Der liebe Mensch
Es waren einmal zwei Brüder, der eine war herzensgut, fleißig und ehrlich. Sein Name war Wittlich. Der andere aber war schlecht, faul und unehrlich. Sein Name war Gustav. Eines Tages war ihr Vater gestorben. Jeder bekam einen Teil seines Geldes. Es dauerte einige Zeit, da hatte Gustav sein Vermögen verprasst. Er bat seinen Bruder um etwas Geld. Dieser dauerte ihn und gab ihm das Geld. Es brauchte nicht lange, da hatte Gustav wieder sein Geld verschwendet. Da ging er abermals zu seinem Bruder und verlangte etwas Geld. Wittlich wollte erst nicht so recht, doch schließlich konnte sein Bruder ihn überreden. Es verging eine Zeit, da hatte dieser sein Vermögen wieder durchgebracht, obwohl das Geld beim zweiten Mal viel mehr war, als beim ersten Mal. Er bat wieder seinen Bruder um Hilfe, doch diesmal blieb ihm diese Bitte verwehrt. Da wurde dieser zornig und beauftragte eine Räuberbande damit, sie sollten das Haus seines Bruders ausrauben. Die Hälfte des Geldes sollte er bekommen. Doch die Räuber aber behielten alles für sich. Da Gustav um ihr Versteck wusste, verriet er es. Die Räuber wurden hingerichtet und er bekam eine große Belohnung.
Wittlich, der ja jetzt nichts mehr besaß, hörte vom Geld seines Bruders und bat ihm um etwas davon. Er gab ihm jedoch nichts. Als er einige Zeit später keine Arbeit fand und lange hungerte, fragte er ein zweites Mal. Aber er bekam wieder nichts. Kurze Zeit darauf war er so dünngehungert, dass man ihn fast nicht mehr sah. Er fragte ein drittes Mal. Da ward seinem Bruder die Bitterei lästig und er schlug ihn mit einer Keule bewusstlos. Daraufhin verschleppte er seinen Bruder tief in den Wald. Auf dem Rückweg aber wurde er von einigen Wölfen zerrissen.
Als Wittlich erwachte, wusste er nicht, wo er sich befand. Er fand einige Beeren, aß sie und ging weiter. Dann fand er neben dem toten Körper eines Jägers, der von einem Bären getötet worden war, Pfeil und Bogen. Als er wieder einige Zeit gewandert war, traf er auf einen alten Mann. Dieser Mann war aber der Teufel. Sie gingen gemeinsam weiter. Kurz darauf sahen sie einen goldenen Vogel. Der Teufel sprach: „Schnell, schieß ihn herunter. Wer sein Fleisch isst, wird höher fliegen können, als ein Adler!“
Wittlich wollte aber kein Tier töten und antwortete: „Wenn Gott gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel gegeben.“ So zogen sie nun weiter.
Als sie wieder etwas weiter gegangen waren, sahen sie einen goldenen Bären. Der Teufel sprach: „Wer sein Fleisch brät und es isst, wird der stärkste Mann der Welt!“ Wittlich aber wollte den armen Bären nicht töten und erwiderte: „Es kommt nicht drauf an, wie stark man ist, sondern ob man was im Kopf hat!“
Als sie wieder einige Zeit gewandert waren, sahen sie einen goldenen Fuchs. Der Teufel sprach: „Wer sein Fleisch isst, wird der schlauste Mensch der Welt!“
Wittlich aber wollte den schönen Fuchs nicht umbringen, und sagte deshalb: „Ich bin schlau genug!“
Da wollte der Teufel ihn in der Nacht umbringen. Als er glaubte, Wittlich schlafe tief, da kam er mit einer Axt und wollte ihm den Kopf einschlagen. Da brüllte der goldene Bär so laut, dass der Teufel die Axt vor Schreck in ein Loch fallen lies. Wittlich erwachte und fragte, was los sei. Der Teufel sagte unwirsch: „Es ist Gewitter!“
In der nächsten Nacht wollte er ihn mit einer Rute zu Tode peitschen. Aber in diesem Augenblicke sang der goldene Vogel so schön, dass an der Rute Blumen blühten und er sie nicht mehr gebrauchen konnte. Wittlich fragte, was los war. Der Teufel sagte grimmig: „Es war eine alte Eule.“
In der nächsten Nacht wollte der Teufel ihn erwürgen. Der Fuchs aber knurrte so laut, dass Wittlich erwachte und fragte, was das war. Der alte Mann sagte: „Es war das Knarren der alten Bäume!“
Es war aber Vollmond und Wittlich sah, dass es der Teufel war, welcher ihm gegenüberstand. Er nahm schnell etwas Weihwasser, welches er immer in einer Phiole bei sich trug, und vertrieb so den Teufel. Die drei goldenen Tiere aber blieben bei ihm.
Nun spielte es das Schicksal so, dass sie in ein Königreich kamen, das von einem griesgrämigen alten König regiert ward. Seine Frau verstarb im Kindbett und hatte ihm eine einzige Tochter hinterlassen, diese hütete er wie ein kostbares Juwel. Jeder, der sie zur Frau haben wollte, musste drei Aufgaben bestehen. Diese aber waren so schwer, dass es unmöglich war, auch nur eine zu lösen. Jeder, der bedauernswerten Männer, die es versuchten und nicht schafften, wurden einen Kopf kürzer gemacht. Es begab sich nun zu der Zeit, als Wittlich mit den drei goldenen Tieren in den Wäldern umherstriff, eine Wache des Königs sie ergriff. Es war nämlich so, dass es bei Todesstrafe verboten war, in den Wäldern des Königs zur Jagd zu gehen. Alle seine Beteuerungen, er habe nichts erjagt, halfen ihm nichts, denn durch seine Jägerkleidung hielt man ihn für einen Jäger. Als er abgeführt wurde, hielten sich die Tiere versteckt und wurden nicht erblickt.
Der König ging mit seiner Tochter spazieren und sie trafen auf die Soldaten. Diese erklärten, was geschehen und die Prinzessin flehte um das Leben des jungen Mannes, denn sie konnte in seinen Augen sehen, dass er die Wahrheit sprach. Und auch um Wittlich war es geschehen, er hatte sein Herz an die Prinzessin verloren, die so schön war, wie hundert Sonnenaufgänge über hundert Wiesen, da die schönsten Blumen blühten. Doch das Herz des Königs war hart und kalt. Nun versuchte es die gewitzte Prinzessin mit einer List und sprach: „Liebster Vater, ist es möglich, dass jemand, der mir unwürdig wäre, deine schweren Prüfungen bestehen könnte?“
„Nein, meine Tochter, natürlich nicht.“
„Und hältst du diesen jungen Jägersbursch für meiner würdig?“ Da fing der König laut an zu lachen. „Dann lasse ihn doch die Prüfungen tun.“
„Nein, er ist des Todes.“
„Aber wird er sie sowieso nicht bestehen, zumal er unwürdig ist? Es käme doch auf dasselbe hinaus. Am Ende würde der Tod auf ihn warten“
Der König sah sich von seiner klugen Tochter überlistet und gewährte dem jungen Mann diese Gnadenfrist. Die erste Aufgabe, die er gestellt bekam, war, dass er ein Diamantenei bringen sollte, doch dieses befand sich hoch auf einem Berg und man musste eine Schlucht überqueren, die so breit war, dass zehn Berge darin Platz hätten. Wittlich wollte schon aufgeben, als der goldene Vogel kam. Er flog über die Schlucht, auf den Berg, nahm das Diamantenei in seine Krallen und machte sich daran, den Rückflug anzutreten. Doch da kam ein Greifvogel an und wollte ihn fassen. Schnell legte der junge Mann den Bogen an und schoss den großen Vogel herunter. Der goldene Vogel übergab ihm das Ei und er brachte es dem König. Dieser war sehr verwundert, ließ sich davon aber nichts anmerken, sondern stellte die zweite Aufgabe.
Er sollte dem König einen Schatz bringen, doch der Schatz wurde von gefährlichen Wölfen bewacht, die einen Menschen mit einem Biss zerreißen konnten. Doch der junge Mann wollte nicht aufgeben und lief dem Schatz entgegen. Das Rudel stürzte sich auf ihn und hätte ihn wohl in Tausend Teile zerrissen, wäre in diesem Moment nicht der goldene Bär aufgetaucht. Dieser zermalmte jeden einzelnen Wolf mit Leichtigkeit und der junge Mann konnte dem König den Schatz überbringen.
Der aber stellte ihm die dritte und schwierigste Aufgabe, er sollte eine Schafherde wieder einfangen, doch diese war schon ganz verwildert, da sie schon vor Jahrhunderten ausgebrochen war, und bestand nun aus über Hundert mal Tausend Schafen. Der junge Mann verzweifelte, denn so sehr er sich bemühte, er konnte kein einziges einfangen. Wie sollte es ihm bis zum nächsten Morgen gelingen? Da kam der goldene Fuchs und er hatte alle Füchse, die es in der Umgebung gab, mitgebracht. Gemeinsam trieben sie die Schafe zusammen und beim ersten Sonnenstrahl war auch das Letzte in seinem Stall.
Im Siegeszug zog Wittlich mit den drei goldenen Tieren in das Schloss ein. Doch der König wollte nicht einwilligen. Als er die Tiere sah, wurde er von Habsucht gepackt und verlangte, dass Wittlich ihm die Felle und die Federn bringen solle. Dieser weigerte sich, da es ungerecht war und die Tiere seine Freunde waren. Da griff der König zum Schwert und stürzte sich auf Wittlich. Der Bär brach ihm mit einem Hieb seiner Pranke den Rücken, der Fuchs zerriss ihm die Kehle und der Vogel riss ihm die Augen aus. Das war die gerechte Strafe für die Gier des Königs. Nun konnten der junge Mann und die Prinzessin heiraten.
So vergingen einige Monate, als es plötzlich dunkel ward, denn der Mond verbarg die Sonne. Da nahmen die drei goldenen Tiere Menschengestalt an. Wittlich erfuhr von ihnen, dass sie in Wahrheit verwünschte Könige wären und dass ihnen dies eine machthungrige Hexe angetan hatte, die ihre Königreiche haben wollte. Als es abermals hell ward, nahmen die drei Männer ihre tierische Form wieder an. Wittlich fasste den Entschluss, die Hexe zu töten, um den Zauber zu brechen. Gemeinsam mit den Tieren zog er aus in ein fremdes Reich. Seine Frau wollte ihn halten, doch er würde keine Ruhe finden, bis er seine Freunde erlöst hätte.
Endlich traf er auf ein prachtvolles Schloss, ganz aus Kristall, darin Räume, in Gold und Silber gehalten. Die böse Hexe jedoch hatte sie schon erwartet und sperrte Wittlich in einen engen dunklen Raum, die Tiere erhielten verfluchte Halsbänder und mussten nun tun, was die Hexe befahl. Wittlich verweilte drei Tage und drei Nächte ohne Speis' und Trank, bis ein strahlend weißer Vogel durch das Fenster geflogen kam und ihm einen Schlüssel überbrachte. Daraufhin entschwand der Vogel wieder. Der junge Mann schloss die Tür auf und nahm ein Schwert auf, das er vor der Tür fand. Es war weiß und rein. Die böse Hexe erschrak, als sie ihn erblickte und sogleich darauf durchbohrte sie auch schon das Schwert und sie verlor eines ihrer drei Leben. Daraufhin verwandelte sie sich in einen Drachen, doch das Schwert durchbohrte sie abermals. Als letztes ward sie zu einem schwarzen Raben und flog hoch in die Lüfte. Der junge Mann bemerkte plötzlich in der Hand, in der er bis eben das Schwert hielt, einen elfenbeinweißen Bogen mit einem klaren Pfeil. Er legte an und sein Pfeil durchbohrte das Herz des finsteren Vogels. Mit einem letzten Schrei verschwand die Hexe für immer. Die Tiere wurden wieder Könige und sie waren frei.
Als Wittlich zurückkehrte, erfuhr er, dass seine Frau gestorben war. Er wusste, dass sie wegen Sehnsucht nach ihm starb. Und er erkannte nun auch, dass der Vogel, das Schwert und der Pfeil mit Bogen die Seele seiner Frau gewesen waren, die ihm helfen wollte. Wenige Stunden darauf starb auch Wittlich aus Liebe zu ihr und im Tod waren sie wieder vereint.
Und da sie schon gestorben sind, leben sie nicht heut'.
ENDE
Texte: Johannes Quinten
Bildmaterialien: "Rehbock im Wald", Gustave Courbet, 1867
Lektorat: Johannes Quinten
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2017
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