Dieses Buch schließt an den ersten Teil an. Es kann aber auch ohne die Kenntnis des ersten Teiles gelesen werden, da es inhaltlich ein abgeschlossenes Buch ist.
Falls Sie den ersten Teil lesen möchten, Autor und Titel sind:
Michael Möhring
Gnadenlos: eine wahre Geschichte
Nach der Haftentlassung wohnte ich in dem neu gebauten Haus meiner Eltern. Ich hatte ein eigenes kleines Zimmer und versuchte, die ersten Tage von allem Abstand zu nehmen. Es war seltsam, wieder im eigenen Bett zu liegen. Das Bett roch frisch bezogen. Ich war allein. Kein Saal mit Männern, die nachts laut schnarchten, rauchten, sich selbst oder gegenseitig befriedigten. Und wenn ich im Bett Radio hören wollte, so war das jetzt problemlos möglich. Sogar den Radiosender konnte ich mir aussuchen.
Am 8. Dezember 1977, zwei Tage nach meiner Haftentlassung - es war mein 19. Geburtstag - stellte ich mich beim VEB Baukombinat »Altmark« vor und nahm dort am 12.12.1977 eine Tätigkeit als Dachdeckerhelfer auf.
Ich schwieg über meinen Fall, so gut ich konnte. Uwe K., ein Freund, mit dem ich eingeschult wurde, sprach mich wegen meiner Flucht immer wieder an. So wie damals ich bei Bernd-Ulrich, so glaubte auch er, ich kenne allein aufgrund meiner Verurteilung wegen versuchten illegalen Grenzübertritts alle Tricks, die nötig wären, um in den Westen fliehen zu können. Immer wieder sagte ich ihm, ich wolle nicht mehr nach Westdeutschland und schließlich gab er es auf, mich danach zu fragen. Wenn ich je wieder eine Flucht wagen sollte, so schwor ich mir, dann allein. Ohne Mittäter würde ich Ausreden finden, wenn ich wieder vor der eigentlichen Tat verhaftet werden würde.
Die Arbeit als Bauhilfsarbeiter machte mir weit mehr Spaß, als die Lehre als Baufacharbeiter in Greifswald. Zwar war die Arbeit hart und oft arbeiteten wir draußen bei klirrender Kälte, doch war das gute Gefühl da, abends nach Hause gehen zu können. Kein Wohnheim mit großem Schlafsaal, nächtlichen Prügeleien und gemeinschaftliche Sauftouren im Nachbarort.
Vor allem blieb mir nun die zweite Hälfte der vormilitärischen Ausbildung erspart.
Schon wenige Monate nach der Haftentlassung schmiedete ich neue Pläne, die DDR in Richtung Westdeutschland zu verlassen. Da die legalen Chancen bei null lagen und ich mir deswegen einen Antrag auf Ausreise ersparte, blieb wieder nur der illegale Weg über die Grenze. Ich beabsichtigte zunächst, die Sperrzone im Raum Klötze zu erforschen, die nicht weit hinter dem 5 km westlich gelegenen Ort Immekath begann. Es war ohne Genehmigung nicht gestattet, in die Orte der grenznahen Dörfer zu gehen. Wer als Fremder in solchen Orten gesehen wurde, war verdächtig. In Immekath drohte diesbezüglich noch keine Gefahr. Für mich war die Situation auch deshalb brenzlig, weil ich laut letztem Urteil ein Verbot hatte, grenznahe Gebiete zu betreten.
Vorstellungen darüber, wie diese Grenze gesichert war, hatte ich nicht. Zwar hörte ich immer wieder von Minenfeldern und Selbstschußanlagen, aber genaueres war mir nicht bekannt. Die Grenze lag im Wald, deshalb rechnete ich mir gute Chancen aus, sie zumindest beobachten zu können.
Am 12. Mai 1978, es war ein Freitag und gut fünf Monate nach meiner Haftentlassung, kaufte ich mir in einem Sportgeschäft einen Kompaß, welchen ich mir wie eine Uhr um das Handgelenk binden konnte. Ich hatte an diesem Tag Urlaub und das Wochenende frei. Am späten Abend fuhr ich mit dem Moped nach Immekath, um mir einen ersten Überblick über die Waldgegend zu verschaffen. Mein Ziel war es, so nahe wie möglich an die Staatsgrenze zu kommen. Alles was ich sehen würde, könnte mir von Nutzen sein.
Das war allerdings in der Dunkelheit nicht sehr viel. Ich merkte schnell, daß es aussichtslos war, das Grenzgebiet nachts beobachten zu wollen. So beschloß ich, am anderen Tag meine Erkundungstour fortzusetzen.
Als ich zu Hause mein Moped in die Garage stellte, bemerkte ich, daß ich unterwegs meine Brieftasche verloren hatte. Das war sehr ärgerlich, denn neben dem Geld war auch mein Personalausweis verlorengegangen. Diesen hätte ich sicher als Legitimation im Westen Deutschlands gebraucht. Ich fuhr noch einmal zurück, machte mir jedoch keinerlei Hoffnung, sie in der Dunkelheit wiederzufinden, was sich schließlich auch bestätigte.
Am nächsten Nachmittag ging ich zu Fuß nach Immekath, um noch einmal nach der Brieftasche zu suchen, was jedoch erfolglos war, und von dort aus quer durch den Wald in Richtung Westen um mir vielleicht nun ein Bild von den Grenzanlagen machen zu können.
Waldwege mied ich. Das nasse Gras zwischen den Bäumen reichte mir teilweise bis zu den Knien und machte es schwer vorwärtszukommen. Immer wieder achtete ich auf eventuelle Fallen wie Drähte oder Aussichtstürme, die mich verraten könnten. Schon bald hatte ich keine Vorstellung mehr davon, wie weit ich von der Grenze entfernt sein könnte.
Nach etwa einer halben Stunde sah ich plötzlich, nur einen Steinwurf entfernt, an einem Waldweg eine Jagdhütte. Ein Mann und eine Frau waren dort an einem Moped beschäftigt.
Es hatte keinen Sinn wieder zurückzugehen, denn sie hatten mich wahrscheinlich schon bemerkt. So nah an der Grenze war ich verdächtig. Also ging ich auf sie zu und ließ meinen Kompaß unter dem Ärmel verschwinden. Bevor ich die beiden erreichte, war der Mann wieder in die Jagdhütte gegangen.
»Guten Tag. Können Sie mir sagen, wie ich gehen muß, um nach Klötze zu kommen? Ich habe völlig die Orientierung verloren.«
Die Frau war kaum älter als ich und verhielt sich mir gegenüber unauffällig, jedoch bemerkte sie meine von den Schuhen bis zu den Knien nassen Hosen, die ihr verrieten, daß ich abseits der Wege quer durch den Wald gelaufen sein mußte.
»Nach Klötze? Das ist ziemlich weit weg. Sind Sie zu Fuß bis hierher gekommen?«
»Ich war in Immekath und wollte einen Spaziergang im Wald machen. Und jetzt bin ich hier gelandet und weiß nicht recht, in welche Richtung ich zurück muß.«
»Da gehen Sie aber in genau die falsche Richtung.«
Die Frau beschrieb mir dann in knappen Worten den Weg. Mir war egal, was sie mir sagte, denn meine Hoffnungen, bis in die Nähe der Grenze zu kommen, waren dahin. Das einzige, was ich jetzt noch tun konnte, war, diese grenznahe Gegend so schnell wie möglich zu verlassen. In spätestens einer halben Stunde könnten die Frau und der Mann die Polizei aufgesucht haben, um mich zu melden. Dann wären die Grenzsoldaten gewarnt gewesen.
Ich bedankte mich kurz für die Auskunft und ging weiter.
Die Grenze schien nicht weit entfernt. Immer wieder sah ich Hinweisschilder, die das Betreten des Gebietes verboten. Ich ging auf dem Waldweg entlang, fest entschlossen, wieder nach Hause zu gehen.
Es dauerte nicht lange, da sah ich auf dem Waldweg in nicht allzu weiter Entfernung zwei Autos stehen. Die grüne Farbe der Fahrzeuge verriet mir, es war der Grenzschutz.
Vor Schreck blieb ich stehen und wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte mit Wachtürmen und einem Stacheldrahtzaun gerechnet, nicht mit umherfahrenden Grenzsoldaten. Eine Weile blieb ich stehen und überlegte, was ich tun könnte. Es konnte gut sein, daß sie mich bereits gesehen hatten. Noch ehe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, sah ich eines der Fahrzeuge auf mich zukommen. Es war zu spät, um umzukehren. Um unauffällig zu wirken, ging ich weiter geradeaus, direkt auf das entgegenkommende Auto zu.
Der Jeep bremste scharf neben mir. Zwei Grenzsoldaten sprangen heraus und hielten ihre Maschinenpistolen im Anschlag.
Sie fragten mich harsch, wo ich hinwolle.
»Nach Klötze, ich habe mich verlaufen. Vor ein paar Minuten habe ich mich nach dem Weg erkundigt. Ich traf da hinten eine Frau an einer Holzhütte. Sie sagte, ich müsse hier entlang gehen.«
Die beiden Uniformierten waren nur wenig älter als ich. Sie platzten fast vor Begeisterung, einen Flüchtigen gefaßt zu haben. Nach einem kurzen Blickkontakt zwischen beiden meinte einer zu mir: »Sie wollten doch in den Westen abhauen!«
»Nein, wollte ich nicht. Wie kommen Sie darauf?«
»Und was wollten Sie dann hier in der Nähe der Grenze?«, fragte der andere.
»Ich wollte nicht abhauen! Das sagte ich doch schon. Ich wollte nach Klötze.«
»Sie sind also ganz zufällig hier«, fragte er weiter.
»Woher soll ich denn wissen, daß hier die Grenze verläuft? Es ist mitten im Wald und ich sehe auch keine.«
Den Grenzsoldaten war es egal, was ich sagte. Ich befand mich im Grenzgebiet, und das war verboten. »Das wird sich noch herausstellen. Sag mal Bescheid, daß wir einen haben, der abhauen wollte«, wandte er sich zu seinem Begleiter. Der ging zum Jeep, sprach ins Funkgerät und kam anschließend mit Handschellen zurück: »Strecken Sie die Arme nach vorn!«
Man verfrachtete mich gefesselt in den hinteren Teil des Autos. Sorgen machte mir in diesem Moment nur der Kompaß um mein Handgelenk. Warum habe ich ihn nicht abgemacht und weggeworfen, als ich das Auto sah!?, fluchte ich in Gedanken. Ich hatte ihn in Immekath umgebunden und danach vergessen. Jetzt war mir klar, meine Situation könnte sich dadurch erheblich verschlechtern.
Ohne viel zu reden, aber sichtbar stolz, fuhren sie mit mir zu ihrem Stützpunkt. Dort führte man mich in einen Raum, der offensichtlich als Büro diente. Einer der beiden verließ das Zimmer, der andere richtete seine Maschinenpistole auf mich und meinte, ich soll mich auf einen Stuhl setzen. Noch immer war ich mit Handschellen gefesselt. Bald darauf kam der zweite Grenzsoldat wieder. Sie fingen an, mich weiter mit Fragen zu löchern. Von besonderem Interesse war für sie der Kompaß an meinem Handgelenk. Ich blieb jedoch standhaft bei meiner Aussage, ich wäre auf dem Weg nach Hause gewesen und hatte keine Ahnung, daß ich mich in der Nähe der Grenze befand, und wich von dieser Aussage auch kein Stück ab.
Nach einer Weile hörten die Fragen auf und man ließ mich warten. Mir wurde klar, daß diese Soldaten mich nur aus Neugier befragt hatten, denn es wurde nichts protokolliert. Wie es weitergehen sollte, lag vermutlich in der Entscheidung ihrer Vorgesetzten.
Je länger ich warten mußte, desto ungeduldiger wurde ich. Angst stieg in mir hoch, die Angelegenheit könnte sich negativ für mich entwickeln. Das schadenfrohe Lächeln und die Überheblichkeit der jungen Soldaten reizte mich noch zusätzlich. Wahrscheinlich winkte für sie nun eine Belohnung oder ein Sonderurlaub.
Irgendwann hatte ich genug.
Ich stand von meinem Stuhl auf und herrschte sie an: »Wieso halten Sie mich hier fest?« Als Antwort bekam ich zu hören, ich müßte schon ihnen überlassen, wie lange ich zu warten hätte, und ich solle mich sofort wieder hinsetzen. Vor lauter Wut packte ich den vor mir stehenden Tisch und warf ihn mit allem, was darauf war, um.
Sofort sprangen die beiden Grenzsoldaten in meine Richtung, einer davon drückte mich gegen den hinter mir stehenden Schrank und richtete seine Maschinenpistole in Richtung meines Gesichtes. Ich sah auf den Lauf, der noch mit einem Gummipfropfen verschlossen war. Ich sagte nichts und wartete die Situation ab. Innerlich fühlte ich mich besser.
Einer der Grenzsoldaten stellte die Ordnung im Zimmer wieder her und kurze Zeit später kam ihr Vorgesetzter herein. Er war deutlich älter als meine beiden Aufpasser. Er musterte mich kurz und fragte: »Was wollten Sie hier im Grenzgebiet?«
Anders als seine deutlich rangniedrigeren Kollegen ließ er sich nicht auf sinnlose Diskussionen mit mir ein. Nach wenigen Fragen befahl er seinen Untergebenen, mir den Kompaß, auf den ihn die beiden hingewiesen hatten, abzunehmen. Anschließend teilte er mir mit, ich sei vorübergehend festgenommen und verließ das Zimmer. Den Rest überließ er seinen Handlangern, die mich auf das Polizeirevier in Klötze bringen sollten.
Noch immer in Handschellen wurde ich wieder ins Auto verfrachtet. Auf dem Polizeirevier in Klötze gingen die Fragen in eine neue Runde. Die drei Kriminalbeamten in Zivil, die bei meiner Ankunft bereits im Raum anwesend waren, wollten wissen, was ich in einem Wald nahe der Grenze zu suchen hatte. Hier half mir die tags zuvor verlorene Brieftasche.
»Ich bin zu Fuß in Richtung Immekath gegangen, um meine Brieftasche zu suchen, die ich tags zuvor irgendwo auf der Chaussee verloren hatte. Als ich sie nicht fand, ging ich ziellos umher, um meine Gedanken zu ordnen. Dabei verlief ich mich wohl im Wald. Die beiden Leute vor der Waldhütte halfen mir dann, mich nach Klötze zurückzufinden. Das ist alles.«
Wie gut meine Aussage für mich war, sah ich an den Reaktionen der Kriminalbeamten. Natürlich wußten sie von meiner ersten Verurteilung und ahnten, daß sie mit ihrer Vermutung, ich wollte in den Westen verschwinden, richtiglagen. Nach nur kurzer Zeit begannen sie, mich anzuschreien, statt mir einfach nur Fragen zu stellen: »Erzählen Sie uns doch nicht so was! Halten Sie uns für blöd? Na klar wollten Sie abhauen. Geben Sie es zu!«
»Nein, wollte ich nicht!«
»Und was sollte dann der Kompaß an Ihrem Handgelenk?«, fragte der Mann, der mir gegenüber am Schreibtisch saß.
»Den hatte ich mir nur so umgebunden, als ich Richtung Immekath lief, um meine Brieftasche zu suchen.«
»Einfach so?«
»Es ist nicht verboten, einen Kompaß bei sich zu haben!«
»Hören Sie auf, uns hier einen Haufen Stuß zu erzählen. Was wollten Sie an der Grenze? Und erzählen Sie uns nicht, Sie sind da nur spazierengegangen!«
»Ich sagte doch bereits, ich hatte mich verlaufen.«
»Und sind dann zufällig bis zur Grenze gekommen?«, meinte nun der Mann in der Ecke des Raumes. Der dritte wanderte im Zimmer herum.
»Ich habe gar nicht gewußt, daß da die Grenze ist.«
»Sie wollen uns hier erzählen, Sie haben all die Hinweisschilder nicht gesehen?«, wollte nun der Mann hinter dem Schreibtisch wissen.
»Nein.«
»Sie sind also blind?«
»Ich habe nicht auf Schilder geachtet, ich bin spazieren gegangen und war in Gedanken.«
Meine Hosenbeine waren längst wieder getrocknet, daß mir diesbezügliche Fragen erspart blieben. Sie hätten mich arg in Bedrängnis gebracht. Es war nur der Kompaß, an den man sich klammerte. Sonst hatte man keine Beweise. Dieses Mal war auch kein »Mittäter« dabei, den sie aushorchen und gegen mich einsetzen konnten. Man hatte allein meine Aussage, und die mußte widerlegt werden. Der Kompaß allein war kein ausreichender Beweis für einen Fluchtversuch, nur ein Hinweis darauf.
Der Ton wurde von Stunde zu Stunde rauher. Immer öfter schrie man mich an, ich solle endlich zugeben, daß ich in die BRD flüchten wollte, ich sei diesbezüglich ja kein unbeschriebenes Blatt. Irgendwann zog mir der Mann, der die meiste Zeit im Zimmer umherwanderte, den Stuhl weg und ich landete auf den Boden, aber auch das änderte meine Aussage nicht.
Ich stand wieder auf und blieb stehen. Der Kerl, der meinen Fall verursacht hatte, zog mich an den Schultern nach hinten, bis ich wieder saß. Man grinste mich an, als sei nichts geschehen, aber ich spürte, sie merkten, daß man mir so schnell nicht beikommen konnte. Sie wußten, sie hatten nichts gegen mich in der Hand. Wieder und wieder prasselten Fragen auf mich ein, immer wieder dieselben, immer aus einer anderen Richtung oder gleichzeitig mehrere auf einmal. Doch sie erreichten nichts. Nun stand der Mann hinter dem Schreibtisch auf, kam zu mir, packte mich am Schlafittchen, zog mich vom Stuhl hoch und fragte giftig: »Wie lange soll das noch so weitergehen? Wollen Sie uns hier für dumm verkaufen? Denken Sie, wir durchschauen nicht Ihr Spiel? Wir wissen ganz genau, was Sie vorhatten! Und Sie wissen das auch.«
Nach einem: »Ich hatte nur vor, nach Hause zu gehen, sonst nichts« stieß er mich zu Boden. Die beiden anderen schleiften mich mit den Füßen voran aus dem Zimmer, dann über den Flur und die Treppen hinunter. Unten angekommen zerrten sie mich in eine fensterlose Zelle und schlossen mich mit Handschellen an die Heizung an.
Als sie gegangen waren, sah ich an mir herunter. Mein Hemd war zerrissen und an meiner Hose fehlte ein Knopf. Mein Kopf brummte und ich fragte mich, wie die Sache enden würde. Bis jetzt konnten sie mir nichts wirklich anhaben. Wenn es anders wäre, wären sie freundlicher zu mir gewesen, hätten mich dem Haftrichter vorgeführt, der mich dann kurzerhand in Untersuchungshaft gesteckt hätte.
Ich sah mich im halbdunklen Raum um. Er war grüngelb gestrichen und an einigen Stellen blätterte bereits die Farbe von der Wand. Mir gegenüber war die Tür. Weiter gab es nichts, kein Waschbecken, keine Toilette, nichts.
Keine fünf Minuten später standen zwei meiner Vernehmer in der Tür. Ohne ein Wort zu sagen, kam der Mann, der mich bei meiner Vernehmung vom Stuhl stieß, auf mich zu und gab mir einige kräftige Schläge mit seinem Schlagstock. Der andere, der im Vernehmungszimmer in der Ecke saß, blieb derweil in der Tür stehen. Ich biß die Zähne zusammen, um ihnen keine Genugtuung zu geben und schützte meinen Kopf, indem ich ihn zwischen meine Arme steckte. Aber auf den Kopf wurde nicht geschlagen. Arme, Rücken und Beine waren das Ziel.
Genauso schnell, wie sie kamen, waren sie auch wieder verschwunden. Was kommt noch alles?, ging es mir durch den Kopf. Wollen sie mich hier umbringen? Ich schätzte, daß es bald Morgen sein müßte. Als ich das letzte Mal im Vernehmungszimmer aus dem Fenster sah, war es schon dunkel. Also mußte es bald eine Entscheidung geben, wie man weiter mit mir verfahren wolle.
Einige Zeit später kamen meine beiden Schläger wieder, doch dieses Mal nahmen sie mir nur die Handschellen ab. Als sie wieder verschwunden waren, stand ich auf und ging in der Zelle umher. Ich fühlte mich schrecklich, und die Angst, was als nächstes passieren wird, plagte mich. Es gab nur zwei Möglichkeiten: sie ließen mich gehen oder nicht. Im zweiten Fall wäre es möglich, daß sie noch schlimmer mit mir umspringen werden. Aber von mir werden sie nicht hören, was ich wirklich im Wald wollte, schwor ich mir.
Es kam anders, als ich gedacht hatte.
Wieder holte man mich aus der Zelle, nun andere Polizisten. Sie führten mich wieder in den Vernehmungsraum und nahmen mir eine Geruchsprobe – ein Lappen, den ich einige Zeit am Körper tragen mußte und der anschließend in ein Glas verschlossen wurde - und die Fingerabdrücke ab und brachten mich zu Richter Hey, der einen Haftbefehl ausstellte und mich in die Untersuchungshaftanstalt Stendal überführen ließ.
Dort kam ich in Einzelhaft.
Es war ein Schock für mich, wieder in der Untersuchungshaftanstalt Stendal zu sein. Wie gelähmt saß ich auf den Boden der Zelle, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und dachte über meine Situation nach.
Die Zelle war eigentlich für zwei Gefangene ausgerichtet, hatte neben dem Doppelstockbett einen Tisch, zwei Stühle, einen kleinen Schrank an der Wand, Waschbecken und Toilette. Im Fenster sorgte eine Blende dafür, daß niemand heraussehen konnte.
So gut ich konnte, versuchte ich mich zusammenzureißen, um nicht aus lauter Wut heraus alles in meiner Umgebung zu zertrümmern. Wie ich es auch drehte, die Ermittler konnten mir nichts beweisen. Aber warum hatte der Richter dann einen Haftbefehl ausgestellt?
Reichen Vermutungen aus, um mich verurteilen zu können?
Am zweiten Tag, ein Sonntag, bekam ich morgens Frühstück, das aus Graubrot, Margarine, etwas Marmelade und Malzkaffee bestand, und wurde einige Zeit später zu den Effekten geführt, wo mir Bettzeug, Besteck, Plastikgeschirr, Seife und Zahnpasta ausgehändigt wurden. Anschließend ging es wieder zurück in die Zelle.
Nach dem Mittagessen wanderte ich bis zum Abendbrot in der Zelle auf und ab. Niemand ließ sich blicken. Es gab weder eine Vernehmung noch wollte sonst jemand etwas von mir wissen. Ich hatte keine Ahnung, ob irgend jemand von meiner Verhaftung unterrichtet wurde.
Da ich wußte, daß man auf Fragen in der Regel keine Antwort bekam, fragte ich die Wärter auch nichts, wenn sich die Tür zu den Mahlzeiten öffnete.
An diesem Tag, wie später aus den Akten ersichtlich wurde, gingen Beamte der Staatsanwaltschaft mit einem Durchsuchungsbefehl zum Haus meiner Eltern. Laut Gesetz mußte bei der Durchsuchung von Wohnräumen eine fremde Person anwesend sein. Meine Mutter ging deshalb zu einem Nachbarn und bat ihn, bei der Durchsuchung als Zeuge zu fungieren. Er willigte ein und die Beamten begannen mit der Durchsuchung meines Zimmers.
Sie gingen recht rüde um. Was sie in den Schränken finden konnten, wurde herausgeholt, durchsucht und auf dem Boden geworfen. Die Räume meiner Eltern wurden nicht durchsucht. Sie hatten allerdings die Arbeit, mein Zimmer wieder herzurichten.
Weil ich aus der ersten Inhaftierung einiges gelernt hatte, hinterließ ich nirgendwo Beweise. Ein so grober Fehler, wie seinerzeit die Einzeichnungen im Atlas, sollte mich nicht noch einmal ins Gefängnis bringen. Die Beamten konnten somit nichts finden, was irgendwie mit einem Fluchtversuch in Verbindung gebracht werden konnte.
Am darauffolgenden Tag wurde ich mit anderen Gefangenen zusammengelegt. Eine neue Woche fing an und ich rechnete damit, daß in den nächsten Tagen irgend etwas in meinem Fall passieren würde. In der Vierbettzelle, in die ich kam, waren alle Insassen in meinem Alter. Zwei davon rauchten und machten die ohnehin schon stickige Luft in der Zelle noch weniger erträglich.
Wie ich vermutet hatte, kam es bald zum ersten Verhör. Seit meiner Ankunft in Stendal hatte ich mir in Gedanken immer wieder meine zurechtgelegte »Wahrheit« wiederholt, bis ich sie am Ende selbst glaubte.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1890-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet
Hella Ida Kneusel,
einer Buchhändlerin aus Leipzig, die im November 1948 wegen angeblicher
»Sammlung und Übergabe von Spionagenachrichten für einen ausländischen Staat«
zu 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt wurde. Sie starb am 24.10.1950 im DDR-Frauenzuchthaus Hoheneck an den katastrophalen hygienischen Zuständen während der Haft.
Sie wurde nur 20 Jahre alt.
Quelle: Benno Prieß