Das Herz des Jungen (1): Tims Geheimnis
Gut, es war erst zehn nach sieben, die erste Stunde fing erst um zwanzig vor acht an, da hab ich ja noch genug Zeit, die Hausaufgaben zu machen. Mist, ich hab vergessen, etwas ins Aufgabenbuch zu schreiben. Wer weiß denn, was wir auf hatten? Hm, wer ist zuverlässig? Dominik hat Ahnung.
„Was hatten wir denn auf?“, fragte ich ihn schnell.
„Moment.“, entgegnete er genervt, denn er war gerade in einer Unterhaltung mit Marina. „Auf der Seite 317 die Nummer zwei.“
„Ach so.“ Ich schlug das Buch auf. Da stand: Erläutern Sie, was Gorbatschow unter Umgestaltung versteht und was an seinen Ideen neu ist. Mist, da musste man zuerst den Text lesen, um es beantworten zu können. Also, dann mal los.
Doch mein Arbeitseifer wurde durch ein nicht alltägliches Ereignis gebremst. Wir bekamen einen neuen Mitschüler. Zaghaft trat der ziemlich kleine dunkelhaarige Junge mit tiefbraunen Augen ein. Dann blieb er stehen. Anscheinend wusste er nicht, was er tun sollte. Da trat einer meiner Mitschüler auf ihn zu um ihn zu begrüßen.
„Bist du ein neuer Schüler?“, fragte er überflüssigerweise. „Ich heiße Yannick.“
„Hallo.“, erwiderte der neue Junge seine Begrüßung und lächelte kurz und fast unmerklich.
„Und wie heißt du?“, wollte Yannick nun wissen.
„Tim.“, antwortete er knapp.
Ich saß ganz am Rand und sonst war nirgends mehr frei. Wahrscheinlich würde er sich neben mich setzen müssen. Ich fand ihn ein wenig komisch, doch ich mochte ihn auch irgendwie. Er war so niedlich.
„Ich heiße Myriam.“, sagte meine mollige Mitschülerin. „Du musst dich da hin setzen. Sonst ist kein Platz mehr.“
„Okay.“, stimmte er ihr widerspruchslos zu uns setzte sich neben mich.
„Hi. Ich bin der Chris.“, stellte ich mich vor.
„Hi.“
„Wo kommst du denn her?“, versuchte ich ein Gespräch anzufangen.
„Hessen.“
„Und wo da? Ich hab Verwandte dort. Kommst du aus der Nähe von Frankfurt?“
„Nein.“
Ich wartete, doch es gab keine weitere Erklärung mehr. „Sondern?“
„Marburg.“, meinte er und lächelte kurz.
„Wieso seid ihr umgezogen?“
„Weiß nicht.“, lächelte er entschuldigend.
„Wie, du weißt nicht?“, fragte ich irritiert nach. „Du musst doch wissen, wieso ihr umgezogen seid.“
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
„Das ist aber sehr seltsam. Hat dein Vater vielleicht eine neue Arbeit?“
„Weiß nicht.“
„Hat dir dein Vater keinen Grund genannt? Hat er einfach gesagt, wir ziehen um?“ Er nickte. „Irgendwas muss er doch erklärt haben...“ Er schüttelte den Kopf. „Hast du denn gar nicht nachgefragt?“ Er schüttelte den Kopf. „Wolltest du es denn gar nicht wissen?“
„Doch.“, gab er zu.
„Aber?“ Er sagte nichts mehr. Irgendetwas war da faul. Ich würde schon noch herausfinden, was es war. Er würde ja nun immer neben mir sitzen. Da würde ich schon genug Gelegenheit bekommen, etwas herauszufinden.
An diesem Tage hatten wir später auch noch Sport. Doch Tim war nicht anwesend. Wieso fehlte er in Sport? Ich bekam schließlich ein Gespräch zwischen Myriam, Yannick und David mit. „Was haltet ihr so denn von dem Neuen?“, wollte Myriam wissen.
„Ziemlich komisch, muss ich schon sagen.“, sagte David. „Redet kaum mit einem, und wenn, dann nur ein Wort. Weiß nicht, was ich von so einem halten soll.“
„Mir kommt es fast so vor, als ob er etwas dumm wäre.“, äußerte sich Yannick. „Ich meine, er weiß nicht, warum er umgezogen ist? Wenn ihr mich fragt, ist er ein kleiner Freak.“
„Aber nett scheint er zu sein.“, mischte sich Eva ein, die dazugekommen war. „Wenn man ihn anspricht, lächelt er immer.“
Ja, er lächelte immer, doch es war ein trauriges Lächeln. Ich konnte es in seinen Augen sehen. Er war sehr traurig und vielleicht hatte er auch ein wenig Angst. Ich hatte ihn zwar gerade erst kennengelernt, aber irgendetwas sagte mir, dass er meine Hilfe brauchte.
Zuhause ging er mir ebenfalls nicht mehr aus dem Kopf. Aber mit ein wenig Herumgesurfe im Internet, während ich meine Lieblingsmusik hörte, lenkte ich mich ab.
Doch aus meinem Unterbewusstsein war er nicht vertrieben. In der Nacht träumte ich von ihm. Er kam auf mich zu, öffnete die Lippen zu einem stillen Schrei, dann zerrte ihn etwas Dunkles nach hinten und zerfetzte seinen schutzlosen Körper. Ich schlug die Augen auf, während mein Herz heftig schlug. Ich war total verschwitzt. Was das doch für ein schrecklicher Traum war! Ob er etwas zu bedeuten hatte?
Am nächsten Tag sah ich Tim wieder. Ich begrüßte ihn, woraufhin er mich kurz zurück grüßte, sichtbar erfreut, doch ich sah wieder den Ausdruck tiefen Schmerzes in seinen Augen.
„Wieso warst du denn gestern in Sport nicht dabei?“, wollte ich in Erfahrung bringen.
„Ich...“ Er schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht sagen.“
„Darfst du nicht?“
„Doch.“, versicherte er mir schnell und nachdrücklich.
„Willst du nicht?“
Er schüttelte energisch den Kopf.
Mehr war aus ihm nicht mehr herauszubringen. Als er sich hinsetzte, tat er dies überaus vorsichtig und ich konnte erkennen, wie er einmal scharf die Luft zwischen den Zähnen hindurch anzog.
In der großen Pause versuchte ich mehr über ihn herauszufinden. Ich fragte ihn, ob er gerne lese, doch dies tat er nicht. Er sah auch nicht viel fern. Dann erzählte er mir aber, dass er gern male.
„Manga?“, fragte ich aufgeregt nach.
„Mangafiguren.“, klärte er mich auf.
„Ich kann auch ein wenig Mangafiguren malen. Aber nur ein wenig. Willst du mir vielleicht mal was malen?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte entschuldigend.
„Wieso denn nicht? Och bitte.“, setzte ich meinen ganzen Charme ein.
„Na gut.“, willigte er schließlich ein. „Später.“
Dann sprach Yannick mich an: „Wir wollen heute inlineskaten. Kommst du mit?“
„Ich kann nicht inlineskaten.“, antwortete ich ehrlich.
„Du hast es ja noch nie versucht!“, warf Yannick ein.
„Weil ich weiß, dass ich es sowieso nicht kann.“
„Ach so.“
„Nein.“, mischte sich Tim bestimmt ein. „Wenn man etwas noch nie versucht hat, dann kann man auch nicht wissen, ob man es kann, oder nicht.“
Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Ich war viel zu verblüfft, um etwas zu erwidern. War er endlich aufgetaut? Doch ich sah, dass er sich wieder klein machte, um nicht aufzufallen, und sich still setzte. Anscheinend hatte er ein starkes Wahrheitsempfinden. Das bedeutete, ich konnte davon ausgehen, dass er mich nie anlog. Es sei denn, er wollte etwas geheim halten, das zu schrecklich wäre, um...
„Es lebt.“, rief da Myriam.
Einige lachten dumm, als ob es der beste Witz gewesen wäre, den sie jemals gehört hatten. Tim schien dies peinlich zu sein. Er wurde sogar ein ganz klein wenig rot. Wenn sie doch mit der dämlichen Scheiße aufhören würden!
Später am Tage malte Tim mir tatsächlich schnell etwas. Einen muskulösen Kämpfer mit einem gezackten kunstvollen Schwert. Die langen Haare des Mannes wehten im Wind. Tim konnte wirklich gut zeichnen. Kein Vergleich zu meinem Gekritzel, das ich nur mal malte, wenn mir wirklich langweilig war, oder ich durch das Ansehen einiger Fanzeichnungen besonders motiviert war.
„Sehr hübsch.“, sagte ich und meinte es so.
„Hier.“ Er schob es mir zu.
„Heißt das, du schenkst es mir?“, fragte ich gerührt.
Er nickte unmerklich. Ein leerer Ausdruck trat in seine Augen, als ob er an etwas dachte, das ihn sehr traurig machte. Er verabschiedete sich schnell, warf sich den Rucksack über die Schulter und verschwand aus dem Klassenraum. Seine Zeichnung bewahrte ich behutsam in meinem Aufgabenbuch.
Die Woche verging und er verhielt sich gewohnt unauffällig. Dann kam wieder der Tag, an dem wir Sport hatten. Zuvor hatten wir aber noch unseren Klassenlehrer. Nach der Stunde bei ihm, sprach er Tim an: „Dann hast du heute also deine erste Sportstunde. Herr Winterberg hat mir schon erzählt, dass du letztes Mal gar nicht da warst, deshalb kennt er dich noch gar nicht.“
„Nein, ich mach nicht mit.“, entgegnete Tim leise.
„Wie, du machst nicht mit? Hast du ein Attest von einem Arzt? Bist du krank?“
Der Junge schüttelte nur den Kopf.
„Dann kannst du auch mitmachen.“
„Hab gar keine Sachen dabei.“
„Und was ist das?“, fragte unser Lehrer und zeigte auf eine Sporttasche. „Du machst mit.“
Ich war wieder mal sehr verwirrt. Wieso hatte er denn gelogen? Er log doch sonst nicht! Oder hatte ich ihn vielleicht falsch eingeschätzt, und er war gar nicht so lieb, wie er tat? Ich sah ihn mir genauer an. Dabei fiel mir auf, dass er zitterte. Vom Gesichtsausdruck her war er auch ganz abwesend. Er hatte eindeutig Angst.
Dann war es soweit. Wir begaben uns in die Kabinen, um uns umzuziehen. Als wir reingingen, kam Tim schon raus, er hatte sich bereits umgezogen. Ein langer blauer Trainingsanzug. Dann spielten wir Basketball und Fußball. Er war zwar nicht besonders gut in diesen Sportarten, doch auch nicht besonders schlecht. Warum wollte er nicht mitmachen? Nach dem Sport begaben wir uns wieder in die Umkleide und zogen uns um. Ich warf unauffällig einen verstohlenen Blick auf Tim. Was ich da sah, erschreckte mich zutiefst. Sein ganzer Körper war mit blauen Flecken übersät! Hämatome befanden sich sowohl an seinen dünnen Beinen, sowie an seinen schmalen Armen. Schnell hatte er seine normale Kleidung wieder angezogen. War das der Grund?
Es ließ mir von nun an keine Ruhe mehr. Ich war der Meinung, dieser Junge bräuchte meine Hilfe. Nur wie sollte ich ihm helfen? Er war sehr verschlossen. Ich würde versuchen wieder mehr mit ihm zu reden.
Am nächsten Tag begrüßte ich ihn ganz normal. „Hi!“
„Hi!“, gab er zurück.
„Wie gehts?“
„Gut.“
„Was... machst du heute?“
„Äh.... Wie?“
„Was machst du heute noch so?“, wiederholte ich meine Frage.
Er sah mir direkt in die Augen. „Wieso?“
„Nur so.“
„Ich.... Ich muss noch für die Schule lernen.“, stieß er schnell hervor.
„Den ganzen Tag?“
„Ja.“
„Wieso den ganzen Tag?“
„Ich... Der Unterricht ist sehr schwer.“ Er lächelte verlegen, doch ich glaubte ihm nicht.
„Ich könnte dich ja mal besuchen kommen....“
„Wieso....“, fragte er mit zittriger Stimme.
„Nur so. Oder hast du etwas dagegen?“
„Ich... Was willst du denn bei mir machen?“
„Keine Ahnung. Das sehen wir dann.“
„Ich glaube nicht, dass das meinem Vater so Recht wäre.“, entgegnete Tim verunsichert.
„Will er, dass du keine Freunde hast?“
„Freunde?“
„Ja, wir könnten ja Freunde werden.“
Tim lächelte wieder etwas unsicher und sah mir wieder in die Augen. Ich hielt dem Blick stand. Sah er etwas in meinen Augen? Ich glaube, es war so. Auf jeden Fall antwortete er nun: „Na gut, komm um... um drei Uhr zu mir. Aber du kannst nur bis fünf bleiben.“
„Ja, ist okay. Wo wohnst du?“
„Ich male es dir auf.“ Tim nahm ein Blatt Papier heraus und zeichnete exakt, wo er wohnte.
Um fünf Minuten vor drei stand ich an seiner Haustür. Es war ein kleines Haus, nicht schäbig, nicht prachtvoll. Ein gewöhnliches Haus, wie man es in Deutschland ständig sah. Fantasielos weiße Fassade mit standardroten Ziegeln. Es stand in einer Reihe von ähnlichen Gebäuden und fiel so nicht weiter auf. Es war ein Mietshaus, obendrüber war wahrscheinlich noch eine weitere Wohnung. Ob dort ein anderer Mieter oder der Vermieter wohnte, konnte ich nicht sagen. Ich klingelte an der Haustürklingel. Es war ein schriller Ton, ähnlich wie bei einem der alten Wecker. Die Tür wurde geöffnet. Tim schien überrascht zu sein, dass ich tatsächlich kam. „Hi.“, sagte er nur.
„Hi.“
Er stand noch etwas unschlüssig in der Tür, dann trat er zur Seite, dass ich reinkonnte. Danach schloss er langsam die Tür. Er sah mich etwas ratlos an und ich sah ihn ebenfalls so an. Er ging voraus ohne etwas zu sagen und ich folgte ihm. Wir waren anscheinend in seinem Zimmer. Er hatte nicht viele Sachen. Die Möbel waren mehr zweckmäßig, als geschmackvoll ausgesucht. Da keine Stühle da waren, setzten wir uns auf sein Bett.
„Ist jetzt sonst keiner im Haus?“, fragte ich.
„Nein.“
„Dein Vater ist wohl arbeiten.“
Er bekam einen seltsamen Gesichtsausdruck, der kurz darauf wieder verschwand. „Ja.“
„Und deine Mutter?“
„Tot.“
„Oh, ist sie schon lange tot?“
„Ja, seit ich sechs bin.“
Wir schwiegen eine Weile. Ich war mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, dass ich hergekommen war. Doch schließlich sprach ich ihn direkt darauf an, weshalb ich hier war. „Deine blauen Flecken, woher kommen sie?“
„Was?“
„Ich hab sie gesehen. Gestern nach dem Sport. Sie waren der Grund, weshalb du nicht mitmachen wolltest, nicht wahr?“
Tim nickte langsam.
„Wer tut dir das an? Dein Vater?“
Der Junge schwieg. Doch er sah mich mit einem traurigen Blick an, der mehr sagte, als tausend Worte. In seinen Augen schimmerte es feucht. Was war sein Vater nur für ein Mensch? Wie konnte jemand diesem zarten, ja fast zerbrechlichen Geschöpf, nur so etwas Schreckliches antun? Tim kam mir vor, wie ein kleiner Engel. Seine tiefen Augen, die immer ein seltsamer Schimmer umgab, seine glatte Haut, seine etwas geringelten, etwas längeren dunklen Haare, seine hellbraunen Lippen...
Wir sahen uns weiterhin an, als ob wir das Gleiche denken, das Gleiche fühlen würden. Telepathie. Es war so. Er kam näher zu mir ran und unsere Köpfe neigten sich einander zu. Meine Lippen berührten seine Lippen. Dies war tatsächlich mein erster Kuss mit einem Jungen, und es war so schön, wie ich es mir ausgemalt hatte. Seine weichen Lippen. Ich streifte langsam mit der Zunge über sie. Er kam näher an mich ran. Seine Hände strichen durch mein Haar. Ich umarmte ihn, hielt ihn einfach nur fest. Dieser kleine zerbrechliche Körper, dieser liebevolle Junge, ich werde ihn beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass ihm weiteres Unrecht geschieht. Ich kenne ihn eigentlich noch gar nicht, doch ich weiß, dass ich ihn liebe.
Ich streichelte zärtlich an seinem Hals entlang. Ich fühlte seinen Puls. Seinen Herzschlag. Er spürte meine Wärme und ich seine Wärme, da wurde die Tür geöffnet. Ein großer dicker Mann, vielleicht 40 oder 50, stand dort. Er sah zornig aus. Und er wurde noch viel wütender.
Erschrocken löste sich Tim von mir. „Vater! Wieso bist du schon....“
„Du kleine miese perverse Drecksau!“, schrie der Mann zornig. Ich fühlte seinen Hass regelrecht. „Ich zieh dich nach dem Tod deiner Mutter alleine auf, damit du Unzucht mit einem Jungen treibst?!? Du krankes Schwein! Miese, schwule Drecksau! Ich werd dich lehren, Schweinereien zu machen!“
Plötzlich stürzte sich der Vater auf Tim. Vorher schlug er mich noch weg, sodass ich auf den Boden stürzte. Was er für eine Kraft hatte! Er packte Tim und hob ihn hoch und schüttelte ihn vor und zurück. „Dir werd ich die Flausen schon noch austreiben!“, schrie er dabei. Dann schmiss er seinen Sohn auf das Bett und schlug auf ihn ein. Mein Gott! Er bringt ihn noch um! Ich lief zu ihm und versuchte ihn weg zu schubsen, doch er beförderte mich nebenbei einfach wieder mit einer Armbewegung zu Boden. „Zu dir komme ich auch noch!“, schrie er mich an. Dann prügelte er Tim weiter. Dieser hob abwehrend seine Arme und Beine vor sich, er war richtig zusammengekugelt und schrie, doch der Vater hörte einfach nicht auf. Ich rannte aus dem Zimmer hinaus. Irgendetwas musste doch zu finden sein, dass ich verwerten konnte! Ich rannte in den nächsten Raum, es war die Küche. Auf der Spüle lag ein großes Messer. Damit würde ich diesen brutalen Mann in Schach halten! Ich nahm es in die Hand und kehrte in Tims Zimmer zurück. Ich sah, wie Tim zusammengekrümmt dalag. Bei jedem erneuten Schlag befürchtete ich, er würde zerbrechen. Ein unbändige Wut packte mich. Der Vater schien in einer Raserei zu sein, er schlug weiter wie von Sinnen. Ich stürzte mich auf ihn und schrie dabei wütend auf. Instinktiv drehte sich der Mann um und wollte mich packen, was ihm auch gelang. Er drückte mir den Hals zu und ich nahm alle meine Kraft zusammen und stach ihm das Messer in seinen fetten Bierbauch. Sein Griff lockerte sich. Blut quoll aus dem Wanst heraus. Er wankte und fiel um, direkt auf das Messer, was es noch tiefer hineintrieb. Noch einige Augenblicke, dann blieb er reglos liegen.
Ich sah zu Tim. Sein Blick haftete auf seinem verendeten Vater, dann sah er mich stumm an. schrie er mich an.h noch!"sen. Ich laufe zu ihm und versuche ihn wegzuschubsen, doch er befördert mich nebenbei einfach wieder
Das Herz des Jungen (2): Was tun mit einer Leiche?
Einige Sekunden hielten wir wortlos inne und bewegten uns nicht. Dann ging ich langsam auf Tim zu. Ich sah, dass seine Augen feucht schimmerten. „Es tut mir Leid, Tim...“
Er schloss die Augen und seine Tränen kamen gelaufen. Ich trat einen Schritt näher. „Ich wollte nicht,… Ich hatte es wirklich nicht beabsichtigt, dass so etwas...“
Tim schüttelte den Kopf. „Nein, es ist schon gut. Ich weine nicht deswegen.“
„Nicht...?“
„Ich bin nur so erleichtert, dass es endlich vorbei ist... Dass dieses Scheusal endlich tot ist.“
Er war froh, dass sein Vater tot war? Was musste dieser alte Mann nur für ein mieses Schwein gewesen sein! Ich hatte ja nur einen kurzen Vorgeschmack mitbekommen, doch Tim hatte ihn wahrscheinlich sein ganzes Leben ertragen müssen. Wie hatte er das nur ausgehalten? Tim ist stark. Nicht körperlich, aber seelisch, auch wenn man es ihm nicht ansieht.
Ich setzte mich neben ihn und legte langsam und zögerlich meinen Arm um ihn. Er warf sich ganz an mich und weinte sehr heftig. Ich hielt ihn tröstend mit meinen Armen umschlungen.
„Ja, es ist nun vorbei. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Tim.“
Er weinte sich noch einige Zeit aus, dann sah er mich plötzlich mit völlig klarem Blick an und sagte sachlich: „Wir müssen die Leiche verschwinden lassen.“
„Was? Wieso denn? Es war schließlich Notwehr. Ich habe dich vor ihm gerettet. Er hätte dich sonst umgebracht!“
„Beweise das erst einmal.“
„Sind deine blauen Flecken etwa nicht Beweis genug? Jeder Arzt wird bestätigen können, dass du misshandelt wurdest.“
„Das ist wahr... Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum er verschwinden muss. Wirst du mir helfen?“
„Natürlich. Worum geht es?“
„Er ist mein einziger Verwandter. Wenn die Polizei erfährt, dass mein Vater tot ist, komme ich ins Heim. Ich will nicht ins Heim. Ich könnte hier weiterleben, wenn niemand was erfahren würde. Ich bin selbstständig, das ist kein Problem.“
„Man wird doch etwas bemerken, spätestens, wenn er nicht zur Arbeit kommt.“
„Ehrlich gesagt hat er keine Arbeit. Und da wir hier neu sind, wird ihn niemand vermissen.“
„Dann bleibt nur noch das Problem mit dem Geld. Woher willst du Geld bekommen? Ich glaube kaum, dass du selbst das Arbeitslosengeld abholen kannst.“
„Das ist wahr. Ich bin mir noch nicht sicher. Ich denke, ich werde einen Job annehmen. Zeitungen austragen.“
„Das reicht doch nicht zum Leben!“ Es tut mir innerlich weh, ich will ihm seine Illusionen nicht rauben.
„Wenn ich für einen sehr großen Teil der Stadt die Zeitungen austrage, kriege ich viel Geld. Mehrere hundert Euro. Ich weiß das von jemandem aus einer früheren Schule. Man verdient eigentlich ziemlich gut. Und ich bin sparsam. Wenn ich das Geld nur zum Essen ausgebe, reicht es schon.“
„Du hast die Miete, die Heizkosten und den Strom vergessen.“
„Das ist wahr. Oh Mann, das wird niemals reichen! Was soll ich nur machen? Ich will nicht ins Heim!“
„Hm.“ Nun habe ich eine mindestens genauso verrückte Idee wie Tim. „Pass auf. Wir haben eine ziemlich große Wohnung. Du kannst einfach bei uns wohnen.“
„Das erlauben deine Eltern?“
„Vermutlich nicht. Deshalb müssen wir es auch heimlich machen. Du kannst in meinem Zimmer wohnen. Niemand betritt es und sicherheitshalber werde ich in der Nacht immer abschließen. Essen nehme ich eben heimlich was mit und gebe es dir. Meine Eltern arbeiten beide, wir essen selten zusammen, also wird es kein Problem sein, dir essen zu bringen. Und wenn man dich mal sieht, bist du eben auf Besuch, beziehungsweise übernachtest mal eine Nacht bei uns. Das ist kein Problem. Wir nehmen nach und nach alle deine Sachen mit in mein Zimmer...“
„Zum Glück ist es nicht viel.“
„... und die Sachen deines Vaters verbrennen wir einfach oder schmeißen sie weg. Allerdings müssen wir, wie gesagt, die Leiche tatsächlich verschwinden lassen. Wenn keiner mehr die Miete bezahlt, wird der Vermieter kommen und die Wohnung leer finden und sich denken, man wäre einfach ausgezogen. Er wird sich nicht weiter darum kümmern und einfach neu vermieten. Jetzt muss nur so schnell wie möglich die Leiche weg.“
„Chris, mir schlägt das Herz bis zum Hals.“
„Mir auch. Wer weiß, vielleicht funktioniert es ja. Wir haben wie gesagt den Vorteil, dass niemand deinen Vater vermissen wird.“
„Wir müssen ihn zerstückeln.“
„Was?“ Ich betrachte die Blutlache, die sich immer weiter ausgebreitet hat.
„Er ist zu schwer. Wir können ihn unmöglich irgendwohin schleppen. Und wir müssen das Blut wegwischen, sonst trocknet es ein und die Spuren wird man finden. Der Vermieter wird misstrauisch werden und die Polizei einschalten und wir haben den Salat!“
„Gut. Wir müssen ihn erst einmal auf den Rücken drehen, damit sich das Blut nicht noch weiter ausbreitet und wir es wegwischen können.“
„Mit vereinten Kräften schaffen wir es.“ Tim und ich gehen einen Schritt auf die Leiche zu. „Chris... Ich hab Angst, ihn zu berühren. Es ist so schrecklich.“
„Vielleicht sollten wir erst mal das Putzzeug suchen, dort werden auch Putzhandschuhe sein, die wir anziehen können. Es ist sowieso besser, wenn man keine Fingerabdrücke findet.“
„Wir haben kein Putzzeug.“
„Vielleicht im Keller. Jeder Vermieter müsste irgendwo etwas rumstehen haben.“
„Na gut. Komm mit.“ Tim nahm seinen Haustürschlüssel und wir gingen durch die Wohnungstür. Er schloss sie hinter sich ab und wir gingen eine dunkle Treppe hinunter. Hinter einer Tür fanden wir schließlich einen Putzeimer, Putzhandschuhe und die verschiedenen Reinigungsmittel. Wahrscheinlich stand dies für die Putzfrau dort. Wir zogen uns die Handschuhe an und wir gingen wieder in die Wohnung. Tim schloss auf und machte die Tür hinter sich wieder zu, nachdem wir drinnen waren. Ich füllte den Eimer im Bad mit Wasser und schleppte ihn in Tims Zimmer. Dort stellte ich ihn schließlich erschöpft auf den Boden. Ich war auch nicht gerade der Stärkste.
„So, jetzt müssen wir ihn herum rollen, dieses fette alte Walross.“ In Tims Gesicht las ich den zornigen Ausdruck von Wut und Verachtung. Wie lange hatte ihn dieser schreckliche Mensch gequält?
Wir stemmten uns gegen den schweren Fleischbrocken und drückten. Es gelang uns nicht, er war zu fett. Wir versuchten es nach einem stummen wechselseitigen Blick wieder. Diesmal energischer und stärker. Es gelang. Mit einem seltsam dumpfen Geräusch konnten wir ihn umhieven. Ich zog das Messer aus dem aufgeblähten Magen heraus. Das Messer war blutig. Ich wischte es an einem Putzlappen ab, den ich danach ins Wasser tunkte. Dann machte ich Putzmittel ins Wasser, dies hatte ich vergessen. Ich nahm einen feuchten Lappen aus dem Wasser, Tim tunkte ebenfalls einen ein und zog ihn stumm wieder heraus. Ohne eine Gefühlsregung knieten wir uns nieder und begannen das Blut wegzuwischen. Nach einigen Minuten, als wir wirklich sicher sein konnten, dass nichts mehr übrig war, das uns verraten könnte, nahmen wir ein trockenes Tuch und wischten alles trocken. Nun ließ kein verräterisches Rot mehr darauf schließen, dass hier etwas geschehen sein könnte. Ich schleppte vorsichtig den Eimer, der vom Blut rötlich gefärbt war, ins Bad und kippte ihn ins Klo. Anschließend spülte ich noch einmal ab. Ich wusch den Eimer und die Lappen gründlich im Waschbecken aus, Tim half mir dabei. Danach brachten wir die Sachen wieder zurück in den Keller. Schließlich begaben wir uns wieder zurück in die Wohnung.
„Wird nicht erneut alles mit Blut verunreinigt sein, wenn wir die Leiche zerstückeln?“, fragte Tim plötzlich.
Ich dachte kurz nach. „Ich glaube nicht. Leichen bluten nicht mehr, soweit ich weiß. Allerdings.... Wenn wir ihn ganz zerstückeln.... Das Blut ist ja noch immer im Körper. Es ist ja nicht plötzlich verdampft oder so. Deshalb könnte es tatsächlich raus fließen.“
„Es wäre sicher, wenn wir ein großes Tuch unter ihn legen könnten, das wir später verbrennen könnten. Doch dann müssten wir ihn wieder rumwälzen.“
„Ein großes Badetuch vielleicht. Dann tun wir es eben. Schnell, bevor die Leichenstarre anfängt. Weißt du, wann sie beginnt?“
„Nein, aber es ist eine gute Idee, ihn nochmal umzudrehen. Ich kann seinen Anblick nicht mehr ertragen.“
„Das kann ich verstehen.“ Ich starrte auf die Leiche. Die toten Augen schauten unnatürlich in irgendeine Richtung. Ich wendete schnell meinen Blick ab.Wir nahmen zur Sicherheit drei große Badetücher aus dem Bad, damit er nicht durchblutete, und legten sie neben ihn, und rollten ihn mit großer Anstrengung wieder auf den Bauch.
„So, und was jetzt?“
Tim zuckt mit den Schultern.
„Ich denke, wir kümmern uns morgen weiter um ihn, bis dahin haben wir uns auch vielleicht etwas überlegt. Komm mit zu mir, dann kannst du bei mir einziehen. Nimm fürs Erste mal deine wichtigsten Sachen mit, also genügend Unterwäsche und so, aber nur soviel, wie in deinen Rucksack passt, sonst ist es zu auffällig, wenn uns meine Eltern oder Geschwister sehen.“
„Wird er nicht anfangen zu stinken?“
„Ich denke schon, doch bis man das draußen bemerkt, wird es ein paar Wochen dauern. Ein Lehrer hat nämlich mal erzählt, dass jemand alleine in einem Hochhaus gestorben war und nach drei oder vier Wochen hat man im Treppenhaus einen seltsamen Gestank wahrgenommen, und da hat man gemerkt, dass er aus der einen Wohnung kam und so hat man ihn schließlich gefunden.“
„Moment.“ Tim ging aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einem Deospray zurück. Er versprühte es im ganzen Zimmer, bis man nichts anderes mehr roch. „Sicher ist sicher.“, lächelte er verlegen.
„Du bist einfach der Geilste!“, entgegnete ich lächelnd. Doch mein Bauch tat weh. Mir lag es wortwörtlich im Magen, dass ich einen Mord begangen hatte. Nun ja, Notwehr, aber tot ist tot. Ich hielt es nicht mehr in dem Zimmer aus. „Komm, lass uns verschwinden.“
„Okay, ich pack schnell ein paar Sachen ein, dann gehts los.“
„Gut.“ Je schneller ich von diesem grauenhaften Ort wegkam, desto besser. Mein Magen schmerzte noch mehr, wenn ich daran dachte, dass ich morgen nach der Schule wieder hierherkommen musste. Doch ich war nicht allein. Irgendwie machte es mich paradoxerweise auch froh, dass ich ein Geheimnis zusammen mit Tim hatte. Das verband uns.
Eine Viertelstunde später befinden wir uns vor meiner Haustür. Ich wohnte in einem zweistöckigen Haus, wenn man das Erdgeschoss als ersten Stock betrachtete. Außerdem gab es noch einen Keller. Dort stand auch die Heizung. Wir heizten noch mit Holz und Kohle. Ob man die Leiche dort verbrennen könnte? Man müsste sie sehr klein hacken, bis sie durch die Öffnung passen würde. Außerdem würde man den Gestank der verbrannten Leiche bestimmt bemerken und es würde entdeckt werden. Darüber hinaus dachte ich, dass die Knochen überbleiben würden. Also, in unserer Heizung könnten wir ihn schon einmal nicht entsorgen. Und in der Gefriertruhe aufbewahren, wie sie es in Filmen zeigen, ist weder eine Lösung, noch sicher, noch wäre genug Platz da drinnen.
Ich nahm meinen Haustürschlüssel, den ich an einer Kette um den Hals unter meinem T-Shirt hatte, heraus und schloss leise die Haustür auf. Ich schlich mich schnell und leise hinein. Ich winkte Tim, dass er folgen solle, was er tat. Glück gehabt, es hatte uns niemand bemerkt. Ich schloss die Haustür wieder und ging voran eine Treppe hinauf. Mein Zimmer befand sich im zweiten Stock im hintersten Zimmer. Als wir uns endlich drinnen befanden, atmeten wir erleichtert auf. Soweit waren wir also schon mal gekommen.
„Wo soll ich meine Sachen hin tun?“, fragte mich Tim plötzlich.
„Mach sie am Besten bei meine Sachen, dann wird es nicht so schnell auffallen, falls meine Mutter doch einmal ins Zimmer kommen sollte.“
„Ich bin doch viel kleiner als du, Chris. Wenn sie die Kleider wäscht, wird sie doch bemerken, dass das nicht deine Kleider sind. Außerdem habe ich ja auch ganz andere Sachen als du.“
„Mist, du hast mal wieder recht. Es gibt so verdammt viele Dinge, an die man denken muss. Wenn es schief geht, haben wir es wenigstens versucht.“
„Außerdem finde ich es ganz witzig. Ich hab schon jahrelang keinen solchen Spaß mehr gehabt, wenn überhaupt jemals.“, meinte er und sah mich traurig, doch zugleich irgendwie glücklich an. Es war ein sehr melancholisches Lächeln, welches sich auf seinem Gesicht abzeichnete.
„Ja, witzig.“, entgegnete ich mit einem Seufzer. „Und sehr aufregend.“ Nach einer Pause fügte ich hinzu: „Ich werde mich um dieses Problem kümmern. Das mit den Kleidern. Hast du Hunger?“
„Ich könnte einen Bären verschlingen.“, bestätigte er.
Nun erst wurde auch mir bewusst, dass ich Hunger hatte. Oder kam dieses seltsam flaue Gefühl im Magen von etwas anderem? Ich versuchte, nicht mehr an die widerliche Leiche zu denken. „Ich hol uns was. Warte hier.“
„Klar.“
Ich ging schnell in die Küche und schnitt mehrere Scheiben Brot. Mein älterer Bruder Benedikt, mein jüngerer Bruder Andreas und meine noch jüngere Schwester Carla saßen zusammen mit meiner Mutter am Tisch. Benedikt war 21 Jahre alt, seine schwarzen langen Haare, welche zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, gaben ihm das Aussehen eines Rockstars. Andreas war vierzehn Jahre, dunkelblonde Haare, so wie ich, und war gerade voll im Animefieber. Er spielte sehr viel Nintendo und Playstation, besonders Spiele von Yu-Gi-Oh! oder Dragonball Z. Carla war erst neun und hatte ebenfalls einen Pferdeschwanz, doch der war blond, und nicht schwarz, wie bei Benedikt. Sie war großer Fan von Christina Stürmer, US5 und Tokio Hotel. Von Tokio Hotel und Christina Stürmer konnte sie sogar alle Lieder auswendig, was sie uns auch oft genug unter Beweis stellte. Von US5 konnte sie kein Lied auswendig, da diese englisch sangen, und sie noch nie englisch in der Schule hatte.
Ja, und meine Mutter war 45 und hatte lange blonde offene Haare. Sie war meistens ganz in Ordnung und es war auch irgendwie bewundernswert, wie sie den Haushalt für so viele Leute nebenbei erledigen konnte, wo sie doch auch noch arbeitete. Sie war Verkäuferin bei Accord, entweder an der Käsetheke oder der Brottheke, oder sie war Kassiererin. Das blöde bei ihr war, dass sie irgendwie immer die Dinge, die Kindern oder Jugendlichen wichtig sind, egal ob die eigenen, oder andere, herunterspielte und alles so betrachtete, was sie auch immer sagte, dass dieses oder jenes bei allen so wäre, dass dieses oder jenes vorbeiginge und dass sie sich dabei irgendwie cool vorkam, als ob sie was Besseres wäre, nur weil sie schon erwachsen war. Sie bestimmte auch immer, egal was man am tun war, was man arbeiten sollte, und sie duldete keine Widerrede. Vielleicht brachte ihr Leben dieses Verhalten mit sich, aber richtig anfreunden konnte ich mich nie damit.
„Wo willst du denn mit dem Brot hin?“, fragte sie mich unvermittelt.
„Ich esse auf meinem Zimmer.“
„Du isst hier bei uns, wo wir jetzt fast alle mal zusammen sind. Was sind denn das plötzlich für neue Angewohnheiten?“
Widerstrebend setzte ich mich hin. „Vielleicht wird es mal Zeit für einige Veränderungen. Ich bin schließlich alt genug.“
„Dann kannst du ja auch gleich mal ein bisschen mehr im Haushalt helfen, wenn du schon so alt bist.“, konterte sie gekonnt.
Ich ergriff diese Gelegenheit beim Schopfe. „Okay. Also, du meckerst ja manchmal,...“
„Ich meckere nicht, ich sage nur etwas.“
„Du sagst ja manchmal, wäsch mal deine Klamotten zur Abwechslung selbst. Und das werde ich nun freiwillig jedes Mal tun. Du musst nie mehr etwas von meinen Sachen waschen.“
„Ja? Na, da bin ich ja mal gespannt.“, erwiderte sie skeptisch.
„Ich mach das auch wirklich.“, bestätigte ich, während ich weiter aß.
„Mein Gott, Christopher! Was schlingst du denn dein Essen so herunter? Es will dir niemand etwas weg essen, da brauchst du keine Angst zu haben.“
„Will keine Zeit mit Essen verschwenden.“, sagte ich schmatzend, zwischen zwei Bissen.
„Als ob ich dir keine Manieren beigebracht hätte.... Manche Leute lernen nie dazu.“
„Genau, Chris!“, mischte sich Benedikt gespielt ernst ein. „Benimm dich mal. Es ist peinlich, wie du dich benimmst.“
Ich sagte nichts dazu, sondern aß schnell. Dann stand ich auf und nahm, ohne dass die anderen etwas bemerkten, im Vorbeigehen vier Scheiben geschnittenes Brot, ein Messer und ein Glas Nutella mit. Glück gehabt. Schnell ging ich wieder in mein Zimmer.
„Sorry, Tim, dass es so lange dauerte. Meine Mutter hat mich gezwungen, unten zu essen. Hier hab ich was für dich mitgebracht.“
„Nicht schlimm. Mmh, lecker. Nutella. Das habe ich das letzte Mal gegessen als,... als meine Mutter noch lebte. Mein Vater hat mir nie so etwas zu essen gegeben. Überhaupt nichts Süßes. Hat dann lieber selbst gesoffen.“
„Dieses egoistische Schwein.“, bestätigte ich wütend. Wo gibts denn so etwas? Dem eigenen Kind keine Süßigkeiten geben! Dieser Drecksack.
Tim schmierte sich das Nutella auf die Brotscheiben und aß sie. Man konnte richtig sehen, wie er jeden einzelnen Bissen genoss. Nachdem er damit fertig war, redeten wir noch über belanglose Dinge und vermieden erst einmal das Thema Leiche. Wir brauchten alle etwas Erholung. Schließlich wurde es Nacht.
„So, also jetzt müssen wir schlafen.“, sagte ich zu ihm.
„Wo soll ich schlafen? Auf dem Boden?“
„Du schläfst bei mir im Bett. Natürlich nur, wenn du willst...“
„Klar.“ Tim stieg zu mir ins Bett und ich löschte das Licht. Ich spürte seinen grazilen Körper an meinem. Sanft schloss ich meine Arme um ihn. Er kuschelte sich bei mir ein. Seine Wärme war sehr angenehm. Schließlich schlief er als Erstes ein. Doch er war sehr unruhig. Es dauerte noch etwas, bis ich selbst einschlafen konnte. Zu viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Als ich endlich schlief, hatte ich Alpträume. Meine Eltern waren da. Sie sagten, wie ich so etwas hätte nur tun können. Sie wussten also, dass ich einen Mord begangen hatte! Und meine Klassenkameraden unterhielten sich über mich, als ob ich unsichtbar wäre. Sie hätten es doch immer gewusst, dass ich nicht normal wäre, dass ich gefährlich wäre. Dann berieten sich meine Mitschüler zusammen mit meiner Familie und Dominik sagte, dass sie die Polizei verständigen müssten. Alle stimmten zu. Mein Vater warf ein, dass man ja nicht ahnen hätte können, dass es so enden würde, dass es mit mir tatsächlich soweit gekommen wäre. Dabei wüssten sie nicht, was sie falsch gemacht hätten bei der Erziehung. Ob ich nicht alles gekriegt hätte? Genug Liebe?
Am nächsten Morgen erwachte ich wieder vom Wecker. Ich schaltete ihn aus. Tim war auch wach geworden. Er streckte sich ein wenig. Er lag noch immer in meinen Armen. Er schien zufrieden damit zu sein, wo er aufgewacht war.
„Morgen.“, säuselte ich fröhlich und küsste Tim sanft auf seine weichen Lippen.
Das Herz des Jungen (3): Knochenarbeit
Von der Schule an sich bekam ich an dem folgenden Tage nicht viel mit. Ich dachte die ganze Zeit nur an Tim und musste ihn die ganze Zeit ansehen. Und er schaute mich auch an, es begegneten sich des Öfteren unsere Blicke. Die anderen Mitschüler durften nichts mitbekommen! Und wenn ich ausnahmsweise nicht gerade an Tim dachte, dachte ich an die sterblichen Überreste seines Vaters nach und über deren Entsorgung. Doch zu einem richtigen Ergebnis war ich noch nicht gekommen.
Auf dem Nachhauseweg fiel mir plötzlich etwas ein: „Tim, es gibt doch manchmal so Bauern, die ihre Familie umbringen oder umgekehrt, keine Ahnung. Auf jeden Fall verfüttern die die Leiche an Schweine. Das wäre doch eine gute Idee!“
„Hast du Schweine oder 'nen Bauernhof?“, fragte Tim ironisch.
„Nee...“
„Na also, dann geht das ja nicht.“, meinte Tim grinsend.
„Hast du 'ne bessere Idee?“
„Ach, ich weiß es doch auch nicht. Lass uns ihn erst einmal handlicher zerhacken.“
„Einverstanden. Mein Vater hat eine große Axt, die können wir holen. Wir brauchen aber auch etwas, worin wir die Teile transportieren können.“
„Im Schulranzen, dann fällt es am Wenigsten auf.“, überlegte der braunhaarige Junge.
„Gute Idee, ich hab noch paar alte Rucksäcke. Müssen wir nur paar mal gehen.“
„Gut, machen wir es so!“, bekräftigte Tim und sie gingen zu Chris' Zuhause.
Langsam stieg ich die Kellertreppe nach unten. Das trübe Licht der Glühbirne erhellte die Räume lediglich rudimentär. Als mein Oberarm ein Spinnennetz striff, breitete sich ein unangenehmer Schauer in mir aus, welcher sich physisch als Gänsehaut manifestierte. Ich schüttelte mich kurz und rief mich selbst zur Ordnung. Meine Arachnophobie und das unbestimmte Unwohlsein, wenn ich den heimischen Keller betrat, durfte nun keinen Raum mehr in meinen Gedanken einnehmen. Ich hatte etwas Wichtiges zu tun, quasi eine Mission, von deren Gelingen so viel abhing. Schließlich fand ich eine sogenannte Tütentüte, also eine große Plastiktüte, welche gefüllt war mit weiteren Tüten. Diese steckte ich einen der älteren Ranzen, die keiner vermissen würde. Ebenfalls dazu kam nun auch die Axt meines Vaters. Sie war ziemlich schwer, aber das war ganz gut. Sie musste so sein, denn wir brauchten etwas Stabiles, um den toten Leib zu zerteilen. Spontan nahm ich noch eine Rolle blauer Säcke mit. Diese würde man ebenfalls gut gebrauchen können.
Nach einer Viertelstunde hatte ich alles beisammen, was ich benötigen würde und kam aus dem Keller herauf gestiegen. Tim hatte in der Zwischenzeit in der Küche gewartet und etwas gegessen. Glücklicherweise waren meine Mutter und mein Vater am Arbeiten, Benedikt befand sich ebenfalls auf der Arbeit und meine kleinen Geschwister waren bei Freunden. So störte uns wenigstens niemand. Ich aß auch noch schnell etwas und anschließend machten wir uns wieder auf den Weg zu Tims ehemaliger Wohnung.
Ich öffnete mit einem Gefühl ansteigender Angst die Tür zu Tims Zimmer. Da lag er immer noch, wie wir ihn zurück gelassen hatten. Das bösartige fette tote Schwein. Eine endgültige Lösung war mir immer noch nicht in den Sinn gekommen. Die Verfütterung an die Schweine wäre schon sehr gut gewesen, aber wir konnten schließlich nicht einfach so auf einen fremden Bauernhof spazieren und im Schweinestall die Schweine füttern. Sehr gut wäre es, wenn wir eine extrem starke Säure hätten, aber wo sollten wir diese nur herbekommen? Verbrennen wäre auch eine Möglichkeit, aber wo sollte man unbemerkt ein Feuer machen können? Also würde uns vermutlich nichts Anderes übrig bleiben, als die Teile im Wald zu verscharren und tief genug am Besten, dass keine wilden Tiere die Stücke wieder ausscharren würden. Ich hoffte weiterhin auf einen Geistesblitz, welcher mir eine bessere Lösung offenbaren würde.
„Tim, wir legen zwei blaue Säcke unter die Handtücher.“, meinte ich zu dem Jungen, während ich Gummihandschuhe überstreifte. „Zur Sicherheit.“
„Okay, machen wir es so.“
Den toten Mann zur Seite zu rollen war wieder ein Kraftakt. Warum waren wir beide auch so schwächlich? Nach einiger Anstrengung hatten wir schließlich die blauen Säcke ausgebreitet unter einer Lage von großen Badehandtüchern. Jetzt ging es leider erst richtig zur Sache. Ich wünschte mir, ich könnte diesen Teil überspringen, aber es musste getan werden.
„Tim geh bitte zur Seite.“ Wir hatten beide alte Kleidung angezogen. Falls diese durch Blut oder andere Körperflüssigkeiten verunreinigt werden würde, könnte man sie ganz leicht entsorgen, im Zweifelsfall würde dafür auch die Holzheizung meines Vaters ausreichen. Die Axt lag schwer in meiner Hand. Wo sollte ich nur anfangen? Eine besondere Stelle bot sich schon einmal als Anfang an. Ich nahm vorsichtig maß, hob die Axt und ließ sie mit aller Kraft hernieder sausen. Die glücklicherweise vor Kurzem geschärfte Axt trat in den verkürzten Hals ein. Doch der Kopf war noch nicht vollständig abgetrennt. „Oh Gott.“, entfuhr es mir leise. Doch ich setzte meine Arbeit weiter fort. Es bedurfte mehrerer weiterer Schläge, bis auch die letzten Fasern durchtrennt waren und der Kopf keinen Teil des gesamten Leichnams mehr bildete. Es stank nach dem metallischen Geruch von Blut. Mir wurde etwas schlecht und schwindelig und ich befürchtete längere Zeit, mich übergeben zu müssen, doch glücklicherweise kam es dann doch nicht dazu. Jetzt stellte sich die Frage, wie ich fortfahren sollte. „Ich denke, wir zerlegen ihn erst einmal in seine Extremitäten.“, versuchte ich möglichst sachlich rüber zu bringen. „Also, als Nächstes die Arme und Beine.“ Tim trat wortlos dazu und spreizte den linken Oberarm vom Körper ab und hielt ihn straff. Ich zielte direkt auf eine Stelle unterhalb der Achsel. Den Arm abzutrennen war weitaus schwieriger, als den Kopf zu entfernen. Nach einigen Versuchen war auch dies endlich geschafft. Der Schweiß lief mir in Strömen herunter. Es war anstrengender als ich gedacht hatte. Hätte ich doch nur meinem Vater öfter beim Holz spalten geholfen, vielleicht wäre es mir in diesem Augenblick zu Gute gekommen...
Schließlich ging es ohne Pause weiter mit dem nächsten Arm und, was noch schwieriger war, den beiden Beinen. Ich wollte diese ganze Sache so schnell wie möglich hinter mir lassen. Arme und Beine waren allerdings immer noch zu lang. So beschloss ich schließlich, diese an den sich anbietenden Stellen zu durchtrennen, also am Handgelenk, den Fußfesseln, den Kniebeugen und den Ellenbeugen. Tim hielt die Beine und Arme jeweils fest, sonst wäre es noch schwieriger geworden. Allerdings hatte ich dadurch auch ein wenig Angst, aus Ungeschicktheit Tim zu treffen, was glücklicherweise nicht geschah. Als die Teile schließlich separat da lagen, wurde jedes von ihnen erst in ein altes Handtuch und danach in drei Lagen großer Plastiktüten gewickelt und mit einem Seil, welches wir glücklicherweise in einer Küchenschublade fanden, verschlossen.
„Ich bin absolut fix und fertig.“, meinte ich seufzend zu dem dunkelhaarigen Jugendlichen. „Ich denke, wir sollten morgen mit dem Rest weiter machen. Es fehlt jetzt nur noch der Hauptkörper. Er ist viel zu groß zum transportieren. Aber mit einer Axt allein wird es schwer werden. Mein Vater hat im Keller noch eine große Säge. So eine für zwei Mann. Vielleicht geht es damit.“
„Oder wir nehmen lieber eine Kettensäge?“, schlug Tim vor. „Hat dein Vater so etwas auch? Das müsste dann relativ schnell gehen.“
„Ja, hat er.“, bestätigte ich nachdenklich. „Ja, ich glaube damit hätten wir größere Erfolgschancen und es würde schnell gehen. Ich kann die Säge in eine große Reisetasche stecken, dann fällt sie beim Transport nicht auf. Allerdings geht sie sehr schwer an, aber wir haben ja etwas Zeit. Das müsste klappen. Nur ich befürchte, dass sie sehr laut ist. In diesem Haus wohnen schließlich noch mehr Leute. Wir können von Glück reden, wenn sie das Hacken nicht gehört haben oder darauf geachtet.“
„Wir können laute Musik anmachen.“, schlug Tim vor.
„Ja, eine bessere Idee habe ich jetzt auch nicht.“
„Ich glaube, die anderen Leute in diesem Haus sind sowieso um diese Uhrzeit nicht da. Die Autos stehen immer erst gegen 19 Uhr vor dem Haus. Die arbeiten wohl so lange. Wir haben Glück.“
„Stimmt.“ Zu dem unangenehmen Blutgeruch hatte sich unterschwellig etwas Anderes gemischt, was ich die ganze Zeit nicht bemerkt oder bewusst wahrgenommen hatte. Als die Quelle des Gestanks schließlich ausfindig gemacht werden konnte, wurde mir ein weiteres Mal schlecht und ich hatte erneut Probleme, mich nicht zu übergeben. „Tim, schau mal auf die Hose deines Vaters. Jetzt weiß ich, woher der Gestank kommt. Das ist Scheiße und Pisse! Er hat vermutlich noch einmal alles raus gelassen.“
Tim nickte. „Wenn Menschen sterben, entleert sich oft die Blase und der Darm ein letztes Mal.“, sprach er ruhig in sachlich erklärendem Ton. „Ich werde morgen noch mehr von diesem Deo versprühen. Das ist immerhin besser, als dieser Gestank.“
„Wenn wir die Leichenteile transportieren, werden diese auch stinken....“, fiel mir siedend heiß ein.
„Was schlägst du vor?“
„Hm, wenn wir sie irgendwie sauber bekommen würden, zumindest die Teile des Körpers, die noch nicht eingepackt sind... Ich denke, wir sollten morgen, wenn wir den Rest in Stücke geschnitten haben, diese in die Badewanne legen und abbrausen. Am Besten richtig mit Shampoo. Dann müssten sie von Pisse, Kacke und Blut gereinigt sein.“ Mein Blick fiel auf das untergelegte Badetuch, welches durch flüssigen Stuhl, vermischt mit getrocknetem Blut, getränkt war. Das würde wohl nie wieder jemand benutzen. „Na gut, machen wir morgen weiter. Let's call it a day, wie unser Englischlehrer immer sagt.“
Tim nickte stumm. Schließlich duschte er schnell in der Dusche, während ich das Beil in der Badewanne säuberte, damit das Blut nicht eintrocknete. Da, wo es an den Holzstil gespritzt war, war dies gar nicht so einfach. Anschließend duschte ich mir Schweiß und Blutspritzer ab. Es war wie eine Erlösung. Ich hätte nie gedacht, dass eine einfache Dusche so befreiend und erfrischend sein konnte. Ich fühlte mich davor so schmutzig, so krank. Das was wir hier taten war so makaber und abstrus, dass ich immer noch nicht realisieren konnten, dass wir tatsächlich in dieser abwegigen und katastrophalen Situation waren. Die Ereignisse hatten sich wortwörtlich überschlagen in dieser kurzen Zeit, seit ich Tim kennen gelernt hatte. Und obwohl ich ihn erst seit der sehr kurzen Zeit kannte und er auch bislang nicht wirklich viel geredet hatte, hatte ich doch das Gefühl, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Er war mir so vertraut und ich hatte so ein warmes Gefühl in meiner Herzgegend, wenn ich an ihn dachte. Ich wollte ihn auch weiterhin beschützen, egal was kommen würde.
Leider konnten wir uns bei mir zu Hause nicht unbemerkt rein schleichen. Carla sprang plötzlich hinter einer Ecke hervor, als ob sie uns aufgelauert hätte, während wir die Treppe nach oben zu meinem Zimmer gingen.
„Wer ist das denn?“, fragte das junge Mädchen mit den langen honigblonden Haaren und den blauen wachen Augen forsch.
„Das geht dich nichts an.“; erwiderte ich genervt. „Zieh Leine...“
„Ich will erst wissen, wer das ist, sonst sage ich es sofort Mama, dass du einfach fremde Leute mit nach Hause nimmst.“, bestand sie resolut auf ihrem Standpunkt.
„Das sind keine fremden Leute“, antwortete ich resigniert. „Das ist Tim. Er geht in meine Klasse. Und jetzt lass uns bitte alleine.“
„Na gut!“, sprach das Mädchen mit ernstem Gesichtsausdruck und stapfte, einen Gameboy in der Hand, in ihr Zimmer.
„Kleine Geschwister können echt nerven.“, sprach ich zu Tim gewandt.
„Ich weiß nicht.“, meinte er leise. „Ich hätte gerne welche gehabt... Ich stelle mir das eigentlich ganz schön vor... Wenn man nicht alleine ist. Und man ein wenig Unterstützung hat....“
Ich schaute ihn sanft an. Wie schwer musste er es doch in seinem Leben gehabt haben ohne jegliche Hilfe. Wenn man ganz alleine ist, ist es echt nicht schön.
Nach einem kurzen Abendbrot, welches ich heimlich in mein Zimmer mitnahm, begaben wir beide uns auch schon in mein Bett. Wir waren erschöpft von diesem Tag und froh, endlich etwas Ruhe zu finden.
Wir beide hatten später im Bett nur ein T-Shirt und eine Unterhose an. Tim schmiegte sich mit seinem zierlichen Körper an mich. Ich umschloss ihn mit meinen Armen und hielt ihn fest.
„Hast du denn keine anderen Verwandten?“, fragte ich ihn interessiert.
Tim dachte kurz nach. „Meine Eltern waren beide Einzelkinder. Meine Großeltern waren bereits vor meiner Geburt gestorben. Ich weiß von keinen anderen Verwandten. Soweit mir bekannt ist, sind alle Verwandten nicht mehr am Leben.“
„Ungünstig...“, murmelte ich nur und dämmerte langsam ins Land der Träume.
Lange währte meine Schlafphase allerdings nicht. Plötzlich wurde ich wach, da Tim sich sehr unruhig bewegte. Er keuchte schwer, als ob er einen Albtraum hätte, was vermutlich auch der Fall war. Sein Körper war von Schweiß durchnässt. Mein Blick fiel auf die rot leuchtende Zeitanzeige des Radioweckers. Es war gerade mal halb zwei Uhr in der Nacht. Sollte ich ihn aufwecken? Ich entschied mich dafür, da dieser Traum Tim garantiert nicht gut tat. Außerdem konnte ich so selbst nicht schlafen, und ein wenig Schlaf benötigte ich schon.
„Tim!“, flüsterte ich und schüttelte ihn etwas hin und her. „Tim!“
Er zuckte stark zusammen und riss mit einem leisen erschrockenen Schrei die Augen auf. „Nein! Was? Wo bin ich...“ Er sah sich kurz um. „Ach so....“
„Du hattest wohl einen Albtraum, deshalb dachte ich, ich wecke dich lieber auf.“
Tim war noch ein wenig desorientiert und sprach schließlich zögerlich: „Ja, ein Albtraum... Ein Albtraum, der viele Jahre für mich Realität war. Ich kann gar nicht die vielen Abende und Nächte zählen, an denen ich beim Umdrehen des Haustürschlüssels auf dem Schlaf geschreckt war, da ich wusste, dass mein Vater nun von seiner Sauftour nach Hause gekommen war. Immer diese ungewisse Angst, ob er betrunken genug war, in seinem Bett, auf der Couch oder einfach mitten in der Wohnung umzufallen und seinen Rausch auszuschlafen, oder ob er noch zu mir wanken würde und mich grün und blau schlagen würde, für etwas, was ich nicht getan hatte oder getan hatte, aber definitiv keine Gewalt rechtfertigte. Er war halt einfach unzufrieden mit seinem kompletten Leben. Er hatte schon viele Jahre keine Arbeit mehr gehabt. Als meine Mutter noch lebte, kümmerte sie sich um mich. Ich glaube, er hat sie wenn auch nicht geliebt, doch zumindest gern gehabt. Sie war der einzige Mensch, abgesehen von seinen ebenso arbeitslosen Saufkumpanen, der es längere Zeit mit ihm aushielt. Aus irgendeinem Grunde hatte sie wohl Gefühle für ihn und konnte ihn einfach nicht verlassen. Auch wenn ich wusste, dass sie immer wieder mit diesem Gedanken spielte. Dazu kam, dass sie trotzdem Angst vor ihm hatte. Das wusste ich auch. Sie wurde nur sehr selten von ihm geschlagen, aber es kam schon mal vor. Und sie konnte sich nicht gegen ihn wehren. Ich weiß nicht, wie alles gekommen wäre, wenn meine Mutter noch leben würde. Ob sie ihn schließlich irgendwann verlassen oder angezeigt hätte und mich gerettet hätte. Doch leider bekam sie Lungenkrebs. Er kam so plötzlich und streute so schnell im ganzen Körper... Es war unmöglich, die Metastasen alle zu bekämpfen. Und irgendwie hatte ich auch das Gefühl, meine Mutter ergab sich in ihr Schicksal. Der Tod durch diese schreckliche Krankheit war für sie nicht nur ein Fluch, sondern irgendwie auch ein Segen. Es war ein Ausweg für sie, wie sie aus dieser Hölle entkommen konnte. Auch wenn sie mich damit im Stich ließ. Und dafür hasse ich sie manchmal, so sehr ich sie eigentlich auch liebe. Als die Diagnose kam, hat sie direkt aufgegeben und sich gefügt. Sie hatte keinerlei Motivation zu kämpfen. Und so blieb ich alleine mit diesem Scheusal zurück...
Und dann war niemand mehr da, der mich auch nur ansatzweise schützen konnte. Unzufrieden, dass er nun nicht nur komplett alleine war, kein Geld hatte und wenn er ehrlich war, keine richtigen Freunde, und nun auch noch mich an der Backe hatte, ein Kind, mit dessen Erziehung er komplett überfordert war und auf das er keine Lust hatte, ließ er seinen Unmut und seinen kompletten Hass an mir aus. An mir, der sich nicht wehren konnte, und der von nirgendwo Hilfe erhielt. An mir, der allen Anderen egal war... Und wenn dann irgendwann doch Jemandem die blauen Flecken auffielen, war der nächste Umzug nicht mehr weit. Kneipen oder einsame Alkoholiker gab es überall. Was mit mir und meinem sozialen Umfeld wurde, interessierte ihn in keinster Weise. Immer wieder neu anfangen, neue Schulen, neue Mitschüler. Ich gab es irgendwann auf, Kontakte zu knüpfen. Du warst mein erster richtiger Freund seit vielen Jahren, Chris...“
Mir selbst wurde das Herz so schwer, als ich die Geschichte seines Lebens hörte. Und ich wollte, dass er nun nie mehr leiden musste. Nun sollte es ihm gut gehen. Nun hatte er jemanden, der ihn liebte. Ich wollte nicht nur ein Freund sein, ich wollte viel mehr für ihn sein. Ich zog seinen so schutzlos wirkenden Körper wieder an mich und ich spürte, wie Tim meine Nähe genoss.
„Und konntest du tatsächlich nirgends Hilfe finden, Tim?“, fragte ich ihn nachdenklich „Was ist mit dem Jugendamt? Wenn du selbst dorthin gehst und um Hilfe bittest, können sie eine Inobhutnahme für 24 Stunden oder so durchführen und dann kann ein Jugendrichter oder wer auch immer, das weiß ich nicht so genau, entscheiden, dass du in einer Wohngruppe leben kannst. Oder es besteht auch die Möglichkeit ab dem 16. Lebensjahr alleine in einem betreuten Wohnen zu wohnen, soweit ich weiß. Es gibt definitiv Möglichkeiten.“
Tim seufzte traurig und antwortete mit weinerlicher Stimme: „Das wusste ich alles gar nicht. Ich hatte keine Ahnung, was meine Möglichkeiten waren... Und ich hatte solche Angst.. Wenn es nicht so klappen sollte, wie es sollte, und mein Vater hätte das rausgefunden, dann hätte er mich tot geschlagen. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Ja, so wie er es beinahe auch getan hätte, wenn ich nicht dort gewesen wäre...“, entgegnete ich düster. „Lass uns nun wieder schlafen, wir haben noch Einiges an Arbeit vor uns...“
„Gute Nacht.“
Nachdem Tims Atmen regelmäßiger wurde und ich wusste, dass er nun eingeschlafen war, konnte ich mich selbst auch dem Schlafe hingeben.
Das Herz des Jungen (4): Ich werde immer bei dir sein
Am nächsten Morgen schlichen wir uns vorsichtig aus dem Haus. Meine Eltern und mein ältester Bruder Benedikt waren bereits auf dem Weg zur Arbeit. Meine jüngeren Geschwister Andreas und Carla waren jedoch noch im Hause. Schnell machte ich Tim und mir ein paar Brote, während Andreas im Bad war und Carla nochmal heimlich auf dem Gameboy zockte. Dann verließen wir das Haus und aßen unseren Proviant unterwegs. Heute hatten wir acht Stunden. Eine Doppelstunde Mathe, eine Doppelstunde Deutsch, eine Doppelstunde Politik und eine Doppelstunde Englisch. Die Hausaufgaben saute ich, wie meistens sonst auch, während der kleinen Pausen hin. Das reichte im Großteil der Fälle auch. Nach diesem Tag waren wir schon ziemlich fertig, doch jetzt begann erst die richtige Arbeit.
Wieder bei mir zu Hause war glücklicherweise erneut niemand dort. Wir verschlangen regelrecht ein paar weitere Brote und dann nahm ich meine große Reisetasche aus dem Keller hervor. Dort drin verstaute ich die Motorsäge meines Vaters, welche ich zuvor in zwei große alte Badetücher einwickelte. So versuchte ich zumindest die Form der Kettensäge zu vertuschen und hoffte inständig, dass es ausreichen würde und unterwegs draußen Niemandem auffiel, was ich eigentlich dort transportierte.
Circa eine halbe Stunde später standen wir wieder vor der Wohnung von Tims Vater. Es breitete sich erneut dieses mulmige und unangenehme Gefühl in meiner Bauchgegend aus. Jetzt war es Zeit den nächsten Schritt zu tun.
Wenige Minuten später standen wir vor dem letzten noch zu zerteilenden Rest der fetten Leiche. Nur der eigentliche Körper war noch vorhanden. Die mit Handtüchern umwickelten und in Plastiktüten verstauten Teile, nämlich die Extremitäten und der Kopf, waren in der Küche zur Seite gelegt.
Ich und Tim zogen alles bis auf die Unterhosen aus und legten die Kleidung fein säuberlich in einen anderen Raum. Dann stülpten wir uns blaue Säcke über, in welche wir Löcher für Arme und den Kopf rissen. Es könnte schon eine ziemliche Sauerei werden, deshalb wollten wir nicht auch noch unsere Kleider verdrecken, denn Blut lässt sich sehr schlecht auswaschen. Selbstverständlich zogen wir beide erneut Gummihandschuhe an.
Ich überlegte, wie und wo ich beginnen sollte. Schließlich entschied ich mich, dass der Körper, da er groß und fett war, in sechs Teile zerteilt werden sollte. Am Besten einmal längs der Mitte und dann diese beiden Streifen in drei Teile. Doch sollte ich zuerst quer – oder längs zerteilen? Ich entschied mich, damit es endlich weitergehen konnte dafür, den Körper als Erstes in drei teile zu zerteilen. Einmal direkt auf Höhe des Bauchnabels und einmal auf Höhe des Sternums.
Die erste Schwierigkeit begann schon damit, die Kettensäge an zu bekommen. Ich zog mit meiner gesamten Kraft am Seilzugstarter, doch es ruckelte nur ein paar Mal. Ich versuchte dies noch mehrmals, doch leider kam ich zu keinem Ergebnis, was mir auf der einen Seite sehr peinlich war, auf der anderen Seite mich wütend machte und langsam zum Verzweifeln brachte. Tim hatte inzwischen den Fernseher laut gedreht. Er hatte VIVA eingeschaltet und nun lief ein Song von Rammstein. Ich atmete noch einmal tief durch. Die Hände taten mir schon weh. Ich versuchte es zwei weitere Male. Und erst beim dritten Mal endlich blieb die Maschine an. Ich war erleichtert, doch auch besorgt, dass sie zwischendurch wieder aus gehen könnte, was die gesamte Prozedur unnötig in die Länge ziehen würde. Es war vielleicht das vierte Mal, dass ich überhaupt mit einer Motorsäge hantierte. Schnellen Schrittes ging ich auf den Korpus der Leiche zu und schnitt in den Bauch hinein. Wie befürchtet spritzte das Blut durch das ganze Zimmer. Innerhalb kürzester Zeit waren nicht nur Tim und ich von Blutspritzern rot gefärbt, sondern auch die Tapete, die Möbel, der Boden, ja der gesamte Raum war durch einen blutigen Sprühregen rötlich gesprenkelt. Magensaft und andere undefinierbare Körperflüssigkeiten mischten sich unter das Blut. Verdammt, dies würde eine sehr harte Arbeit werden, den Raum erneut zu säubern, sofern dies überhaupt möglich war. Aber dies war ein Problem, welches ich erst nach der aktuellen Arbeit lösen würde. Ich musste mich auf meine Arbeit konzentrieren. Ich gab etwas stärker Druck nach unten, bewegte die Motorsägenschiene nach schräg vorne, vor und zurück. Der feine Nebel aus Blut hörte gar nicht mehr auf. Schließlich hatte ich die Wirbelsäule durchtrennt, zumindest schätzte ich die Situation so ein. Aber die letzten Fetzen des Rückens mussten noch durchtrennt werden und es war überaus wichtig, dass ich nicht zu tief sägte, da ich nicht wollte, dass das Rotorblatt sich im Boden abschliff oder plötzlich feststeckte. Schließlich ging es weiter im Programm und der Brustkorb war dran. Danach war es nur noch Routinearbeit, die letzten drei Körperteile zu durchtrennen. Ich schaltete die Motorsäge aus und Tim daraufhin auch den Fernseher. Die plötzlich auftretende Ruhe wirkte wie betäubend auf unsere Ohren. In der Luft lag der Gestank von Blut, Kot, Urin, Magensaft und verbranntem Benzin. Ich hätte gerne das Fenster geöffnet, doch befürchtete ich, dass der extreme Gestank von vorbeilaufenden Passanten bemerkt werden würde, im ungünstigsten Fall von Nachbarn. Auf dem Boden hatte sich eine widerliche riesige Lache gebildet. Ich konnte nun zerteilte Gedärme sehen. Es war sehr grotesk.
Ich schaute zu Tim und nickte ihm in gegenseitiger Übereinstimmung zu. Ich gab ihm die Motorsäge und er ging damit zum Waschbecken um sie zu reinigen. Bei Blut musste man schnell handeln. Ich transportierte nach und nach die sechs Stücke des Körpers ins Badezimmer und legte sie in die Badewanne, wo ich sie abbrauste. Dies tat ich so lange, bis das Wasser nicht mehr rot oder in irgendeiner anderen Farbe in den Abfluss floss. Dann seifte ich die Teile komplett mit einer ganzen Packung stark riechendem Duschgels ein und brauste dieses ebenfalls ab. Sauberer würden die Stücke nicht mehr werden.
„Wir lassen die Teile kurz trocknen, bevor wir sie ebenfalls in Handtücher und Plastiktüten stecken.“, besprach ich mit Tim das weitere Vorgehen. „Nun müssen wir versuchen, das Zimmer wieder sauber zu bekommen. Zum Glück ist die Tapete in deinem Zimmer abwaschbar. Eventuell kriegen wir alles wieder sauber, aber wir dürfen nichts eintrocknen lassen.“
Tim nickte stumm und machte sich daran, den Eimer mit Putzmittel zu füllen. Es dauerte mehrere Stunden, bis das Zimmer wieder sauber war und kein augenscheinlicher Hinweis auf eine Leiche mehr zu sehen war. Vom vielen Putzen taten uns die Hände schon weh. Als Nächstes verstauten wir die Teile, wie auch die vorherigen Körperteile, in besagten Plastiktüten. Die restlichen schmutzigen Handtücher und unsere Schutzkleidung und ähnliche Verbrauchsprodukte kamen in einen weiteren Sack. Wir duschten uns schnell, aber gründlich, dann war es Zeit für eine kurze Lagebesprechung.
„Also, die Tüte mit den Handtüchern mitgerechnet, gilt es nun, siebzehn Tüten loszuwerden.“ Die Hände und Füße hatten wir im Endeffekt in eine einzige Tüte gesteckt. „Wir haben zu Hause mehrere Stoffbeutel, also diese sogenannten Jutetaschen. Die sind stabiler. Damit können wir die Päckchen transportieren. Wenn wir rechnen, dass wir, da die Teile schwer und groß und auffällig sind, jeder zwei tragen kann, beziehungsweise einmal auch drei, dann müssen wir insgesamt viermal gehen. Also zu dem Punkt, wo wir die Teile loswerden. Die Frage ist allerdings immer noch, wo dies sein wird. Dieser Punkt ist leider immer noch offen.“
„Wir überlegen uns was.“ Tim sah aus dem Fenster hinaus. „Es wird schon dunkel. Ich bin müde. Lass uns zu dir gehen.“
„Alles klar.“ Ich seufzte. „Ich will auch einfach nur noch ins Bett. Beziehungsweise davor noch eine Kleinigkeit essen.“
Bevor wir gingen versprühte Tim wieder dieses extrem geruchsintensive Deo. Ob das die bessere Alternative war, sei mal dahin gestellt.
Eine halbe Stunde später waren wir wieder bei mir zu Hause. Benedikt war leider ebenfalls zu Hause. Doch er beachtete uns gar nicht weiter, sondern sah sich irgendeine blödsinnige Sendung im Vorabendprogramm im Fernsehen an. Ich schlich in den Keller und stellte die Motorsäge wieder an ihren angestammten Platz. Tim war inzwischen in mein Zimmer gegangen und verhielt sich ruhig. Als ich die Kellertreppe hinauf stieg, begegnete ich meiner Mutter.
„Was hast du denn da unten im Keller gemacht?“, fragte sie erstaunt, da ich mit leeren Händen hoch kam. Verdammt, ich hätte mir eine Saftflasche mit hochnehmen sollen oder so.
„Ich, äh... Ich wollte nur gucken, ob Papa da ist.“
„Der ist nochmal kurz zu Thomas. Was wolltest du denn von ihm? Vielleicht kann ich dir ja auch helfen...“
„Ist egal.“, stammelte ich. „Ist nicht so wichtig. Ich frag ihn selbst mal bei Gelegenheit.“
„Na gut. Denkst du bitte daran, dass du dein Zimmer wieder aufräumst? Heute Mittag sah es mal wieder aus wie der letzte Saustall.“
„Jaja, mach ich.“, erwiderte ich genervt und erschrocken zugleich. „Du sollst doch nicht in mein Zimmer gehen! Ich räum das schon noch auf, keine Sorge.“
„Ich wollte ja nur mal schauen, aber wie du willst. Ist schließlich dein Zimmer. Ich räume das garantiert nicht auf. Die Zeiten sind schon lange passé. Du musst schließlich da drin leben, nicht ich. Kommst du zum Abendbrot essen?“
„Ähm, ja, ok.“
Das Abendessen zog sich und nervte mich. Ich aß jedoch mit großem Appetit, da es wieder ein sehr anstrengender Tag gewesen war. Als meine Mutter kurz auf Toilette gegangen war, nahm ich schnell ein paar Brote und Belag und legte diese in meinen Rucksack. Nach Beendigung des Abendessens nahm ich wortlos den Ranzen und ging in mein Zimmer. Armer Tim. Er hatte garantiert mindestens genauso Hunger gehabt, wie ich.
„Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.“, sprach ich zärtlich.
„Macht nichts.“, entgegnete dieser und aß, was ich ihm mitgebracht hatte komplett auf.
Schließlich zogen wir uns für die Nacht um und legten uns in mein Bett. Tim schmiegte sich wieder an mich, was ich als sehr schön empfand. Ich löschte das Licht.
Es war so angenehm, seinen schlanken Körper ganz dicht an dem Meinigen zu spüren. Ich drückte ihn mit sanftem Druck noch fester gegen mich. Zärtlich streichelte ich seinen Rücken, bis er schließlich seine Hände unter mein Shirt schob und seine Finger leicht über meine Wirbelsäule hinauf und hinab gleiten ließ. Dies brachte mir einen wohligen Schauer. Meine Finger wanderten zu Tims Kopf und massierten diesen durch die feinen dunklen Haare. Tim hob seinen Kopf etwas an, reckte ihn anschließend nach oben und nach einem kurzen Moment des Abwartens und Abwägens trafen sich unsere Lippen.
Endlich, nachdem die Erinnerung an unseren letzten Kuss durch die darauf erfolgenden Ereignisse getrübt worden war, hatten wir Gelegenheit und den Mut uns neu zu erkunden. Vermutlich hatte eine diffuse unbewusste Angst dafür gesorgt, dass in den letzten Nächten außer Kuscheln nichts geschehen war. Doch nun war es an der Zeit, sich der Angst zu stellen und sie durch positive Erfahrungen, durch Zuneigung und Zärtlichkeit auszulöschen.
Tims Lippen waren so unglaublich zart, ich könnte sie für immer spüren. Doch schließlich öffneten sich unsere Münder und die Zungen fanden zueinander. Sanft umspielte er mit seiner Zunge die Meinige und im gleichen Maße spürte ich, wie mein Glied so hart wurde, dass es schon fast schmerzte. Ich drückte Tim noch näher an mich heran und ich fühlte mit meinem Penis, dass auch Tims Glied steif geworden war. Mein Herz schlug schnell und hart. Ich war so aufgeregt, da ich nicht wusste, was nun geschehen würde. Ich hoffte so Vieles, doch es machte mir auch gleichzeitig Angst. Ich hatte noch nie mit einem anderen Jungen geschlafen und ich war sehr gespannt, wie es sein würde. Ich war mir nun, da ich Tims Lebensumstände in groben Zügen kannte, ziemlich sicher, dass es auch Tims erstes Mal sein würde.
Langsam zog ich das Shirt von seinem Körper und küsste ihn am Hals. Meine Zunge wanderte daran entlang und weiter hinunter. Ich umkreiste mit der Zungenspitze die Knospen seiner Brustwarzen und schließlich saugte ich instinktiv kurz an dem Nippel, was Tim zu einem kaum hörbaren Seufzen verführte. Eine Spur von Küssen säumte den Weg bis hin zu seinem Bauchnabel und schließlich striff ich mit den Lippen über den Anfangsbereich des zarten Flaums, welcher seine Schambehaarung darstellte. Insgesamt fiel mir auf, dass Tims Körper nur sehr wenig und feine Behaarung hatte. Ich selbst dagegen war leicht mehr behaart, was jedoch nicht auffiel, da die Härchen kaum sichtbar waren aufgrund ihrer blonden Farbe.
Leicht hob sich Tims Becken und ich zog mit beiden Händen an den Seiten seine Unterhose ganz bis nach unten und sie aus. Dies geschah in einer einzigen fließenden Bewegung, wie eine Welle, die über den Strand und zurück ins Meer fließt. Wir gehörten wohl einfach zusammen. Endlich reckte sich Tims Penis vor meinem Gesicht in die Höhe. Es war ein hübscher schlanker Schwanz. Nicht zu dünn, aber auch nicht zu dick. Ich schätzte ihn auf vierzehn Zentimeter, was perfekt zu dem, im Vergleich mit mir, kleineren Körper Tims passte. Ich leckte ihn langsam über den gesamten Schaft bis hin zur Eichel und umschloss ihn schließlich komplett mit meinem Mund, während meine Zunge den Glans umspielte. Tims Unterkörper reckte sich lustvoll in die Höhe, sodass er seinen Schwanz noch tiefer in meinen Mund hinein schob, während sich ihm ein erregtes Stöhnen entwand. Zuvor hatte ich noch niemals einen Penis geschmeckt und ich war erleichtert, dass Tims Schwanz genauso lecker schmeckte, wie der Rest seines Körpers, als ich ihn abgeleckt hatte. Plötzlich schmeckte ich einen salzigen Geschmack auf der Zunge. Zuerst befürchtete ich, dass er bereits gekommen sei, doch dann wurde mir bewusst, dass dies nur der sogenannte Lusttropfen sein konnte. Wage erinnerte ich mich an die entsprechenden Seiten aus meinem Biologiebuch. Wie man eine so aufregende Sache wie Sex manchmal nur so sachlich beschreiben konnte, war mir ein Rätsel. Ich schluckte den Lusttropfen herunter und ich dachte mir, dass es ein gutes Zeichen war, wenn Tim durch mich so feucht geworden war. Das konnte nur bedeuten, dass ihm gefiel, was ich da unten bei ihm machte. Wie zur Bestätigung entwand sich ihm ein erneutes leichtes Stöhnen, als ich damit fortfuhr, sein Geschlechtsteil oral zu verwöhnen.
Nach einiger Zeit leckte ich wieder über seinen Körper, diesmal in umgekehrte Reihenfolge von unten nach oben, bis ich schließlich erneut seine Lippen fand und mich mit seiner Zunge traf.
„Ich möchte das auch bei dir tun.“, flüsterte er und ich sah, wie seine dunklen Augen leuchteten, als würden sie vor Vergnügen Lachen.
„Sehr gerne.“, gab ich lächelnd zur Antwort und zog nun endlich ebenfalls meine Unterhose und mein T - Shirt aus.
Mein Penis war größer als der von Tim. Er war auch leicht etwas dicker, doch immer noch wohlgeformt. Ein klein wenig war er nach hinten gekrümmt, so wie eine Banane. Ich konnte eigentlich ganz zufrieden damit sein. Und auf das Gefühl, das nun kam, als Tim seine Lippen um mein Glied schloss, langsam seinen Kopf auf und ab bewegte und gleichzeitig mit seinen Händen über die Schamhaare, welche sich zwischen Schaftbeginn und Bauchnabel befanden, rieb, war ich in keinster Weise vorbereitet. Es war als ob ich im Himmel wäre, und gleichzeitig nicht sicher sein konnte, dass ich vor Lust sterben würde. Als er schließlich mit seiner zweiten Hand meinen Hodensack sanft umfasste und leicht meine Hoden massierte, musste ich ihn unterbrechen, sonst hätte ich ihm bereits zu diesem Zeitpunkt mein Sperma in den Mund gespritzt.
Irritiert sah der Junge zu mir hinauf. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“, fragte er unsicher und sah mich mit einem Blick an, der ihn weitaus jünger erscheinen ließ als seine siebzehn Lenze, die er zählte.
„Nein, du hast alles richtig gemacht.“, beruhigte ich ihn grinsend. „Du machst deine Sache gut. Sehr gut sogar. Vielleicht zu gut, deshalb musste ich an dieser Stelle kurz unterbrechen, ansonsten hätte ich den Inhalt meine Sackes komplett in deinem Mund entleert.“
„Das wäre nicht schlimm gewesen.“, entgegnete er ehrlich. „Weil es von dir gewesen wäre.“
„Du bist so süß.“ Grinsend gab ich ihm einen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen.
„Chris...“, stöhnte er leise und zog mich an sich heran. „Ich möchte dich in mir spüren. Ich möchte, dass wir unsere Körper vereinen.“
Das wollte ich mir nicht zweimal sagen lassen und mein zum Bersten gefüllter Schwanz wurde scheinbar noch härter, sofern dies überhaupt möglich war. Leider besaß ich kein Gleitgel und ich hatte auch keine Kondome. Doch da es für uns Beide das erste Mal war, dürfte keiner von uns beiden eine sexuell übertragbare Krankheit in sich tragen und so befeuchtete ich lediglich zuerst meinen eigenen Penis und anschließend Tims Anus mit so viel Speichel, wie mein vor Aufregung langsam trocken werdender Mund hergab.
„Ich glaube, auf der Seite liegend und von hinten geht es am Einfachsten habe ich mal gehört.“
„Nein, ich möchte dich dabei ansehen.“, sprach Tim und legte sich mit gespreizten Beinen auf den Rücken vor mich. „Auch wenn es vielleicht so am Anfang mehr weh tut, will ich das gerne in Kauf nehmen. Ich möchte dich dabei ansehen, wie du in mich eindringst. Ich möchte dabei in deine Augen sehen. Außerdem weiß ich, dass du vorsichtig sein wirst. Ich vertraue dir.“
„Bist du wirklich ganz sicher, dass du das jetzt möchtest?“, fragte ich ihn noch einmal.
„Ja.“ Tim lächelte und sah mich dabei liebevoll an. „Ich bin mir ganz sicher.“
Vor Erregung fast am Zittern kniete ich mich vor ihn hin, ertastete mit dem Finger Tims Öffnung, bewegte mit der anderen Hand mein Glied dorthin und schob es ganz langsam vorwärts.
„Geht es so?“
Tim schrie kurz und stimmlos auf, doch er bekräftigte mich: „Ja, mach weiter.“
Stück für Stück schob ich mein Glied tiefer in ihn hinein, während er seine Hüfte mir entgegen reckte und leicht kreisen ließ. Plötzlich fühlte es sich an, als sei ich über einen Widerstand hinüber und ich glitt komplett bis zum Anschlag mit meinem Schaft in sein enges Loch hinein. Überrascht stöhnte er auf und lächelte schließlich zufrieden.
„Nun sind wir eins.“, sprach er.
Wir bewegten uns hin und her in einer Symbiose der Leidenschaft. Schließlich bewegte ich meine Hüfte vor und zurück, sodass ich ihn ihm wahrsten Sinne des Wortes fickte. Denn ausgerechnet in diesem Moment kamen mir die unnötigsten Dinge ins Gedächtnis, nämlich dass ficken ein altdeutsches Wort ist, was reiben bedeutet. Und wir taten nichts Anderes, ich rieb mich in ihm und an ihm und es wurde uns beiden immer heißer und heißer. Instinktiv zog ich nach einer Weile Tims Körper nach oben, sodass er quasi auf meinen Schenkeln saß. Unsere Hüften kreißten nun aneinander und gleichzeitig vor und zurück. Es war das alte Spiel, welches nicht nur die Menschen seit Jahrtausenden spielten. Ich fühlte mich mit Tim verbunden, als wären wir zwei Hälften eines einzigen Wesens. Jede Bewegung ergab perfekt die andere Bewegung und so ging es weiter. Es war ein regelrechtes Naturschauspiel, als wären unsere Körper genau füreinander geschaffen, so perfekt passten wir ineinander. Ich küsste Tim leidenschaftlich und steckte ihm meine Zunge in den Hals, sodass ich gleichzeitig in zwei seiner Öffnungen war, oben und unten. So ergab es einen regelrechten Kreislauf, während unsere Energie immer schneller pulsierte. Mein Schwanz wurde immer heißer, wie wurden immer schneller, keuchten gegenseitig in unsere Münder, atmeten den heißen Atem des Anderen ein, schmeckten den salzigen Geschmack auf unserer Haut.
Und schließlich wusste ich, dass es nicht mehr aufzuhalten war. Tim verkrampfte sich mit seinen Händen in meinem Nacken und zog mich an sich. Ich hätte niemals geglaubt, dass er so fest zudrücken konnte, dass es schon schmerzte. Doch auch ich hielt ihn ganz fest und verkrampfte mich in unserer Umarmung bis schließlich, nach einer Zeit, in der ich glaubte, es nicht auch nur noch eine Sekunde länger aushalten zu können, der erlösende Moment kam und ich den Liebessaft in einer Woge der Ekstase herausspritzte und in Tims Öffnung entleerte. Dieser Orgasmus befriedigte mich so vollkommen, wie es Onanie bislang nicht vermocht hatte. Ich war von Gefühlen, sowohl sexueller, als auch anderer Natur, überwältigt und lag kaputt und glücklich auf dem Rücken in meinem Bett.
Tim stieg von mir herunter und etwas Sperma tropfte aus seinem Anus auf meinen Bauch. Auch sein Glied war hart und zum Zerreißen gespannt. Schließlich versenkte er ohne lange Vorreden sein Glied in meinem Mund, ich schloss diesen und Tim fickte mich quasi durch meine Lippen in den Mund. Vermutlich hatte ihn die anale Penetration schon so geil gemacht, dass nur noch der entscheidende Funke gefehlt hatte. Auf jeden Fall dauerte es keine zehn Sekunden, bis ich etwas warmes Flüssiges und Salzhaltiges schmeckte, was von meiner Mundhöhle abprallte und sich schließlich auf meiner Zunge verteilte. Tim zog seinen Schwanz wieder aus meinem Mund heraus und ich schluckte seinen Extrakt herunter.
Uns beiden war immer noch so heiß, wie im Hochsommer, doch Tim schmiegte sich erneut an meinen Körper und wir fühlten gegenseitig unsere Herzschläge in unseren Brüsten hämmern. Wir küssten uns erneut, gierig, mit Zunge, so, als wollten wir den anderen in uns aufnehmen und leer trinken.
„Ich bin so froh, dass ich dich kennen gelernt habe.“, flüsterte Tim, zog die Decke trotz der Hitze über uns und schlief augenblicklich ein. Kurz darauf tat ich es ihm gleich.
Zufrieden und vollkommen fertig.
Das Herz des Jungen (5): Die Stunde der Wahrheit
Am nächsten Tag erwachte ich vollkommen zufrieden, doch ich hatte das dringende Bedürfnis, mich zu duschen, bevor ich aus dem Haus ging. Ich hatte die verrückte Befürchtung, man könnte den Sex an mir riechen. Doch auch das wäre mir egal gewesen. Ich wäre stolz gewesen, endlich mein erstes Mal gehabt zu haben, und das mit so einem wunderbaren Menschen.
Zärtlich weckte ich den friedlich daliegenden Tim, indem ich ihm sanft am Hals knabberte. Lächelnd grummelte er etwas, streckte sich und öffnete die Augen. Einzelne Strahlen des rötlichen Morgenlichtes fielen ihm ins Gesicht und er blinzelte verschlafen.
„Warte hier, ich schaue mal, ob die Luft rein ist.“, flüsterte ich ihm zu. Ich ging zum Badezimmer, welches sich im gleichen Stockwerk befand. Glücklicherweise befanden sich drei Badezimmer im Haus. Gewöhnlicherweise wurde das im Erdgeschoss von meinen Eltern benutzt, dieses hier von mir und Benedikt, das dritte von Carla und Andreas. Zum Glück war Benedikt bereits wieder auf dem Weg zu seiner Arbeit. Er arbeitete als Zerspanungsmechaniker. Ich glaube, das wäre nichts für mich. Ich konnte mir noch nicht mal genau vorstellen, was das sein sollte. Allerdings interessierte ich mich weder genug für meinen älteren Bruder, noch dessen Arbeit, dass ich es mir gemerkt hätte, als er es mal erklärte.
Ich kehrte ins Zimmer zurück und bedeutete Tim stumm, mir zu folgen. Wir duschten gemeinsam. Es würde auffallen, wenn zweimal geduscht werden würde, obwohl nur noch ich im Hause war. Das Wasser hörte man auch im unteren Stock rauschen.
Der Rest des Vormittags gestaltete sich relativ gewöhnlich. Wir aßen unsere Brote wieder unterwegs, dann hatten wir sechs Stunden Unterricht. Es war Freitag, da hatten wir Gott sei Dank niemals acht. Unsere Mitschüler waren sehr verwundert, dass ich und Tim inzwischen so vertraut miteinander waren und es wurde schon einiges getuschelt. Das war mir egal. Ich war jetzt in der 12. Klasse. In diesem Jahre, dem Jahre 2005, wurde in Nordrhein – Westfalen G8 eingeführt. Ich war glücklicherweise noch in der G9, also musste ich 13 Jahre absolvieren. Noch circa eineinhalb Jahre, dann würde ich diese ganzen Hackfressen nicht mehr sehen müssen. Unsere Wege würden sich trennen, und das ganz alltägliche Geschehen, was einen der Mittelpunkte unseres Lebens ausmachte, existierte nicht mehr. Ich würde mit den Wenigsten noch Kontakt haben, wenn überhaupt. Nur Tim wollte ich niemals verlieren. Er war mir bereits jetzt schon so vertraut, auch wenn er noch viele Geheimnisse in sich trug. Trotz der relativ kurzen Zeit, die wir uns kannten, hatte ich bereits sehr starke Gefühle für ihn. So hatte ich noch niemals für einen anderen Menschen empfunden. Ich glaubte aber auch, dass die Ereignisse uns zusätzlich zusammen schweißten.
Nach der Schule saßen wir am Ufer des Rheins und genossen die warmen Strahlen der Sonne dieses Spätsommers. Alles schien so friedlich. Auf der anderen Seite des Flusses befand sich eine grüne Wiese, auf der Schafe weideten. Ich liebte es, diese niedlichen Tiere dabei zu beobachten. Seufzend legte ich mich auf den Rücken.
„Und wie geht es nun weiter?“, fragte ich Tim. „Wir haben keine Schweine zum Verfüttern, wir haben keine Baustelle, wo wir es in den Beton stecken können, wir haben keine Wanne mit Säure, die alles auflöst, wir haben nichts, außer keinen Plan.“
„Ich bin auch noch zu keiner Lösung gekommen“, gab Tim nachdenklich zu. „Wenn wir alles im Wald verscharren, werden es Hunde oder Wildschweine irgendwann ausgraben. Und einfach in den Müll werfen, wäre auch nicht ideal. Das fällt irgendwann auf der Müllkippe auf.“
„Ja, außer wenn der Müll verbrannt wird...“ Ich dachte weiter nach. „Verbrennen wäre gar keine so schlechte Idee, doch wir können nicht einfach irgendwo ein großes Feuer machen. Das fällt auf. Aber wenn wir es in einen Müllcontainer schmuggeln würden, wo der komplette Müll sowieso verbrannt werden würde?“
Tim überlegte, das sah ich an seinem Gesicht. Für Außenstehende schien es so verträumt und abwesend wie immer, aber ich konnte ihn inzwischen so gut einschätzen, dass ich wusste, dass es hinter seiner Stirn in den grauen Zellen gewaltig arbeitete. „Welcher Müll wird verbrannt? Müll, der potenziell eine Gefahr für Menschen darstellt. Also kontaminiertes Material, was Seuchen oder sonstige Krankheiten auslösen würde. Also, Abfall, der im Krankenhaus anfällt beispielsweise.“
„Gut, dann haben wir jetzt also die Lösung. Wir stecken den Müll in einen Abfallcontainer irgendeiner Klinik. Hier in Düsseldorf gibt es schließlich genug Kliniken.“
„Und wenn jemand den Müll durchsucht, bevor er verbrannt wird?“, wandte Tim sorgenvoll ein.
„Das Risiko müssen wir eingehen. Wir wissen nicht, wie die genauen Abläufe sind, aber wenn wir die Leichenteile in deiner Wohnung zurücklassen, dann werden sie garantiert gefunden und du bist auch gleich der erste Verdächtige als alleiniger Angehöriger. Wenn wir den Plan jetzt so durchführen, dass wir alles in irgendeinen Krankenhauscontainer stecken, haben wir zumindest die Chance, dass alles verbrannt wird, bevor jemand etwas bemerkt. Und selbst wenn es rauskommen sollte, wird es schwieriger für die Polizei werden, die Leichenteile der Person deines Vaters zuzuordnen. Und dann kannst du immer noch sagen, dass er einfach nicht mehr aufgetaucht ist und du einfach so weitergemacht hast wie immer, weil du dachtest, er taucht nochmal auf. Wenn man die Teile in deiner Wohnung findet, wirst du das nicht mehr sagen können.“
„Na gut, machen wir es so. Wir haben nicht viele andere Alternativen.“
„Zumindest fällt mir nichts mehr ein.“ Ich sah noch einmal zu den friedlich grasenden Schafen hinüber. „Als Erstes sollten wir verschiedene Kliniken abklappern, bis wir eine finden, wo die Container frei zugänglich sind und keine Videokameras in der Nähe.“
Den ganzen Nachmittag durchstreiften wir Düsseldorf auf der Suche nach einer geeigneten Klinik. Bei der vierten schien es, als hätten wir die Perfekte gefunden. Nun verloren wir keine Zeit mehr. Wir gingen zu Tims Wohnung zurück und jeder schnappte sich zwei Jutebeutel, in denen sich in Plastiktüten verpackte und Handtücher eingewickelte Körperteile von Tims Vater befanden. Auf dem gesamten Weg schlug uns das Herz bis zum Halse. Ich hatte unentwegt das Gefühl, dass sich alle Augen auf uns richteten und beobachteten. Schließlich kamen wir am Container der Klinik an. Wir warteten einen Augenblick ab, bis niemand in der Nähe war, dann wickelten wir die Taschen jeweils in eine zusätzliche blaue Tüte, denn Jutebeutel im Abfallcontainer einer Klinik würden auffallen. Der erste von sechs nebeneinander stehenden Containern war leider schon bereits randvoll. Beim zweiten Container hatten wir mehr Glück, es war noch genügend Platz. Es roch sehr stark nach Exkrementen und anderem Undefinierbaren, was ich gar nicht so genau wissen wollte. Fliegen flogen uns ins Gesicht. Schnell warfen wir die vier Beutel hinein und schlossen den Container.
„So, dies war der erste Streich.“, zitierte ich Wilhelm Busch und atmete einmal tief durch. „Folgen noch drei...“
Wir hofften inständig, dass wir niemandem auffallen würden, da wir mehrmals in den Hinterhof der Klinik gingen. Aber auch die weiteren Wege verliefen ohne offensichtliche Probleme. Niemand sprach uns an. Und so entsorgten wir schließlich auch den Rest der Leiche.
Es war bereits früher Abend, als wir unsere Arbeit erledigt hatten. Wir kehrten ein letztes Mal zu Tims Wohnung zurück. In der Zwischenzeit hatte mich meine Mutter auf dem Handy angerufen und gefragt, wo ich bleiben würde. Ich sagte, ich sei noch bei einem Freund und dass ich abends nach Hause zurück kehren würde, womit sie sich zufrieden gab.
Schließlich standen wir in Tims Wohnung und untersuchten alle Zimmer nach verräterischen Anzeichen, dass hier etwas geschehen sein konnte. Wir fanden im Endeffekt nichts mehr. Natürlich würden Spezialeinheiten der Polizei die Blutspuren ohne Probleme finden und nachweisen können, doch nur wer suchet, der findet. Und wir hofften, dass niemals jemand suchen würde. Tim würde in wenigen Monaten achtzehn werden. Er hatte Anfang November Geburtstag. Dann würde er mit meiner Hilfe eine Wohnung suchen. Zumindest sollte so der Plan sein.
Kurz darauf schloss Tim die Haustüre ab und hoffte, sie niemals wieder öffnen zu müssen.
Später waren wir bei mir zu Hause. Wir saßen am Abendtisch und aßen gemeinsam. Meiner Mutter hatte ich Tim als einen Freund aus der Schule vorgestellt, was er im Endeffekt ja auch war.
„Also wart ihr beide heute Nachmittag unterwegs?“, wollte meine Mutter wissen.
„Genau.“ Ich aß mein Brot weiter und trank von meinem Orangensaft.
„Und was habt ihr so gemacht?“
„Einfach durch die Stadt gelaufen und so.“
„Habt ihr wenigstens was gegessen?“, bohrte meine Mutter weiter nach. „Es ist nicht gut, wenn man mit leerem Magen durch die Gegend läuft.“
„Ja, wir waren beim Inder etwas essen.“, improvisierte ich.
„Naja, satt geworden scheint ihr nicht zu sein, so wie ihr beide das Essen reinstopft.“
Ich stockte kurz. Dann entgegnete ich genervt: „Wir sind ja schließlich noch im Wachstum.“
„Höchstens in die Breite. Glaube kaum, dass du noch wächst, Christopher.“
„Geistiges Wachstum, Mama.“
„Na gut.“, entgegnete sie und räumte ihren leeren Teller und das Geschirr in die Geschirrspülmaschine. „Und was habt ihr noch so vor heute?“
„Hm, vielleicht ein wenig in die Disco oder eine Kneipe?“
„Haben da deine Eltern nichts dagegen, Tim?“, wand sie sich an meinen Freund und musterte ihn genau mit ihren Blicken.
„Nein, die haben nichts dagegen.“, antwortete dieser etwas eingeschüchtert.
„Kann er das Wochenende über bei mir bleiben?“, fragte ich einem plötzlichen Einfall folgend.
„Hm, klar.“, entgegnete meine Mutter spontan. „Mir egal, ihr seid beide alt genug, könnt ihr von mir aus machen. Aber nur unter der Bedingung, dass du morgen daran denkst, Staub zu saugen, den Müll runter zu bringen und dein Zimmer aufzuräumen und es nicht wieder vergisst.“
„Kein Problem.“, entgegne ich schnell und wir essen weiter.
„Ich will auch in die Disco!“, rief Carla bestimmend.
„Dafür bist du noch viel zu klein!“, mischte sich Andreas ein.
„Aber du!“, rief Carla wütend.
„Ruhe jetzt, ihr beiden Zankhühner.“, bestimmte meine Mutter in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Wenn ihr in Christophers Alter seid, könnt ihr machen, was ihr wollt. Also fast alles. Achtzehn ist er ja auch noch noch nicht. Dann ist mir sowieso alles egal und ihr seid für euch selbst verantwortlich.“
Ich hatte keine Lust mehr, die Diskussion weiter zu verfolgen, stand auf und räumte das Geschirr in die Maschine ein. Tim tat es mir gleich. „Dann bis nachher.“, verabschiedete ich mich und ging schnell raus.
Draußen vor der Tür meinte Tim zu mir: „Wir gehen in die Disco?“
„Klar, ich möchte so richtig mit dir feiern, dass alles vorbei ist. Zumindest hoffe ich das.“
„Ich war noch nie in einer Disco.“
„Macht nichts, ich weiß ein paar Gute, wo man auch schon unter achtzehn reinkommen kann. Und dann trinken wir ein bisschen was zur Feier des Tages.“
„Ich weiß nicht...“, entgegnete Tim nachdenklich. „Ich habe noch nie Alkohol getrunken. Ich habe gesehen, was Alkohol aus Menschen machen kann, was er aus meinem Vater gemacht hat. Ich weiß nicht, ob ich das möchte.“
Ich stellte mich vor Tim hin und sah ihm tief in die Augen: „Tim, hör mir zu. Du wirst niemals wie dein Vater werden, ganz egal, wie viel du trinkst. Du bist ein wunderbarer Mensch. Der Alkohol hat nur zu dem beigetragen, was dein Vater schon sowieso war und tief in sich trug und so leichter an die Oberfläche kam. Er war ein Arschloch. Du brauchst keine Angst haben, dass dir so etwas passiert.“
„Und wenn ich durch die Gene eine höhere Gefahr für Alkoholabhängigkeit besitze?“
„Ich pass schon auf dich auf.“, grinste ich.
„Ich weiß, dass Alkohol eine bestimmte Zeit helfen kann, etwas zu vergessen. Und ich habe sehr viel, was ich sehr gerne vergessen und verdrängen würde. Ich weiß, wie ich bin. Vielleicht kann ich dann nicht mehr aufhören.“
„Tim, du hast nun mich. Ich werde immer bei dir sein, sofern du das wünschst, was ich sehr stark hoffe. Du wirst das Trinken nicht brauchen. Aber wenn du wirklich so viel Angst hast, dann können wir von mir aus etwas Anderes machen.“
„Nein, schon gut. Lass uns heute einfach Spaß haben und feiern.“, bekräftigte Tim mit einem Nicken. „Ich lass mir durch meine Vergangenheit nicht meine Gegenwart und Zukunft kaputt machen.
Wenige Stunden später waren wir in einer Disco bereits mitten am Feiern. Das Licht des Stroboskops flackerte zum elektronischen Beat der Musik. Viele Leute standen nur am Rand rum, aber es gab inzwischen auch genug, die tanzten. Ich selbst tanzte eigentlich ganz gerne und bewegte mich zum Beat. Tim traute sich erst nicht richtig. Auch nach mehrmaligem Auffordern kam er nicht so richtig in Fahrt. Er kam dann zwar mit auf die Tanzfläche, bewegte sich aber nur minimal. Wir tranken an diesem Abend relativ viel. Ein Bier nach dem anderen. Und mit jedem Getränk wurde Tim lockerer. Man konnte regelrecht dabei zusehen, wie seine Anspannung und Unsicherheit von ihm abfielen. Und endlich wurde er lockerer. Er bewegte sich immer mehr und dann war er schließlich nicht mehr von der Tanzfläche herunter zu bekommen, außer für die häufigem Toilettengänge, denn das viele Bier musste irgendwann auch wieder raus aus dem Körper.
Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Und Tim vielleicht noch nie. Er genoss es sichtlich, wie die Beats auf seinen Körper einhämmerten und jeder neue Ton ihn zu einer weiteren Bewegung animierte. Ich tanzte vor ihm und unsere Körper kamen sich immer näher. Wir tanzten gemeinsam und schließlich zog ich ihn an mich heran und küsste ihn in aller Öffentlichkeit. Ich genoss dieses Gefühl. Ich glaubte, viele starrten uns an. Doch dieses Mal war es mir nicht unangenehm. Ich genoss es regelrecht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Alle sollten sehen, dass wir zusammen gehören. Wir bewegten uns zusammen. Und auch Tim war es nicht mehr unangenehm, sich in einer Discothek zu befinden.
Es war schon spät in der Nacht, als wir nach Hause gingen. Eigentlich hätten wir nach dem Jugendschutzgesetz längst draußen sein müssen, aber nachträglich hat niemand mehr kontrolliert. Unterwegs waren wir die ganze Zeit am Erzählen und lachen. Tim hatte sich nicht vorstellen können, dass man mit Alkohol so viel Spaß haben konnte. Ich selbst war positiv überrascht, dass er das alles so gut vertragen konnte und sich nicht übergab oder Ähnliches. Tim steckte eben voller Überraschungen.
Zu Hause versuchten wir, leise zu sein und schlichen uns in mein Zimmer. Dort hatten wir dann betrunkenen Sex. Dieser war nochmal komplett anders. Ich befürchtete, teilweise zu hart gewesen zu sein, doch Tim beschwerte sich nicht und es wurde ein tolles Erlebnis für uns beide. Nachdem wir beide gekommen waren, schliefen wir wie wir waren ineinander verschlungen und nackt auf dem Bett ein.
Es hämmerte laut in meinem Schädel. Was war das? Ein Presslufthammer? Waren etwa irgendwelche Bauarbeiten im Gange, von denen ich nichts mitbekommen hatte? Diese Geräusche hämmerten so hart in meinem Kopf und schmerzten mich.
„Christopher! Hörst du nicht? Steh endlich auf, ich rufe schon die ganze Zeit! Es ist schon lange hell draußen!“
Wer nervte mich denn jetzt schon wieder? Konnte man nicht einmal in Ruhe ausschlafen? Es war doch schließlich keine Schule. Ich wollte mich nur noch einmal umdrehen und weiter träumen. Von dieser unglaublichen Nacht, die ich und Tim erlebt hatten. Wenn nur dieses Hämmern aufhören würde...
„Jetzt reichts mir aber! Ich hämmer schon die ganze Zeit an deine Tür! Ich komm jetzt rein und schmeiß dich aus den Federn!“
Was? Wer wollte wo rein kommen? Nein, Moment...
„Halt! Bleib draußen!“, versuche ich zu rufen, doch es ist bereits zu spät.
Ich öffne nur sehr schwer die Augen, das Sonnenlicht blendet mich und erschwert mir meine Sicht. In der Tür steht meine Mutter. Sie zieht erschrocken die Luft ein und starrt mich an.
„Christopher!“, ruft sie erschrocken.
Bestandsaufnahme. Ich schaue mich um. Ich bin nackt. Neben mir, mein Bein umschlungen, liegt Tim. Ebenfalls nackt. Die Decke liegt neben mir. Ich habe eine Erektion. Auf Tims Armen und Beinen ist eingetrocknetes Sperma zu erkennen. Auf meiner Brust ebenfalls. Meine Mutter starrt uns immer noch an.
„Christopher, zieh dir wenigstens etwas an.“ Dann wendet sie ihren Blick zur Seite.
Plötzlich bin ich hellwach und ziehe die Decke über uns beide. Tim grummelte und bewegte sich träge. „Was ist denn los?“, murmelte er. „Kann ich nicht noch etwas schlafen?“
„Christopher, in fünf, nein, in zwanzig Minuten unten. Angezogen und geduscht.“
Damit verließ sie das Zimmer und schlug die Tür zu. Oh Shit...
Genau achtzehn Minuten später standen wir, ich und Tim, sauber, wach und angezogen im Wohnzimmer vor unseren Eltern. Sie hatte meinen Vater ebenfalls dazu gerufen. Ich hatte keine Ahnung, was uns erwarten würde.
„Was fällt dir eigentlich ein?“, fing meine Mutter gleich wie eine Furie an. „Wir haben dir erlaubt, in die Disco zu gehen. Aber nicht bis in die frühen Morgenstunden! Und jetzt ist bereits Mittag. Wer feiern kann, soll auch früh aufstehen können.“
„Es ist doch Wochenende...“, warf ich ein.
„Jaja, vorlaut zu werden brauchst du auch nicht. Ich habe deinem Vater bereits gesagt, was ich gesehen habe. Und jetzt frage ich dich offen und ehrlich: Bist du schwul oder bisexuell?“
Dass ich hetero sein könnte stand wohl gar nicht mehr zur Debatte. „Nun ja, ich... Ich bin schwul.“
„Danke, dass wir das auch mal erfahren dürfen!“ Meine Mutter verzog das Gesicht. „Naja, ich hatte mir das sowieso schon länger gedacht und hab nur darauf gewartet, wann du endlich mal mit der Sprache rausrückst.“
„Du hast dir das schon gedacht, Tanja?“, sprach nun mein Vater ungläubig, nachdem er nur stumm mit unbewegter Miene daneben gestanden hatte.
„Ja, es hätte mich eher überrascht, wenn es nicht so gewesen wäre.“, bekräftigte sie. „Ich hab mich immer nur gefragt, wann er endlich mal mit der Sprache rausrücken würde. Aber dass ich es dann auf diese Art und Weise raus finden musste, war schon nicht ganz so schön. Dass er so verschlossen ist, was verschiedene Dinge angeht und lieber alles mit sich selbst ausmacht, anstatt mit mir darüber zu reden, hat der Junge wohl von seinem Vater.“ Bei diesen Worten verdrehte mein Vater genervt die Augen. „Ich bin ehrlich enttäuscht, dass du so wenig Vertrauen zu mir hast, Christopher. Ich bin deine Mutter. Ich sollte das als Allererstes erfahren.“
„Nun ja...“, warf nun mein Vater ein. „Eigentlich ist so etwas ja Privatsache. Wir Eltern müssen ja auch nicht alles so genau wissen.“
Meine Mutter drehte sich abruppt auf dem Absatz zu ihm herum. „Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken, Karl - Günther? Ich hab dich zur Unterstützung dazu geholt, nicht dass du meine Worte degradierst.“
„Tanja, ich meine ja nur...“
Ich und Tim sahen uns kurz verwundert an. Vielleicht würde es im Endeffekt doch glimpflicher ablaufen, als wir befürchtet hatten?
„Ihr zwei braucht hier gar keine Blicke zu tauschen.“, wandte sich Mutter wieder an uns. „Ich bin noch nicht mit euch fertig. Wenn es irgendwelche Geheimnisse gibt, die ich wissen sollte, dann sollte ich sie auch wissen, ist das klar? Ich habe ein Recht darauf alles zu erfahren.“
Ich glaubte, Tim und ich müssen sehr schuldbewusst ausgesehen haben. Anscheinend war in unseren Gesichtern so Vieles zu lesen. Verlegen sahen wir deshalb auf den Boden zu unseren Füßen und kamen uns sehr schlecht vor.
„Was ist denn da noch? Ich sehe doch ganz genau, dass ihr zwei was ausgefressen habt? Nun, schon raus mit der Sprache.“ Meine Mutter ließ nicht locker. „Na, was ist? Ich kann von mir aus den ganzen Tag hier stehen und warten, vorher lasse ich euch nicht hier weg. So schlimm kann es doch gar nicht sein.“ Sie wartete eine weitere Zeit. „Christopher, langsam reißt mir der Geduldsfaden. Hab doch endlich mal ein wenig Vertrauen zu deiner Mutter. Ich werde auf jeden Fall hinter dir stehen, was ihr auch gemacht habt. Vertrau mir doch mal.“
Ich war die ganze Zeit hin und her gerissen. Einerseits durften die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit nicht an das Licht der Öffentlichkeit kommen, auf der anderen Seite wollte ich auch endlich, dass alles vorbei war. Keine Geheimnisse mehr. „Sonst gibt es nichts mehr.“, sprach ich jedoch stattdessen.
„Hör endlich auf mich zu verarschen, ich bin nicht blöd, Christopher.“ Dann sah sie Tim an. „Oder soll ich mal deine Eltern anrufen, Tim. Mal sehen, was die dazu sagen.“
„Das geht nicht.“, flüsterte Tim kaum wahrnehmbar.
„Wie bitte?“
„Das geht nicht.“, wiederholte er ausdruckslos.
„Wieso? Was ist denn hier los? Wieso soll das nicht gehen?“
„Tims Eltern sind tot.“, sprach ich mit klopfendem Herzen.
„Oh, das tut mir Leid.“, antwortete meine Mutter zögerlich. „Darf ich fragen was passiert ist? Waren sie krank gewesen?“
„Mama ja..“, antwortete Tim traurig und seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Und dein Vater?“, sprach Mutter vorsichtig und kam einen Schritt näher.
„Sag es, Chris.“, schluchzte Tim unter Tränen. „Ich will, dass es vorbei ist.“
Plötzlich war es sehr still im Zimmer. „Bist du dir sicher?“
„Ja.“, war die einfache Antwort, kaum wahrnehmbar.
Ich atmete tief durch. Na gut, nun war es so weit. „Bitte lass mich jetzt ausreden Mutter.“ Ich versuchte so sachlich wie möglich zu bleiben. „Tims Mutter starb schon vor vielen Jahren. Er lebte seitdem alleine mit seinem Vater. Andere Verwandte besitzt er nicht. Sein Vater war ein arbeitsloser Alkoholiker und gewalttätig. Tagtäglich hat er Tim misshandelt und so stark geschlagen, dass sein Körper voller blauer Flecken ist. Die hast du bestimmt heute morgen auch bemerkt. Das war sein Vater. Und als ich letztens bei ihm war, hat sein Vater wieder auf ihn eingeschlagen und es war so stark, dass ich wusste, dass er ihn dieses Mal totschlagen würde. Ich wollte ihn retten, aber er war zu stark. Schließlich griff ich mir ein Messer. Im Versuch, Tim zu befreien, steckte das Messer irgendwann im Bauch von Tims Vater. Er fiel auf das Messer drauf, wodurch es tiefer eindrang und schließlich starb er daran. Es war Notwehr, Mutter. Ich wollte ihn nicht töten, ich wollte lediglich Tim retten.“
Nun war es raus. Ich hatte es gesagt. Es gab kein Zurück mehr.
„Jetzt muss ich mich erst einmal setzen.“, sprach sie und tat dies auf einen Sessel. Nach einiger Zeit murmelte sie. „Was tust du nur? Was tust du nur?“ Dann fragte sie tonlos: „Also liegt Tims toter Vater noch in dessen Wohnung?“
„Ähm, nein.“ Ich blickte zur Seite. „Den haben wir zerstückelt, verpackt und in einen Müllcontainer bei einer Klinik geworfen. Vermutlich und hoffentlich wurde der Müll bereits abgeholt und ist verbrannt.“
„Was?“ Mutter stand sofort wieder auf. „Ihr macht auch nur Mist! Ganz ehrlich, wer kommt denn auf so eine hirnrissige Idee? Mensch, Christopher, du bist fast achtzehn! Überleg dir das mal, du bist so gut wie erwachsen und machst so einen Schwachsinn. Was denkst du dir eigentlich dabei? Schaltest du denn auch mal dein Gehirn ein?“
„Ja, was hätte ich denn sonst machen sollen?“
„Vielleicht zur Polizei gehen? Es war schließlich Notwehr. Wie du ja selbst schon gesagt hattest.“
„Und wenn die uns nicht geglaubt hätten? Außerdem wollten wir nicht, dass Tim ins Heim oder zu einer Pflegefamilie kommt. Er hat schließlich keine sonstigen Verwandten mehr und ist noch nicht erwachsen.“
„Ach, das wäre schon nicht passiert. In seinem Alter gibt es betreutes Wohnen, nur mal als Beispiel.“
„...das ist uns später auch eingefallen.“
„Und selbst wenn! So schlimm ist das jetzt auch wieder nicht. Irgendwann wäre das doch sowieso aufgefallen. Wo hat er denn die ganze Zeit geschlafen? Zu Hause bei sich?“
„Nein, er schläft seit Tagen bei mir im Zimmer.“, antwortete ich verlegen.
„Na super...“
Stille. Unangenehme Stille. Mutter hatte sich inzwischen gesetzt und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. „Ich muss jetzt nachdenken, was wir am Besten machen. Wir können das nicht einfach so vertuschen. Und vielleicht taucht die Leiche ja auch wieder auf.“ Nach kurzer Zeit meinte sie: „Es hilft alles nichts. Wir müssen die Polizei anrufen und sie über alles informieren.“
„Was?“, rufe ich erschrocken aus und schaue Tim an, der kreidebleich wurde.
„Christopher, du hast in Notwehr gehandelt. Der Polizeimediziner wird Tims Misshandlung zu diesem Zeitpunkt bestätigen können aufgrund der Prellungen und Hämatome. Es wird euch zu Gute kommen, dass ihr minderjährig seid. Die einzige Straftat war die Vertuschung. Naja, mal abgesehen von der nicht ordnungsgemäßen Entsorgung eines toten Menschen und Leichenschändung. Und ihr seid jung, wusstet nicht, was ihr tun solltet. Ihr habt in Panik reagiert. Ich denke, mit einem guten Verteidiger und dem richtigen Jugendrichter wird alles gut ausgehen. Um eine längerfristige Therapie und ein psychologisches Gutachten werdet ihr wohl nicht herumkommen. Da müsst ihr dann durch. Aber ich glaube, eine Therapie wird euch Beiden helfen, die Ereignisse besser zu verarbeiten.“ Sie seufzte. „Vielleicht brauche ich ja auch eine nach diesem Geständnis.“ Das sollte wohl als Scherz gemeint sein, um die Situation aufzulockern. Vollkommen fehl am Platz, Mutter.
„Ja, und wo soll er so lange wohnen bleiben?“ warf ich ein.
„Von mir aus kann er weiter bei uns wohnen bleiben, wenn du weiterhin dein Zimmer mit ihm teilst. Wir können ihn ja schließlich kaum in der Wohnung lassen, wo dieser Mord geschehen ist. Wir haben hier genug Platz und er scheint ein netter Junge zu sein. Er kann von mir aus bei uns wohnen. Hast dir ja wenigstens einen anständigen Jungen ausgesucht.“
Ich war platt. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Sollte das alles doch noch ein gutes Ende finden? Jetzt kam alles auf einmal, aber es war auch gut, wenn endlich alles raus war. Ich hatte Angst, und Tim auch, wie ich bemerkte. Wir zitterten beide vor Aufregung, aber uns fiel auch ein schwerer Stein vom Herzen. Es war, als ob uns eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen worden war. „Danke.“, sagte ich nur.
„Und jetzt kommt der schwerste Moment.“, sprach meine Mutter. Sie nahm das mobile Telefon und wählte eine Nummer. „Die 110 ist gewählt. Ich glaube du solltest selbst mit ihnen sprechen.“
Sie reichte mir den Hörer, ich nahm ihn, hielt ihn mir ans Ohr und wartete darauf, dass das Tutgeräusch von einer Stimme beendet wurde....
Das Herz des Jungen (Epilog): Ein neuer Beginn
Ich saß auf den Felsen am Strand und beobachtete, wie das Meer seine Wellen über den Sand fließen lies. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass die Natur nach wie vor gleich funktionierte, egal was geschah. Gleichzeitig fühlte man sich ziemlich klein im Angesicht von so etwas Gewaltigem. Alle Probleme und alles Geschehene wirkte plötzlich so klein und unbedeutend.
Ich dachte zurück an die Vergangenheit. Ich war froh, dass tatsächlich alles gut ausgegangen war. Mutter hatte in Vielem Recht behalten und in Anbetracht der Ereignisse habe ich nun ein viel besseres Ansehen von ihr. Sie stand wirklich die ganze Zeit hinter uns. Während der Anhörung, während dem Prozess. Tatsächlich wurden wir vom Vorwurf des Mordes ziemlich rasch freigesprochen. Die Leichenteile tauchten übrigens nicht mehr auf. Die Müllverbrennungsanlange hatte ihr Übriges getan. So kamen wir wenigstens um eine Beerdigung drum herum, welche dieser Arsch auch nicht verdient hatte.
Für die anderen Dinge, die wir im Anschluss an den Tod von Tims Vater taten, bekamen wir einige Sozialstunden aufgebrummt, die wir allerdings bei der Düsseldorfer Tafel abarbeiteten, was sogar Spaß machte. Auch zu einer Therapie mussten wir, nachdem der Psychologe bestätigte, dass keine Gefahr für die Allgemeinheit von uns aus ging. Die Therapie zog sich ziemlich lange, nämlich ungefähr eineinhalb Jahre, wobei die Termine gegen Ende seltener wurden. Tatsächlich half sie Tim und mir besser mit den Ereignissen umzugehen. Zu Beginn hatten wir Beide hin und wieder Albträume, doch diese hörten zu guter Letzt ganz auf.
Tim durfte weiterhin bei meiner Familie wohnen und er integrierte sich relativ schnell in die Familie. Meine Mutter nannte ihn scherzhaft meistens ihren Schwiegersohn in spe. Mein Vater äußerte sich nie großartig zu dem Ganzen. Er war nur ziemlich sauer, dass ich seine Werkzeuge ungefragt benutzt hatte, um die Leiche zu zerteilen und dass diese eine Zeit lang deswegen als Beweismittel beschlagnahmt worden waren. Im Endeffekt warf er die Axt weg und verkaufte die Motorsäge, als er sie zurückbekommen hatte. Er hatte sich längst eine luxuriösere Kettensäge gekauft. Eigentlich war ihm in diesem Fall die Beschlagnahmung sogar ganz Recht, so hatte er vor meiner Mutter eine Ausrede, sich eine Neue zu kaufen, was er schon lange geplant hatte.
Meine Geschwister reagierten ganz unterschiedlich. Carla fand das alles superspannend und aufgrund ihrer Liebe zu Manga hatte sie viele Themen, über die sie sich mit Tim unterhalten konnte. Hin und wieder zeichnete er Mangafiguren für sie, weshalb sie ihn abgöttisch verehrte. Nach und nach brachte er ihr auch bei, selbst welche zu zeichnen. Carla machte Fortschritte.
Andreas interessierte sich nicht besonders für das Thema. Er hatte andere Dinge im Kopf. Meist Computer, Fußball und Mädchen. Da war kein Platz mehr, sich um Anderes Gedanken zu machen, was sich auch in seinen Noten niederschlug. Den Realschulabschluss schaffte er gerade noch so.
Benedikt distanzierte sich sehr von mir. Wir hatten nie viel miteinander zu tun, also war es mir relativ egal. Aber ich merkte, dass er weder mit meiner Homosexualität umgehen konnte, noch mit dem Umstand, dass ich einen Menschen getötet hatte, auch wenn es Notwehr gewesen war. Inzwischen war er ausgezogen und lebte in einer Dreier – WG in Duisburg. Dort hatte er auch eine besser bezahlte Arbeitsstelle gefunden. Ich vermisste ihn kein Stück. Im Grunde war er immer ein selbstgerechter und kleinkarierter Arsch gewesen.
Und wie war es mit Tim und mir weiter gegangen? Nun, wir haben trotz Therapie, Gerüchten die über uns in Umlauf waren und vieler weiterer kleiner Probleme das Abitur bestanden. Wir hatten beide einen Schnitt im Zweierbereich, also konnten wir ganz zufrieden sein.
Tim setzte sich neben mich, gab mir einen Kuss und ich schloss liebevoll die Arme um ihn. Wir schauten auf das Meer hinaus, wie auf eine Zukunft, die vor uns lag. Eine Zukunft, die sehr wahrscheinlich voller Überraschungen sein würde.
Es war Spätsommer 2007. Wir hatten uns, mit einer kleinen finanziellen Spritze meiner Mutter zum bestandenen Abitur, einen zweiwöchigen Urlaub in der Toskana gegönnt. Ein letzter Urlaub vor unserem Umzug nach Essen. Wir hatten uns ein kleines Doppelzimmer für Studenten gemietet. Wir hatten beide unsere Zusagen für die jeweiligen Studien. Ich würde Geschichte auf Lehramt und Politikwissenschaften studieren, Tim moderne Ostasienstudien und Soziologie.
Was auch immer die Zukunft bringen würde, wir waren nicht allein. Ich fühlte mich, als würde nun mein richtiges Leben beginnen.
Endlich, ich konnte es kaum erwarten
ENDE
Texte: Johannes Quinten
Bildmaterialien: Johannes Quinten
Lektorat: Johannes Quinten
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2015
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