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Eine lange Nacht

 

Klötze ist eine Kleinstadt in der Altmark, die heute zu Sachsen-Anhalt zählt und zu DDR-Zeiten eine Kreisstadt war. In den 70er Jahren war man dort stolz auf das neu gebaute Halbleiterwerk, welches vielen Bürgern einen Arbeitsplatz bot, besaß eine bekannte Weinkellerei und auch heute noch verfügt der Ort über große Anbauflächen für Obst. Während meiner Schulzeit verdiente ich mir dort in den Ferien oft mit Obstpflücken mein Taschengeld. Klötze ist umgeben von Wald, und nur etwa 15 km westlich lag die damalige Staatsgrenze zu Westdeutschland.

Es war das Jahr 1976 und ich hatte gerade die Schule beendet. Meine Eltern bemühten sich redlich, für mich eine Lehrstelle zu finden, denn ich war in der Abschlußprüfung im Fach Literatur durchgefallen, weil ich mich weigerte, die Pflichtbücher so zu rezensieren, wie es von mir verlangt wurde. Als Folge davon erhielt ich nicht den Abschluß der 10. Klasse der »Polytechnischen Oberschule«, sondern nur den der 9. Klasse.

Das war in zweierlei Hinsicht ziemlich ärgerlich. Zum einen hatte ich alle anderen Prüfungen bereits bestanden, zum anderen war ich in unserer Schulklasse mit Abstand derjenige, der zu dieser Zeit die meisten Bücher las. Nicht selten war ich bis tief in die Nacht hinein in ein Buch vertieft und kam morgens oft mit dunklen Augenrändern zum Unterricht.

Dabei gab ich mir redlich Mühe, Kriegsbücher wie »Nackt unter Wölfen« oder »Wie der Stahl gehärtet wurde« zu lesen. Jedoch ertappte ich mich nach ein paar Seiten immer dabei, wie ich mit den Gedanken irgendwo war, nur nicht beim Stoff des Buches. Nach einer halben Stunde gab ich meist auf, denn ich hätte nicht sagen können, was ich gerade gelesen hatte. Meine Abneigung gegenüber Kriegsliteratur war zu groß.

Während des letzten Schuljahres hatte ich die Filme zu beiden Büchern gesehen und war deswegen nicht völlig unvorbereitet zur Prüfung gegangen. Mein Problem war, daß mit dem Stoff des Buches auch die politische Einstellung getestet wurde. So war beispielsweise die Antwort auf die Frage, welche Parteien sich in »Nackt unter Wölfen« gegenüberstanden nicht »Häftlinge und Nazis«, sondern »Menschen und Unmenschen«. Nach einigen ähnlich vermeintlich falschen Antworten ließ man mich durchfallen. Auch bei der Nachprüfung lief es nicht besser.

Nachdem ich also die Abschlußprüfung in Deutsch vergeigt hatte, war es dann nicht mehr so leicht, eine Lehrstelle zu finden. In Greifswald wurden meine Eltern schließlich fündig.

So fuhr ich in der Nacht zum 1. September 1976 von Klötze in das rund 250 km entfernte Greifswald, um im Kernkraftwerk Lubmin eine Lehre als Baufacharbeiter zu beginnen. Am frühen Morgen sollte im dortigen Bahnhofs-Restaurant die Begrüßung aller Schulabgänger stattfinden, die im Kernkraftwerk eine Lehre beginnen wollten. Dieses Kernkraftwerk ging 1974 in Betrieb und galt nun, zwei Jahre später, als Vorzeigewerk der DDR.

Der Bahnhof von Greifswald glich jedem anderen Bahnhof, den ich bisher kennengelernt hatte. Er war grau, laut und dreckig. Wie üblich waren Polizisten zu sehen, um die man besser einen großen Bogen machte, wollte man nicht von ihnen belästigt werden. Derartige Ausweichmanöver kannte ich bereits zur Genüge. In Klötze konnte ich als Mopedfahrer darauf wetten, angehalten und kontrolliert zu werden, wenn ich an umherschlendernde Polizisten vorbeifuhr. Sah ich sie von weitem, nahm ich lieber einen Umweg in Kauf, als gestoppt zu werden und deren wichtigtuerische Fragen nach meinem Ausweis, der Fahrerlaubnis oder wo ich hinwolle zu beantworten. Sie zeigten nur allzugern, welche Macht sie hatten. Da spielte es keine Rolle, in welcher Stadt man sich befand. Die Polizisten waren in der DDR überall gleich.

Als ich das Restaurant betrat, war es bereits gut gefüllt. Die Begrüßung der zukünftigen Lehrlinge erfolgte durch eine Vertretung der Leitung des Kernkraftwerkes und begann pünktlich. Ich stellte mich mit meinem Koffer etwas außerhalb der Menschenmenge und musterte die Lehrlinge. Die meisten waren mit zumindest einem Elternteil gekommen und waren, wie ich später erfuhr, aus der unmittelbaren Umgebung. Lehrlinge, die von so weit angereist waren wie ich, gab es eher selten.

Nach der allgemeinen Eröffnung wurden die Namen aller Neuankömmlinge aufgerufen und einem Lehrausbilder zugewiesen. So bildeten sich nach und nach mittelgroße Gruppen, die jeweils ein eigenes Lehrlingskollektiv bilden sollten. Ausgebildet wurde in zahlreichen Richtungen wie Maler, Schweißer, Schlosser, Elektriker oder eben Baufacharbeiter.

Irgendwann wurde auch mein Name aufgerufen. Ich ging mit meinem Koffern nach vorn zum Redner und wurde dort einem Kollektiv zugeteilt, welches aus zwölf Lehrlingen bestand. Die meisten von ihnen kannten sich gegenseitig und unterhielten sich bereits angeregt, als ich zu ihnen stieß. Mich beachtete man kaum, und obwohl ich mir etwas verloren vorkam, war ich ganz froh darüber.

Nachdem alle Lehrlinge eingeteilt waren, verließen immer mehr Gruppen den Saal.

Unserer Gruppe stand ein Mann mittleren Alters vor, der sich als unser Ausbilder vorstellte und uns erklärte, wie es nun weiterging. Wir und zwei weitere Gruppen sollten noch am selben Tag für eine sechswöchige vormilitärische Ausbildung in ein Lager außerhalb Greifswalds gebracht werden. Es war ein Schock für mich, denn mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht, daß statt einer Lehre erst einmal militärischer Drill und politische Schulungen meinen Tagesablauf bestimmen sollten. Zwar wußte ich, daß eine vormilitärische Ausbildung zur Lehrzeit gehörte, jeder Lehrling in der DDR mußte in seiner Lehrzeit zweimal diese sechs Wochen durchlaufen, daß sie jedoch so überraschend kam, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Insgeheim hatte ich die Hoffnung gehegt, die Lehre abbrechen zu können, denn der Beruf des Maurers war weder interessant für mich, noch hatte ich dazu die körperliche Statur, und auf diese Weise die vormilitärische Ausbildung zu umgehen.

Das war ein Irrtum. Kurze Zeit später brachte uns ein Bus ins Ausbildungslager.

 

 

 

Im Wehrerziehungslager


Das Lager lag zwischen Feld und Wald, war umzäunt, beinhaltete zwei Baracken und ein zweistöckiges Backsteinhaus. Gleich nach der Ankunft ging es auch schon los mit dem militärisch strengen Ton der Ausbilder. Noch mit den Koffern in der Hand hatten sich alle auf dem Appellplatz vor den Baracken aufzustellen, wo nach einer kurzen Ansprache und der Unterweisung, wie wir uns im Lager zu verhalten haben, unsere Namen vorgelesen wurden.

Jeder der aufgerufenen Lehrlinge bekam ein Zimmer in einer der beiden Baracken zugewiesen, auf dem er mit drei weiteren Lehrlingen die nächsten sechs Wochen wohnen sollte. Am Ende des Appells durften wir abtreten und bekamen zwanzig Minuten Zeit, um die Zimmer aufzusuchen und den Inhalt unserer Koffer in die Schränke zu verstauen. Anschließend sollten wir uns wieder in Reih und Glied auf dem Appellplatz einfinden.

In jedem dieser Zimmer standen vier Holzbetten, auf deren Brettern, die als Ersatz für einen Lattenrost dienten, jeweils eine dreiteilige blaue Matratze lag. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit vier Holzhockern und an den Wänden für jeden ein kleiner Schrank für die persönlichen Besitztümer. Alles mußte schnell gehen, und so suchte sich jeder einen Schlafplatz aus und verstaute seinen Kofferinhalt in den Spind. Von diesem Zeitpunkt an bekamen wir keine ruhige Minute mehr, diese Hektik sollte die ganzen sechs Wochen andauern.

Zum ersten Mal kam ich mit meinen neuen Kollegen ins Gespräch. Alle nahmen die kommende Zeit ziemlich gelassen. Es wird durchgezogen und fertig. Mir dagegen war es schon immer ein Greuel, mit fremden Menschen zusammenzuleben. Deshalb schreckte mich auch die kommende Zeit im Internat ab. Im Gegensatz zu meinen drei Mitbewohnern hatte ich auch etwas gegen Befehlston und Marschieren. Alles Militärische lehnte ich ab, wobei noch nicht einmal pazifistische Gründe vorlagen. Ich war nur nicht der Typ dafür und hätte Gründe gefunden, die Lehre gar nicht erst anzutreten oder irgendwie verspätet anzufangen, hätte ich gewußt, was gleich zu Beginn auf mich zukam.

Ich belegte das obere Bett auf der rechten Seite, verstaute meinen Kofferinhalt notdürftig in einem der Schränke und ging, nachdem auf dem Flur ein lauter Pfiff mit einer Trillerpfeife zu vernehmen war, mit den anderen wieder zum Appellplatz. Hier bekamen wir zu hören, was als nächstes geplant war. Zunächst sollte es zur Kleiderkammer gehen, wo wir unsere Uniformen, Decken, Kopfkissen und blauweiß karierte Bettwäsche bekamen. Wieder im Barackenzimmer verschwand nun auch unsere Zivilkleidung in den Schränken und ich steckte das erste Mal in meinem Leben in einer Uniform.

Mehr und mehr spürte ich Müdigkeit, die sich durch Schwindel bemerkbar machte. Die letzte Nacht hatte ich nicht schlafen können und war nun seit über 24 Stunden auf den Beinen. Meine Zimmergenossen kamen allesamt aus der unmittelbaren Umgebung und waren in deutlich besserer Verfassung. Sie waren ausgeschlafen und neugierig auf das, was kommen wird.

Noch vor dem Mittagessen ging es hinaus aufs Feld, und wir mußten dort den ersten Drill über uns ergehen lassen. Zuerst regte sich leichter Widerstand, denn viele wollten nach dem Durcheinander in Greifswald und all den neuen Eindrücken im Lager erst einmal zur Ruhe kommen. Doch unser Ausbilder blieb hart, und so blieb uns nichts anderes übrig, als zu gehorchen und die Tortur über uns ergehen zu lassen. Auf dem Feld wurde marschiert, sich in Reihen aufgestellt, gerobbt, gelaufen, stillgestanden. Der Ausbilder, der uns über das Feld scheuchte, war später auch für unsere Ausbildung auf dem Bau zuständig.

Nach zwei Stunden war der Spuk vorerst vorbei und wir marschierten zurück in die Zimmer, um unsere Sachen zu ordnen und das Bett zu beziehen. Dreißig Minuten später ermahnte uns wieder die Trillerpfeife, in einer Reihe auf dem Flur der Baracke Aufstellung zu nehmen. Es war Mittagszeit. Zu jeder Mahlzeit marschierten wir, ein aus der Schulzeit gelerntes Kampflied aus dem letzten Weltkrieg singend, zum Speisesaal: »Auf, auf zum Kampf, zum Kampf! Zum Kampf sind wir geboren ...«. Am Tisch hinsetzen durften wir uns erst, nachdem der Befehl dazu kam.

In diesem Lager wurden wir in allem ausgebildet, was die Armee auch für normale Soldaten zu bieten hatte. Den einen Tag übten wir marschieren, an einem anderen waren Schießübungen an der Reihe. Wir robbten über Felder und Waldwege, gruben uns im Wald mit einem Feldspaten ein, gehorchten Befehlen, standen bei Appellen still und wurden nachts wegen Probealarm aus den Betten geholt. Zum nächtlichen Wachdienst, der jeweils für zwei Lehrlinge zwei Stunden dauerte, bekamen wir munitionslose Luftgewehre. Unser Einwand, damit bei einer reellen Gefahr nichts ausrichten zu können, begegneten die Ausbilder mit der Bemerkung, allein der Anblick einer Waffe würde den Gegner in die Flucht schlagen.

Mir fielen diese sechs Wochen unsagbar schwer und ich spürte dort einmal mehr, ich war nicht für den Armeedienst geschaffen. Alles war mir zuwider: der Befehlston, das Marschieren, die politischen Schulungen, der Lärm auf dem Zimmer und im Flur. Dazu kam meine Ablehnung gegen alles, was mit Militär zu tun hatte, und ich wollte die DDR weder verteidigen, noch mein Leben für sie einsetzen.

Nachdem unsere Wehrerziehung vorüber war und wir das Lager geräumt hatten, waren andere Lehrlingskollektive an der Reihe. Ich war froh, als der Spuk vorläufig sein Ende fand.




Stahlbrode


Mitte Oktober fing schließlich die eigentliche Lehre an. Sie begann auf einer Baustelle an einer Chaussee zwischen den Ortschaften Stahlbrode und Reinberg, etwa 20 km nördlich von Greifswald.

Das Haus, an welchem wir zusammen mit einer anderen Lehrgruppe das Bauhandwerk erlernen sollten, stand schon mit seinen vier Außenwänden. Unsere Aufgabe sollte es sein, die Innenwände hochzumauern. Auf der gegenüberliegenden Chausseeseite lag unsere Baracke, wo wir nachts alle in einem großen Zimmer in den zehn zweistöckigen Betten schliefen.

Nach der Arbeit war es schwer, die Zeit totzuschlagen. Der kleine Fußballplatz war durch Regen meist überschwemmt und fiel als Freizeitbeschäftigung aus. Und weil dann nur noch der Fernsehraum übrigblieb, liefen wir abends in die gut einen Kilometer entfernte Ortschaft Stahlbrode, wo sich eine Gaststätte befand. Bier trinken wurde zu unserem liebsten Hobby. Besonders deprimierend war es an den Wochenenden. Fast alle Lehrlinge, die in der Nähe wohnten, fuhren nach Hause. Diejenigen, die das nicht konnten oder wollten, ließen sich an einer Hand abzählen.

Meist fuhr ich dann nach Greifswald, weil die Stadt mehr Abwechslung bot und sich dort die Zeit leichter totschlagen ließ. Nach Klötze zu fahren war nicht nur zu aufwendig für mich, sondern auch viel zu teuer. Von dem Lehrgeld konnte ich mir keine großen Sprünge erlauben, zumal ein Großteil des Geldes für Bier draufging.



Eine schicksalhafte Bekanntschaft


Als ich gerade Vorbereitungen traf, den Abend eines dieser langweiligen Wochenenden totzuschlagen, ging die Tür der Baracke auf und herein kam ein Junge, den ich von der Baustelle her kannte, der jedoch nicht direkt mit mir zusammenarbeitete. Er war etwas kleiner als ich, hatte blonde, für diese Zeit etwas zu kurze Haare und blaue Augen. Bisher hatten wir kaum miteinander gesprochen, doch er machte auf mich einen vertrauenswürdigen Eindruck. Viele Lehrlingskollegen waren Angeber, prügelten sich gerne oder prahlten mit ihren Taten, die meist ihrer Phantasie entsprangen. Von dem Typen vor mir wußte ich bereits, daß er nicht so war. Maurer war anscheinend ebenso wenig sein Traumberuf, wie es bei mir der Fall war. Zudem war er zu klein und zu schmächtig, um auf Dauer die schwere Arbeit auf dem Bau bewältigen zu können. »Kommst du mit?«, fragte er.

»Wohin?«

Er grinste: »Sicher nicht auf eins der freien Felder rings umher. In die Kneipe natürlich!«

»Ja. Warum eigentlich nicht? Es ist ja sonst nichts los.«

Von meinen 80,-- Mark Lehrlingsgeld hätte ich mir 200 Gläser Bier kaufen können. Ich nahm mein Portemonnaie und stiefelte mit ihm die Landstraße in Richtung Gaststätte entlang.

»Du kommst auch nicht von hier, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Zerbst.«

»Ich wohne in etwa genauso weit weg. Aber das Kaff wird dir nichts sagen. Irgendwo nördlich von Magdeburg.«

»Und warum hier oben die Lehre?«

»Bei mir in der Umgebung gab es ausbildungsmäßig nichts für mich. Ich bin durch die Abschlußprüfung gefallen, und habe deshalb nur den Abschluß der 9. Klasse. So bin ich halt hier gelandet. Und du?«

»Ich wollte weg von zu Hause.«

»Ärger?«

»Ich wollte einfach nur weg.«

Die Kneipe war wie immer gut besucht. Wir holten an der Theke zwei Bier und setzten uns an einen freien Tisch. Anfangs drehte sich unser Gespräch noch über die Arbeit, doch im Laufe des Abends begann er, mir von seiner Vorstrafe wegen versuchter Flucht nach Westdeutschland zu erzählen. Das erstaunte mich, denn er war gerade erst 17 Jahre alt geworden. Zu dieser Zeit hatte ich zwar hin und wieder an einen Fluchtversuch in Richtung Westdeutschland gedacht, aber bisher blieb es bei dem Gedanken. Diese mißglückte Flucht brachte ihm den Verlust seines Personalausweises ein, und er bekam stattdessen einen sogenannten PM 12, ein zweiseitiger Ausweis, der ihn als vorbestrafte Person brandmarkte. Als er davon sprach, was bei seiner ersten Flucht alles schiefgegangen war, stieg in mir die Hoffnung auf, in ihm einen Menschen gefunden zu haben, der genug Erfahrung für eine erfolgreiche Flucht nach Westdeutschland besaß.

Ein schwerer Fehler, wie ich Wochen später feststellen mußte.

Im Laufe der nächsten Tage trafen wir uns immer öfter nach Feierabend. Unsere Gespräche drehten sich dabei fast ausschließlich um den Westen. Auf der Landstraße konnten wir sicher sein, von niemandem belauscht zu werden.

Der Gedanke, die DDR mittels Flucht in den Westen zu verlassen, setzte sich durch unsere Gespräche immer mehr in meinem Kopf fest. Wenn ich schon am Anfang meines Berufslebens stehe, warum dann nicht ein Leben in Westdeutschland beginnen?

Bei den Gesprächen mit Bernd-Ulrich, so hieß der junge Mann, wurden aus kleinen Andeutungen bald konkrete Vorhaben: Wir planten einen Fluchtversuch. Bei der ersten Verurteilung hatte Bernd-Ulrich eine Bewährungsstrafe bekommen. Würde er erneut erwischt werden, würde es mit Sicherheit härter für ihn ausgehen. Die Flucht durfte also nicht mißglücken.

Ein Weg über die Grenze der DDR erschien uns zu gefährlich und so beschlossen wir, über die ČSSR nach Westdeutschland zu gelangen. Leider wußten wir sehr wenig über dieses Land und noch weniger über die dortigen Grenzanlagen. Alles waren nur Vermutungen, jedoch nahmen wir an, der Weg über die ČSSR sei einfacher als die Flucht über die Grenze der DDR. Wir konnten uns nur schwer vorstellen, daß die Staatsgrenze in anderen Ländern genauso scharf bewacht wurde, wie es in der DDR der Fall war.

»Und du würdest hier niemanden vermissen?«, fragte ich.

Zwar wußte ich mittlerweile, daß Bernd-Ulrich kaum überbrückbare Probleme mit seinen Eltern hatte, trotzdem hätte er jemanden vermissen können. Nach einer Flucht würden selbst Besuche in der DDR nicht mehr möglich sein.

»Nein, niemanden. Du?«

»Meine Mutter und mein Stiefvater sind froh, daß ich aus dem Haus bin. Ob ich nun irgendwo in der DDR wohne oder drüben im Westen, dürfte ihnen egal sein. Und von meinen Freunden bin ich jetzt schon getrennt. Irgendwann schläft das sowieso ein.«

»Und was willst du drüben machen?«

»Irgend etwas mit Musik, denke ich. Wie ist es bei dir?«

»Weiß noch nicht. Da wird sich schon etwas finden.«

»Und du hast keine Angst, noch einmal erwischt zu werden?«

»Doch, ein bißchen schon. Das wäre echt übel.«

»Und wieso?«

»Weil ich dann garantiert in den Bau gehe.«

»Ins Gefängnis? Quatsch doch nicht!«

»Doch, so würde es dann kommen.«

»Die würden dich doch nicht einsperren!«

»Und ob die das machen würden!«

»Jetzt höre auf, mir solchen Stuß zu erzählen! Verbrecher sperrt man ein. Außerdem bist du noch nicht einmal volljährig. Warst du schon mal im Knast? Nein? Wie willst du dann wissen, ob man dich deswegen einsperren würde?«

»Du hättest sehen sollen, wie die sich angestellt hatten, als sie mich das erste Mal geschnappt haben!«

»Und da haben sie dich auch nicht eingesperrt, oder?«

»Nur, weil ich Glück hatte.«

»Und diesmal werden wir beide das Glück haben, gar nicht erst erwischt zu werden. Wenn wir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1737-1

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