen Psychologen rufen. Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte ich aufgrund dieser Tat mein Inneres Ich getroffen und mich aufgrund all der Schmerzen, die ich mir hab zufügen lassen, eingesperrt.
Die Frau starrt mir eindringlich in die Augen. Sie macht den Eindruck, als würde sie mir in die Seele blicken können. Doch wäre dies der Fall, könnte sie keine weitere Sekunde ruhig auf diesem Sessel sitzen.
Ein riesiger Tornado, welcher all die Erinnerungen meiner Vergangenheit an die Oberfläche meines Bewusstseins ruft, versucht an meinem Durchhaltevermögen zu nagen, während die Stille meiner letzten Hoffnung dies verhindert.
Die Kommissarin genehmigt sich einen großen Schluck aus ihrem lauwarmen Kaffee und erwartet, dass mein Sprechen nun die Fragezeichen in ihrem Kopf zu Rufzeichen umwandeln könnte.
Meine Wahrheit ist jedoch in der Gegenwart des Staates eine Lüge. Zu unserer Zeit werden die Geschichten der Frauen, deren Recht über ihren Körper genommen wird, schön gesprochen und sie werden als Scharlatane dargestellt. Was hat sie zum Zeitpunkt getragen? War sie in einem Club? Wie viel Alkohol hat sie getrunken? Hat sie den Mann provoziert? Ihre Stimmen versagen und doch gibt es in diesen Massen noch immer einzelne, die in der Stille der Verzweiflung einen Schrei der Stärke ausrufen. Diese Frauen schreien, damit die Mädchen der nächsten Generation nicht mehr schweigen müssen.
„Wir Menschen treffen öfters spontane Entscheidungen“, gestehe ich und blicke auf meine blutigen Fingernägel. In diesem Moment ekelt mich mein eigener Körper an. Ob eine Dusche helfen würde? „Es sind die Einflüsse der Außenwelt, die uns zu diesen Taten zwingen.“
Die Frau lehnt sich in ihrem Sessel zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich rede hier um die Antwort herum. Doch direkt die Wahrheit zu erzählen, würde bloß der Auslöser für weitere Fragen sein. Sie erwartet eine logische Erklärung für meine Taten. Doch stattdessen bekommt sie bloß meine philosophische Ader zu spüren.
„Der Grund für meine Taten ist das Überleben gewesen“, wiederhole ich.
„Hier auf meiner Akten stehen vier Namen“, meint die Kommissarin und tippt mit ihrem Zeigefinger mehrmals auf die Mappe, die sie sich in die Hand genommen hat. „Matthew Anderson, Gil Hunter, Elias Amirmoez und Navid Iravani. In welcher Beziehung bist du mit diesen Jungen gewesen? Was ist in diesem Zimmer zu dieser Uhrzeit geschehen, dass das Morden deine einzige Lösung gewesen ist?“
Die Leute, die hier arbeiten, haben meinen Körper noch nicht durchsucht. Aus diesem Grund kann die Kommissarin auch nicht wissen, weswegen mein Unterleib voller Blut ist. Sie nimmt wohl an, dass die roten Flecken das Blut der vier Toten ist.
„Das möchten Sie doch nicht wissen“, zische ich und schnalze mit der Zunge, um anschließend laut zu seufzen. „Niemand in dieser verdammten Welt ist an der Wahrheit interessiert! Sie möchten Gerechtigkeit? Stellen Sie die Gerechtigkeit der Wahrheit gleich? Entscheiden wir Menschen nicht für uns selbst, was jeweils beide Wörter für uns bedeuten?“
„Ich würde nicht hier vor dir sitzen“, meint die Frau und nimmt einen weiteren großen Schluck von ihrem Kaffee. „Und mir siebzehn Minuten lang deine Stille anhören, anstatt dich sofort in eine Zelle zu schicken. Ich bin hier, um dir zuzuhören.“
„Wenn Sie ein Interesse an der Wahrheit haben“, meine ich und schließe meine Augen, um mich auf das Kommende vorzubereiten. „Dann muss ich alles von vorne erzählen. Vom ersten bis zum letzten Tag.“
Die Kommissarin lehnt sich vor und deutet mit ihrer Hand, dass ich ihr nun meine Sicht der Geschichte erzählen darf.
Kapitel 2. – Vergangenheit meiner gegenwärtigen Sünden
„Kind, wach doch endlich auf!“, ruft meine Mutter durch die Wohnung.
Ihre Stimme dringt, trotz der geschlossenen Türe, bis in mein Zimmer durch. Da ich bereits vom Tiefschlaf in den Halbschlaf übergegangen bin, kann ich jedes ihrer Worte verstehen. Doch nichtsdestotrotz ziehe ich den Schlaf vor und schließe meine Augen für weitere fünf Minuten.
„Du schläfst ja noch!“, zischt meine Mutter empört. „Kind, wach auf! Du musst dich noch anziehen, ordentlich frühstücken und dann in die Schule! Die Ferien haben ein Ende gefunden! Heute ist der erste Tag deines letzten Schuljahres! Ich kann von Glück sprechen, morgens nicht arbeiten zu müssen. Denn ansonsten wärst du bereits einen Kopf kürzer. Bei den Mühen, die ich mir mache um dich aus dem Bett zu bekommen.“
Meine Mutter bemerkt, dass ihre Worte keine Wirkung auf mich haben. Daher zieht sie das Kopfkissen unter meinem Kopf weg und wirft es auf mein Gesicht.
„Ich brauche dieses Jahr keine Bildung“, murmle ich müde und hoffe, dass ihr diese Äußerung reicht, um mich schlafen zu lassen. „Ohne Schlaf kann ich nicht wachsen.“
„Du wirst sowieso nicht mehr wachsen!“, antwortet sie und streut mir Salz in die Wunde. „Du möchtest doch deinem Vater eine Hilfe sein und Architektin werden! Diesen Traum wirst du schwer mit deiner Liebe zum Schlafen verwirklichen können!“
„Ich bin bereit darum zu wetten!“, meine ich und reibe meinen Daumen an meinen Zeige- und Mittelfinger, um auf eine Geldwette hinzuweisen. „Das war ein Scherz! Ich stehe schon auf! Deine Wut ist bis unter das Kissen zu spüren!“
„Super! Komm runter und iss etwas!“, befiehlt sie und hat nun eine komplett andere Stimmlage. „Ayla ist wie immer früh aufgestanden und hat mir beim Vorbereiten des Frühstücks geholfen! Wann nimmst du dir nur ein Beispiel an ihr?“
„Ayla ist deine Schwester?“, fragt die Kommissarin und unterbricht mich mitten in meiner Erzählung.
Ich schüttele meinen Kopf und korrigiere: „Meine beste Freundin.“
Die Kommissarin starrt mich mit zusammengezogenen Augenbrauen und fragt: „Ayla ist kein Familienmitglied, aber sie lebt im gleichen Haus? Was ist mit ihren Eltern?“
„Ihre Mutter hat sie und ihren Vater in jungen Jahren verlassen“, verrate ich und spüre erneut ein Stechen in meinem Herzen. „Für einen anderen Mann. Ihr Vater ist ein begehrter Arzt in unserer Stadt gewesen. Er ist den Drogen zum Opfer gefallen.“
Die Kommissarin weiß sofort um wen es geht und ächzt laut.
„Anschließend ist er aufgrund einer Drogenüberdosis gestorben und wir haben Ayla aufgenommen“, erzähle ich und denke an die Zeit zurück, als Ayla keine eigene Familie mehr hatte. „Sie war damals dreizehn Jahre alt.“
Ayla ist ein sehr liebenswerter Mensch, der niemandem absichtlich Schaden zufügen würde. Sie versucht alles was in ihrer Macht steht um meine Eltern nicht zu enttäuschen. Durch den Verlust ihrer eigenen Eltern ist sie zu meiner Schwester geworden. Zu wissen, dass Ayla all dies durchlebt hat und trotzdem nicht auf die schiefe Bahn gerückt ist, sagt viel über ihre Willensstärke aus.
Ich ächze nur, immer noch sehnsüchtig nach weiteren fünf Minuten Schlaf. Anschließend verlässt meine Mutter mein Zimmer. Ich hebe das Kissen von meinem Gesicht und spüre augenblicklich die Sonnenstrahlen auf einer Gesichtshälfte, wodurch ich meine Augen reflexartig schließe.
Meine Abneigung morgens früh aufzustehen wird sich wohl niemals ändern. Erneut ein weiteres Jahr, welches mit dem Aufnehmen überflüssiger Informationen vergehen wird. Als wäre es nicht möglich sofort die Berechtigung zu bekommen an der Universität zu studieren, um in jungen Jahren gleich die gewünschte Berufung ausüben zu können Aber natürlich ist zuvor eine zwölfjährige Schullaufbahn von Nöten. In meinen Augen eine reine Zeitverschwendung.
Angezogen und teilweise motiviert verlasse ich mein Zimmer. Aus der Küche ist Gelächter zu hören und wissend betrete ich den Raum. Dort sitzt Ayla, die erneut in ein Gespräch mit meiner Mutter vertieft ist.
„Sieh mal einer!“, ruft meine beste Freundin und nimmt einen Schluck von ihrem Orangensaft. „Wenn das nicht die Schlafmütze der Familie ist!“
Sie könnte tatsächlich die biologische Tochter meiner Mutter sein. Charakterlich bin ich meinen Vater ähnlicher, als meiner Mutter. Ayla und Salma, meine Mutter, haben die gleichen Interessen und im Allgemeinen scheinen sie sich auch näher zu stehen.
„Was gibt es zu essen?“, frage ich und kratze mich an meinem Hinterkopf. „Ich habe einen riesen Hunger!“
Meine Mutter hebt einen Teller voller Palatschinken und sofort geselle ich mich an den Esstisch.
„Also Mädchen“, sagt sie und betrachtet uns abwechselnd. „Was ist euer Ziel für das letzte Schuljahr? Was erhofft ihr euch?“
„Keinen Mord“, meine ich und nehme einen Bissen von meiner Palatschinke. „In den ganzen Jugendfilmen kommt es im letzten Schuljahr zu einem unerklärlichen Mord. Wäre in gewisser Hinsicht doch spannend.“
Ayla lacht lauthals los und meine Mutter funkelt uns zornig an. Sie stemmt die Hände an die Hüften und bereitet sich auf die erste Standpauke des Tages vor.
„Ihr beide solltet keine Späße über solche ernsten Themen machen!“, meint sie mit dem Zeigefinger auf uns gerichtet. „Versucht gute Noten zu schreiben, um anschließend eure eigenen Arbeitgeber zu werden! Nehmt euch ein Beispiel an uns! Euer Vater ist Architekt und selbstständig. Ich bin Psychologin und ebenso selbstständig.“
„Deine Mutter hat Ayla als ihre Tochter anerkannt?“, fragt die Kommissarin und hebt neugierig ihre Augenbrauen.
Ich nicke zustimmend und antworte: „Sie haben sie kurz nach dem Tod ihres Vaters adoptiert. Vor all diesen schrecklichen Ereignissen haben meine Eltern sie wie ihre eigene Tochter behandelt. Sie müssen wissen, dass sie sich noch von der Volkschulzeit gekannt haben. Alle vier. Sie waren beste Freunde fürs Leben. Beziehungsweise der Meinung sind meine Eltern gewesen.“
„Hast du jemals Eifersucht gespürt?“, möchte die Frau wissen und verschränkt ihre Finger ineinander. „Wenn du Ayla und deine Mutter nebeneinander gesehen hast?“
„Selbstverständlich nicht!“, lüge ich und versuche es mir nicht anmerken zu lassen. „Schließlich kann Ayla nichts für das Schicksal ihrer Eltern.“
Selbstverständliche genieße ich den Anblick von Ayla und meiner Mutter. Ihre Freude, wenn sie miteinander sprechen, oder wenn mein Vater sie wie seine eigene Tochter behandelt. Doch, manchmal fühle ich mich von Ayla in den Schatten gestellt. Sie ist der Mensch, der ich immer hab sein wollen.
„Gibt es noch weitere Geschwister im Haushalt?“, stellt sie eine weitere Frage.
„Aryan“, spreche ich den Namen meines Bruders aus. „Er ist mein älterer Bruder. Das gesamte Schuljahr ist er im Ausland gewesen. Er hat während der Winterferien einreisen wollen, doch aufgrund der Universität ist dies leider nicht zustande gekommen.
„Wie war die Beziehung zwischen Aryan und Ayla?“, möchte die Kommissarin wissen und verwirrt hebe ich eine Augenbraue. „Sind sie ebenso auf geschwisterliche Ebene miteinander umgegangen?“
Was spielt das jetzt für eine Rolle? Ist diese Frau bloß neugierig? Wird ihr meine Antwort bei diesem Fall weiterhelfen?
„Ich habe es ehrlich immer vorausgesehen“, gestehe ich und für einen kurzen Augenblick schmückt ein Lächeln meine Lippen, bei dem Gedanken meine beste Freundin in einer Beziehung mit meinem Bruder zu sehen. „Jedoch ist es nie dazugekommen. Es hätte mich tatsächlich gefreut, wäre von einer Beziehung die Rede. Möglicherweise habe ich mich auch geirrt.“
Wir nehmen meine Mutter in unsere Arme und verlassen das Haus. Die Busstation, welche in fünf Minuten Entfernung liegt, gibt mir die perfekte Gelegenheit die Frage meiner Mutter ordentlich zu überdenken. Während des Weges überlege ich mir, wie mein letztes Schuljahr tatsächlich verlaufen sollte. Gute Noten sind natürlich von höchster Priorität. Doch, was erwarte ich mir? Eine neue Bekanntschaft, die sich zu einer Romanze entwickelt? Wäre keine schlechte Idee. Möglicherweise werden neue Schüler oder Repetenten in unserer Klasse sein? Meinen Bruder werde ich nun eine längere Zeit nicht sehen, da er im Juli das Gymnasium absolviert hat und nun im Ausland studiert. Das bedeutet, dass mir niemand im Weg stehen wird, falls ich jemanden vom anderen Geschlecht anziehend finden sollte.
Bei der Busstation angekommen trifft das Transportmittel ein und sofort steigen wir ein. Im Inneren des Busses analysiere ich unbemerkt jedes Gesicht und realisiere, dass keine anderen Schüler mit uns fahren. Für den Moment nicht. Dies lässt mich aufatmen, da somit bis zur Ankunft in der Schule weitere Konversationen vermieden werden können. Je weniger soziale Interaktionen, desto besser.
„Hat dir Matthew in den letzten Tagen geschrieben?“, fragt Ayla und ich schüttele verneinend den Kopf. „Verdammt! Dabei habe ich doch davon geträumt!“
„Entschuldige liebe Traumdeuterin“, spreche ich mit sarkastischem Unterton. „Ihre Visionen scheinen derzeit defekt zu sein.“
Das Mädchen kneift mich am Oberarm und schmerzerfüllt verziehe ich das Gesicht.
„Hat er wirklich solch eine Angst vor deinem Bruder?“, fragt Ayla und kann sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich jemanden gibt, der Aryan furchteinflößend findet.
„Matthew? Matthew Anderson?“, nennt die Frau den Namen des Jungen, der sich seit einer längeren Zeit nicht mehr bei mir gemeldet hat. „In welcher Beziehung bist du zu ihm gestanden?“
„Er ist der Junge, den ich liebe“, lasse ich die Wahrheit ans Licht und blicke traurig auf meine blutigen Hände. „Jemand, den mein Herz nie aufgehört hat zu lieben. Sie wissen doch, wie diese ganzen Jugendliteraturen ablaufen? Unsere Liebesgeschichte unterscheidet sich nicht wirklich davon. Eine aufblühende Beziehung, welche durch viele Hindernisse in die Brüche gegangen ist. Aber diese Liebesgeschichte ist meine eigene. Oder war? Ich weiß nicht mehr genau.“
Ich gebe dieser Frau viel von meinem Leben preis. All diese Informationen sollten eigentlich nicht an die Außenwelt dringen. Sehe ich diesen Menschen als meine Vertrauensperson? Weswegen offenbare ich ihr all meine Schwächen?
Die Frau zieht ihren Kopf zurück und meint: „Matthew Anderson ist der Junge gewesen, den du geliebt hast? Er ist doch einer der vier Toten?“
Nicht war. Er ist der Junge, den ich liebe. Meine Liebe zu ihm ist kein Teil der Vergangenheit.
„Ayla hat dich gefragt, ob er dir geschrieben hat“, erinnert sie sich. „Was bedeutet das? Weswegen hätte er dir schreiben sollen?“
„Kurz vor den Sommerferien habe ich Matthew in einem kleinen Café in der Nähe unserer Schule kennengelernt“, sage ich und befinde mich gedanklich erneut an diesem gemütlichen Ort.
Der Kaffeegeruch steigt mir in die Nase. Unerwartet legt jemand seine Hand auf den Sessel neben meinem. Dieses wunderschöne Gesicht und diese atemberaubenden Locken.
Kennt ihr das, wenn in eurem Leben etwas Schönes geschieht und ihr wisst, dass es demnächst zu einem Ende kommen wird? Einfach, weil das Leben einem nie etwas Gutes für eine längere Zeit gibt?
„Er hat keinen Platz gehabt und gefragt, ob er sich neben mich hinsetzen darf“, erzähle ich und spüre wie mein Herz erneut schmerzt. „Doch, anstatt weiterhin Fremde zu bleiben, haben wir begonnen zu sprechen. Beziehungsweise, er hat den Anfang gemacht und ich habe das Gespräch geführt. Anschließend haben wir uns in diesen zwei bis drei Wochen fast jeden Tag getroffen und mehr als zehn Stunden miteinander verbracht. Er hat mich mit seinem Auto durch die Stadt gefahren, wir haben auf der Klippe Karten gespielt und unsere Herzen ausgetauscht.“
„Seid ihr euch jemals nähergekommen?“, fragt die Frau und ich schüttele automatisch den Kopf. „Kein Körperkontakt, der auf eine Romanze deuten könnte?“
„Dafür haben wir nicht die Zeit bekommen“, meine ich und zucke kopfschüttelnd mit den Schultern. „Matthew und ich haben eine Bindung gehabt, von der gemeint werden könnte, dass dies die wahre Liebe ist. Er hat mich zu nichts gedrängt und hat die Zeit mit mir genossen, anstatt sich an mir zu vergreifen.“
„Und weswegen schreibt er dir nicht mehr?“, möchte die Kommissarin wissen und nimmt erneut einen Schluck von ihrem Kaffee, welcher ab diesem Zeitpunkt wahrscheinlich vollkommen kalt ist.
„Mein Bruder hat uns erwischt“, meine ich und wedele dann mit den Händen. „Nein. Ich habe das falsch formuliert. Ich habe nicht gewusst, dass Matthew einer der engsten Freunde meines Bruders ist und ebenso ist Matthew unwissend über diesen Fakt gewesen. An einem Tag hat er mich nach Hause gefahren und bereits bei der Ankunft gewusst, worauf er sich einlässt. Jedoch war es bereits zu spät. Mein Bruder hat uns beide vom Garten aus gesehen. Aufgebracht hat er mich zur Seite gezogen und Matthew angeschrien.“
„Ein wenig besitzergreifend?“, meint die Kommissarin und ich verziehe die Lippen.
Ich antworte mit sarkastischem Unterton: „Viele Menschen meinen, dass solch ein Verhalten ein Beweis wahrer Liebe ist. Wenn Sie mich fragen, ist das purer Schwachsinn. Dies war eine der Eigenschaften, die ich an meinem Bruder nicht gemocht habe. Er hat niemals gewollt, dass ich in die Nähe seiner Freunde komme. Auch als wir Kinder waren.“
„Wenn wir über seine Freunde sprechen“, spricht die Frau und blickt erneut auf den Bericht in ihrer Hand. „Gil, Elias und Navid. Diese drei Herren sind die anderen drei Toten. In welcher Beziehung bist du zu ihnen gestanden?“
„Alles mit der Zeit“, meine ich und blicke auf die Wanduhr. „Falls ich noch Zeit habe.“
Die Kommissarin akzeptiert meine Antwort ihr derzeit keine Auskunft über meine Beziehung zu den anderen drei Jungen zu geben.
„Was ist anschließend geschehen?“, möchte die Frau wissen und zieht ihre Augenbrauen in die Höhe.
Ich antworte: „Wir sind getrennte Wege gegangen. Matthew hat gemeint, dass ihm die Freundschaft zu mir viel bedeutet hat. Aber mein Bruder ihm viel wichtiger ist, da sie seit der Kindheit befreundet sind.“
„Sollte er dich da nicht kennen?“, fragt die Kommissarin und scheint zu glauben, dass ich ihr da eine Lüge auftische.
Ich meine: „Mein Bruder hat seinen Freunden weder Fotos von mir gezeigt, noch ist er ab einem gewissen Alter mit seinen Freunden bei uns zu Hause gewesen. Sie wissen, wo er wohnt, weil sie sich immer gegenseitig nach Hause fahren. Doch vom Optischen her, hat mich Matthew vergessen gehabt.“
Die Frau nickt verständnisvoll und spricht: „Doch, dein Alltag unterscheidet sich doch nicht vom dem eines normalen Menschen? Wie bist du von diesem sorglosen Leben in diese Situation geraten?“
„Ich könnte weit greifen und Sie an die Länder erinnern, die einst in voller Pracht erblühten“, meine ich. „Und nun durch die Hand des Krieges in Schutt und Asche liegen.“
Es ist kein passender Vergleich. Doch das Leben ist unvorhersehbar. In einer Sekunde wirkt das Leben wunderbar und in der nächsten zerbrechen die Hoffnungen des Menschen vor den eigenen Augen.
„Es liegen weitere Monate vor uns“, erinnere ich die Frau. „Wir treffen in unserem Leben Entscheidungen, die im ersten Moment ziemlich harmlos wirken. Diese sind meistens der Auslöser für die Probleme in unserem Leben. Der Schmetterlingseffekt. Haben Sie jemals davon gehört?“
Die Frau nickt und deutet mit ihrer Hand, dass ich gerne mit meiner Erzählung weiterfahren darf und meint: „Wir haben nicht viel Zeit, bevor deine Eltern eintreffen. Wir lösen dieses Probleme entweder hier, oder vor Gericht.“
Dabei ist sie doch diejenige, die durchgehend irgendwelche Fragen stellt und meine Erzählung unterbricht.
In der Schule angekommen, bleibe ich vor den Schultoren stehen und verinnerliche mir das Bild des Gebäudes. Mein letztes Jahr an diesem schrecklichen Ort. Ayla ruft, dass ich mich beeilen soll, oder wir uns ansonsten verspäten würden.
In der Klasse erblicke ich größtenteils bekannte Gesicht, welche mich augenblicklich mit einem Winken oder Grinsen willkommen heißen. Die Tür am anderen Ende des Klassenzimmers wird geöffnet und unsere Freundin Samara betritt den Raum.
„Samara!“, ruft Ayla glücklich.
Doch das Mädchen scheint sie vollkommen zu ignorieren. Sie steuert auf einen Lockenkopf in der ersten Reihe zu und sofort rutscht mir das Herz in die Hose. Der Junge blickt zu seiner linken zu dem Mädchen und erwidert ihren Kuss. Ayla und ich blicken uns ungläubig an und wechseln im ersten Augenblick kein Wort miteinander.
„Sind das Samara und Matthew?“, flüstere ich und traue meinen Augen nicht mehr. „Das kann doch nicht sein! Seit wann besucht er unsere Schule?“
Ayla zuckt mit den Schultern und antwortet: „Anscheinend hat er die Klasse wiederholt und sich dazu entschlossen, auf unsere Schule zu wechseln. Aber seit wann steht er in einer innigen Beziehung mit unserer Samara?“
„Samara ist wer?“, unterbricht mich die Kommissarin, die mir andauernd droht, dass keine Zeit mehr besteht. „Und in welcher Beziehung ist sie zu Matthew gestanden?“
„Sie ist Aylas und meine beste Freundin“, gebe ich bekannt. „Wohl eher, war? Ich weiß es wirklich nicht. Selbst in diesem Augenblick kann ich Ihnen diesbezüglich keine genaue Antwort geben. Sie ist anscheinend über die Sommerferien Matthews feste Freundin geworden.“
„Schließlich weiß sie, in welcher Beziehung du zu ihm gestanden bist“, wispert Ayla. „Weswegen würde sie sich an ihn ranmachen? Denkst du, dass dies der Grund dafür ist, dass sie sich den ganzen Sommer über nicht gemeldet hat?“
Ich nicke mit hochgezogenen Augenbrauen und meine: „Wir können hier Annahmen machen, oder sie bei der nächsten Gelegenheit ausfragen.“
„Ich habe eigentlich immer angenommen“, beginne ich zu sprechen und schlucke meinen eigenen Speichel runter. „Dass Samara ein Mensch ist, der mich nie hintergehen würde. Sie weiß, welche Geschichte hinter seinem und meinem Namen steckt. Sie hat sich ganze zwei Monate nicht gemeldet.“
„Und wie denkst du nun über sie?“, fragt die Frau und lehnt sich neugierig vor.
Ich seufze laut aus und antworte: „Jeder Mensch kann den Gedanken fassen, einen anderen zu hintergehen. Er braucht keinen guten Grund. Er ist selbstsüchtig.“
Zu wissen, dass der Grund für Samaras Abwesenheit die Beziehung zu diesem Jungen ist, lässt eine gewisse Wut in meinem Inneren aufbrodeln. Es ist bereits schlimm genug, dass ein Mensch, den ich als einen guten Freund sehe, eine Beziehung mit einem Jungen eingeht, den ich liebe. Doch zu wissen, dass genau diese wertvolle Person dir nicht von ihren Absichten berichtet, ist ein Verrat des höchsten Grades.
„Beide ignorieren uns“, bestätigt Ayla das Offensichtliche und ich nicke zustimmend. „Wie sind die beiden in erster Linie zusammengekommen? Woher weiß er von ihrer Existenz? Du hast uns ihm doch nie persönlich vorgestellt! Oder etwa doch?“
„Selbstverständlich nicht!“, meine ich. „Ich habe euch mehrmals erwähnt, weil ich die Absicht gehabt habe, euch in der Zukunft aneinander vorzustellen. Doch anscheinend hat Samara mir da etwas unter die Arme gegriffen.“
„Der Name Samara Thompson ist in unserer Stadt auch nicht weit verbreitet“, fügt Ayla hinzu und schüttelt ungläubig ihren Kopf. „Sind wir denn Kinder, dass wir solch eine Angelegenheit nicht persönlich klären können? Muss sie uns ignorieren?“
Meine beste Freundin ächzt und verzieht nachdenklich das Gesicht. Anschließend wedelt sie mit der rechten Hand und zieht mich an der Schulter, um mir in mein Ohr flüstern zu können.
„Wir werden sie diesbezüglich konfrontieren!“, schlägt sie mit erhobenem Zeigefinger vor. „Und anschließend entscheiden wir, ob diese Freundschaft noch einen Sinn macht, oder eher nicht.“
„Können wir gerne machen“, stimme ich zu und werfe erneut einen Blick zu Samara und Matthew. „Das Leben kann seltsame Wendungen nehmen.“
Während des Unterrichts nehmen die beiden Turteltäubchen meine Anwesenheit wahr und entscheiden sich, mich weiterhin zu ignorieren. Die Anspannung ist unseren Klassenkameraden aufgefallen, welche abwechselnd zu Samara und uns beiden blicken. Verwirrte Gesichtsausdrücke in den Gesichtern derer, denen diese Lage aufgefallen ist.
Ich gebe keine diskrete Antwort, da es bis auf uns vier niemanden im Raum zu interessieren hat, weswegen wir nicht mehr miteinander reden. Wird wohl je der Tag kommen, an dem die Menschen beginnen, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern? Da würde wahrscheinlich weniger Hass auf dieser Welt existieren.
„Während des ersten Schultages ist nichts Interessantes geschehen“, gestehe ich und blicke erneut auf meine Beine, wo noch immer die Rückstände dieser dreckigen Tat zu sehen sind.
Wieso hat mir niemand die Möglichkeit geboten, mich zu säubern? Mein Geist und mein Körper gehen in diesem Augenblick Hand in Hand. Beide fühlen sich dreckig.
„Und was war der Auslöser für diese Morde?“, fragt die Kommissarin und verschränkt ihre Finger ineinander.
Ich neige den Kopf schräg und stellte eine Gegenfrage: „Denken Sie nicht, dass diese Jungen bereits die Antwort auf Ihre Frage ist?“
Die Frau seufzt laut aus und antwortet: „Was auch immer an diesem Ort geschehen ist, ich brauche eine logische Erklärung für dein Handeln. Die Mütter dieser Jungen werden dich zerfleischen. Sie werden Gerechtigkeit für den Tod ihrer Kinder haben wollen.“
„Was ist mit mir?“; frage ich und merke, wie meine Kraft ihre Grenzen erreicht. „Wer kämpft für meine Gerechtigkeit? Werden diese Frauen ihre Söhne beschützen, wenn sie wissen, welche Tat sie begangen haben?“
„Wir haben dich an diesem Tatort gefunden“, wiederholt die Kommissarin mit ernster Stimmlage. „Neben vier Toten. Du hast nicht gesprochen. Bloß in die Leere gestarrt und vor dich hin gemurmelt. Ich muss wissen, was geschehen ist.“
Meine Augen wandern zu den Blutflecken an meiner Kleidung, Beinen und Fingern. Vor meinen Augen betrachte ich das Geschehen erneut als dritte Person. Wie ich auf dem Boden liege und keinen Ton herausbringen kann. Dass all meine Entscheidungen mich zu diesem Ort bringen und mich diese Schmerzen durchstehen lassen würden, hätte ich mir nicht denken können.
„Ist es zu einer Interaktion mit Samara gekommen?“, fragt die Kommissarin und versucht das Thema zu wechseln.
„Direkt nach dem Ende des ersten Schultages“, antworte ich in Sekundenschnelle.
Der erste Schultag neigt sich einem Ende zu. Ayla steht zu ihrem Wort und macht sich auf den Weg, um mit Samara sprechen zu können, damit mögliche Missverständnisse aus der Welt geschaffen werden können. Ohne auf mich zu warten läuft sie auf das Mädchen zu, welche neben ihrem festen Freund steht.
Matthews Blicke wandern direkt zu mir. Er spricht Samara etwas zu, welche unsicher nickt. Der Junge tritt zu mir, während Ayla zu unserer Freundin geht.
„Wie geht es dir?“, fragt er und ich verziehe ungläubig das Gesicht.
„Sehr gut“, antworte ich und schenke ihm ein übertrieben breites Lächeln. „Überhaupt, nachdem du eine Beziehung mit meiner besten Freundin eingegangen bist. Keine Chance bei mir, also gehst du zu ihr? Raffiniert.“
„Blödsinn“, zischt Matthew und blickt genervt auf die Seite. „Ich weiß, dass wir wegen dummen Gründen auseinandergegangen sind. Aber vielleicht ist dies auch das Richtige gewesen. Samara ist ein sehr nettes Mädchen und sie behandelt mich gut.“
„Habe ich dich nicht gut behandelt?“, frage ich und merke, wie mein Herz schmerzt. „Möchtest du damit sagen, dass die Zeit, die wir hatten, nicht gut gewesen ist?“
„Es war eine Freundschaft“, meint er. „Und ich finde, dass sie auch dabei bleiben sollte. Ich möchte nicht, dass du und Samara getrennte Wege gehen. Das ist es nicht wert.“
In diesem Moment fühle ich mich fehl am Platz. Würde sich nicht jeder Mensch so fühlen, der von der Person abgewiesen wird, der im Besitz des eigenen Herzens ist? Er meint, dass die Gefühle die wir füreinander gehabt haben bloß auf einer freundschaftlichen Basis gewesen sind?
Ohne ihm eine Antwort zu geben, stoße ich zu Ayla und Samara, die bereits in einer Unterhaltung sind.
„Du hast dich ganze zwei Monate nicht bei uns gemeldet!“, knurrt Ayla und hebt ihren Zeige- und Mittelfinger. „Hat unsere Freundschaft keine Bedeutung gehabt?“
„Worum geht es hier wirklich?“, möchte Samara das Offensichtliche wissen.
In diesem Moment geht Matthew an uns vorbei und der Geruch seines Parfüms steigt mir in die Nase. Ich bekomme Schmetterlinge im Bauch und erinnere mich an den Tag, an dem er mich zum ersten Mal umarmt hatte. Der Junge geht zu seinen Klassenkameraden und unterhält sich in der Zwischenzeit mit ihnen.
Samara verschränkt die Arme vor der Brust und zischt mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen: „Meinst du etwa, dass ich mir deinen Geliebten geschnappt habe?“
Noch nie in meinem Leben habe ich dieses Mädchen mit solch einem Verhalten erlebt. In diesem Augenblick kommt mir diese Person verfremdet vor. Als hätte ich die gesamte Zeit mit einer Lüge gelebt.
„In diesem Moment wünschte ich mir“, beginne ich zu sprechen. „Dass bei einer Körperverletzung keine Anzeige folgt.“
Die Kommissarin blickt mich mit geweiteten Augen an.
„Nein“, verneine ich ihre Spekulation. „Ich bin wütend auf dich, weil du uns den gesamten Sommer ignoriert hast! Bloß, weil du mit dem Jungen zusammen bist, den ich für eine kurze Zeit geliebt habe. Und? Dann ist es so. Wir sind schließlich keine Kinder mehr. Ich stehe da schon drüber.“
„Hat es dir denn tatsächlich nichts ausgemacht?“, fragt die Kommissarin und hebt neugierig die rechte Augenbraue.
Ich hebe abwehrend meine Hände und meine lachend: „Selbstverständlich hat mich das zur Weißglut getrieben! Aber das kann ich doch nicht sagen! Durch meine Gleichgültigkeit hat sie sich schlecht gefühlt und dies ist mein Ziel gewesen. Wären Sie denn nicht wütend, wenn eine Ihrer Freundinnen, Ihnen Ihren Mann wegschnappen würde?“
„Und in welcher Hinsicht hat dir deine Aussage von damals geholfen?“, möchte sie wissen ohne auf meine Frage einzugehen. „Habt ihr euch vertragen?“
„Nun, ich kann von mir selbst sagen, dass ich ein sehr stolzer Mensch bin“, gestehe ich. „Beziehungsweise war. Ich habe vorgetäuscht Samara vergeben zu haben, bloß um mir das zurückzuholen, was mir gehört.“
„Das könnten wir als…“, die Frau sucht nach dem richtigen Begriff. „…besitzergreifend bezeichnen?“
Welch eine Ironie, dass sie die gleiche Annahme auch bei meinem Bruder gemacht hat.
Ich nicke und zucke mit den Schultern. Um ehrlich zu sein sind mir die Folgen meiner Handlungen zur damaligen Zeit irrelevant gewesen. Könnte ich die Zeit heute jedoch zurückdrehen, hätte ich den Kontakt zu Matthew komplett abgebrochen. Denn diese Liebe ist all diesen Schmerz nicht wert. Kein Mensch ist den Schmerz wert.
„Könnten wir, ja“, stimme ich ihr halbherzig zu. „Aber ich habe all dies damals als meinen Racheplan gesehen.“
„Racheplan?“, wiederholt die Frau und scheint meinen Worten nicht folgen zu können. „Du wolltest Rache an Matthew nehmen?“
„An Samara“, korrigiere ich. „Ich wollte ihr zeigen, wie wichtig Freunde sind, indem Matthew sie für mich verlässt. Verrückt, nicht wahr?“
„Eindeutig“, stimmt die Frau mir zu. „Aber ansonsten wären wir ja nicht hier.“
„Ich habe nicht erwartet, dass du diese Situation auf die leichte Schulter nehmen wirst“, gesteht Samara und senkt beschämt ihren Kopf. „Aus diesem Grund habe ich euch auch ignoriert. Ich wusste nicht, wie ihr zu dieser Beziehung stehen werdet.“
Ayla legt ihre Hand auf meine Schulter und zischt: „Und ein Hinsetzen und gemeinsam darüber sprechen ist keine deiner Optionen gewesen? Das klingt mir sehr nach einer billigen Ausrede.“
„Ayla, dich geht das gesamte Geschehen doch nicht wirklich etwas an“, meint Samara mit einem etwas zickigen Unterton. „Also solltest du dich auch nicht einmischen. Das ist meine Meinung.“
Habe ich vorhin gesagt, dass wir alle erwachsen sind? Ich würde diese Aussage gerne zurückziehen.
Ayla lacht amüsiert und zischt: „Du hast mich ebenso für zwei Monate ignoriert. Falls du das nicht begriffen hast, es geht mich sehr wohl etwas an. Wir drei sind nun schon seit mehreren Jahren beste Freunde und dass du wegen solch einem Unsinn unserer Freundschaft ein Ende hast setzen wollen, zeigt welche Art von Mensch du bist.“
Samara hebt ungläubig beide Augenbrauen und lächelt auf die Seite blickend. In diesem Moment wirkt sie eher wie ein Feind, als wie ein Freund. All dies fühlt sich an wie ein lächerlicher Traum, welcher demnächst ein Ende finden wird. Jedoch ist dies die Realität und in diesem Moment ist unsere Freundin kurz davor, unserer Freundschaft ein Ende zu setzen. Dies würde meinen Plan jedoch ruinieren.
„Dies ist doch kein Grund zum Streiten“, versuche ich den Streit zu meinen Gunsten zu schlichten. „Wir sind schließlich Freunde seit Jahren und kein Junge dieser Welt sollte etwas an dieser Tatsache ändern. Samara, ich hege keinen Zorn dir gegenüber. Es schmerzt uns nur, dass du für so etwas unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt hast.“
Ich komme mir vor wie im Kindergarten. Gleich werde ich ihr mit meinem Daumen demonstrieren, dass wir keine Freunde mehr sind. Lächerlich.
„Du hast Recht“, stimmt Samara mir zu und nickt ergeben. „Entschuldigt mein Verhalten. Ich hätte diese Angelegenheit mit euch besprechen müssen.“
Das Mädchen breitet ihr Arme aus und heißt uns zu einer Umarmung Willkommen. Ayla und ich nehmen sie in die Arme. Automatisch ist das Problem aus der Welt geschaffen und unser Streit hat ein Ende gefunden. Natürlich nicht aus meiner Sicht. In meinem Inneren sehnt sich etwas nach Rache. Dieses Mädchen ist bereits seit dem Anfang meiner Bekanntschaft mit Matthew über jedes Detail informiert worden. Und trotz dieses Wissens entscheidet sie sich ihn mir wegzunehmen? In diesem Moment könnte gesagt werden, dass er mir nie gehört hat. Ist auch ein berechtigter Gedanke. Doch wer würde wollen, dass jemand aus dem eigenen Freundeskreis dasselbe macht, das Samara gemacht hat?
„Matthew, seine Freunde und ich würden gerne zusammen ins Kino gehen“, berichtet Samara uns von ihren Plänen. „Würdet ihr beide mitkommen wollen? Matthew sollte das keineswegs stören.“
Matthew sollte das nicht stören? Sie redet auf solch eine Weise über ihn, als hätte dieser Junge vor zwei Monate keine Gefühle für mich gehabt. Möglicherweise liebt er mich noch immer? Aber hätte er dann dieses Gespräch mit mir geführt? Einfach nicht anmerken lassen, dass mich die gesamte Situation stört.
„Und das hat funktioniert?“, fragt die Kommissarin und unterbricht meine Erzählung ein weiteres Mal. „Fast jedes Mädchen würde an deiner Stelle die Nerven verlieren. Dass du Samara nicht umgebracht hast, ist eigentlich sehr verwirrend.“
„Wer sagt denn, dass der Tod immer körperlich sein muss?“, stelle ich eine Gegenfrage, ohne auf eine Antwort zu warten. „Jedenfalls haben wir ihr zugestimmt und uns natürlich auf den Weg nach Hause gemacht. Ayla und ich sind bis zum Abend an meiner Konsole gesessen. Da es der erste Tag nach den Sommerferien gewesen ist, haben wir auch keine Hausaufgaben gehabt. Anschließend ist es natürlich Zeit gewesen uns auf den Weg ins Kino zu machen.“
„Hast du dich da irgendwie besonders angezogen?“, fragt sie und verschränkt ihre Hände. „Matthew ist doch auch anwesend gewesen, nicht wahr?“
Ich zucke mit den Schultern und meine: „Ich habe nicht von Anfang an vorgehabt, ihn für mich zu gewinnen. Seine Freunde sind für den Anfang mehr als genug gewesen. Einer von ihnen würde schon anbeißen.“
„Und dein Bruder?“, stellt sie eine Frage mit der ich bereits gerechnet habe. „Aryan möchte doch, dass du mit keinem seiner Freunde Kontakt hast.“
„Wäre einer dieser Jungen ein Freund von meinem Bruder, würde er es nicht einmal herausfinden“, erinnere ich sie an sein Studium im Ausland. „Jedoch hat es auch die Möglichkeit gegeben, dass sie die Freunde meines Bruders sind. Schließlich kennen sich Matthew und Aryan seit Jahren.“
„Ich weiß nicht wie es dir so geht“, beginnt Ayla zu sprechen. „Aber ich fühle mich eher ungewollt hier.“
Wir stehen vor dem Kino und müssten demnächst reingehen, um die anderen nicht warten zu lassen. Wie erwartet hat meine beste Freundin meine Gedanken ausgesprochen, welche ich nicht preisgeben hab wollen. Denn dieses Treffen ist der erste Baustein meines Planes. Matthew kann meinetwegen in einer Beziehung mit Samara sein. Jedoch wird er demnächst seine Aufmerksamkeit erneut mir schenken. Somit würde dann meine verräterische Freundin sehen, für welchen Menschen sie ihre Freundschaft aufgeben hat wollen.
„Sie hätte uns nicht eingeladen, wären wir nicht erwünscht“, meine ich und lege meine Hand auf ihre Schulter. „Schauen wir uns diesen Film an und machen uns einen schönen Abend!“
Ayla lässt sich augenblicklich überreden und zusammen betreten wir das Kino. Vor dem Schalter wartet die Gruppe bereits, welche aus vier Jungen und zwei Mädchen besteht.
„Und ist unter diesen Jugendlichen einer der Betroffenen gewesen?“, fragt die Kommissarin.
Ich hebe meinen Zeigefinger und antworte: „Alle vier. Insgesamt sind an diesem Tag Samara, Matthew, Gil, Elias, Navid und Vanessa anwesend gewesen. Vanessa ist die Freundin von Gil.“
Ihre Augen weiten sich und sie stellt fest: „Du hast die vier Herren von Anfang an gekannt?“
Ich nicke und erinnere mich an eine Zeit zurück, in der alles in meinen Augen noch problemlos abgelaufen ist. Als sie noch gelebt haben. Wie ist es bloß so weit gekommen? Ist es meine Schuld? Wären sie noch am Leben, würden sie dann Reue spüren?
„Wenn ich heute hier so sitze“, sage ich und drehe meinen Zeigefinger. „Dann hätte ich damals dieser Freundschaft ein Ende gesetzt. Mit Rache kommt der Mensch niemals zu etwas Gutem in diesem Leben. Mir tut es bloß weh, dass ich auf diese Weise zu der Erkenntnis gekommen bin.“
„Und ist etwas Interessantes während des Filmes passiert?“, fragt die Frau und lehnt sich neugierig vor.
„Hey Leute!“, begrüßt uns Samara von der Weite und ein vorgetäuschtes Lächeln schmückt meine Lippen. „Der Film beginnt gleich! Matthew hat eure Karten bereits bezahlt!“
Und weswegen gibt er für uns Geld aus? Haben wir selber keines? Versucht er mit dieser Geste etwas Bestimmtes zu erreichen?
„Ist das die Schwester von Aryan?“, fragt einer der Jungen von der Weite. „Jetzt verstehe ich, warum er uns nie erlaubt hat, sie zu sehen!“
Diese Worte steigern mein Selbstbewusstsein. Zu wissen, dass diese Jungen die Intelligenz eines Löffels haben, könnte meinem Plan auf die Sprünge helfen. Doch, welcher von diesen drei Clowns soll es denn sein?
Samara stellt uns gegenseitig vor. Vanessa wirkt nicht wie der Typ Mensch mit dem ich mich durchgehend unterhalten könnte. Doch dem Anschein nach entspricht dieses Mädchen Samaras Idealen. Da sie Gils Freundin ist, fällt ein Junge weg. Navid oder Elias?
Weswegen reagiere ich überhaupt auf solch eine negative Art? Normalerweise habe ich keine Vorurteile und erlaube, dass die Menschen mir ihren Charakter präsentieren, um mein eigenes Bild von ihnen zu malen. Es fühlt sich so an, als würde mein Inneres im Prozess der Änderung sein. Ob das zu etwas Gutem führen wird?
Wir betreten den Saal. Ich werfe einen Blick auf die Karte, die ausgehändigt worden ist und anschließend auf die von Ayla. Wir sitzen nebeneinander, doch wer wird sich auf meine andere Seite gesellen?
Diese Frage wird in den nächsten drei Sekunden beantwortet. Auf dem Platz neben meinem sitzt Navid, welcher bereits das Popcorn in der großen Verpackung verdrückt. Matthew sitzt direkt neben ihm und betrachtet mich aus dem Augenwinkel. Jedoch lasse ich mich nicht davon ablenken. Denn am Ende meines Planes werde ich nichts bereuen. Da bin ich mir ganz sicher.
Navid dreht seinen Kopf in meine Richtung und fragt: „Wie geht es Aryan? Seit seines Fluges hat er sich nicht ordentlich bei uns gemeldet. Vielleicht zwei Nachrichten in unserem Gruppenchat.“
„Er gewöhnt sich noch an das neue Land“, meine ich und zucke mit den Schultern. „Wir hören auch bloß einmal die Woche seine Stimme.“
„Und wie geht es dir?“, sorgt er sich um mein Wohlergehen und verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „So ohne Aryan? Schließlich ist es das erste Mal, dass ihr so lange voneinander getrennt seid.“
„Das stimmt“, gebe ich zu und betrachte die Leinwand, wo noch die Werbung läuft. „Im Leben müssen wir aber auch ab und zu Abschied nehmen. Manchmal temporär, aber öfters für immer.“
„Wie fühlst du dich denn jetzt?“, stellt er die gleiche Frage. „Das Mädchen neben dir ist Ayla, richtig? Aryan hat viel von ihr erzählt.“
Mein Bruder redet mit seinen Freunden über Ayla? Bin ich mit meinen Spekulationen etwa richtig gelegen? Ob Aryan wirklich Gefühle für sie hat? Ob das eine Überraschung für meine Eltern wäre?
Jedenfalls läuft die Sache besser als erwartet. Tatsächlich habe ich mir vorgestellt, dass die Freunde meines Bruders erwachsen und ansatzweise intelligent sind. Jedoch ist dies nicht der Fall. Demnach wird meine Rache problemlos zu meistern sein.
Samara ist zwar meine Freundin und bis vor den Ferien habe ich sie auch von ganzem Herzen geliebt. Doch nun muss ihr jemand einen Stoß in die richtige Richtung geben. Möchte sie ihre Freundschaft für diesen Typen aufgeben?
„Mir geht es eigentlich recht gut“, meine ich und grinse vorgetäuscht. „Der Film beginnt.“
Somit richten wir alle unsere Aufmerksamkeit auf die Bildfläche. Jedoch sind die Blicke von Matthew gut zu spüren. Navid betrachtet meinen Arm, welcher absichtlich auf der Lehne zwischen uns liegt.
Es vergehen wahrscheinlich zwanzig Minuten bis er auf die Idee kommt mir sein Popcorn anzubieten. Ein Lächeln wird ausgetauscht und im Hintergrund glänzen eifersüchtige Augen.
Ein erfolgreicher Abend.
„Und dass er sein Popcorn mit dir geteilt hat ist etwas Gutes gewesen?“, fragt die Kommissarin und scheint erneut den Faden verloren zu haben. „Ist es zu keinem Körperkontakt gekommen? Eine Berührung der Hände oder Ellbogen?“
„Denken Sie, dass es mein Plan gewesen ist, Navid auf diese Weise näherzukommen?“, stelle ich eine Gegenfrage und lehne mich vor. „An diesem Abend habe ich die Aufmerksamkeit von Matthew bekommen. Verstehen Sie? Mein Ziel ist es nicht gewesen einem Jungen näherzukommen, den ich nicht liebe. Er ist bloß eine Schachfigur in meinem Racheplan gewesen, welcher sich freiwillig gemeldet hat. Außerdem hat Matthew gemeint, dass er kein Interesse an mir hätte. Doch dieser Abend hat das Gegenteil bewiesen.“
Die Kommissarin lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Dass sie jemals solch ein interessantes Gespräch mit einer Jugendlichen führen würde, wäre ihr wohl nie in den Sinn gekommen. Sie streicht mit ihren Fingern über ihre Augenringe und lehnt sich anschließend wieder vor.
„Du möchtest mir sagen, dass du mit den Gefühlen eines Jungen gespielt hast, um das Herz einer anderen Person zu verletzen?“, trifft sie den Nagel auf den Kopf. „Navid ist eines der Opfer. Wie seid ihr Jugendlichen von einem harmlosen Kinoabend zu diesem Ende geraten?“
„Nun, dies war der erste Tag meines Planes“, meine ich und zucke mit den Schultern. „Und da waren noch so um die 100 weiteren Tage. Wir haben bald das Ende des Schuljahres. Denken Sie nicht, dass in dieser Zeitspanne eine Menge passiert sein könnte? Ein Unglück kann auch in wenigen Sekunden geschehen. Das Leben kennt den Begriff Zeit nicht.“
Nach diesem Abend sind mehrere Treffen vereinbart worden. In dieser Zeit habe ich zu Vanessa keine Verbindung aufbauen können. Doch um meinem Plan keine Steine in den Weg zu legen, ist eine vorgetäuschte Nettigkeit ein Muss gewesen. Gil, Elias und Navid sind mir sehr ans Herz gewachsen. Navid bemüht sich stets um mein Wohlergehen. Wir sind in kurzer Zeit sehr gute Freunde geworden. Manchmal habe ich meinen Plan aufgeben wollen, da mir mein jetziger Zustand gefällt. Es ist schön, wenn die drei Jungen mich zum Lachen bringen, oder wir gemeinsam Zeit verbringen. Doch, wenn Matthew am Ende des Tages noch immer neben Samara steht, wird mich das nicht zufriedenstellen.
Meistens habe ich auch nicht gewusst, wofür ich versuche meiner Freundin das Herz zu brechen, wenn sie eindeutig glücklich mit diesem Jungen ist. Aber Matthew akzeptiert Navids Zuneigung mir gegenüber nicht. Dies bedeutet, wenn Samara diesen Jungen liebt, aber er sie nicht, sollte sie ihre Zeit nicht verschwenden.
Seit unserem gemeinsamen Kinoabend sind ungefähr vier Monate vergangen. Es ist Ende Dezember und demnächst steht das Neujahr an. Ich bin kein Mensch, der diesen Tag mit Feuerwerken oder anderen Feierlichkeiten verbringt. Denn wofür feiere ich denn, wenn ich nicht weiß, ob mir das neue Jahr Gutes oder Schlechtes bringt?
Die Leute aus meiner Schule sind zu einer großen Party eingeladen. Vanessa und Gil werden in seinem Haus eine Feier stattfinden lassen, die eine Erinnerung in unserem letzten Jahr sein soll. Dies bedeutet, dass bloß die Ältesten eingeladen sind. Obwohl Gil, Navid, Elias und Vanessa bereits an der Universität sind, möchten sie Matthew nicht alleine lassen. Dies nenne ich eine ehrliche Freundschaft.
Manchmal frage ich mich sogar, wie es Matthew so ohne meinen Bruder ergeht. Sie haben sich früher jeden Tag getroffen und den halben Tag miteinander verbracht. Sie sind sogar in die gleiche Schule gegangen.
Direkt bei unserem Treffen haben wir eine eigene Chatgruppe erstellt, in welcher tagtäglich geschrieben wird. Aryan ist bezüglich all der Ereignisse unwissend. Dies ziehe ich auch vor, da er mir und den anderen die Hölle heiß machen würde. Schließlich hat er mich und höchstwahrscheinlich auch seine Freundesgruppe vorgewarnt.
„Wer schreibt dir?“, fragt meine Mutter und Ayla blickt panisch in unsere Richtung. „Du sitzt in letzter Zeit bloß am Handy. Lernst du denn noch? Nimm dir ein Beispiel an Ayla.“
Wir sitzen im Wohnzimmer und schauen die Lieblingsserie meiner Mutter an. Ihre Praxis hat heute früher geschlossen, da sie keine weiteren Termine für den restlichen Tag hat. Mein Vater hat sich nach einem anstrengenden Arbeitstag in das Schlafzimmer gelegt und wird bis zum Abend auch nicht freiwillig aufstehen. In den letzten Monaten habe ich meine Eltern komplett vernachlässigt. Meine Gedanken waren bloß bei Navid und Matthew.
„Es geht um die Feier zu Silvester“, meine ich ohne sie anzuschauen.
Ayla und ich wollten die Party für eine längere Zeit geheim halten, da wir wissen, dass meine Mutter diese Information gerne zu ihren Gunsten ausnutzen würde. Beispielsweise wenn ich morgens nicht aufstehen möchte. Dann darfst du nicht zu der Silvesterfeier, wären ihre Worte.
Meine Mutter dreht die Lautstärke des Fernsehers runter und wiederholt: „Eine Feier?“
Ich nicke und denke nicht viel darüber nach. Dafür lenkt mich mein Handy viel zu sehr davon ab. Überhaupt, wenn Navid fragt, ob er mich an dem Abend abholen darf.
„Ihr habt mir nichts von einer Feier erzählt“, meint sie und scheint nicht erfreut darüber zu sein, dass ihre Kinder ohne ihre Einwilligung Entscheidungen treffen. „Zu Silvester haben wir die ganze Familie eingeladen! Ihr könnt diesen Abend nicht verpassen!“
„Diese Feier findet extra für die achten Klassen statt“, meine ich und versuche sie zu überreden. „Wenn wir diesen Abend verpassen, werden wir keine guten Erinnerungen an das gesamte Jahr haben.“
Meine Mutter runzelt nachdenklich mit der Stirn. Wortlos betrachtet sie abwechselnd unsere beiden Gesichter und überlegt, welche Entscheidung aus ihrer Sicht die Beste wäre.
„Ich hätte euch diesen Abend sowieso nicht untersagt“, sagt meine Mutter und mir fällt ein Stein vom Herzen. „Ihr dürft gerne zu Silvester zu dieser Feier. Seid aber früh genug da, um eure Großeltern zu sehen. Und habt keine Geheimnisse mehr vor mir. Oder gebe ich euch das Gefühl etwas verheimlichen zu müssen?“
Ayla und ich schütteln gleichzeitig den Kopf und fallen ihr in der nächsten Sekunde in die Arme. Mutter, ich liebe dich.
Am nächsten Tag sind weitere Stunden in der Schule zu absolvieren, bevor der Unterricht zu einem Ende findet. Samara und Ayla haben ihre Differenzen beiseitegelegt und lernen fleißig für die kommenden Prüfungen. Matthew sitzt neben ihnen, mit seinem Kopf auf dem Tisch und scheint dieses Jahr erneut wiederholen zu wollen.
„Wir sind hier!“, ruft Samara mit einem Lächeln auf den Lippen und winkt mir zu. „Wir haben gerade über dich geredet!“
Hoffentlich nur Gutes. Denn meine Pläne machen sehr gute Fortschritte und demnächst könnte es auch Ergebnisse geben.
Matthew erwacht aus seinem Schönheitsschlaf. Seine Augen treffen meine und für einen kurzen Moment betrachten wir uns flüchtig. In dieser Sekunde verfluche ich Aryan dafür, dass er mir die Möglichkeit genommen hat, dem Jungen näher zu kommen, bei dem mein Herz diese gewisse Schwerelosigkeit fühlt. Um keinen Verdacht zu hegen halte ich mich auch fern von Matthew. Bloß der nötige Kontakt ist erwünscht. Ansonsten könnte ich das Vertrauen der eifersüchtigen Samara niemals gewinnen.
„Wir versuchen Matthew seit Anfang der Stunde dieses Thema zu erklären“, meint Ayla und zeigt verzweifelt auf die Beispiele die sie gerechnet haben.
„Du schreibst immer nur Einser in diesem Fach“, erinnert mich Samara an meinen Erfolg. „Könntest du dich zu uns setzen und ihm helfen?“
„Ich kann in der Schule nicht lernen“, lehne ich ihre Bitte ab.
„Und wenn er zu dir nach Hause kommt?“, schlägt Ayla ohne Hintergedanken vor.
Samaras Augen weiten sich und sie geht sofort in die Defensive. Ayla bemerkt, dass ihr Vorschlag keine gute Idee gewesen ist und beißt sich auf die Lippe.
Doch aus meiner Sicht ist es ein brillanter Vorschlag, welcher sofort in die Tat umgesetzt werden muss.
Matthew gähnt laut auf und meint: „Ich finde, dass das eine sehr gute Idee ist. Die Schule ist nicht wirklich der perfekte Ort zum Lernen. Außerdem hasse ich es meine freie Zeit in diesem Gebäude mit noch mehr Schulkram zu verschwenden. Wann beginnen wir?“
Seine Frage ist an mich gerichtet. Samara betrachtet uns beide abwechselnd und kann nicht nachvollziehen, weswegen ihr fester Freund eine solch wichtige Entscheidung ohne ihre Einverständniserklärung trifft.
„Hast du nicht gesagt, dass sie dir vertraut?“, möchte die Kommissarin wissen und zieht den Kopf konfus zurück.
Ich lache kurz und antworte: „Hören Sie. Samara ist ein sehr eifersüchtiger Mensch. Als wir uns das erste Mal angefreundet hatten, wollte sie nicht einmal, dass Ayla mit uns abhängt.“
Die Kommissarin verdreht die Augen und deutet mit ihrer rechten Hand, dass ich weitererzählen darf.
„Schatz“, spricht sie. „Findest du es denn angemessen, alleine in einem fremden Haus zu lernen? Überhaupt in dem eines Mädchens?“
Matthew blickt Samara vom Augenwinkel aus an und fragt: „Dieser fremde Ort ist das Haus meines besten Freundes. Außerdem bin ich dort deutlich öfter gewesen, als du es bist. Sie ist doch deine beste Freundin. Das sollte kein Problem darstellen. Vertraust du ihr etwa nicht?“
Sie blickt von ihrem Freund direkt in mein Gesicht und schluckt lautlos. Die Worte sind ihr im Hals steckengeblieben und für eine kurze Weile führen wir einen Anstarrwettbewerb. Sie weiß, zu welchen Mitteln ich greifen würde, um meine Ziele zu erreichen. Und da Samara mir die ganzen Sommerferien über ein Spiel gespielt hat, ist sie sich bewusst, dass unsere Freundschaft kein Hindernis für mich wäre.
In der gleichen Sekunde umgarnen zwei Arme meinen Becken. Erschrocken werfe ich einen Blick über meine Schulter und vernehme gleichzeitig einen familiären Geruch. Navid betrachtet mich mit einem dicken Grinsen auf den Lippen.
„Wie geht es meiner besten Freundin?“, fragt er und lehnt seinen Kopf an meinem Haaransatz.
„Ich habe gedacht, dass du draußen auf mich warten wirst“, erinnere ich ihn an unseren eigenen Treffpunkt. „Gehen wir?“
„Wohin geht ihr?“, fragt Ayla und ist sichtlich verwirrt. „Und seit wann seid ihr beiden so Dicke?“
Dies soll wohl für mich heißen: Weswegen weiß ich nicht, dass Navid und du euch so nahe steht? Ich habe es ehrlich gesagt auch nicht gewusst. Aber wenn es mir mit meinem Plan weiterhilft, habe ich kein Problem damit.
Navid löst sich von mir und antwortet: „Es gibt nichts Spezielles. Einfach in meinem Auto eine Tour durch die Stadt. Bisschen Essen gehen, spazieren und miteinander reden.“
„Das geht heute leider nicht“, mischt sich Matthew unerwartet ein. „Sie wird mir Nachhilfe geben. Wir haben uns das gerade in diesem Augenblick ausgemacht.“
Navid zieht verwirrt den Kopf zurück und betrachtet mich konfus. Ich zucke bloß mit den Schultern und finde keine passende Antwort.
Doch eines steht fest: Matthew stört meine Beziehung zu Navid. Er erstickt in seiner Eifersucht. Weswegen ist er dann in einer Beziehung mit Samara? Worin besteht der Sinn?
„Gehen wir?“, wiederholt er meine Worte von vorhin und zeigt mir seine Autoschlüssel.
Samara greift nach seinem Arm und fragt hektisch: „Fährst du mich denn nicht nach Hause?“
„Kannst du für heute nicht den Bus nehmen?“, fragt er und lässt es eher wie einen Befehl klingen. „Deine Wohnung ist auf der anderen Seite der Stadt. Wir sehen uns morgen.“
„Telefonieren wir heute Abend?“, fragt Samara und scheint nun besorgt zu sein.
Besorgt um ihre Beziehung.
Matthew nickt und antwortet: „Ich schreibe dir sobald ich Zeit habe.“
Mit diesen Worten zieht er mich an meinem Arm aus der Schule. Vor seinem Auto angekommen, reiße ich mich aus seinem Griff und funkle ihn wütend an.
„Ich bin kein Objekt, das du von Punkt A nach B zerren kannst“, zische ich und halte meinen Mittelfinger vor seine Nase. „Wie wäre es, wenn du mich nach meiner Meinung fragst? Möchte ich dir denn Nachhilfe geben? Möchte ich dieselbe Luft wie du atmen?“
Matthew lächelt auf die Seite blickend und meint: „Ich kann leider nicht auf dem Mond leben. Du musst aus diesem Grund die gleiche Luft einatmen. Oder du gibst das Atmen auf. Jedenfalls brauche ich diese Nachhilfe und du bist teilweise intelligent. Wenn du möchtest kann ich dich auch bezahlen.“
„Bezahlen?“, wiederhole ich und schnalze mit der Zunge. „Sehe ich so aus, als würde ich Geld brauchen?“
„Dafür hast du mich im Sommer aber sehr ausgebeutet“, erinnert er mich an meine Art zu sparen und meine Wangen erröten vor Scham.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und knurre: „Für einen Jungen der meine Hilfe braucht bist du aber sehr unhöflich. Dir scheint deine Note nicht von großer Bedeutung zu sein. Möchtest du die Klasse denn nie positiv abschließen?“
Er seufzt laut aus und öffnet die Beifahrertür. Doch dies ist noch lange kein Grund für mich um einzusteigen. Seine Blicke verraten seine Ungeduld. Doch gegen meine Sturheit wird er nicht ankommen.
Unerwartet vibriert mein Handy und ich werfe einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Eine Nachricht von Ayla ist ersichtlich.
Sie schreibt: „Samara schäumt vor Wut. Was machst du gerade? Bist du mit ihm im Auto?“
„Hat Ayla denn nichts von deinem Racheplan gewusst?“, fragt die Kommissarin mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Ich schüttele den Kopf und antworte wahrheitsgemäß: „Nein, sie hat nichts gewusst.“
„Ist Ayla denn nicht deine beste Freundin?“, versucht sie die Fakten klarzustellen. „Beziehungsweise deine Adoptivschwester.“
„Ich wollte nicht, dass irgendjemand den Plan zerstört“, gestehe ich und denke an meine dummen Fehler zurück. „Ich vertraue Ayla mein Leben an. Aber, diese Angelegenheit ist bloß in meinem Interesse gewesen. Würde es nach meiner Schwester gehen, hätte sie mich schon längst überredet Matthew zu vergessen. Schließlich hat er sich bereits eine neue Freundin gesucht, nicht wahr?“
Die Kommissarin nickt zustimmend und spricht: „Das ist in der Tat korrekt. Hat Ayla denn je über den Plan erfahren?“
Ich schüttele verneinend den Kopf.
Ohne auf Aylas Nachricht zu antworten verstaue ich das Handy in meiner Westentasche. Meine arroganten Blicke erneut in Matthews Richtung.
„Komm schon“, bittet er mich und zeigt mit seiner Hand in das Innere des Wagens. „Können wir alles Wichtige im Auto besprechen? Mir ist diese Sache wirklich wichtig und du bist ein sehr kluges Mädchen.“
„Was bin ich?“, frage ich und täusche vor, seine Worte nicht gehört zu haben. „Ich habe dich nicht hören können.“
„Du bist ein sehr kluges Mädchen!“, wiederholt er mit einer lauten Stimme, wodurch sich die Köpfe der meisten Schüler in unsere Richtung drehen.
Mit einem dicken Grinsen auf den Lippen steige ich in den Wagen und genieße meinen Triumph. Matthew setzt sich vor das Lenkrad und startet den Motor. Innerhalb der nächsten Sekunden kommt das Auto ins Rollen und wir entfernen uns vom Schulgelände.
Während der Autofahrt achte ich darauf kein Gespräch zu starten. Es ist mir wichtig, dass der Beginn seinerseits ist. Schließlich möchte ich nicht verhindern, dass er wichtige Themen anspricht.
Zum Beispiel unsere Beziehung. Wie er zu seiner jetzigen Liebesromanze steht und weshalb er genau Samara gewählt hat. Es muss doch einen Grund geben, weswegen er genau mit einem Mädchen aus meiner Freundesclique zusammen gekommen ist.
„Können wir die Vergangenheit nicht sein lassen?“, fragt der Junge und mein Herz zieht sich zusammen.
Erneut spricht er über DIESES Thema. Was meint er mit seinen Worten? Mache ich den Eindruck, als würde mich seine Beziehung zu Samara stören? Dabei habe ich doch versucht keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Um mein Desinteresse an Matthew vorzutäuschen, habe ich mich doch Navid genähert.
Ich gebe keine Antwort auf seine Frage. Entweder wird er diesem Gespräch ein Ende setzen, oder mit einer weiteren Aussage Klarheit schaffen.
„Lass uns bloß Freunde sein“, schlägt er vor. „Ich bin in einer Beziehung mit Samara. Sie macht mich sehr glücklich. Ich mag dich wirklich sehr. Aber bloß, weil wir vor ein paar Monaten stärkere Gefühle füreinander gehabt haben, bedeutet dies doch nicht, dass eine Freundschaft nicht in Erwägung zu ziehen wäre.“
Bloß vor wenigen Monaten? Diesem Jungen ist bewusst, dass ich ihn seit meiner Kindheit liebe? Dies bedeutet, dass ich sobald ich erfahren habe, dass er der kleine Matthew aus der Vergangenheit ist, mich an meine Gefühle für ihn erinnert. Und was soll dieses Gerede von einer Freundschaft? Unserer Freundschaft eine Chance geben? Sehe ich denn so aus, als wäre ich an so etwas interessiert? Habe ich das Gesicht eines Mädchens, das als normale Freundin abgestempelt werden möchte? Möchte er mir damit klarmachen, dass er mich nicht braucht?
„Weswegen ist das überhaupt eine Option?“, möchte ich wissen und könnte dabei womöglich einen zickigen Unterton haben. „Sehe ich so aus, als wäre ich an einer Freundschaft interessiert? Wir verstehen uns alle in der Gruppe. Manche mehr als die anderen. Aber ich habe nicht wirklich ein Interesse daran, der Freundschaft zu dir eine Chance zu geben.“
Matthew ächzt laut auf und versucht den Blick nicht von der Straße zu wenden.
„Ich weiß, dass du versuchst Navid näherzukommen“, erwischt er mich bei meinem Plan. „Ich denke nicht, dass er diese Herzschmerzen verdient hat.“
„Wie kommst du denn bitte auf diesen Schwachsinn?“, frage ich und täusche meine Ahnungslosigkeit vor. „Ich bin bloß mit ihm befreundet. Das sollte dir doch bereits aufgefallen sein.“
„Mir fällt eher auf wie er durchgehend den Kontakt zu dir sucht“, erinnert mich an das Offensichtliche. „Das ist mir in der Tat aufgefallen.“
„Wieso beschäftigst du dich mit der Beziehung von Navid und mir?“, zische ich und versuche ihn ein wenig zu provozieren. „Du bist mit Samara zusammen. Ob ich mit Navid eine Beziehung eingehe, oder bloß meinen Spaß mit ihm habe ist nicht deine Sache. Wenn er all dem zustimmt, ist es schließlich in Ordnung.“
„Weiß er denn, was er da zugestimmt hat?“, fragt Matthew und mein Mundwerk stoppt. „Dein Bruder hat dich nicht umsonst vor uns gewarnt.“
Aryan hat mich vor seinen besten Freunden gewarnt. Dies stimmt und ist auch vollkommen korrekt. Doch, was meint Matthew nun damit? Haben die zusammen etwa einen Mord begangen?
„Recht ironisch“, kommentiert die Kommissarin und ich versuche die Bemerkung zu ignorieren.
Ich habe meinen Bruder tatsächlich noch nie gefragt, weswegen er mich von Matthew hat fernhalten wollen. Ohne einen Gedanken darüber zu verschwenden, habe ich diesen Jungen aus meinem Leben verbannt. In unserer Kindheit hat er auch versucht seine Freunde von mir fernzuhalten. Auch vor Ayla.
„Aryan ist etwas Überfürsorglich“, meine ich und wedle mit der rechten Hand. „Ich denke nicht, dass einer von euch mich auf irgendeine Weise negativ beeinflussen könnte.“
„Davon ist auch nicht die Rede“, antwortet Matthew und scheint es ernst zu meinen. „Versuche einfach nicht die Grenzen zu überschreiten. Und wenn du sagst, dass ihr keine Beziehung zueinander habt, dann ist das in Ordnung.“
Dieses Gespräch wirkt sehr surreal. Weswegen sollte sich Matthew um mein Wohlergehen kümmern? Wenn ich Navid mag und wir uns demnach auch gut verstehen, sollte sich dieser Junge auch nicht einmischen. Bin ich wohl sehr überempfindlich?
„Hör mal“, zische ich und hebe warnend meinen linken Zeigefinger. „Du bist mit meiner Freundin zusammen. Ich habe von eurer Beziehung erst vor ein paar Monaten erfahren. Ich bin dir nichts schuldig und du mir auch nicht. Diese Nachhilfe kann ich dir gerne geben. Aber halte dich aus meinem Leben raus. Ob der Junge, mit dem ich meinen Tag verbringe, einer deiner Freunde ist, sollte für dich nicht von Bedeutung sein. Wir alle sind schließlich erwachsen hier, nicht wahr?“
Matthew schlägt aufgebracht auf das Lenkrad und knurrt: „Verstehst du nicht, dass die Jungen in diesem Alter meistens mental noch nicht reif sind?“
„Navid macht nicht den Eindruck unreif zu sein“, gebe ich meine Meinung dazu ab.
Matthew unterbricht mich und zischt: „Dann bist du tatsächlich eine Intelligenzbestie.“
„Was ist dein Problem?“, frage ich mit den Nerven am Ende. „Weswegen interessiert es dich mit wem ich spreche oder mich treffe? Dich betrifft es doch nicht! Ich gebe dir deine Nachhilfe und danach lässt du mich in Ruhe.“
„Fein!“, zischt er zurück und anschließend herrscht absolute Ruhe.
In diesem Augenblick könnte ich diesen Jungen erwürgen. Seine Art zu Sprechen macht den Eindruck, als würde er in einer Beziehung mit mir sein wollen. Wenn es ihn stört, dass ich mit Navid rede, weil er der Freund meines Bruders ist, soll er dies doch einfach sagen. Aber falls er auf diese Weise reagiert, um seine Eifersucht erkenntlich zu machen, sollte er die Beziehung zu Samara noch einmal überdenken.
Die Fahrt vergeht in vollkommener Stille. Matthew blickt bloß geradeaus und versucht den Blickkontakt zu mir zu meiden.
In diesem Moment fühlt er sich nicht wie der Freund meiner Freundin an, sondern eher wie der Junge, den ich im Sommer kennengelernt habe. Trotz unserer Auseinandersetzung sehnt sich mein Herz nach ihm und dieses Gefühl benebelt meine Sinne. Normalerweise würde ich all diese hinterlistigen Pläne nicht schmieden. Einem Menschen absichtlich wehzutun liegt nicht in meiner Natur. Weswegen mache ich das?
Was ist so besonders an Matthew, dass mein Herz ihn nicht loslassen kann? Sind es die Erinnerungen an denen ich verzweifelt festhalte? Er ist doch wie jeder andere Junge! Oder?
„Ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen“, spricht Matthew und steigt aus dem Auto aus.
Ich imitiere ihn und nach wenigen Schritten stehen wir vor meiner Haustüre. Bevor ich den Schlüssel reinstecken und die Türe aufsperren kann, wird sie von innen geöffnet. Meine Mutter blickt perplex in unsere beiden Gesichter und runzelt mit der Stirn.
„Matthew?“, spricht sie seinen Namen verwirrt aus und lässt die Türklinke los. „Was machst du denn hier?“
Er antwortet: „Ihre Tochter hat sich entschlossen mir Nachhilfe zu geben. Ich habe das letzte Schuljahr leider wiederholen müssen. Aus diesem Grund bräuchte ich da die Unterstützung eines intelligenten Menschen.“
„Es ist nur so seltsam, dich wieder vor unserer Haustüre zu sehen“, meint meine Mutter und lächelt ihm zu. „Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt! Komm doch herein!“
„Gerne!“, antwortet Matthew und erwidert ihr Lächeln. „Aryan hat es nach einer Zeit nicht mehr vorgezogen bei ihm zu Hause zu spielen.“
„Er hat wohl seine Gründe gehabt“, spricht meine Mutter und kann anscheinend die Gedanken ihres Sohnes nicht nachvollziehen. „Ich bin jedenfalls vor kurzem aus der Praxis gekommen und habe Lust auf einen Apfelstrudel gehabt. Er ist noch warm! Nimmt euch welchen!“
Matthew lässt mir den Vortritt. Der Streit von vorhin wird nicht erwähnt. Dies ist eine sehr gute Einstellung, da bei meiner Mutter beim kleinsten Anzeichen bereits die Alarmglocken läuten.
Der Junge folgt meiner Mutter in die Küche. In der Zwischenzeit laufe ich hinauf in mein Zimmer und schlüpfe in meine Jogginghose, da dieses prachtvolle Kleidungsstück in unserer Schule als unangemessen angesehen wird.
Erneut unten angekommen sehe ich durch den Türrahmen Matthews breites Lächeln und anschließend ein lautes Lachen von beiden im Raum.
„Ja, er ist wirklich sehr schnell beleidigt“, gesteht der Junge und schiebt sich die Gabel in den Mund.
Meine Mutter antwortet: „Ihr beide kennt euch nun schon so lange! Bevor die anderen Burschen dazugekommen sind, hat es bloß euch beide gegeben. In meinen Augen bist du wie ein Sohn für mich!“
„Ich schätze das sehr“, zeigt Matthew seine Dankbarkeit und für den Hauch eines Moments wirkt es so, als würde er versuchen seine Tränen zurückzuhalten. „Ich hoffe, dass es Aryan nicht allzu schwer im Ausland hat.“
Ich trete in die Küche ein und antworte: „Es geht ihm blendend. Nun muss er dein Gesicht nicht so oft sehen!“
Meine Mutter beginnt zu lachen und nimmt meine Worte nicht als etwas Negatives wahr. Matthew blickt in meine Richtung und hebt mit unbeeindrucktem Gesichtsausdruck die Augenbrauen.
„Dafür hast du ihn als Kind aber sehr angehimmelt“, fügt meine Mutter ihren Senf hinzu. „Erinnerst du dich noch wie dein Bruder dich angeschrien hat, weil du andauernd in sein Zimmer gegangen bist um Matthew sehen zu können?“
Weswegen muss sie in solch einem Moment diese beschämenden Erinnerungen erwähnen? Steht sie auf der Seite dieses Idioten?
„Genau!“, ruft Matthew und lacht lauthals los. „Ich erinnere mich noch, wo sie herumgeweint hat, weil Aryan die Zimmertür jedes Mal abgesperrt hat, damit sie uns nicht mehr stört. Wunderbare Zeiten.“
Er wischt sich eine Freudenträne aus dem Gesicht und blickt anschließend amüsiert in meine Augen.
In diesem Moment würde ich ihm diesen Apfelstrudel gerne in den Mund schieben, um seinem nervigen Grinsen ein Ende zu setzen.
„Wie habt ihr euch denn nach all den Jahren wieder angefreundet?“, fragt meine Mutter und wir werfen uns panische Blicke zu. „Aryan hat dich ja seit Jahren nicht mehr eingeladen. Woher wusstet ihr, wie der andere aussieht?“
Matthew scheint auf die Schnelle keine glaubwürdige Lüge einzufallen.
Ich antworte: „Er ist auf unsere Schule gewechselt. Als der Lehrer seinen Vor- und Nachnamen gerufen hat, ist es mir klargeworden. Ansonsten hätte ich ihn niemals erkannt.“
Meine Mutter nickt während des Zuhörens und sagt: „So ich werde mich nun wieder in das Arbeitszimmer begeben. Es sind noch etliche Dokumente zu sortieren und vieles mehr. Erwachsenenkram. Falls ihr etwas bei den Aufgaben nicht verstehen solltet, könnt ihr mich gerne um Hilfe bitten!“
Matthew nimmt im Wohnzimmer Platz und breitet sich auf dem Sofa aus. Wie gewohnt setze ich mich auf das Einzelsofa, welches in dieser Familie als Mein angesehen wird und warte, bis er seine Unterlagen herausholt.
„Was genau verstehst du denn nicht?“, frage ich und versuche somit einen Anhaltspunkt zu finden.
Schließlich wäre es mir nicht möglich ihm in solch einer kurzen Zeit die Themen seit Anfang des Schuljahres beizubringen.
Doch Matthew kratzt sich am Hinterkopf und antwortet: „Alles.“
Ich könnte diesen Jungen umbringen. Hat er denn nie im Unterricht aufgepasst? Wo ist er mit den Gedanken?
„Was soll ich jetzt mit dieser Information anfangen?“, versuche ich seiner Dummheit einen logischen Grund zu geben.
„Du sollst mir alles beibringen“, meint er und unverschämt und zeigt mir all seine Zähne.
Ich boxe sie ihm gleich aus dem Mund.
„Und das Denken soll ich dir auch gleich lehren?“, zische ich und versuche zu verstehen, wie er von mir erwarten kann, ihm in weniger als zwei Wochen den gesamten Semesterstoff beizubringen.
Matthew schüttelt den Kopf und meint: „Das Denken habe ich mir schon selber beigebracht. Mach dir da keine Sorgen.“
Er nimmt mich wohl auf den Arm. Das muss es sein. Er kann dies doch nicht ernst meinen!
„Und an diesem Tag ist es bei der Nachhilfe geblieben?“, möchte die Kommissarin wissen.
Ihr ist bewusst, dass ich Matthew liebe und zu hundert Prozent jedes Opfer bringen würde, um ihn an meiner Seite zu sehen. Nun, diesen Ehrgeiz würde mein vergangenes Ich haben.
Ich nicke und meine: „Der ganze Nachmittag ist damit vergangen diesem Vollidioten den Unterschied zwischen Differential und Integral zu erklären. Es war ein deutlich anstrengender Tag.“
„Und wenn es bloß beim Lernen geblieben ist“, beginnt die Frau zu reden und zieht erneut die Augenbrauen verwirrt zusammen. „Kann es doch zu keinem Fortschritt gekommen sein. Ist es nicht dein Plan gewesen ihn von deiner Freundin Samara zu trennen?“
„Sie müssen verstehen“, spreche ich und schlucke meine eigene Spucke runter. „Dass nicht alle Jugendlichen ihre Liebe mit dem Körperkontakt erleben. An diesem Tag hat unsere verwelkte Beziehung zu neuem Leben gefunden. Wir haben durch unsere Gefühle erneut zueinander gefunden. Außerdem denke ich, dass wenn dieser Tag nicht zustande gekommen wäre, hätte das eine Treffen nie stattfinden können.“
„Andere Treffen?“, wiederholt die Kommissarin und zieht ihren Pferdeschwanz fester. „Ist das besagte Treffen ausschlaggebend für die zukünftigen Ereignisse gewesen?“
Mein Herz zieht sich bei diesen Worten zusammen. Die Erinnerungen an diese schönen Tage, welche noch vor wenigen Monaten gewesen sind, haben mich die schrecklichen Taten dieser Menschen in Vergessenheit geraten lassen. Doch plötzlich sind all die schlechten Erinnerungen wie eine Pest in das Innere meiner Emotionen eingedrungen.
„Nein“, verneine ich ihre Frage. „Dieses Aufeinandertreffen hätte bloß ein unschuldiges Wiedersehen zweier Herzen sein müssen. Aber ich denke, dass das Karma mich eingeholt hat.“
„Sieh her“, versuche ich zum Zehnten Mal die gleiche Aufgabe zu erklären. „Du musst hier nur…“
Sein Handy klingelt unerwartet. Matthew greift sich gelassen in seine Hosentasche und betrachtet anschließend den Bildschirm.
„Ja Samara?“, spricht er ihren Namen eher genervt aus und verdreht anschließend die Augen. „Wir lernen noch. Du bist in der Nähe? Weswegen hast du dir die Mühe gemacht herzukommen? Unsere Nachhilfe wird wahrscheinlich noch eine Stunde dauern.“
Ein paar Sekunden vergehen in denen er gedankenlos auf die weiße Decke über ihm starrt. Mit einem Blick in meine Richtung legt er seine Hand an seinen Hals und verdreht erneut genervt die Augen. Er möchte damit deuten, dass Samara ihm allmählich auf den Zeiger geht.
„Ich soll dich jetzt abholen?“, informiert er sich und ihm ist der steigende Zorn anzusehen. „Samara soll ich jetzt lernen und diese Prüfung bestehen oder ein weiteres Jahr die Schulbank drücken? Schon gut. Bleib dort stehen. Ich weiß ungefähr wo du bist. Ich bin in zehn Minuten da.“
In der gleichen Sekunde legt Matthew auf und möchte sein Handy auf den Boden schmettern. Er hält sich jedoch im letzten Augenblick zurück. Genervt fährt der Junge mit seiner Hand durch seine Haare und lässt sich rückwärts auf das Sofa fallen.
„Kannst du mich umbringen“, lässt er seine Bitte wie eine Frage klingen und dreht seinen Kopf in meine Richtung.
Die Kommissarin scheint einen Kommentar machen zu wollen, hält sich jedoch zurück.
„Ich habe nicht erwartet, dass jüngere Mädchen so anstrengend sind“, meint Matthew. „Du bist im Gegensatz eher zu ertragen.“
Soll ich das als Kompliment aufnehmen? Samara und ich sind beide siebzehn und Matthew wird demnächst neunzehn. Dies bedeutet, dass es keinen wirklich großen Altersunterschied gibt. Daher ergibt seine Aussage keinen Sinn. Schließlich ist er keine dreißig.
Jedenfalls juble ich innerlich aufgrund dieser Situation. Samaras Eifersucht verleitet sie dazu falsche Entscheidungen zu treffen. Dadurch verliert Matthew die Nerven und möchte ihr lieber aus dem Weg gehen.
Ohne auf meine Antwort zu warten, setzt sich der Junge erneut auf und steht in der nächsten Sekunde auf den Beinen. Mit einem Handzeichen deutet er mir, dass für ihn nun die Zeit zum Gehen gekommen ist. Ich begleite Matthew bis zur Haustüre und verabschiede ihn mit einem Lächeln. Ein Lächeln des baldigen Sieges.
„War es denn dein Ziel die Eifersucht in Samara zu wecken?“, möchte die Kommissarin wissen und hebt neugierig beide Augenbrauen. „Oder ist die Nachhilfe eher ein Bonuspunkt für deinen Racheplan gewesen?“
„Ich würde sagen, dass sie der erste Schritt gewesen ist“, beginne ich meine Sicht der Dinge zu erklären. „Um mir die Augen zu öffnen. Mir zu zeigen, dass dieser Plan bloß zum Scheitern verurteilt gewesen ist.“
„Ihr habt aber nicht sehr lange lernen können“, ertönt die Stimme meiner Mutter und erschrocken drehe ich mich in ihre Richtung.
Sie hat die Hände an die Hüften gestemmt und betrachtet mich verwirrt. Ich trete an ihre Seite, lege meinen Arm um ihre Schultern und lehne meine Wange an ihren Kopf.
„Meine beste Freundin scheint mir nicht zu vertrauen“, gestehe ich und meine Mutter blickt ungläubig in mein Gesicht. „Es geht um Samara. Sie ist im Sommer eine Beziehung mit Matthew eingegangen. Die Nachhilfe von heute ist ihre Idee gewesen. Doch aus irgendeinem Grund hat ihre Eifersucht sie nicht in Ruhe gelassen.“
„Ich habe bereits von Anfang an gewusst, dass Samara keine gute Freundin ist“, spricht meine Mutter ihre Gedanken aus.
„Weswegen hast du mich bis jetzt nie gewarnt?“, versuche ich ihr Handeln zu verstehen. „Schließlich ist Samara tagtäglich bei uns gewesen.“
„Euch Jugendlichen zu erklären, dass ein bestimmter Mensch kein guter Freund ist“, meint sie. „Ist genauso schwer, wie einem Kriegsführer vom Frieden zu berichten. Erst mit den ersten Problemen kommt die Erleuchtung.“
„Also hast du deine Mutter im Endeffekt bezüglich des Planes eingeweiht?“, möchte die Kommissarin nun wissen und versucht meine Mutter höchstwahrscheinlich als Komplizin abzustempeln.
Ich schüttele bloß den Kopf und antworte: „Nein. Meiner Mutter habe ich absichtlich nichts von meinem Plan erzählt, da sie ganz bestimmt dagegen gewesen wäre. Aber über die Auseinandersetzung mit Samara ist sie informiert worden. Ansonsten würde ich bereits viel früher vor einer Hürde stehen. Das Gespräch mit meiner Mutter hat mich zur Hälfte auf den richtigen Pfad gebracht.“
„Zur Hälfte?“, wiederholt die Kommissarin und scheint meinen Worten keinen Sinn schenken zu können. „Was ist an diesem Tag besprochen worden?“
„Meine Mutter hat mich bloß wieder daran erinnert, dass kein Mensch das Recht darüber hat einem anderen Schaden zuzufügen“, erkläre ich der Frau und lege meinen Kopf in den Nacken. „An diesem Tag habe ich meinen Hass beiseitelegen können. Nach all diesen Monaten habe ich das erste Mal einen klaren Gedanken fassen können.“
„Und was war das Resultat?“, möchte die Kommissarin wissen um einschätzen zu können, was auf sie zukommen wird.
Ich zucke mit den Schultern und meine: „Ich habe mich begonnen an den Gedanken zu gewöhnen, meinen Plan aufzugeben.“
„Doch, irgendwas muss dazwischen gekommen sein“, fügt sie hinzu. „Ansonsten wären diese vier Herren noch am Leben.“
Ich nicke und antworte: „Ich habe anscheinend einen Kampf mit meinen eigenen Dämonen geführt. Sie sehen, dass dies eine Niederlage für mich gewesen ist. Unbewusst habe ich mir all diese Schmerzen zugefügt.“
„Was ist dann geschehen?“, fragt die Kommissarin nach und verliert allmählich die Geduld. „Deine Eltern werden demnächst eintreffen und bis dahin möchte ich deine Sicht dieser Geschichte hören!“
Meine Sicht der Geschichte? Gibt es denn auch andere Blickwinkel? Ist denn der Schmerz, der mir wiederfahren ist, durch die Augen eines anderen gutzureden? Gibt es denn noch Zeugen, die eine andere Geschichte erzählen können? Können die Verstorbenen etwa noch sprechen? Falls dies möglich wäre, könnten sie denn von der Wahrheit berichten, oder würden sie wie die Lebenden für ihre eigene Sicherheit die schönsten Lügen erfinden?
Hallo!
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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2020
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