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Uncommon Cases 2: Die unerwartete Rückkehr des Schlitzers

Nervös und ungeduldig schaute Nancy Cahill auf ihr neues Smartphone.

Noch immer keine neue Nachricht von ihm. Sie war doch zum verabredeten Treffpunkt gekommen, und das sogar zehn Minuten vor der Zeit, was für sie sehr schwierig war. Sie war eine chronisch unpünktliche Person, was viele ihrer Komillitonen oft an den Rand der Verzweiflung brachte. Und dann war sie endlich einmal pünktlich, sogar überpünktlich, und nun musste sie selber warten. Eine Viertelstunde zu spät. Zehn Uhr abends war ausgemacht gewesen. Direkt neben dem Haupteingang der Christ Church Cathedral.

Langsam wurde es kühl. Hoffentlich versetzte er sie nicht, sie konnte das Geld wirklich gut gebrauchen. Sie benötigte es sogar sehr dringend. Sie konnte einfach nicht so gut mit Geld umgehen und kaufte sich mehr, als sie sich leisten konnte. Und so begannen sich langsam aber stetig die Schulden anzuhäufen. Zu extravaganten Kleidern kamen die immer aktuellsten Handys und natürlich auch die durch die Verträge entstandenen Kosten. Dann hin und wieder ein wenig Koks, Crystal, Ecstasy oder Heroin, wenn auch nicht oft und nicht regelmäßig, aber das alles zusammen genommen ging stark ins Geld. Und dafür reichte das Geld, welches ihre Eltern ihr regelmäßig monatlich überwiesen einfach nicht aus, selbst wenn man die Einkünfte aus gelegentlichem Kellnern dazu rechnete.

Glücklicherweise hatte sie durch Freundinnen zufällig von einer sehr interessanten und lukrativen Nebentätigkeit erfahren, welche nicht wenige Studentinnen nutzten.

Ein leises Ping! zeigte ihr an, dass sie eine neue Nachricht bei whatsapp erhalten hatte und riss sie aus ihren Gedanken. Er war es!

Über eine spezielle Dating – Plattform, welche ihr ihre Freundin gezeigt hatte, wurde sie jeweils zuerst kontaktiert. Wenn man alles miteinander ausgemacht hatte und zu einer Übereinkunft kam, wurden die Handynummern ausgetauscht und über SMS oder whatsapp weiter Kontakt gehalten, da die spezielle Dating – Plattform bislang keine mobile Version anbot, was es ungünstig machte, falls kurz zuvor Planänderungen stattfanden.

Die schlanke und gutaussehende Nancy sah sich die Nachricht an. "sorry!!! wurde aufgehalten! 5 minuten!"

"ok!", textete sie lediglich zurück.

Der Mann hatte kein Foto von sich geschickt. Er wollte wohl lieber anonym bleiben. Er würde sie ansprechen, denn sie hatte ihm ein Foto von sich selbst geschickt. Ein Foto mit sehr sehr wenig an. Und dann noch eins, mit nichts an, doch bei diesem zweiten Foto hatte sie zumindest darauf geachtet, dass ihr Kopf auf dem Bild nicht zu sehen war. Man wusste ja nie!

"Hallo, hotgirl21", sprach sie plötzlich eine tiefe männliche Stimme mit ihrem Nicknamen an.

Erschrocken drehte sich die Blondine um. Vor ihr stand ein relativ gut aussehender Mann, schätzungsweise Ende dreißig bis maximal Mitte vierzig, mit akurat geschnittenem Drei-Tage-Bart, kurzen braunen Haaren, die nur hier und da ein graues Haar durchblitzen ließen und tiefbraunen Augen, welche sie genausestens zu mustern schienen. "Äähm... Ja bitte?", stammelte sie noch leicht verwirrt, doch dann fing sie sich wieder und antwortete mit fester Stimme: "Ja, das bin ich, aber bitte nennen sie mich hier in der Öffentlichkeit nicht so, das ist mir etwas ... unangenehm."

Der Mann lachte kurz und amüsiert. "Das kann ich verstehen, aber keine Angst, ihren albernen Chatnamen hat hier niemand mitbekommen."

Sie sah sich um. Tatsächlich befanden sich die meisten Leute glücklicherweise momentan auf mehreren Metern Abstand. "Albern, meinen Sie?", antwortete die junge Frau nach einer kurzen Pause. "Welchen Namen würden Sie denn stattdessen vorschlagen, der nicht albern klingen würde?"

"Ich weiß nicht.", grinste der Mann und sah sie dabei weiterhin von oben bis unten an. Er blieb eine Weile so stehen und sagte nichts mehr.

Langsam wurde es Nancy unangenehm. Wie lange wollte er dieses Spielchen noch spielen? Sie hatte für so etwas keine Zeit, sie hatte noch so Einiges zu erledigen. In einer schon etwas gereizteren Tonlage fragte sie schließlich: "Was ist denn jetzt? Wo wollen wir hin?"

"Folgen sie mir einfach, ich führe sie an ein ruhiges Plätzchen, wo wir ungestört sind."

Der Mann drehte sich abrupt um und begann ohne Eile loszugehen. Nancy stand einige Sekunden perplex da, dann kam sie wieder zu sich, und lief dem Mann hinterher und folgte ihm schließlich unauffällig in einem angemessenen Tempo.

 

Nach einem Fußmarsch von fast zwanzig Minuten, bei dem auch der Fluss Cherwell überquert wurde, kamen sie schließlich zu einem unnauffällig aussehenden Haus in einer Nebenstraße. Der Mann zog lässig seinen Schlüsselbund aus der Hose und schloss auf.

"Die Lauferei bezahlen sie mir aber!", grummelte Nancy gerade so laut, dass der Mann es noch hören konnte.

"Alles klar.", entgegnete dieser. "Wir müssen hier rauf. Folgen Sie mir. Und schließen sie die Haustür hinter sich, bitte."

"Jaja." Nancy folgte ihm zwei dunkle lange Treppen bis in den zweiten Stock, die trotz dass sie mit rotem Stoff belegt waren, ziemlich laut knarzten. Die junge Studentin roch einen leichten Modergeruch. Sie hasste alte Häuser. Zum Glück, dachte sie bei sich, gewöhnt sich die Nase nach zwei bis drei Minuten selbst an den bestialischsten Gestank, wenn sie ihm permanent ausgesetzt ist. Schließlich und endlich führte sie der Mann in ein abgedunkeltes Zimmer, in welchem sich ein mittelgroßes Bett befand, dessen Gestell aus Eisen bestand, welches nach einem altmodischen Design gestaltet worden war.

"Da wären wir."

"Soll ich mich schonmal ausziehen, oder möchtest du das gerne tun?", fragte Nancy, während sie schon einmal ihre kleine Handtasche an den Weg stellte und ihre roten Lackschuhe mit niedrigen Absätzen auszog. Diese waren für längere Wege zu Fuß trotzdem nicht geschaffen, sodass es einer kleinen Befreiung gleichkam, diese endlich loszuwerden.

"Zieh dich ruhig aus. Ich sehe gerne zu.", grinste er genüsslich und offenbarte dabei eine kleine Zahnlücke zwischen den beiden Schneidezähnen.

Nancy begann sich langsam ein Kleidungsteil nach dem Anderen auszuziehen und versuchte dies möglichst elegant und verführerisch zu tun. Fast als Letztes öffnete sie ihren BH, streifte ihn über ihre Arme ab, und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. Nun war nur noch ihr schwarzer Tanga an ihrem Körper, welchen sie unter kreisenden Bewegungen ihrer Hüften langsam hinunterzog und anschließend mit ihrem rechten Fuß, welcher wie der linke, von rotlackierten Zehennägeln geziert wurde, in eine Ecke des Zimmers katapultierte.

"Und nun?", fragte die hübsche Blondine und schlug ihre falschen Wimpern gekonnt von unten nach oben auf, sah dem mittelalten Mann mit einem lasziven Blick in seine braunen Augen und begann, mit einem stark hüftbetonten Gang, langsam auf ihn zu zu gehen.

"Leg dich auf das Bett.", befahl dieser unbeeindruckt knapp. "Auf den Rücken.", präzisierte er seine Anweisung direkt darauf.

"Ok..." Sie tat wie ihr geheißen wurde. Auf dem Bett streckte sie ihre Beine aus und machte sie breit auseinander, sodass der Schlitz ihrer rasierten Vagina sehr gut zu sehen war.

Nun endlich zog der Mann seine Anzugsjacke aus, behielt das Hemd aber noch an. Er schob lediglich die Ärmel etwas hoch, nachdem er die Manschettenknöpfe an den Handknöcheln geöffnet hatte. Er stieg ruhig auf das Bett, ging breitbeinig an ihrem Körper vorbei, setzte sich schließlich direkt unterhalb der Brust auf sie, beugte sich mit dem Oberkörper nach vorne und langte mit einem seiner leicht behaarten Arme an Nancys Kopf vorbei bis an das Bettgitter und zog hintendran etwas hervor.

Ehe sich die Studentin versah, war ihre linke Hand mit einem Lederriemen an das eiserne Gitter des Kopfendes festgeschnallt. "He, was soll denn das werden, wenn es fertig ist?" Statt einer Antwort zwang der Mann nun auch noch die rechte Hand nach hinten und fesselte sie mit einem weiteren Gurt fest an die eisernen Stäbe. "Von Fesselspielchen war aber nicht die Rede! Das kostet bei mir aber extra, das kann ich aber sagen!"

Der Mann sah stumm auf sie herunter, direkt in ihre Augen, und antwortete schließlich: "Keine Sorge, wir werden uns schon einig, was den Preis betrifft...."

"Das will ich aber auch hoffen!", erwiderte die attraktive Studentin erzürnt.

Langsam, stieg der seriös wirkende Mann von dem Bett hinunter, kniete sich leicht vor das Bett, holte zwei weitere lederne Schlingen hervor und zurrte mit diesen die Beine knapp über den Fußknöcheln an den Bettpfosten fest, sodass die Beine auch nicht mehr zusammengepresst werden konnten. Nancy fühlte etwas Angst, aber zugleich war sie doch etwas erregt und war nun gespannt, wie mit ihr verfahren werden würde. Sie hoffte auf eine Art persönliches 50-shades-of-grey-Erlebnis. Sie begann nun so gut es ging sich auf dem Bett zu räkeln und leicht obzön zu stöhnen. Irritierenderweise schien der Mann sich nicht so dafür zu interessieren, wie es die junge Studentin erwartet hatte. Stattdessen schaute er auf sein Smartphone, tippte kurz etwas ein und schickte vermutlich eine Nachricht ab. Aber an wen, und warum?, fragte sich die Blondine verunsichert, bis sich kurz darauf Schritte auf der knarzenden Treppe bemerkbar machten und dann die Tür geöffnet wurde. Sollte das hier etwa ein Dreier werden?

Doch der Mann, der hereinkam, war ihr nicht unbekannt. Sie musste kurz ihre Gedanken in Ordnung bringen, bis ihr schließlich einfiel, wer dieser Mann war, und woher sie ihn kannte. Verdammt, was machte der denn hier? War das nur ein unglücklicher und sehr unangenehmer Zufall, oder steckte mehr dahinter? Nancy wusste nicht, ob der zweite Mann sie auch wieder erkannte, oder nicht. Vielleicht sollte sie einfach nichts zu ihm sagen, dann würde er sie vielleicht nicht erkennen, und das würde der Situation etwas von ihrer Peinlichkeit nehmen.

Der neu hinzugekommene Mann hatte eine schwarze Tasche dabei, die prall gefüllt schien. Diese stellte er kurz vor dem Bett ab. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er eine dicke leere Spritze aus der Tasche hevor, zog den Stopfen von der spitzen Kanüle ab und stach diese in ein kleines gläsernes Behältnis mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Er zog an dem anderen Ende der Spritze und langsam füllte sich diese mit jener klaren Flüssigkeit komplett. Und ähnlich wie sich die Spritze füllte, füllte sich simultan dazu Nancys Geist mit Panik.

"Was soll das? Aufhören!", schrie sie plötzlich hysterisch.

Der zweite Mann war davon unbeeindruckt, ging routinierten Schrittes auf die junge Frau zu, wartete kurz bis der erste Mann mit einem Stauschlauch kam und das Blut ihres linken Armes staute, suchte nach einer Vene, fand diese, stach die Kanüle hinein und applizierte die Flüssigkeit komplett. Daraufhin löste der erste Mann den Schlauch wieder. Danach warteten beide. Nancy schrie, zerrte an ihren Fesseln, versuchte sich zu befreien, doch es war zwecklos. Nach circa einer Minute bemerkte Nancy, dass sie schwächer wurde, ihr Herzrhytmus jedoch wurde noch schneller, als er sowieso schon durch die Angst war, welche sie empfand. Nach einer weiteren halben Minute war sie schließlich so schwach, dass sie sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte.

Kurz darauf wiederholten die beiden Männer das Procedere. Mit einer anderen Flüssigkeit wurde Nancy erneut etwas verabreicht. Danach öffnete der erste Mann einen großen Wandschrank, den die Studentin zuvor nicht beachtet hatte, und holte mehrere Dinge heraus. Was, das konnte sie nicht sehen, weil sie den Kopf nicht mehr drehen konnte. Währenddessen hantierte der zweite Mann, den sie kannte, in seiner Tasche herum und entnahm dieser diverse Instrumente, dessen Anblick Nancy vor Angst erstarren lassen würde, wenn sie nicht sowieso bereits erstarrt gewesen wäre. Wortlos zog er Handschuhe an, welche er zuvor aus einem speziellen Verschluss entnommen hatte. Der erste Mann trat währenddessen an ihr Bett heran und sprühte sie mit einer kalten Flüssigkeit ein, sodass die Studentin eine Gänsehaut bekam. Das war auch ihre einzige äußerliche Reaktion, denn nicht einmal ein erschrockenes Lufteinziehen durch die Zähne war ihr möglich.

Aus den Augenwinkeln sah Nancy etwas Auffblitzen, was aussah wie ein scharfes Messer und ihre Angst stieg an. Auf ihrer Bauchdecke spürte sie dann den Einstich und sie wurde von einer Welle des Schmerzes überflutet.

Die junge Studentin wünschte sich, mit Ausnahme dass dies alles nicht real geschehen würde, sondern nur ein schlechter Traum sei, nichts sehnlicher, als wenigstens ihren Schmerz herauszuschreien, doch sie konnte nur stumm bleiben und still leiden. Ihre Schmerzen, gepaart mit ihrer hilflosen Wut, ließen wenigstens eine einzige weitere Reaktion ihres Körpers zu: Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Kurze Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit durch ihr Gehirn. Werde ich nun tatsächlich hier und jetzt sterben? Ich kann doch nicht jetzt schon sterben? Ich bin noch so jung. Ich habe noch nichts im Leben erreicht. Das ist so ungerecht. Was werden meine Eltern denken? Wie werden meine Freunde reagieren? Wird es überhaupt jemand erfahren, wie ich gestorben bin, oder bleibe ich verschwunden? Wann wird es jemandem auffallen, dass ich verschwunden bin? Gibt es irgendetwas was ich tun kann? Kann ich diese Situation irgendwie beenden? Wie lange muss ich diese Tortur noch ertragen? Wenn es doch nur aufhören würde...

Ihre Gedankengänge wurden immer wieder durch neue Schmerzen unterbrochen, wenn ein scharfer Gegenstand durch ihr Gewebe drang und weitere Schnitte angesetzt wurden. Was machte dieser Mann nur mit ihr? Und warum? Sie bemerkte am Rande ihres Sichtfeldes, dass der Mann nun scheinbar seine Hände in etwas, in ihr, versenkte und in ihr herum wühlte. Als er schließlich irgendetwas aus ihr heraus entnahm, verlor sie das Bewusstsein und aus diesem Zustand sollte sie niemals mehr erwachen ...

 

Im Londoner Stadtteil Stockwell, welcher im Südwesten der Stadt liegt, in einer mittelgroßen Mietswohnung, welche sich in einem Haus aus dem 19. Jahrhundert befindet, direkt neben einem portugiesischen Cafe auf der einen Seite und einem karibischen Cafe auf der anderen Seite, klingelte es an der Haustür.

"Ich mach schon auf.", rief Karen McSlaughter ihrem Ehemann zu. In schnellen Schritten eilte sie zur Wohnungstür und öffnete sie. Sie hatte den Besuch bereits erwartet.

Vor der Tür stand die 25-jährige Maggie O'Brain, welche aus Schottland stammte. Seit einem emotional sehr aufreibenden Fall, bei dem das Ehepaar Karen und Mitch McSlaughter mit der medial veranlagten Maggie zusammen arbeiten mussten, waren sie sehr gute Freunde geworden und unternahmen auch außerhalb ihrer Arbeit beim Security Service (auch MI5 genannt) sehr viel miteinander. Doch auch beruflich hatten sie inzwischen sehr viel mehr miteinander zu tun, da sie inzwischen alle drei ein gut eingespieltes Team waren und somit gute Ergebnisse bei ihrem gemeinsamen Vorgesetzten, Mister Turkildson, ablieferten.

Die beiden Freundinnen umarmten sich intensiv und herzlich zur Begrüßung. "Na, wie geht es euch? Gibt es etwas Neues?", wollte die zierliche Schottin mit blonden langen Haaren wissen.

"Eigentlich nichts seit wir uns das letzte Mal sahen. Ich muss nur ständig aufpassen, wohin Sikudhani läuft und dass sie keinen Unfug anstellt. Sie ist so ein kleiner Wildfang.", lächelte Karen liebevoll.

In diesem Moment kam auch schon ein kleines Mädchen mit schwarzer Hautfarbe angelaufen und lief auf die junge Schottin zu. "Tante Maggie! Tante Maggie!", rief es dabei fröhlich aus und wurde von dieser voller Wärme in die Arme genommen und hochgehoben.

"Ui, wirst ja immer schwerer, mein kleiner Schatz.", meinte diese daraufhin. "Aber ich bin sehr froh, dass sich meine Patentochter so gut entwickelt. Ich war echt besorgt, wie das alles werden würde, bei dem, was sie schon alles durchgemacht hat. Ein Glück, dass sie sich, außer vielleicht in den Tiefsten ihrer Tiefen unterbewusst, nicht mehr daran erinnern kann..."

"Da hast du Recht." Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu. "Es war, glaube ich, eine gute Entscheidung von uns, dass wir nach Stockwell gezogen sind. Hier gibt es sehr viel multikulturellen Hintergund. Menschen aus Portugal, der Karibik und auch aus Westafrika, sodass Sikudhani gar nicht so besonders auffallen wird und leichter Freunde finden wird. Hoffe ich zumindest. Verwunderung wird es höchstens geben, wenn andere Eltern bemerken, dass wir Weiße sind. Ich hoffe, dass wird kein Problem darstellen. Momentan ist Sikudhani sowieso noch zu jung, um zu versetehen, was es bedeutet, adoptiert zu sein. Aber für die ganze Wahrheit ihrer Vergangenheit wird sie noch sehr viel älter sein müssen, um es auch nur ansatzweise zu verstehen, sofern man so etwas überhaupt begreifen kann."

"Ja, ein trauriges Thema. Lass uns über etwas Anderes reden.", meinte Maggie nachdenklich.

"Du hast Recht.", bestätigte Karen sie. "Was mich momentan doch sehr nervt, ist übrigens meine Mutter.", fügte sie seufzend dazu. "Natürlich bin ich sehr froh, und das war ein weiterer Grund dafür, nach Stockwell zu ziehen, dass meine Mutter, die ja im angrenzenden Brixton wohnt, oft und gerne und auch spontan mal auf unsere Kleine aufpassen kann, besonders, wenn wir Aufträge ausführen müssen, wo wir tagelang weg sind, aber sie mischt sich eben auch zu gerne in alles ein. Erziehung, Haushalt, mein Leben. Das macht mich langsam fertig..."

"Oje...", grinste Maggie. "So können Mütter halt sein. Aber es gibt Schlimmere, glaub mir." Maggie dachte an ihre eigene Mutter, zu der zwar Kontakt, aber nur sehr spärlicher, bestand und auch kein besonders gutes Verhältnis. Maggies Mutter konnte nie so Recht akzeptieren, dass ihre Tochter übersinnliche Fähigkeiten besaß. Die Begabung kam von der väterlichen Seite. Bereits ihre Oma und ihre beiden Tanten waren medial begabt, doch da Maggies Mutter sehr konservativ und christlich erzogen wurde, lehnte sie dies alles als ein Werk des Teufels ab. So gab es schon von jeher Spannungen zwischen der mütterlichen und der väterlichen Seite der Familie. Und nach dem Tod von Maggies Vater vor zehn Jahren, welcher bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurde und kurz darauf im Krankenhaus an einer Lungenembolie verstarb, brach der Kontakt von Maggies Mutter zu dem väterlichen Teil von Maggies Familie komplett ab. Einzig und allein sie selbst war noch ein filigranes Bindeglied zwischen diesen Familien der beiden Elternteile.

Karen strich Maggie sanft über ihre Schulter. "Ich weiß Maggie, ich weiß."

In diesem Augenblick kam Mitch ins Zimmer herein. "Was steht ihr denn so lange hier rum?", fragte der muskulöse Mann grinsend und fuhr sich mit einer typischen Geste durch seinen stets vorhandenen Drei – Tage – Bart. "Kommt ins Esszimmer, das Essen ist fertig und wird sonst kalt."

Kurz darauf saßen alle um einen Tisch versammelt, Karen, Mitch und Maggie auf normalen Stühlen, Sikudhani auf ihrem Kinderstuhl, und aßen Gemüseauflauf mit Reis und Kichererbsen. Karen und Mitch hoben ihre Weingläser. "Auf einen schönen Abend!", sprach Mitch.

Maggie stieß mit einem Orangensaft an. Sie trank nur sehr selten Alkohol. Nicht, weil es ihr nicht gefiel, sondern weil der Alkohol ihre mediale Gabe beeinflussen und dämpfen konnte. Und es schwächte auch ihren Schutz. Maggie baute sich mithilfe ihrer Aura und Visualisierungstechniken, Meditationstechniken und Mantren eine Art feinstoffliches Schutzschild um sich auf, meist stellte sie sich dieses in reinem weißen Licht vor, da ihre Begabung sehr stark ausgeprägt war und sie zudem sehr sensitiv war. Es war wichtig für sie, dass sie sich gegen äußere negative Einflüsse abschirmte. Dies hatte sie lange und auf die harte Tour in jungen Jahren lernen müssen, inzwischen war es eine Selbstverständlichkeit für sie geworden und machte ihr keinerlei Mühe oder beeinflusste sie in ihrem Leben besonders. Allerdings war sie sich in vielen Dingen bewusster, als andere Menschen, nicht nur durch ihre besonderen Wahrnehmungen.

Gedankenverloren blätterte Mitch in der aktuellen Tagesausgabe des The London Daily, was den Missmut seiner Frau erregte. "Immer blätterst du in den Zeitungen am Essenstisch.", bemängelte sie. "Am Frühstückstisch ist das in Ordnung, aber nicht Abends wenn wir Gäste haben..."

"Mir macht das nichts.", wiegelte Maggie ab.

"Du hattest ja heute morgen bereits das Weltgeschen überfliegen können.", verteidigte sich Mitch. "Ich jedoch musste unbedingt zu einer Besprechung, die Mister Turkildson kurzfristig anberaumt hat."

"Naja, so viel konnte ich auch nicht lesen, schließlich musste ich mich um Haushalt und Kind kümmern..."

Mitch grinste sie frech an. "Du hörst dich schon an wie so eine verbitterte Hausfrau."

Karen erschrak. "Oh Gott, du hast Recht!" Und nach einer Weile fügte sie hinzu. "Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mal wieder an einem interessanten Fall arbeite."

"Das könnte durchaus schon sehr bald passieren.", entgegnete Mitch.

"Wie meinst du das?"

"Hier." Mitch legte die Zeitung auf einer bestimmten Seite aufgeschlagen vor seiner Ehefrau auf den Tisch. "Hast du das schon gelesen?"

Karen schaut sich die Überschrift an und las vor: "Erneuter Mord in Oxford. Eine Reihe brutaler Morde im englischen Oxford in der Grafschaft Oxfordshire gibt der Polizei weiter Rätsel auf. Opfer waren, wie auch diesmal, bislang junge Frauen, weshalb die Polizei eine dringende Warnung rausgibt, dass Frauen nicht alleine, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, durch die Stadt gehen sollen. Besondere Vorsicht ist bei Fremden geboten, von denen sie sich fernhalten sollen und... Was sind denn dasfür bescheuerte Ratschläge?"

"Ist ja egal, mir gehts eher um die Tatsache der Mordserie an sich."

"Werden wir darauf angesetzt werden?"

"Sehr wahrscheinlich ja.", antwortete Mitch ernst. "Die Spezialkommission, die sich mit dem Fall befasst, kommt nicht weiter. Sie tappen nach wie vor im Dunkeln. Und hinter diesem Fall steckt mehr, als in der Zeitung steht. Ich denke, Mister Turkildson wird uns, wenn es bis dahin nicht einen Durchbruch gab, schon ziemlich bald einbestellen und zu dem Fall hinzu ziehen. Bei der außerordentlichen Dienstbesprechung heute morgen hat er mich bereits vorgewarnt."

Maggie nahm den Zeitungsartikel in die Hand und sie fühlte einen Schauer durch ihren Körper. Anschließend stellten sich ihre feinen Armhärchen durch eine plötzlich einsetzende Gänsehaut auf. "Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass wir es mit diesem Fall zu zun bekommen werden. Und das ist keine gewöhnliche Mordserie, sofern so etwas überhaupt existiert. Es lässt mich frösteln, wenn ich an diesen Fall denke." Sie sah auf. "Typisch, dass ich erst dazugezogen werde, wenn der Rest nicht mehr weiter weiß. Als ob ich dem Security Service in der Vergangenheit nicht schon genug geholfen hätte und meine Nützlichkeit und die meiner Fähigkeiten unter Beweis gestellt hätte... Ansonsten würden sie mich ja wohl auch kaum weiterhin beschäftigen..."

Mitch legte die Zeitung zur Seite und atmete einmal tief ein und ließ die Luft mit einem Seufzer entweichen. "Lasst uns erst einmal das Abendessen genießen. Ich habe das beunruhigende Gefühl, dass, wenn wir erst einmal in den Fall involviert sind, keine ruhigen Abendstunden mehr haben werden..."

 

Und tatsächlich bereits am nächsten Tag fanden sich Maggie, Karen und Mitch im Thames House, dem Hauptquartier des Security Service, wieder. Mister Turkildson hatte sie telefonisch einbestellt und führte sie nun durch einen langen hell erleuchteten Gang, vorbei an etlichen Büros, bis sie schließlich in einem großen Raum ankamen, in dessen Mitte sich ein großer Tisch befand. Im Raum selber standen und saßen annähernd zwei Dutzend Männer und Frauen. Die Pinnwandtafeln an den Wänden waren mit Fotos und Notizen vollgepflastert und auf dem rechteckigen schweren Holztisch waren Akten über Akten ausgebreitet.

Als Maggie über die Türschwelle das Zimmer betrat, fühlte sie regelrecht die Anspannung, welche ihr von den Menschen entgegenschlug. Doch auch ohne ihre sensitiven Fähigkeiten hätte sie diese von den Gesichtern der Personen ablesen können, von denen einige uninteressiert aufschauten, meist in eigene Gedanken versunken, welche sich vermutlich im Kreis drehten.

Mister Turkildson, direkter Vorgsetzter von Karen, Mitch und Maggie, war ein grauhaariger Mann Anfang bis Mitte fünfzig, dessen stets bemüht würdevoll wirkendes Gesicht seinen unoriginellen seriös wirkenden dunkelblauen Blazer ergänzte. Er zog angestrengt die Augenbrauen zusammen, was zu seinen Sorgenfalten weitere Linien im alternden Gesicht hinzufügten und fragte in die Runde: "Irgendwelche Fortschritte, seit ich weg war?"

"Nicht wirklich.", antwortete einer der Männer.

"Na gut." Mister Turkildson seufzte. "Ich möchte euch drei neue Mitglieder unserer Spezialeinheit zur Ergreifung des Serienmörders vorstellen. Das sind die Mobile Surveillance Officers Karen und Mitch McSlaughter und Intelligence Analyst Maggie O'Brain."

"Guten Tag.", antworete ein muskulöser Mann Mitte vierzig, welcher sehr kurze tiefschwarze Haare trug. "Schön, euch kennen zu lernen. Mein Name ist Jack Sanders. Ich leite diese Spezialeinheit. Ich bin der stellvertretende Generaldirektor."

"Sehr erfreut Deputy Sanders.", begrüßte Mitch ihn und die anderen folgten. Eigentlich hätte er sich gar nicht vorstellen, müssen, denn Jack Sanders war fast so bekannt wie der seit 2013 amtierende Generaldirektor, und somit Chef des MI5, Andrew Parker.

"Der Rest des Teams besteht größtenteils aus der Ethik – Abteilung des MI5 und aus Ermittlern der englischen Polizei. Ich möchte euch noch zwei besondere Personen vorstellen, mit dem Rest könnt ihr euch selbst bekannt machen. Das hier ist Kyle Gordon. Er ist Forensiker."

"Guten Tag", begrüßte sie ein schlanker Mann Anfang dreißig mit Brille und sehr wirr aussehenden hellbraunen Haaren.

"Und das hier ist der seit 2010 amtiernde Polizeipräsident der Stadt London: Commisioner Adrian Leppard."

"Sehr erfreut." Ein Mann, schätzungsweise Ende vierzig, mit Glatze und intelligenten Gesichtszügen begrüßte sie im typischen weißen Polizeihemd der Londoner Polizei. "Die Morde sind alle zwar in Oxford geschehen und demzufolge bin ich eigentlich nicht zuständig, aber ich wurde aufgrund meiner jahrelangen Erfahrung gebeten, ob ich Teil der task force werden wolle, und da ich diese schreckliche Mordserie ebenfalls beenden möchte, habe ich gerne zugesagt."

"Kommen wir zur Sache.", begann Jack Sanders schließlich. "Vorgestern wurde die Leiche einer jungen Studentin am Ufer des Cherwell gefunden. Die Tote heißt Nancy Cahill, ist einundzwanzig Jahre alt, Studentin der University of Oxford, und war vermutlich schon am Tag zuvor getötet worden. Seit dem Tag zuvor hatte sie auch niemand mehr gesehen." Er zeigte mehrere Fotos von einer entstellten weiblichen Leiche. "Nancy Cahill ist somit das vierzehnte Opfer des Serienmörders."

Karen erschrak. "Vierzehn Opfer gibt es bereits? Das war mir nicht bewusst."

"Ja, es wurde in den Zeitungen nicht von allen Morden berichtet und es wurde absichtlich nicht erwähnt, wie viele Opfer es bereits gab, um eine Panik zu vermeiden. Die Opfer waren bislang alle weiblich, zwischen 19 und 35 Jahren und entweder Studentinnen oder Prostituierte. Hier ist die komplette Liste der Opfer."

Mitch nahm ein Blatt Papier in die Hand und las gedankenverloren. "Sandra Stew, 23, Studentin. Charlize McComber, 29, Prostituierte. Carla Mohan, 32, Prostituierte. Melody Carson, 22, Studentin...."
"Und so weiter und so weiter.", unterbrach Deputy Sanders ihn resignierend. "Sie brauchen nicht alle vorzulesen. Wie sie sehen können, wurden die Morde innerhalb der letzten vier Monate durchgeführt. Und die Abstände haben sich verringert, sodass zwischen den letzten beiden Opfern, der Studentin Nancy Cahill und der Prostituierten Janice Caplan, nur wenige Tage liegen. Dies lässt zwei Schlüsse zu. Entweder braucht der Killer den Kick nun in immer schnelleren Abständen, oder aber er hat sein Vorgehen inzwischen so routiniert, dass er keine lange Vorbereitung mehr benötigt."

"Es sind also immer Studentinnen oder Prostituierte?", überlegte Karen laut. "Aber wieso? Wo ist der Zusammenhang?"

"Der Zusammenhang ist folgender: Wir gehen davon aus, dass die Studentinnen sich ebenfalls prostituert haben", erklärte Jack mit ernster Stimme. "Entweder um das Leben während des Studiums zu finanzieren oder um sich den einen oder anderen Luxus leisten zu können. Bei einigen der Studentinnen konnten wir ihren Nebenerwerb bereits nachweisen."

"Meinen sie, der Mörder hat einen großen Hass auf Prostituierte? Oder einfach nur auf Frauen allgemein?" Karen wusste, dass es viele Menschen gibt, die andere Gruppen, seien es gleich das ganze Geschlecht, oder Nationalität, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Szenezugehörigkeit, Berufsgruppe oder was auch immer, aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen hassten. Und bei manchen kranken Individuen kann dies schließlich zu Mobbing, verbaler und körperlicher Gewalt und letztendlich sogar zu Tötungsdelikten führen.

Sanders überlegte kurz, sah zu Adrian Leppard, dann wieder zu Karen. "Wir gehen momentan davon aus, aber sicher ist natürlich nichts. Unsere Profiler haben schon ein Profil des Mörders vorgestellt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie diesmal Recht haben. Irgendetwas an dem Fall ist faul. Also, abgesehen davon, dass mehrere bestialische Morde nie etwas Alltägliches sind, oder etwas Alltägliches sein dürfen."

Mitch betrachtete mehrere Tatortfotos. "Die Opfer sind alle so zugerichtet?", wollte er wissen.

"Ja, genau.", antwortete Deputy Sanders. "Bei allen Frauen wurde der Unterleib komplett aufgeschnitten. Leber, Nieren, Magen, die Bauchspeicheldrüse, der Zwölffingerdarm sowie Teile des Dünn- und Dickdarmes wurden entfernt. Diese Teile sind verschwunden."

"Verschwunden? Sie sind nicht wieder aufgetaucht?"

"Nein. Und der Rest des Dickdarmes wurde um Hals und Schultern der Opfer drapiert. In die rechte Hand wurde die Gebärmutter gelegt, in die linke Hand wurden die Eierstöcke gelegt. Beide wurden jeweils mit dem Dünndarm umwickelt, sodass sie nicht aus den Händen fallen konnten."

"Wie krank ist das denn?", fragte Karen geschockt. "Davon stand aber nichts in der Presse, nur dass es Morde gab..."

"Die Details haben wir absichtlich unter Verschluss gehalten.", erklärte Polizeipräsident Adrian Leppard. "Wir wollten unter allen Umständen verhindern, dass Nachahmungstäter oder Trittbrettfahrer die Art der Morde kopieren. So können wir nun mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es sich entweder um einen einzigen Täter oder um eine einzige Gruppe von Tätern handelt."

"Ich verstehe.", sagte Karen nickend und sie spürte eine leichte Überlkeit in sich aufsteigen. Sich dies vorzustellen, war schon eine Sache, aber sie sah die verstümmelten Leichen auf den Fotos.

Kyle Gordon ergriff nun das Wort. "Ich habe mit meinem Forensik – Team herausgefunden, dass bei allen Opfern sehr große Spuren von Rapacuronium und Pipecuronium im Blut waren. Es wurde ihnen in vermutlich äußerst bedenklichen Mengen verabreicht."

"Das sagt mir nichts.", meinte Karen verwirrt. "Was ist das für ein Zeug?"

"Beides sind Muskelrelaxanzien, welche vom Markt genommen worden sind.", erklärte Kyle freundlich. "Höchstwahrscheinlich wurden einige der Opfer im Vorfeld gefesselt, denn es wurden Abdrücke an Arm- und Fußgelenken gefunden, die durch Strangulationen entstanden sein können. So konnte der Mörder die Spritze ohne allzu große Gegenwehr ansetzen. Ich gehe davon aus, dass zuerst Rapacuronium verabreicht wurde, da dies einen relativ schnellen Wirkungseintritt hat, allerdings ist die Wirkdauer gering. Und wahrscheinlich wurde im Anschluss das Pipecuronium verabreicht, welches etwas länger baucht, bis es wirkt, jedoch eine extrem lange Wirkdauer besitzt. So dürfte der Mörder genügend Zeit gehabt haben, an dem lebenden Opfer herumzuschneiden."

"Ach du meine Güte.", rief Karen geschockt aus. "Was für ein Hurensohn..."

Der Polizeipräsident sah sie stirnrunzelnd an, während Jack intervenierte: "Bitte keine Kraftausdrücke hier, das ist unangebracht. Und über das Geschlecht des Mörders besteht im Übrigen auch noch keine Gewissheit."

"Entschuldigung...", murmelte Karen, während ihr die Röte ins Gesicht stieg.

"Hm, irgendwie erinnert mich der Fall...", begann Mitch, bevor er von Sanders unterbrochen wurde.

"An Jack the Ripper, ich weiß. Deshalb nennen wir ihn auch den Oxford – Schlitzer. Es gibt einige Parallelen. Zum Einen, die Wahl der Opfer: Frauen, die sich prostituieren. Zum Anderen: Jack the Ripper entnahm bei vielen der Fälle ebenfalls Organe oder Teile der Organe. Außerdem drapierte auch er in einigen Fällen die Gedärme auf dem Opfer. Dennoch gibt es einige Unterschiede. Jack the Ripper tötete seine Opfer, indem er ihnen die Kehle durchschnitt. Dies tut unser Schlitzer nicht, wobei dies auch nicht nötig ist. Nachdem er mit den Eingeweiden seiner Opfer fertig ist, ist es sowieso unmöglich, dass noch jemand leben kann. Diese Prozedur kann niemand überleben. Zum Anderen geht unser Schlitzer sehr viel professioneller vor. Er konnte vermutlich alle seine Werke beenden. Und es gibt eigentlich keinerlei Unterschiede zwischen den Morden an sich. Allerdings, wer weiß, ob Jack the Ripper nicht auch heutzutage professionell mit Muskelrelaxanzien seine Opfer zuerst bewegungsunfähig machen würde und durch sorgfältige Planung alle Morde nach Plan durchziehen können würde."

"Als ob er wiedergekehrt wäre...", meinte Mitch und dachte nach. "Maggie, ist es möglich, dass der aktuelle Mörder die Reinkarnation von Jack the Ripper ist?"

Jack Sanders und Adrian Leppard sahen sich irritiert an.

"Möglich wäre es.", entgegnete Maggie. Durch die Freundschaft und die Gespräche mit Maggie haben Mitch und Karen sehr viel über Reinkarnation gelernt und beide halten es inzwischen für sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass Wiedergeburten existieren und der Normalfall sind. "Wobei ein Mörder in seinem nächsten Leben nicht unbedingt wieder zum Mörder wird, sondern ein ganz normalses Leben führen kann."

Jack Sanders sprach sehr leise zu Mister Turkildson: "Ach so, daher kannte ich den Namen. Das ist diese selbsternannte Hellseherin. Sind wir in diesem Fall wirklich so verzweifelt, dass wir so einen Hokus Pokus nutzen müssen?"

"Psst, seien sie bitte leise.", flüsterte dieser zurück. "Maggie O'Brain hat in der Vergangenheit bereits viele gute Ergebnisse geliefert."

"Naja, ist ihre Sache."

Maggie ging zu den Fotos und den Obduktionsberichten und nahm sie in die Hand. Plötzlich überkam sie ein sehr starkes Gefühl. Sie wandte sich zu den Anderen um. "Ich glaube nicht, dass es eine Wiedergeburt von Jack the Ripper ist. Ich fühle... Ich fühle eine andere Energie. Bei den Fällen von Jack the Ripper habe ich immer so ein starkes Gefühl des Hasses und der Leidenschaft. Aber bei diesen Morden hier fühle ich so eine Kälte. Eine eisige Kälte und Gefühlslosigkeit. Hier geht es definitiv um irgendetwas anderes."

"Gefühle...", erwiderte Jack Sanders. "Ich hab auch Gefühle. Nämlich das Gefühl, dass wir hier unsere Zeit verschwenden."

Mister Turkildson fuhr auf: "Deputy Sanders! Das ist kein professionelles Verhalten..."

"Aber das hier ist professionell, was sie da macht, oder was?"

"Ich habe auch Miss O'Brain hinzugezogen, weil sie uns in vielen Fällen bereits sehr hilfreich war. Aber Sie leiten die Task Force, Mister Sanders. Wenn Sie sie nicht dabei haben wollen, ist sie draußen."

Plötzlich war es mucksmäusschenstill im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Dass Mister Turkildson Jack Sanders zurecht wieß, rechnete Maggie ihm hoch an, denn schließlich war Jack Sanders der Vorgesetzte von Mister Turkildson. Und deshalb war es schlussendlich die Entscheidung von Jack Sanders, wer im Team dabei war, und wer nicht.

"Na gut.", resignierte er. "Wenn Mister Turkildson sich schon so für sie einsetzt, Miss O'Brain, dann bleiben sie meinetwegen bei uns. Wir haben schließlich nichts zu verlieren."

"Danke, ich tue mein Bestes.", entgegnete Maggie mit klopfendem Herzen.

"Das erwarte ich auch.", entgegnete Deputy Sanders trocken und wandte sich wieder den Akten zu.

 

Gabby Perez trat von einem auf den anderen Fuß hin und her und rieb sich über ihre Oberarme. Es war ein ziemlich kühler Abend für diese Jahreszeit. Und in ihrem kurzen Minirock und dem ärmellosen Top fror sie ganz entsetzlich. Ihrer Kollegin Carly Lopez, welche einen Meter neben ihr stand, erging es nicht viel besser.

"Hoffentlich lohnt sich heute die ganze Rumsteherei wenigstens. Ich friere mir hier noch meine Nippel ab.", jammerte Gabby zu Carly gewandt. "Bei meinem Glück bekomme ich eher schon wieder eine Blasenentzündung."

Carly sah ihre fast dreißigjährige Kollegin genervt an. "Dein Gejammere macht es auch nicht besser..."

"Carly, du bist gemein..." Gabby schmollte. "Man hat es heutzutage echt nicht leicht. Das Geld sitzt nicht mehr so locker, und seit dieser Killer unterwegs ist, ist man sich seines Lebens nicht mehr sicher. Aber was will man machen? Irgendwie muss ich das Geld ja ran schaffen."

Carly bekam eine zuzätzliche Gänsehaut. "Fang jetzt nicht mit diesem Killer an, bitte. Solche Geschichten machen mir Angst."

"Ach, ja, es ist einfach keine gute Zeit, um auf den Strich zu gehen.", fuhr Gabby trotz des Einwandes fort. "Nicht, dass es das jemals gewesen wäre. Aber es wird immer schlimmmer und schlimmer..."

In diesem Augenblick fuhr ein großer schwarzer Mercedes – Benz C 217 heran, wurde langsamer und hielt an. Gabby nahm schnell eine, wie sie fand, gut aussehende Haltung ein und war nun doch dankbar, dass die kühle Abendluft ihre Nippel hart unter ihrem Top hervorstehen ließ, denn sie trug keinen BH darunter. Wer so einen teuren Wagen fuhr, musste Geld haben, und hoffentlich hatte er dieses Geld nicht nur aufgrund seiner Geizigkeit. Sie konnte einen spendablen Freier sehr gut gebrauchen. Sie ging schnellen Schrittes zu dem Wagen hin, ihre Kollegin ebenfalls. So nicht, dieser hier würde ihrer sein! Sie wusste, das würde Stress für die nächste Zeit bedeuten, aber sie schubste Carly einfach zur Seite, diese knickte auf ihren hochhackigen Schuhen um und fiel auf den harten Straßenboden.

"Spinnst du?", schrie diese wütend. "Blöde Fotze, was soll die Scheiße? Ich polier dir gleich deine vebrauchte Fresse!"

Gabby ignorierte diesen vulgären Wutausbruch und stand nun vor der Fensterscheibe des Wagens, welche langsam heruntergelassen wurde. Der Fahrer kam ihr bekannt vor. Sie überlegte kurz, dann wusste sie, woher sie ihn kannte. Dass selbst er es nötig hat, es sich auf der Straße zu holen... Es war doch immer wieder überraschend, wen man hier so antraf... Auf dem Rücksitz saß ein junger Mann, Anfang zwanzig. Wollten die einen Dreier machen? Warum nicht? Würde mehr Geld einbringen. Sie würde ihm 'nen richtig saftigen Preis präsentieren, wenn er geil genug war, würde er alles bezahlen. Dieser Mann hatte es nicht nötig, auf solche für ihn vermutlich kleinen Geldbeträge zu achten, da war sie sich sicher.

"Na, ihr zwei Hübschen?", säuselte sie und klimperte mit ihren falschen Wimpern. "Wollt ihr mich vielleicht mitnehmen?"

Der Mann am Steuer entgegnete lediglich: "Steig ein."

"Sehr gerne, mit Vergnügen." Gabby öffnete die Beifahrertür uns setzte sich auf den Sitz. "Und für euch wird es auch ein Vergnügen sein. Hintereinander, gleichzeitig, wie ihr wollt. Ich stelle mich ganz auf eure Wünsche ein.... Wennn es auch entsprechend vergütet wird."

"Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.", war die ungerührte Antwort des Mannes und er fuhr los.

Gabby sah im seitlichen Spiegel, wie ihre Kollegin langsam wieder auf die Beine gekommen ist. Sie würde sich schon wieder einkriegen. Und wenn nicht, dann war es auch egal. Wenn es ums Geschäft ging, trat für Gabby Perez alles Andere in den Hintergrund. Das Leben war hart und sie musste sich ihren Lebensunterhalt hart verdienen. Ihre Mutter starb, als Gabby elf Jahre alt war, ihr Vater trank. Er trank sehr viel. Bereits vor Mutters Tod, doch danach umso mehr. Und er verprügelte sie oft, sodass sie es mit fünfzehn nicht mehr aushielt und sie von zu Hause fortlief. Sie lebte einige Zeit auf der Straße und bettelte, bis sie schließlich ihren Freund kennen lernte. Dieser ließ sie bei sich wohnen, er war fast doppelt so alt wie sie. Doch schon bald zeigte sich, dass er für seine Freundlichkeit eine Gegenleistung erwartete. Und so schickte er sie schließlich auf den Straßenstrich. Gabby wehrte sich nicht, sie fügte sich in ihr Schicksal. Irgendwann nach einigen Jahren starb ihr damaliger Freund bei einem Verkehrsunfall, in der Wohnung blieb Gabby einfach wohnen, dass sie überhaupt etwas hatte. Es war eigentlich die reinste Bruchbude. Und so, weil sie sonst nichts gelernt hatte, nichts konnte, noch nicht einmal einen Schulabschluss hatte, verdiente sie ihr Geld weiterhin auf der Straße, nur dass sie inzwischen das Geld komplett für sich alleine behalten konnte. Sie hatte den einen oder anderen Stammfreier, der ihr, weil trotz der Professionalität mit der sie ihren Job ausübte, bei vielen der Stammfreier irgendwann Gefühle im Spiel waren, immer mal wieder etwas Geld extra gab. Es war nicht viel, und sie kam über die Runden. An die Zukunft mochte sie gar nicht denken, wenn sie alt wäre und keiner sie mehr wollte. Allein jetzt wäre sie ohne ihre Stammfreier vermutlich schon verloren gewesen. Aber nun musste sie sich auf ihre Arbeit konzenrieren, die aktuell vor ihr lag.

Sie fuhren bereits einige Zeit im Wagen, als sie wissen wollte: "Sind wir noch lange unterwegs?"

"Nicht mehr lange.", war die knappe Antwort des Fahrers.

Sie wandte sich zu dem jungen Burschen auf dem Rücksitz um. Er sah nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht, aus. Seine Haare, die fast die Ohren bedeckten, hätte man als straßenköterblond bezeichnen können. Er hatte keine Gesichtsbehaarung, seine mattblauen Augen schauten nicht besonders intelligent, aber auch nicht besonders dumm aus seinem gewöhnlichen Gesicht. Vermutlich war der Junge noch nicht lange aus der Schule draußen. Sie schätzte ihn auf neunzehn oder zwanzig Jahre. "Sind sie der Sohn?", fragte Gabby neugierig.

Dieser grinste. "Nein, ganz sicher nicht."

"Okay." Irgendwie schien der junge Mann die Frage besonders lustig zu finden.

"Aber wir werden sehr viel Spaß miteinander haben, glauben sie mir Lady."

"Da bin ich mir sicher."

"So, jetzt sind wir gleich da." Der junge Mann nahm etwas aus einer Tasche, aber Gabby schaute bereits wieder in Fahrrichtung.

"Prima. Jetzt wo ich mich im Auto endlich wieder aufgewärmt hab, kann ich gleich alles geben."

"Entschuldigung?", sprach der junge Mann grinsend. "Riecht dieses Tuch besonders stark nach Chloroform?"

"Was meinen sie bitte?", fragte die Frau und wandte sich um, als ihr bereits ein weißes Tuch ins Gesicht gedrückt wurde. Ihr entschwanden die Sinne und sie wurde bewusstlos.

Der junge Mann kriegte sich fast nicht mehr ein vor Lachen. "Sorry, aber dieser Spruch musste einfach sein."

"Was soll der Quatsch?", fuhr der Mann am Steuer wütend auf. "Das hier ist kein Spaß, ich erwarte Professionalität. Ich möchte nicht, dass meine Arbeit durch so einen Unsinn gefährdet wird."

"Ach, bleiben Sie mal locker, ein wenig Spaß hat noch niemandem geschadet. Man muss ja nicht immer alles gleich so ernst sehen."

Der Wagen hielt vor einem abgeschiedenen Haus am Rande von Oxford. "Hilf mir lieber, sie schnell reinzutragen, bevor noch jemand vorbeifährt und etwas mitbekommt... Und das bitte ohne blödsinnige Sprüche..."

"Alles klar.", entgegnete er in einem flapsigen Tonfall.

Der ältere Mann seufzte und stieg dann aus dem Wagen.

 

Karen McSlaughter drückte auf den Klingelknopf neben der weißen Haustüre und ein unangenehmer Ton erschrillte. Sie betätigte ihn zwei weitere Male, bis eine stark geschminkte Frau Mitte vierzig in einem marineblauen Hosenanzug und mit blondem leicht auftoupiertem Haar öffnete. Da sie sich bereits telefonisch vorangekündigt hatten, wurden sie und Jack Sanders erwartet und die Frau geleitete sie ins Wohnzimmer und wieß sie an, auf einem der einladenden Sessel, welche mit einem moosgrünen Stoff bezogen waren, Platz zu nehmen. Sie selbst nahm ihnen gegenüber Platz und wartete kurz, bis ein seriös aussehender Mann Ende vierzig mit kurzem grauem Bart und grau meliertem Haar das Zimmer betrat und sich ebenfalls setzte.

Jack spürte, dass das gegenüber sitzende Paar keine Lust hatte, mit ihnen zu reden und eine abwehrende Haltung einnahm. "Ich bin Deputy Jack Sanders und das ist meine Kollegin Mobile Surveillance Officer Karen McSlaughter. Sie beiden sind die Eltern von Nancy Cahill? Martha und Charles Cahill?"

"Das ist richtig.", antwortete der Mann. "Die Polizei war bereits hier und hat uns mehr als genug Fragen gestellt. Wieso kommen sie wieder?"

"Das war am Anfang der Ermittlungen, es haben sich neue Fragen ergeben. Außerdem sind wir Teil einer Task Force, die einen Serienmörder fassen möchte. Dieser Serienmörder ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch der Mörder ihrer Tochter. Also dürfte es auch in ihrem Interesse liegen, unsere Fragen zu beantworten."

"Selbstverständlich werden wir ihre Fragen beantworten."; antwortete Mister Cahill schroff.

"Vielen Dank. Sind ihnen in der Zwischenzeit weitere Detail eingefallen, die zur Klärung des Falles beitragen könnten, auch wenn sie ihnen noch so unwichtig erscheinen?"

"Nein, ansonsten hätten wir sie selbstverständlich bereits telefonisch darüber informiert, so wie es uns die Polizei auftrug."

"Wussten sie, dass ihre Tochter illegale Substanzen zu sich nahm?"

"Was?", erschrak Miss Cahill. "Das ist unerhört, solch eine Unterstellung zu tätigen! Unsere Tochter würde niemals Drogen nehmen, so haben wir sie nicht erzogen!"

Aber ihren Sohn haben sie dazu erzogen, zwei Menschen, bei denen er Wettschulden hatte, mit bloßen Händen zu erwürgen, weswegen er bereits im Knast sitzt?, hätte er am Liebsten geantwortet. Dies wusste er aus den polizeilichen Unterlagen. Stattdessen schluckte er diese Antwort hinunter und erklärte ganz sachlich: "Der Forensiker hat bei der Obduktion ihrer Tochter zusätzlich zu zwei Stoffen, die ihr der Mörder verabreicht haben muss, Spuren von diversen verbotenen Rauschmitteln gefunden. Verstehen sie mich nicht falsch, sie war auf keinen Fall ein Junkie oder süchtig. Auch war der Genuss dieser illegalen Substanzen nicht so hoch, dass Schäden aufgetreten sein könnten, es war vermutlich nur hin und wieder mal, vielleicht wollte sie sich selbst ausprobieren. Tatsache ist jedoch, dass sie diese Drogen eingenommen hat."

"Und selbst wenn das so war!", sprach Nancys Vater lauter werdend. "Was hat das mit dem Fall zu tun?"

"Mehreres.", begann Jack mit ruhiger sachlicher Stimme. "Zum einen hat sie diese, da sie diese wohl kaum selbst hergestellt hat, von irgendjemandem bekommen. Entweder geschenkt oder eben gekauft. Und derjenige, der sie ihr verkauft hat, könnte beispielsweise involviert sein oder zumindest etwas wissen. Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass sie sich, vermutlich nicht nur für die Drogen, prostituiert hat..."

"Das ist eine Lüge!", schrie Nancys Mutter plötzlich. "Das würde mein kleines Mädchen nicht tun."

"Traurige Realität ist, dass viele Studentinnen dies tun ..."

"Aber nicht meine Tochter!"

"Miss Cahill...", versuchte Jack Sanders sie zu beruhigen und schaute kurz zu Karen, die nur zuhörte und die Situation genau beobachtete. "Sie wissen, dass die Polizei den Computer von Nancy beschlagnahmt hat. Unsere IT – Mitarbeiter haben inzwischen herausgefunden, dass ihre Tochter auf einer Webseite angemeldet war, die oft dazu genutzt wurde, sexuelle Dienstleistungen schwarz anzubieten oder in Anspruch zu nehmen. Die Nachrichten, die sie über ihren Account schrieb lassen keinerlei Zweifel zu, dass sie dies auch tat. Die Person, mit der sie sich zuletzt verabredet hatte, das war am Tage ihres Verschwindens, ist sehr wahrscheinlich der Mörder oder ein Komplize des Mörders. Wie bei allen anderen Opfern auch, sind die Handys verschwunden. Der Täter hat sie sehr wahrscheinlich entsorgt. Über die Telefongesellschaften forderten wir, wie auch in den anderen Fällen, Einzelnachweise an, mit wem in den letzten Tagen vor dem jeweiligen Verschwinden, telefonischer Kontakt bestand. Wie bei den anderen auch, ist es in Nancys Fall so, dass die letzten telefonischen Kontakte immer mit einem Prepaid – Handy waren. Diese Handys wurden alle im Zeitraum vor circa einem Jahr verkauft und zwar über ganz Großbrittanien verteilt, jedes in einem anderen Geschäft. Das heißt, wir können davon ausgehen, dass der Mörder alles von langer Hand geplant hat und sehr professionell vorgeht. Er ist nicht dumm, er wird so leicht keinen Fehler machen. Deshalb ist es wichtig zu wissen, ob sie vielleicht irgend jemanden zufällig erwähnt hat. Jemanden, mit dem sie sich treffen wollte oder den sie kennen gelernt hatte."

Miss Cahill war kreidebleich und starrte ins Leere, ohne etwas zu sagen. Ihr Ehemann übernahm diese Aufgabe: "Davon ist uns leider nichts bekannt. Wenn sie jemanden erwähnt hätte, würden wir dies sofort mitteilen. Vielleicht wissen ihre Freundinnen etwas?"

"Diese werden aktuell von unseren weiteren Kollegen befragt. Bislang noch ohne Ergebnis."

Martha Cahill weinte leicht. "Aber wieso...? Wieso hat sie das gemacht? Sie hat doch alles bekommen, was sie nur wollte. Warum hat sie das nur getan? War sie denn nicht zufrieden? Was haben wir nur falsch gemacht, dass das geschehen konnte? Erst ihr Bruder, dann..."

Mister Cahill schaut kurz zu seiner Frau herüber: "Reiß dich bitte zusammen, Martha.", wieß er sie zurecht. "Wir haben überhaupt nichts falsch gemacht. Wir können nicht wissen, was in ihrem Hirn vorging."

"Charles, wie kannst du nur so kalt bleiben?"

"Martha... Lass uns später darüber reden." Dann flüsterte er, doch Jack und Karen konnten es verstehen. "Du lässt dich gehen, das ist in höchstem Maße peinlich für uns beide."

Karen und Jack sahen sich kurz an, dann standen sie fast synchron aus ihren Sesseln auf. "Wir sollten jetzt gehen, wir haben noch einen Haufen weiterer Arbeit vor uns.", erklärte Jack dem Ehepaar zugewandt. "Danke für ihre Zeit."

Als sie schließlich wieder vor der Haustür standen, bemerkte Karen: "Das war jetzt nicht so ergiebig, oder?"

"Nein.", bestätigte Jack. "Aber wenigstens kann ich Nancy jetzt ein klein wenig besser verstehen."

 

Der Mann war mit seiner Arbeit fertig. Alles, was aus dem Körper von Gabby Perez entfernt werden sollte, hatte er entfernt. Jetzt musste er den Rest der Leiche nur noch loswerden.

Der junge Mann, welcher ihm bei der Entführung der nun toten Prostituierten geholfen hatte, schaute auf den leblosen Körper herab, dann grinste er süffisant: "Eigentlich eine Verschwendung. Sie war zwar nicht mehr so taufrisch, aber man hätte doch noch etwas Spaß mit ihr haben können. Ich meine, wenn wir sie sowieso töten, dann ist es doch auch egal, was wir vorher mit ihr machen, oder?"

"Wir tun dies hier nicht zum Vergnügen.", entgegnete der ältere Mann schroff. "Das solltest du langsam begriffen haben."

"Ja, bleiben Sie mal locker. Ich mein ja nur..."

"Was du meinst ist vollkommen irrelevant, hier wird so gearbeitet, wie ich es für richtig halte. Sexuelle Ausschweifungen mit unseren Opfern erhöhen nur das Risiko. Das möchte ich nicht eingehen, nur weil ein pubertierender hormongesteuerter Helfershelfer sein Testosteron nicht im Griff hat und seine Geschlechtsteile in alle Löcher reinstecken möchte, die sich ihm anbieten oder auch nicht anbieten."

Der blonde Junge grummelte. "Das können Sie so jetzt aber nicht sagen..."

"Ich kann sagen, was ich möchte.", war die knappe Antwort, die in einem Tonfall gegeben wurde, die bedeutete, dass die Diskussion beendet war.

Nichtsdestotrotz sprach der Mordhelfer weiter: "Also, nächstes Mal können wir ja wieder 'ne jüngere Frau aussuchen. So eine in meinem Alter wär ganz geil. Und ich würde auch gerne mal an ihr rumschnippeln, das macht bestimmt richtig Fun. Wenn ich daran denke..."

Der Mann seufzte und schüttelte den Kopf. "Es hat einfach keinen Sinn. Du bist einfach ein zu großes Risiko. Und du nervst mich. Das brauche ich nicht mehr..."

"Was meinen Sie damit? Wollen Sie mich etwa rausschmeißen? Das ist nicht fair!"

Der Mann antwortete nicht, sondern beugte sich zu seiner Tasche runter und tat etwas mit den Händen darin, was der jüngere Mann nicht sehen konnte.

"Was tun Sie denn da?", wollte er wissen und kam näher. Statt einer Antwort zog der ältere Mann blitzschnell ein Tuch aus der Tasche und drückte es seinem Komplizen ins Gesicht. Dieser erschrak kurz und verlor daraufhin das Bewusstsein.

Der Mann nahm sein mobiles Telefon und wählte eine Nummer. Nachdem am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde, sprach er in das Gerät: "Ich brauche ihre Hilfe in etwa einer Stunde. Ich muss hier zwei Leichen wegschaffen und mein anderer Helfer erwies sich als zu ein großes Risiko. Ich musste ihn beseitigen. Ich wollte sowieso von Anfang an nicht mit ihm zusammen arbeiten. Zu jung, zu unprofessionell. Aber ich gab ihm eine Chance. Wie auch immer, kommen sie zu unserem dritten Treffpunkt, in einer Stunde. Und bringen sie etwas zum Transportieren mit. Ich möchte keine Blutspur hinterlassen. Ja, ich weiß, dass sie das Vorgehen in – und auswendig beherrschen. Bis nachher dann."

Gerade war er fertig geworden, jetzt konnte er erneut mit der Arbeit beginnen. Naja, so war der Tod seines jungen Komplizen wenigstens noch für etwas gut. Trotzdem würde noch eine ganze Menge zusätzlicher Arbeit auf ihn zu kommen, wenn er mit der Leiche fertig war. Langsam zog er das Rapacuronium mit einer Kanüle auf eine Spritze auf ...

 

Mitch und Maggie warteten lediglich eine halbe Minute, bis sie ins Haus eingelassen wurden. Es war eine weitere Leiche gefunden worden. Es war eine 36jährige Frau gewesen, alleinerziehende Mutter einer 7jährigen Tochter und eines 5jährigen Sohnes.

Die beiden Agenten trafen sich mit Shana Smith, der besten Freundin des Opfers. Die braunhaarige Frau, welche schätzungsweise Mitte dreißig sein musste, geleitete sie zu einem niedrigen Wohnzimmertisch und lud sie ein, auf dem ausladenden grünen Stoffsofa Platz zu nehmen.

"Miss Smith, sie waren mit der Toten ... Verzeihung, mit Maria Winston gut befreundet?", begann Mitch das Gespräch direkt.

"Ja, wir kennen uns schon viele Jahre.", bestätigte Miss Smith traurig. "Ich habe sehr oft auf ihre Kinder aufgepasst, seit ihr Mann bei einem Autounfall vor vier Jahren ums Leben kam."

"Was hat Mrs. Winston beruflich gemacht?"

"Sie hat an einer Grundschule unterrichtet. Sie hat ihren Beruf geliebt. Die Arbeit mit den Kindern hat sie so erfüllt. Die armen Kleinen, wie wird man ihnen das nur beibringen?"

Mitch räusperte sich. "Haben sie zufällig etwas mitbekommen, dass sie eventuell zusätzlich ihr Gehalt mit Prostitution aufgebessert hat?"

Die Brünette schaute entsetzt und ungläubig den Mann, der ihr gegenübersaß an. "Ausgeschlossen. Wie kommen sie denn auf so etwas? Das ergibt gar keinen Sinn. Es würde in keinster Weise zu ihr passen. Es würde auch keinen Sinn ergeben. Ich kenne tatsächlich ihre finanzielle Situation. Auch wenn das Gehalt als Grundschullehrerin nicht so berauschend ist, reichte es sehr gut für ihre kleine Familie und die Wohnung aus. Sie hatte keine Geldsorgen, und wenn sie welche gehabt hätte, dann hätte sie genügend familiäre Unterstützung gehabt. Ihre Eltern und Geschwister wohnen zwar in Cardiff in Wales, aber das Verhältnis ist sehr gut und der Kontakt geblieben. Die Familie ist zwar nicht reich, aber hat genug Geld, um sie notfalls zu unterstützen. Falls es nötig gewesen wäre, was es nicht war. Darüber hinaus hätte sie es niemals über ihr Herz gebracht, so etwas zu tun, da sie ihren verstorbenen Mann noch so sehr liebt. Ich weiß das ganz genau, weil es mich so viel Überredungskunst gekostet hat, dass sie sich wenigstens mal auf einer Dating – Plattform im Internet anmeldet, um eventuell mal einen neuen Mann kennen zu lernen. Für Disco oder andere Veranstaltungen konnte ich sie nicht begeistern, sie war dazu zu schüchtern."

"Moment mal.", meldete sich Maggie plötzlich alarmiert. "Sie war auf einer Datingplattform angemeldet?"

"Ja, wieso?", fragte Shana Smith beunruhigt. "Ist das so wichtig?"

"Vielleicht. Hat sie sich mit jemandem von dort getroffen."

"Das wollte sie, aber kurz davor, ist sie leider verschwunden... Bis man ... Bis man sie am Rande des South Park von Oxford gefunden hatte..."

Maggie sah der Frau ernst in ihre mattbraunen Augen. "Wissen sie zufällig, wie die Seite hieß, auf der sie angemeldet war? Und wie ihr Nickname war?"

"Ja, ich weiß das alles ganz genau, weil ich ihr dabei geholfen hab, ihr Profil auszufüllen. Ich weiß auch ihre Zugangsdaten. Wenn sie möchten, kann ich kurz meinen Laptop holen und mich einloggen. Dann können sie sich ihr Profil direkt anschauen."

"Das wäre sehr hilfreich, wenn sie dies tun könnten.", entgegnete die junge Schottin freundlich.

Zwei Minuten später kam Miss Smith mit einem einfachen kleinen Laptop zurück. Nach drei Minuten war er komplett hochgefahren und zwei Minuten später, waren sie auf der Datingplattform eingeloggt.

"Schauen sie hier, das ist der Mann, mit dem sie sich treffen wollte. Tobi75, so nannte er sich."

"Klicken sie bitte mal sein Profil an."

"Alles klar. Das mache ich." Sie stocktze kurz. "Das ist ja seltsam. Hier steht, das Profil existiert nicht mehr..."

"Das hätte mich auch gewundert! Er hat sein Profil gelöscht." Maggie und Mitch schauten sich mit einem vielsagenden Blick an.

"Aber hier, die Nachrichten kann man noch einsehen.", sprach Shana aufgeregt. Sie überflog sie kurz. "Das gibt es doch nicht! Er bittet sie darum, das Treffen spontan vorzuverlegen. Sie hat sich doch mit ihm getroffen! An dem Tag, an dem sie verschwand... Heißt das..."

"Ja, Miss Smith.", bestätigte Maggie so sachlich und ruhig wie möglich. "Es besteht die sehr große Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mann der Mörder ist. Oder zumindest ein Komplize des Mörders ..."

"Aber ...." Shanas Stimme hörte sich belegt an und es fiel ihr schwer, zu sprechen. "Das heißt doch ... Das heißt doch, dass ich daran Schuld bin, dass sie tot ist! Wie soll ich ihren Kindern nur jemals wieder in die Augen schauen, da sie durch meine Schuld ihre Mutter verloren haben? Hätte ich Maria nicht so penetrant dazu gedrängt, einen neuen Mann kennen zu lernen, dann wäre das alles nicht passiert. Dann wäre sie jetzt noch am Leben und die Kinder müssten nicht ohne Eltern bei ihren Großeltern aufwachsen... Was habe ich nur getan?" Shana konnte die Tränen, die durch ihre schwerwiegenden Schuldgefühle ausgelöst wurden, nicht mehr zurückhalten und brach schluchzend zusammen.

Maggie stand spontan schnell auf und ging zu ihr rüber. Sie nahm Shana in den Arm und versuchte sie zu trösten. Maggie musste ihre ganze Energie aufwenden, um sich selbst gegen die Gefühle, die von Shana ausgingen, abzuschirmen. Die hohe empathische Gabe, welche ein Teil von Maggies Sensitivität war, war in solchen Fällen eine schwere Bürde. Doch dadurch konnte sie auch ausschließen, dass Shana eine Komplizin war. Das fühlte Maggie so stark und war sich hundertprozentig sicher. "Shana, so dürfen sie nicht denken. Das hilft niemandem und bestimmt hätte Maria auch nicht gewollt, dass sie sich Vorwürfe machen. Die einzigen Schuldigen sind der oder die Mörder. Sonst niemand. Das müssen sie sich bewusst machen."

Shana Smith umarmte Maggie ihrerseits, konnte aber nicht aufhören zu weinen. Unter Schluchzen antwortete sie: "Es ist so schwer ... Ich glaube ... Ich weiß, dass sie Recht haben, aber ich fühle mich so schuldig und dumm. Aber Danke, Miss O'Brain... Danke..."

Mitch McSlaughter hatte sich in der Zwischenzeit die Nachrichten durchgelesen. Zu Maggie gewandt sagte er in sachlichem Ton: "Die Fotos, welche er schickte, sehen sehr danach aus, als ob sie einfach aus dem Internet sind. Wenn Mrs. Winston nicht so viel Interneterfahrung hat, wird sie es wohl nicht bemerkt haben. Die angegebene Handynummer werde ich sofort überprüfen lassen, aber vermutlich wird es wieder eine Nummer eines Wegwerfhandys sein, welches irgendwo in Großbritannien in irgendeinem x – beliebigen Handyshop gekauft worden ist. Ich werde auch sofort veranlassen, dass die IP überprüft wird, mit der das gelöschte Profil sich eingeloggt hat. Ich vermute aber, dass es auf ein Internetcafe hinauslaufen wird ..."

Maggie befürchtete das Gleiche. Langsam löste sie sich von Shana. "Wenn ihnen noch etwas einfällt, egal was, rufen sie uns an. Unsere Kontaktdaten haben sie ja bereits erhalten. Und ich kann nur empfehlen, dass sie sich jemandem anvertrauen. Eventuell einem Priester, Seelsorger oder einem Therapeuthen. Schuldgefühle können einen kaputt machen. Und das haben sie nicht verdient. Ich glaube, sie sind ein guter Mensch, denn schlechte Menschen kennen in der Regel so etwas wie Schuldgefühle nicht..."

Shana sah sie dankbar an, bevor sie sich verabschiedeten.

 

Am nächsten Tag kam die Taskforce in der Einsatzzentrale im Thames House zusammen. Die Ergebnissse der IP – Adresse und der Handynummer – Überprüfungen waren genauso ausgefallen, wie Mitch vermutet und befürchtet hatte.

Der Londoner Polizeipräsident Adrian Leppard hatte jedoch bereits wieder Neuigkeiten zu berichten. Er wartete einige kurze Augenblicke, bis er sich sicher war, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Teams hatte. Dann teilte er die neusten Entwicklungen mit: "Heute vormittag wurden gleich zwei neue Leichen gefunden. Diesmal in der Nähe des Headington Hill Parks. Das erste Opfer konnte als Gabby Perez identifiziert werden. Sie war eine ganz gewöhnliche Prostituierte. Das zweite Opfer war männlich. Eine junger Mann Anfang Zwanzig. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er als Stricher gearbeitet haben könnte. Sein Name war Brian Burnton und er ist Student an der Oxford University gewesen, wo er global business studierte. Über ihn gibt es nichts Besonderes auf die Schnelle zu berichten. Stabiles Elternhaus, relativ wohlhabend. Er selbst war ziemlich beliebt und in der Freizeit war er in zwei Sportclubs. Er ist das erste männliche Opfer. Unsere IT – Spezialisten haben seinen PC durchforstet. Er war auf keinen Dating – Plattformen angemeldet. Er hatte keine feste Freundin, ging aber des Öfteren mit verschiedenen seiner Komillitoninnen aus. Es ist ziemlich unsicher, wie der Täter zu ihm Kontakt aufgenommen haben könnte. Momentan stehen mehrere Theorien im Raum. Entweder er hatte eine geheimgehaltene Homo – oder Bisexualität, die er mit dem Täter ausleben wollte, weswegen er sich mit ihm traf. Oder durch einen Zufall bekam er mit, wer der Täter war, möglicherweise war er ein ungebetener Zeuge bei einem der Morde. Dies ist eher wahrscheinlich. Die dritte Theorie besagt, dass er ein Komplize war, der dem Hauptmörder aus irgendeinem Grund zu lästig, gefährlich oder unsicher geworden war, und deshalb von ihm beseitigt wurde. Die erste Theorie kann fast komplett ausgeschlossen werden, da beide Opfer nicht nur zusammen gefunden wurden, was ja inszeniert sein könnte, sondern auch ungefähr den gleichen Todeszeitpunkt hatten. Unser Mörder geht sehr gezielt und planmäßig vor. Ein Doppelmord ist sehr viel unsicherer und riskanter, als ein einzelner Mord. Deshalb hätte er beide eher seperat getötet, wenn es von langer Hand geplant gewesen wäre. Es sei denn, die beiden waren ein Paar. Allerdings konnten bislang keine Verbindungen zwischen Gabby Perez und Brian Burnton nachgewiesen werden. Unsere Profiler favorisieren momentan übrigens die dritte Theorie, also dass Brian Burnton ein Komplize war. Eventuell lockte er junge Frauen in die Falle."

Nach einem kurzen Augenblick ergänzte Jack Sanders die Worte des Polizeipräsidenten: "Brian ist also die zweite Person, die nicht in die bisherige Opferrolle passt. Die Grundschullehrerin Maria Winston, welche ebenfalls vor Kurzem nach bekanntem Muster ermordet wurde, hatte ebenfalls nichts mit Prostitution am Hut. Bei ihr kann ziemlich sicher davon ausgegangen werden, dass sie keine Komplizin war, sondern einfaches Opfer, wenn ich das mal so sagen darf. Es konnte auch keinerlei Verbindung zu einem der anderen Toten nachgewiesen werden. Nun ist die Frage, was der Täter vor hat, beziehungsweise was sein Motiv ist. Möchte er uns durch diesen oder beide Morde auf eine falsche Fährte locken, oder hat er aus irgendeinem Grunde sein Vorgehen beziehungsweise sein Opferprofil geändert? Und wenn ja, weshalb? Ich finde, dazu sollten wir uns alle primär Gedanken machen. Wir müssen herausfinden und einkreisen, was für ein Mensch der Mörder ist und warum er tötet."

"Also es gibt verschiedene Möglichkeiten.", ergriff nun Mitch das Wort. "Serienmörder können töten, weil es ihnen einen Kick gibt, zu töten. Sie können auch töten, weil sie Aufmerksamkeit oder Berühmtheit erlangen wollen. Da sich der oder die Mörder bislang in keinster Weise an die Öffentlichkeit gewendet haben, sondern nur durch ihr Markenzeichen, der besonderen Art der Tötung und Verstümmelung, auf sich aufmerksam machen, ist dies meines Erachtens eher auszuschließen. Denn schließlich ist es nun schon eine ganze Reihe von Morden, aber die besonderen Details werden vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Dies müsste den Täter wütend oder ungeduldig machen, sodass er selber Details an die Presse oder über andere Wege, beispielsweise Internet, durchsickern gelassen hätte. Es geht ihm meiner Meinung nach nicht um Berühmtheit."

"Es könnte Hass sein.", setzte Karen den Gedankengang ihres Mannes fort. "Hass auf Frauen, weil er abgelehnt wurde. Oder Hass auf Prostituierte, weil er sie verabscheut, eventuell religiös motiviert. Wobei keinerlei Hinweise auf einen religiösen Hintergrund gefunden wurden. Aber wenn wir davon ausgehen, dass Brian Burnton ein Komplize war, kann der Hass auf Frauen im Allgemeinen nicht ausgeschlossen werden. Vielleicht ist er auch einfach zu feige, um sich an Männern zu vergreifen. Frauen sind halt leider noch leichtere Opfer. Besonders irgendwelche naiven und vom Leben unerfahrenen Studentinnen. Oder naive Witwen, wie Maria Winston es war."

"Eine weitere Frage ist auch, wieso er ausgerechnet auf diese Art und Weise tötet.", warf Mitch McSlaughter nachdenklich ein. "Wenn er keine Aufmerksamkeit oder Berühmtheit braucht, sondern es nur um das Töten an sich geht, dann kann dies auch auf weniger aufwendige Art und Weise getan werden. Eifert er tatsächlich Jack the Ripper nach, oder ist es ein besonderer Fetisch? Ich denke eher das zweite. Es ist eine Art sexueller Perversion, dass er die Toten auf solche Art und Weise verunstaltet, beziehungsweise es tut, noch während sie am Leben sind. Man hat keine Spuren von Sperma oder Ähnlichem gefunden, also ist es wohl eher eine Art mentaler Stimulation. Eine andere Art und Weise, seine kranken perversen sexuellen Phantasien auszuleben, eventuell."

Bevor noch jemand etwas sagen konnte, warf Maggie schnell ein: "Ich sehe das alles etwas anders." Mit klopfendem Herzen hielt sie die Blicke der gesamten Gruppe aus, die auf ihr ruhten. Schließlich atmete sie kurz und schnell aus, bevor sie weiter sprach: "Wisst ihr noch, wie ich sagte, dass ich eine andere Energie spüre, wenn ich diese Akten ansehe, als zum Beispiel, wenn ich mich mit dem Fall des Jack the Ripper befasse? Eine Kühle. Eine Kühle, die mir Angst macht."

"Geht der Unsinn jetzt wieder los?", grummelte Jack Sanders in sich hinein.

Die blonde Schottin ignorierte den Einwand, den sie sehr wohl gehört hatte. "Dass ich diese Kühle spüre, sagt mir, dass der Mörder sehr berechnend ist und ziemlich rational vorgeht. Ich will damit sagen, es fehlt ihm jede Leidenschaft. Er tötet die Opfer nicht, weil es ihm Spaß macht, oder weil er sich persönlich für sein Verlangen oder seine Phantasien irgend etwas verspricht. Er hat irgendeinen Grund, diese Menschen zu töten."

"Was soll denn irgendjemand davon haben, dass Leute tot sind, wenn es ihn nicht aufgeilt?", wollte Jack wissen.

"Es geht, wie Mitch auch schon anmerkte, nicht nur darum, dass er sie ermordet, sondern wie er sie ermordet."

"Jetzt widersprechen sie aber ihren eigenen Thesen, Miss O'Brain, finden sie nicht?"

Maggie sah ihn mit einem Funkeln in den Augen an: "Nein, das finde ich nicht. Denken sie doch mal bitte nach. Was tut der Mörder denn?"

Mitch mischte sich nun ein: "Er tötet sie alle auf ein und die selbe Weise. Meinst du, das könnte Absicht sein, um uns auf eine falsche Fährte zu locken? Dass wir denken, dass es so sein müsste, obwohl das nur zufällig ist?"

"Teils, teils.", schränkte Maggie ein. "Einerseits denke ich, dass er uns bewusst auf eine falsche Fährte locken möchte, andererseits hat seine Vorgehensweise einen sehr praktischen Hintergrund. Denkt mal bitte alle ganz genau nach. Was tut er ganz genau?"

"Nun, erst betäubt er seine Opfer.", erklärte Forensiker Gordon genauestens. "Dann appliziert er ihnen zwei verschiedene Muskelrelaxanzien. Schließlich schneidet er sie fein säuberlich auf und entnimmt ihnen Innereien. Wegen der Exaktheit und Professionalität gehe ich stark davon aus, dass es ein Arzt, ein Arzt in Ausbildung, ein Medizinstudent oder ein OP – Pfleger ist. Solche Fertigkeiten erlernt man nicht im Internet, durchs Fernsehen, oder wenn man an Tieren übt. Auch ein Metzger oder Schlachter wäre dazu nicht in der Lage. Und wegen der Professionalität und der Planung gehe ich sowieso von einer hohen intelligenz des Mörders aus, weshalb ich es ihm leicht zutrauen würde, ein Arzt oder Student oder etwas Ähnliches zu sein."

"Das sehe ich genauso, Kyle.", bestätigte Maggie O'Brain zufrieden. "Aber jetzt nochmal zurück zum Ablauf. Er entnimmt Innereien der Opfer. Was macht er mit diesen?"

"Einen Teil drapiert er um die Leiche. Immer auf die gleiche Art und Weise, außer bei Brian. In dessen Hände legte er jeweils einen Hoden. Der Großteil der Innereien ist jedoch verschwunden."

"Das ist genau der Knackpunkt." Maggie nickte erfreut. "Was macht man mit Innereien beziehungsweise Organen?"

"Zum Metzger bringen, dass er Wurst draus macht?", schlug Jack Sanders witzelnd vor. "Und so verschwinden gleichzeitig die restlichen Beweise."

"Das glaube ich eher weniger."

"Was will man sonst damit machen? Verkaufen oder was?" Plötzlich fiel bei dem stellvertretenden Generaldirektor der Groschen. "Moment, meinen sie etwa..."

"Richtig." Dann eröffnete Maggie in die plötzlich auftretende Stille hinein ihren Verdacht. "Es geht um Organhandel! Es geht einfach um ein Geschäft. Profit mit Menschenleben. Das Geschäft mit Leben und Tod. Der illegale Handel mit Organen ist einer der lukrativsten Geschäfte der Welt."

Adrian Leppard nickte zufrieden. "Sehr gute Arbeit, Intelligence Analyst O'Brain. Damit ergibt alles ein größeres Ganzes. Jetzt müssen wir nur noch die Puzzlestücke zusammen setzen, um den Täter herauszufinden. Ich glaube nämlich, wir sind jetzt auf der richtigen Spur."

Kyle wandte sich zu Adrian um. "Das passt auf jeden Fall. Ein Arzt hat auch die nötigen Kontakte, Zugang zu Materialien und Ausrüstung sowie das Wissen um so eine Unternehmung durchzuführen."

"Das ist richtig", bestätigte Commissioner Adrian Leppard. "Das bedeutet, wir müssen nun herausfinden, welcher Arzt dahinter stecken könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass der Täter in Oxford wohnt, da bislang alle Morde dort geschahen, sollten wir unsere Ermittlungen vorerst auf den Oxforder Raum beschränken. Die Frage ist, wo wir verstärkt suchen, denn uns stehen nicht unendlich Einsatzkräfte zur Verfügung. Welche Kliniken und Krankenhäuser gibt es dort denn?"

"Oh, da gibt es so Einige...", antwortete Jack Sanders verzweifelt. "Alleine die Oxford University Hospitals umfassen vier große Zentren."

"Und dazu kommen noch die ganzen Privatpraxen oder ehemaligen Ärzte in Oxford....", seufzte Adrian Leppard resignierend während er gewohnheitsmäßig zu seinen Worten mit einer Hand herumwedelte. "Wo soll man da bloß anfangen? Eine Klinik ist so gut oder schlecht wie eine Andere..."

Maggie nahm erneut ihren Mut zusammen und sprach so selbstbewusst, wie es ihr nur möglich war, während ihr Herz immer schneller und härter schlug: "Ich glaube, ich kann die Auswahl der Kliniken stark einschränken und Ihnen die Entscheidung abnehmen, wo sie anfangen sollen zu suchen."

"Ach, und wie soll Ihnen das möglich sein?", bemerkte Jack Sanders in einem hochmütigen Tonfall.

"Durch meine besonderen Begabungen, die Ihnen ja inzwischen zur Genüge bekannt sien dürften..."

"Oh nein, bitte nicht schon wieder so ein Hokus Pokus...."

Adrian Leppard schaute von einem zum Anderen. Von der kleinen zierlichen Schottin zum muskulösen großen stellvertretenden Generaldirektor des MI5 und zurück. Langsam sprach er: "Es ist wie gesagt momentan vollkommen irrelevant, in welcher Einrichtung wir beginnen zu ermitteln. Daraus folgt, dass wir genauso gut beginnen können, wo Miss O'Brain vorschlägt. Wir haben nichts zu verlieren. Und soweit mir zu Ohren gekommen ist, war ihr Instinkt, wo auch immer er herkommen mag, bislang des Öfteren schon sehr hilfreich für die Ermittlungsarbeit des MI5 gewesen..."

"Danke, Mister Leppard.", sprach Maggie erleichtert. "Ich werde mein Bestes versuchen."

"Da bin ich mir sicher."

"Na, dann mal raus mit der Sprache...", mischte sich Jack Sanders erneut ein. "Ich platze fast vor Neugierde."

"So funktioniert das nicht.", antwortete Maggie verärgert. "Ich brauche etwas Zeit. Ich brauche Ruhe. Und vor Allem brauche ich einen Ort, der nicht von negativen Energien verseucht ist, sonst wird das alles nichts."

"Jetzt bin ich also schon eine negative Energie...", meinte Mister Sanders verärgert.

"Das waren ihre Worte.", grinste die kleine Schottin amüsiert.

"Schluss jetzt damit.", schritt Mister Turkildson verärgert sein. "Ich werde sie zu einem Raum geleiten, wo sie ihre Ruhe haben, Miss O 'Brain."

"Vielen Dank. Mitch und Karen können sehr gerne mit mir in den Raum. Oh, und ich benötige eine große Landkarte von Oxford."

"Sie sollen bekommen, was sie benötigen, wenn wir in dieser Mordsache nur endlich weiter kommen..."

Kurz bevor Maggie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal grinsend um: "Ach so, ein paar weiße Kerzen und ein Feuerzeug wären wundervoll, wenn ich die noch bekommen könnte..."

 

Kurz darauf befanden sich Maggie, Karen und Mitch in einem kleinen Zimmer im Thames House, welches von schweren Vorhängen stark abgedunkelt war. Die Tür war verschlossen, damit keine ungebetenen Gäste stören konnten. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer viereckiger Tisch, dessen Fläche fast komplett von einer großen Landkarte von Oxford bedeckt wurde. Im Raum verteilt befanden sich mehrere weiße Stumpenkerzen, deren sanftes natürliches Flammenlicht den Raum wohlig erhellte.

"Im Grunde ist das alles für mich nicht unbedingt nötig.", erklärte Maggie zu ihren beiden Kollegen gewandt. "Wenn ich ein klein wenig Ruhe habe, funktioniert es auch so, aber in einem abgedunkelten Raum, wo keine störenden Einflüsse vorhanden sind, funktioniert es viel leichter und besser. Und da es hier um eine wichtige Sache geht, möchte ich das Risiko, dass meine Ergebnisse falsch sind, minimieren. Schließlich muss der Mörder aufgehalten werden und ich möchte auch keine Steuergelder verschwenden, indem ich die Einsatzkräfte der Polizei auf eine falsche Fährte setze."

"Was sollen wir machen, um dich zu unterstützen?", wollte Karen wissen.

"Nichts. Einfach nur hier sein und ruhig sein. Ich fühle mich wohl, euch in meiner Nähe zu haben, und das hilft schon ganz gut." Maggie nahm ein sehr kleines schwarzes Paket aus ihrer Handtasche. Es war ein Samttäschlein. Aus diesem entnahm sie vorsichtig ein Pendel. Sie hielt es kurz in ihren Händen umschlossen. In ihren Gedanken bat sie das Universum und die guten Geister, ihr zur Seite zu stehen. Dann reinigte sie mental den Raum von allen negativen Schwingungen und bat die Engel um Schutz und Gelingen ihres Vorhabens. Langsam und bewusst atmete die zierliche Schottin mit geschlossenen Augen ein und aus. Dies tat sie siebenmal. Dann öffnete sie die Augen und streckte ihre rechte Hand über den Tisch aus. Zwischen Zeigefinger und Daumen hielt sie das Ende der metallenen Kette des Pendels. Der Pendelkörper war ein nach unten spitz zulaufender Amethyst, welcher von einer silbernen Fassung umschlossen war, welche ihn mit der Kette verband. Die violette Oberfläche des Edelsteins reflektierte sanft das Kerzenlicht. Bitte zeigt mir, wo wir den Mörder finden können. Wo sollen wir unsere Suche beginnen?, bat Maggie in Gedanken. Behutsam bewegte sie die Hand mit dem Pendel über die Karte. Das Pendel bewegte sich kaum, schwang lediglich leicht hin und her. Dann schien es für Maggie, als würde es in eine bestimmte Richtung ziehen. Sie folgte ihrer Intuition und bewegte die Hand in eine die angebahnte Richtung. Die Bewgeung des Pendels veränderte sich. Es wurde immer mehr zu einer Ellipse und irgendwann zu einem Kreis. Als Maggies Hand über einer bestimmten Stelle angekommen war, war es keine sanfte Bewegung mehr, sondern das Pendel beschrieb in einem sehr schnellen Tempo einen immer größer werdenden Kreis. "Danke.", flüsterte die blonde junge Frau leise.

"Wow, was geht denn jetzt mit dem Teil ab?", meinte Mitch verwundert.

"Ich glaube, wir haben einen Anhaltspunkt.", lächelte Maggie und brachte das Pendel mit einem kurzen Ruck zum Anhalten. "Das Pendel hat mir die Oxford University Hospitals gezeigt. Dort hat es sehr stark gekreist. Und um genau zu sein, müsste es das John Radcliffe Hospital in Headington sein."

"Diese Klinik ist ziemlich groß.", meinte Karen nachdenklich. "Ich glaube, die haben ein Herzzentrum, eine Kinderklinik, eine Augenklinik, eine Frauenklinik und noch ein paar Sachen mehr."

"Ja, das Frauenzentrum ist die Abteilung, die wir uns am Genauesten anschauen sollten.", meinte Maggie bestimmt. "Ich glaube, das Pendel wollte mir das zeigen. Außerdem habe ich da so ein Gefühl. Darüber hinaus würde es ja passen, da die meisten Opfer bislang Frauen waren. Vielleicht besteht da ja ein Zusammenhang."

"Das sollten wir unbedingt überprüfen.", bestätigte Mitch. "Wir müssen das alles gleich dem Rest der Task Force mitteilen. Die Mitarbeiter des John Radcliffe Hospitals, insbesondere des Frauenzentrums müssen genauestens gescreent werden."

"Endlich scheinen wir voranzukommen.", freute sich Karen aufgeregt.

 

"Guten Tag, Mister Leppard. Treten Sie nur ein. Sie werden bereits erwartet." Die blonde Chefarztsekretärin wies freundlich, und mit einer gehörigen Portion Respekt vor dem Londoner Polizeichef, der seine offizielle Dienstuniform angezogen hatte, auf eine braune Tür. Gleichzeitig redete sie in die Gegensprechanlage, welche mit dem Büro des Chefarztes verbunden war: "Commisioner Leppard kommt jetzt zu Ihnen rein."

Adrian Leppard öffnete die Tür und betrat ein Zimmer, das zwar nicht klein war, aber dennoch kleiner, als er erwartet hatte. Hinter einem Tisch, auf dem ein flacher Computermonitor stand und mehrere Akten und Papiere auf fein säuberlich getrennten Stapeln lagen, saß der Chefarzt des John Radcliffe Hospitals. Dieser stand auf und reichte Adrian die Hand zur Bergrüßung und es wurden einige Floskeln ausgetauscht. Der Arzt war schätzungsweise Ende fünfzig, hatte graue Haare und machte einen fitten Eindruck, besonders da er sehr schlank war und seine Augen eine starke Intelligenz und Lebenserfahrung ausdrückten. Doch Adrian stand dem in nichts nach.

"Womit kann ich ihnen behilflich sein?", fragte der Chefarzt in einem freundlichen, aber bestimmten Ton, der verlautbaren ließ, dass er viel zu tun hatte und man deshalb besser schnell zur Sache kam.

"Sie haben doch bestimmt von der Mordserie an jungen Frauen in Oxford gelesen?"

"Ja, das habe ich. Wieso ermittelt die Londoner Polizei deswegen? Gibt es Spuren, die nach London führen?"

"Das nicht.", erklärte Adrian sachlich. "Ich bin Teil einer Taskforce, zu der auch das MI5 gehört, und wir arbeiten in enger Kooperation mit der Oxforder Polizei zusammen. Der Polizeichef von Oxford ist auf dem neuesten Stand und für unsere Hilfe dankbar. Wir haben die Zusicherung über die freie Verfügung sämtlicher Polizeikräfte und Ermittler der Oxforder Polizei, in dem Maße, wie wir es für nötig befinden."

"Ich verstehe. Fahren Sie bitte fort." Ein beunruhigter Ausdruck umspielte die stahlgrauen Augen des Chefarztes.

"Wir gehen davon aus, dass der oder die Täter einen medizinischen Background haben. Sehr wahrscheinlich ist es, dass der Täter selbst als Arzt tätig ist oder war. Momentan gibt es Hinweise darauf, dass wir uns in ihrer Klinik umschauen sollten, denn es besteht der begründete Verdacht, dass der Täter einer ihrer medizinischen Mitarbeiter ist oder zumindest mit denen in Kontakt steht."

Die professionelle Maske des Arztes fiel innerhalb von Mikrosekunden von dessen Gesicht. "Das können sie nicht ernst meinen. Das kann nur ein Missverständnis sein. Unsere Mitarbeiter werden genauestens ausgesucht. Wir sind ein renommiertes Haus. Wir haben einen Ruf zu verlieren, weshalb wir peinlichst darauf achten, wen wir einstellen."

"Das ist mir sehr wohl bewusst, Dr Holthof. Aus diesem Grunde rede ich auch mit ihnen persönlich. Wir versprechen, dass nichts an die große Glocke gehängt wird oder die Presse eine große Sache daraus machen wird. Es ist nur in ihrem eigenen Interesse und dem ihrer Klinik, wenn sie eng mit uns zusammen arbeiten und alles daran setzen, eine lückenlose Aufklärung zu gewährleisten."

Dr Bruno Holthof lief der Schweiß unter seinem blauweiß – gestreiften Hemd an der Außenseite seiner Brust entlang. Er war erst seit Kurzem der Chefarzt der Klinik. Wenn es so kurz nach dem Antritt seiner Stellung einen Skandal geben würde, würde das nicht nur der Klinik, sondern ihm selbst und seiner bislang ungetrübtem Reputation schaden. "Selbstverständlich.", setzte er deshalb schnell zu einer Antwort an. "Was benötigen Sie? Brauchen sie eine Liste unserer Mitarbeiter?"

Adrian Leppard lächelte. "Ich erwähnte bereits, dass ich mit dem Security Service zusammen arbeite. Wir besitzen bereits längst eine umfassende Liste aller Mitarbeiter und ehemaligen Mitarbeiter der letzten Jahrzehnte sowie deren Biografien. Was ich möchte, ist eine persönliche Einschätzung jedes einzelnen Mitarbeiters, soweit diese ihnen bekannt sind. Als Chefarzt sollten sie einen guten Überblick über ihre Mitarbeiter haben. Von diesem Wissen möchte ich profitieren."

"Ich werde ihnen in Kürze eine Liste zukommen lassen, wo ich zu Jedem meine persönlichen Einschätzungen und Gedanken notieren werde. Aber ich kann ihnen jetzt schon sagen, dass ich es keinem meiner Mitarbeiter zutraue und ich denke, dass sie da auf einer ganz falschen Fährte sind. Unsere Mediziner sind ganz normale psychisch gesunde und stabile Menschen. Niemand von denen würde so etwas tun, was die Zeitungen berichtet haben..."

"Und das ist nur die Spitze des Eisberges.", kommentierte Adrian Leppard trocken. "Die Wahrheit ist weit grausamer, perverser und hat ganz andere Dimensionen angenommen, als die Zeitungsartikel vermuten lassen. Wir haben bewusst die Presse mit so wenigen Details versorgt, wie es nur möglich war."

Dem Chefarzt wurde bewusst, dass er in einer ziemlich heiklen Situation steckte. Wenn der Täter tatsächlich einer seiner Mitarbeiter war, dann musste dies so schnell wie möglich aufgeklärt werden; und zwar ohne großes Aufsehen. Im Idealfall würde dem Rest des Personals einfach mitgeteilt werden, der betreffende Mitarbeiter habe sich beruflich neu orientiert und ein Angebot einer anderen Klinik angenommen. Oder er wäre aus privaten Gründen ausgeschieden. Ein guter Grund würde schon gefunden werden, aber zuerst müsste der Täter erst einmal unschädlich gemacht werden.

"Comissioner Leppard, ich würde sagen, wir verbleiben erst einmal so, und ich werde ihnen schnellstmöglich die entsprechenden Dokumente faxen."

"Sehr gut." Adrian reichte dem Chefarzt zum Abschied die Hand. "Und ich gehe davon aus, dass unsere verdeckten Ermittler sich frei in der Klinik bewegen können und jede Unterstützung erhalten werden, derer sie bedürfen?"

"Äähm, ... Selbstverständlich." Zum Abschied schenkte Dr. Bruno Holthof ihm ein schiefes falsches Lächeln. Sobald der Polizeichef den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ der Chefarzt sich entkräftet auf seinen Chefsessel zurückfallen und seufzte. "Na super... ", sprach er zu sich selbst. "Das fängt ja alles sehr gut an, Bruno..."

 

Alles Dunkel. Ich kann mich nicht bewegen. Weiß. Ich sehe weiß. Es ist ein Mann in weiß. In einem weißen Kittel. Etwas blitzt auf. Die Reflektionen des Lichtes. Etwas Spitzes. Etwas Scharfes. Ein plötzlichjer Schmerz, als die Reflektionen verschwinden. Rot. Blut. Ein Meer aus Blut. Es umgibt mich. Es spritzt aus mir heraus. Befleckt. Der weiße Kittel ist mit Blut befleckt. Die weiße Weste ist besudelt. Alles verschwimmt. Alles wird rot. Alles wird schwarz. Das Gefühl zu fallen...

Maggie erwachte aus ihrem Dämmerzustand und richtete sich erschrocken auf. Ihr Herz schlug schnell. Sie schaute sich im Raum um. Sie war zu Hause und lag auf dem Sofa. Dort musste sie wohl eingedöst sein, als sie sich kurz hingelegt hatte, um sich etwas auszuruhen. Dieser Fall beschäftigte sie stark. Und dieser Traum, den sie hatte, war kein gewöhnlicher Traum. Es war eine Vision gewesen, die ihr jemand geschickt hatte. Sie waren auf dem richtigen Weg! Das war nur eine Bestätigung von wem auch immer. Keine sehr angenehme Art und Weise, es ihr zu zeigen, aber eben auch eine Möglichkeit.

Maggie fröstelte. Die Erinnerung an die Vision war sehr lebendig in ihrem Bewusstsein. Mit fliegenden Fingern wählte sie die Handynummer von Karen, um ihr den Traum mitzuteilen. Mit irgendjemandem musste sie darüber reden. Außerdem hatte er definitiv eine Bedeutung.

Als Karen nach mehrmaligem Läuten am anderen Ende der Leitung abnahm, schüttete Maggie ihr aufgeregt ihr Herz aus. Karen hörte zu und verstand.

 

Polizeichef Adrian Leppard, der stellvertretende Generaldirektor Jack Sanders und Forensiker Kyle Gordon haben sich am nächsten Tag mit Maggie, Karen und Mitch im Thames House in einem seperaten Zimmer verabredet.

"Gut, dass sie alle kommen konnten.", begrüßte Adrian die Anderen. "Wir sind auf einer ganz heißen Spur. Kyle, würden sie bitte unsere aktuellen Überlegungen und Erkenntnisse darlegen?"

"Sehr gerne." Kyle Gordon legte ein paar Akten auf den Tisch. "Chefarzt Dr. Holthof hat uns einige Akten mit persönlichen Anmerkungen zukommen lassen. Leider waren keine brauchbaren Informationen dabei, die wir nicht schon selbst wüssten. Ich habe mir mit Mister Sanders und ein paar Kollegen die Mitarbeiter der Oxford University Hospitals genauer angeschaut. Insbesondere selbstverständlich die Mitarbeiter des John Radcliffe Hospitals. Und ich denke, wir wurden fündig. Uns ist ein bestimmter Arzt besonders aufgefallen."

"Mach es doch nicht so spannend...", platzte Mitch fast vor Ungeduld.

Kyle wollte sich eigentlich noch ein wenig in der allgemeinen Aufmerksamkeit sonnen, doch dann sah er ein, dass jede Zeitverzögerung vermieden werden musste. Stolz präsentierte er ein Foto, welches er auf die Mitte des Tisches legte. "Dr. Charles Hines. Facharzt für Chirurgie und Gynäkologie. Hat viele Preise gewonnen und ist sehr angesehen in medizinischen Kreisen. Er arbeitet seit 2007 auf der gynäkologischen Abteilung des John Radcliffe Hospitals. Aber das ist noch nicht alles. Nebenbei betreibt er eine private Praxis. Auch gynäkologisch. Sie hat einen starken Zulauf, da sie ein gutes Renommee hat. Aber das Interessanteste an der ganzen Sache ist, dass sowohl die Hausfrau Maria Winston, als auch alle anderen weiblichen Opfer entweder in der Vergangenheit Patientinnen auf der gynäkologischen Station waren oder Patienten in der privaten Praxis von Dr. Hines. Ich vermute, so hat er sich seine Opfer ausgesucht. Er hat die Datingplattformen benutzt, um seine Patientinnen zu finden. Soweit wir herausfinden konnten, hatten alle Opfer öffentliche Photos von sich in ihren Online – Profilen. Dr. Hines musste also lediglich die entsprechenden einschlägigen Datingplattformen durchforsten, bis er bekannte Gesichter sah. Dass ihre Organe alle in Ordnung waren und es sich deshalb lohnen würde, sie zu verkaufen, wusste er bereits im voraus, da er seine Patientinnen logischerweise im Vorfeld auf beruflicher Ebene untersucht hatte. So ging er kein Risiko ein, mangelhafte Ware zu verkaufen. Ich denke mir, auch im Organhandel ist eine gute Reputation von entscheidender Bedeutung, wenn man seine Ware schnell und zu guten Preisen verkaufen möchte. Denn niemandem bringen kranke oder mit Krankheiten infizierte Organe etwas. Die Organe, welche Dr. Hines zum Kauf anbot, waren also sehr vermutlich stets von ausgezeichneter Qualität und ohne Beanstandung."

"Super.", freute sich Karen McSlaughter aufgeregt. "Worauf warten wir noch? Commisioner Leppard, ich gehe mal davon aus, dass sämtliche Polizeikräfte bereits unterwegs sind, um diesen Bastard festzunehmen und für immer hinter schwedische Gardinen zu schicken?"

Adrian Leppard runzelte die Stirn und sah die Agentin mit den hellbraunen langen Haaren resigniert an: "Leider falsch, so einfach ist das nun mal nicht. Wir können ihn nicht einfach so verhaften. Wir haben keinerlei Beweise. Und ich habe bereits mit dem Gericht gesprochen. Trotz des großen Verdachtes bekommen wir keine Sondergenehmigung für eine Haus – und Praxisdurchsuchung. Ich vermute mal, das liegt daran, dass der oberste Richter mit dem inzwischen verstorbenen Vater von Dr. Charles Hines sehr gut befreundet war und sich wohl deshalb irgendwie dessen Familie verpflichtet fühlt. Wie auch immer, wir haben keinen Durchsuchungsbefehl, was mich ehrlich gesagt extrem wütend und traurig macht, und so können wir auch keine Beweise finden. Und dementsprechend können wir Dr Hines auch nicht verhaften. Oder höchstens für einen sehr kurzen Zeitraum zur Untersuchung, doch selbst das dürfte problematisch werden. Der kann uns ganz schön Ärger machen aufgrund seines Geldes und seiner Kontakte. Darüber hinaus wäre er nur gewarnt, wenn wir ihn verhaften würden, sofern er dies nicht schon durch seine Seilschaften oder durch mein Aufkreuzen in der Klinik ist. Das Einzige, was wir momentan tun können, ist ihn unter Beobachtung zu stellen und hoffen, dass er einen Fehler macht und wir ihn quasi... auf frischer Tat ertappen."

Karen McSlaughter fiel bei dieser ehrlichen Offenbarung des Londoner Polizeichefs sprichwörtlich aus allen Wolken. "Das kann doch wohl nicht wahr sein? In was für einer Welt leben wir denn? In was für einem Staat, wo irgendso ein Hurensohn, nur weil er genug Kohle hat und die richtigen Leute kennt, wehrlose Frauen auf perverse Art und Weise um die Ecke bringen darf? Und sich dann mit deren Organen auch noch schön die Taschen voll macht und 'ne goldene Nase verdient? Und das, obwohl er sowieso schon stinkreich ist und den Rachen einfach nicht voll bekommt? Ich könnte kotzen, wenn ich so eine Gülle höre, ganz ehrlich!"

Jack Sanders sah Karen entgeistert ob ihres ehrlichen und heftigen Gefühlsausbruches an, doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Adrian Leppard erneut das Wort: "Ich kann ihre Wut verstehen. Mir geht es nicht anders. Trotz meiner Stellung und meinen Leuten fühle ich eine ähnliche Hilflosigkeit wie sie. Deshalb müssen wir uns jetzt wirklich darauf konzentrieren, Dr. Hines zu überführen, wenn er erneut ein Verbrechen begeht. Und die Zeit läuft. Ich denke, bald wird ihm die Sache trotzdem zu heiß werden und er wird sich in ein anderes Land absetzen. Im Zweifelsfall in ein Nicht – EU – Land, welches keinen Auslieferungsvertrag mit der EU oder Großbritannien im Speziellen hat."

"Und wie sieht nun das weitere Vorgehen konret aus?", wollte Karen aufgeregt wissen. "Ich möchte auch etwas tun. Ich möchte dazu beitragen, dass dieser geisteskranke Killer endlich zur Strecke gebracht wird."

"Oh, das können Sie, wenn Sie möchten." Adrian lächelte aufrichtig. "Ich hatte sogar gehofft, dass sie dazu bereit wären. Es ist nämlich Folgendes: Wie gesagt, es rennt und die Zeit davon. Aus diesem Grunde brauchen wir so etwas wie einen Lockvogel."

"Sie meinen damit, dass ich den Lockvogel spielen soll?"

"Richtig, das habe ich damit gemeint."

"Sehr gerne, ich tue alles was nötig ist, dieses Arschloch hinter Schloss und Riegel zu bekommen."

"Moment mal.", sprach Mitch plötzlich seine Besorgnis aus. "Was heißt denn hier Lockvogel? Was genau soll meine Frau denn tun? Ich möchte nicht, dass ich sie am Ende mit ausgeweideten Innereien vorfinden muss. Ich liebe Sie. Und wir haben eine Tochter. Sorry, Commissioner Leppard, das geht wirklich nicht..."

"Das muss ihre Frau alleine für sich selbst entscheiden.", widersprach Adrian Leppard entschieden. "Sie ist eine ausgebildete und berufserfahrene Agentin des Security Service und ich traue ihr durchaus zu, diese Aufgabe gut zu erledigen. Ich kann natürlich, wenn sie ablehnt, eine andere Agentin darauf ansetzen, aber diese müsste erst in den Fall eingearbeitet werden und ob sie so gut wäre, wie ihre Frau ist, wäre dann auch noch mal eine ganz andere Frage..."

"Ich habe bereits gesagt, dass ich es tun werde.", bekräftigte die Frau in einem Ton, der etwas Endgültiges hatte und bewirken sollte, jede Diskussion zu beenden."

"Karen.", sprach Mitch langsam.

"Mitch, bitte lass mich meine eigenen Entscheidungen treffen. Es ist nicht der erste Fall, an dem ich arbeite und bei dem eine hohe Lebensgefahr besteht."

Mitch ging langsam auf seine Frau zu, ungeachtet der restlichen Anwesenden und nahm sie zärtlich in seine muskulösen Arme. Karen spürte den harten Schlag von Mitchs Herzen, als sie an dessen Brust gedrückt wurde. "Karen, ich liebe dich einfach so sehr. Ich will dich nicht verlieren... Ich habe einfach Angst, wenn du alleine diesem Psychopathen ausgesetzt sein sollst."

"Du wirst mich nicht verlieren.", antwortete Karen gerührt und küsste ihren Ehemann zärtlich auf den Mund. "Und ich werde auch nicht alleine sein."

"Das ist richtig.", bestätigte der Polizeichef sachlich. "Wir werden sie beobachten und überwachen und sobald wir Dr. Hines dort haben, wo wir ihn haben wollen, greifen wir ein und beenden die Situation."

Langsam löste Karen sich aus Mitchs Umarmung. Mitch sah sie liebevoll an´und sprach mit feuchten Augen: "Na gut, ich weiß, ich kann dich sowieso nicht davon abhalten, zu tun, was du tun musst. Bitte pass gut auf dich auf. Denk dran, in Gedanken bin ich immer bei dir. Und ich werde dich keine Sekunde aus den Augen lassen, ich bestehe darauf, dass ich Teil der Observierungseinheit sein werde, die dich auf Schritt und Tritt beobachtet. Ich liebe dich Karen."

"Ich liebe dich auch, Mitch." Karen und Mitch küssten sich erneut, diesmal noch liebevoller, aber auch leidenschaftlicher.

Jack Sanders drehte sich peinlich berührt um und machte so, als würde er etwas in den Dokumenten, welche auf dem Tisch ausgebreitet lagen, durchschauen. Vielleicht sollte wieder eingeführt werden, dass Liebesbeziehungen innerhalb des MI5 verboten sind, dachte er genervt.

 

Karen McSlaughter saß nervös auf einem Stuhl im Wartezimmer der gynäkologischen Privatpraxis von Dr. Charles Hines. In Undercovereinsätzen war sie jedoch bereits so geübt, dass man es ihr äußerlich nicht ansehen konnte. Für jemand Außenstehenden war sie einfach eine ganz normale Brünette mit einem unauffälligen Kleidungsstil, die auf ein Gespräch mit ihrem Hausarzt wartete. Karen hatte ihr äußeres Erscheinungsbild absichtlich leicht verändert. Sie trug billige Stangenware aus einem Kleider – Discounter, schminkte sich leicht etwas zu viel und hatte die Haare zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen gesteckt. Ihre Finger wurden von wertlosem Modeschmuck geziert und sie trug als modisches Assessoire eine etwas zu kleine schwarze Kunstledertasche.

"Ms. Jennifer Smith? Bitte kommen sie in Behandlungsraum eins.", wieß sie nach einer mittellangen Wartezeit die Sprechstundenhilfe an.

"Alles klar." Karen erhob sich langsam und folgte den Schildern, welche dieWege zu den verschiedenen Behandlungszimmern anzeigten. Sie hatte sich dafür entschieden, die Privatpraxis aufzusuchen, da dort die Wahrscheinlichkeit größer war, Dr. Hines persönlich zu treffen, als wenn sie sich einfach in die Klinik einliefern gelassen hätte.

Das Behandlungszimmer war relativ unspektakulär. Im Großen und Ganzen bestand es aus einer weißen Patientenliege, auf der Karen Platz nahm, einem fahrbahren Sessel, zwei Stühlen, Schränken und einem Waschbecken. Die einzige Abwechslung boten zwei Repliken von Gemälden des Malers Claude Monet. Diese Gemälde betrachtete Karen während der fünfzehnminütigen Wartezeit, ohne sie wirklich zu sehen. Ihre Gedanken waren in diesem Augenblick auf andere Dinge gerichtet.

Dr. Charles Hines betrat den Raum mit einem selbstsicheren Gang und schloss beiläufig die Tür hinter sich. Seine kalten graublauen Augen schauten über Karen uninteressiert hinweg. Seine scheinbar gut durchtrainierten Arme zeichneten sich unter dem weißen Hemd leicht ab. Der Gynäkologe hatte eine mittlere Figur, er war weder dick, noch besonders schlank. Seine Körpergröße befand sich leicht über dem Durchschnitt der männlichen britischen Bevölkerung. Unter seinem glatt rasierten Gesicht und dem ebenso glatt rasierten Hals war eine schwarze Krawatte gebunden, die ihm ein etwas geschäftsmäßiges Aussehen verlieh. Die dunklen Kopfhaare waren von einigen grauen Strähnen durchwoben.

"Guten Tag Ms...", er sah kurz auf seine Akte. "Smith. Sie sind eine neue Patientin, wie ich sehe. Aus welchem Grunde sind sie hier?"

"Nun, ich...", stammelte Karen auf eine, wie sie hoffte, unschuldig – naive Art. "Ich bin zu Ihnen gekommen, weil... Weil ich gerne eine Untersuchung hätte."

"Welcher Art sind diese Untersuchungen? Vorsorgeuntersuchungen?"

"Ich benötige eine Untersuchung, ob ich eine ... Eine sexuell übertragbare Krankheit habe..."

"Ok, ich verstehe." Dr. Hines legte die Akte zur Seite und nahm einen Fragebogen zur Hand. "Dann füllen Sie bitte diesen Bogen hier aus. Ich werde Ihnen meine Arzthelferin reinschicken, die bei Ihnen Blut abehmen und Abstriche machen wird."

Karen musste etwas tun, um die Aufmerksamkeit des Mediziners auf sich zu lenken, sonst wäre er schnell wieder weg, ohne dass sie näher an ihn ran gekommen wäre. "Es ist nur ..."

Dr. Hines drehte sich irritiert noch einmal um, da er bereits auf dem Weg aus dem Zimmer hinaus war. "Wie bitte?"

"Ich arbeite ehrlich gesagt als ... Als Prostituierte..." Die letzten Worte flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand. "Ich hab mir das nicht ausgesucht, aber ich habe leider niemals eine Ausbildung durchlaufen. Und da ich ganz allein bin... Meine Eltern starben bei einem Verkehrsunfall, weitere Verwandte habe ich leider nicht... Ich bin auf diese Arbeit angewiesen und ich brauche das Geld einfach. Ich will mir schließlich auch mal etwas leisten können... Ich hoffe, sie können das verstehen... Ich brauche wirklich Geld. Ich mache das nicht, weil es mir Spaß macht oder so..."

"Ich verstehe...", antwortete Dr. Hines und sah sie zum ersten Mal richtig von oben bis unten und wieder zurück an. "Keine Sorge, ich verurteile sie nicht. Es gibt viele Frauen, und auch einige Männer, die diesem Gewerbe nachgehen. Das ist nichts Ungewöhnliches." Er machte eine kurze Pause, während er nachdachte. "Die Ergebnisse ihrer Untersuchung werden bereits übermorgen bereit liegen. Ich möchte dann mit Ihnen darüber reden und alles ganz genau durchgehen, dass sie alles verstehen."

"In Ordnung.", nickte Karen lächelnd in einer hoffnungsvoll wirkenden Art und Weise. "Vielen Dank, Dr. Hines."

 

"Na, wie ist es gelaufen?", bestürmte Mitch seine Ehefrau, als diese zu ihm in sein Auto stieg und auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

"Ich glaube er hat angebissen.", entgegnete diese, während sie ihren Pferdeschwanz wieder öffnete und befreit ihre langen hellbraunen Haare schüttelte. "Übermorgen soll ich nochmal hin, und er will die Testergebnisse mit mir persönlich besprechen..."

"Ui, muss ich eifersüchtig werden?", scherzte Mitch grinsend und küsste seine Frau kurz auf die leicht geöffneten Lippen.

"Ja, klar...", antwortete Karen sarkastisch. "Auf so einen alten reichen unsympathischen Sack, der ziemlich von sich selbst überzeugt rüberkommt und vermutlich ein Serienmörder ist? Immer."

"So alt ist der Sack jetzt auch wieder nicht.", lächelte Mitch.

"Und damit eins klar ist: Nächstes Mal, wenn es so einen Undercover – Einsatz gibt, bist du mal dran. Ganz ehrlich, ich hasse Blut abnehmen lassen." Karen verzog gespielt schmerzlich den Mund und rieb sich über die Armbeuge.

"Alles klar.", musste der muskulöse Mann nun lachen.

 

Dr. Charles Hines indessen befand sich in seinem Büro in der Praxis und setzte sich vor seinen Computer. In seinem Kopf ordnete er seine Gedanken. Diese neue Patientin war für ihn eigentlich noch ein kleines Abschiedsgeschenk. Wenn die Tests ergeben sollten, dass sie gesund ist, dann würde dies sein letztes Opfer werden. Zumindest in Großbritannien. Er hatte mitbekommen, dass seit Kurzem auffällige Leute, vermutlich verdeckte Ermittler, in der Klinik herumstreunern. Langsam wurde es zu heiß für ihn, denn wenn sie schon so nah an ihm dran waren, würde es nicht mehr lange dauern, bis er im Fadenkreuz der Polizei stand. Und darauf wollte er nicht warten...

Der Arzt öffnete seinen Email – Eingang. Er fand die Bestätigungsnachricht, die er zu finden gehofft hatte. Alles war geklärt. In einer Woche würde er in einen Flieger steigen und Europa für immer verlassen. Dann könnte die Polizei, ja selbst Interpol, einen Kopfstand machen, und sie könnten nichts mehr ausrichten. Da, wo er von nun an leben würde, würde ihn die Polizei nicht erreichen können. Und er würde seinen Reichtum in vollen Zügen auskosten.

Sein Gehalt aus der Klinik und die Einkünfte aus der Praxis waren zwar sehr hoch, aber sie waren nichts im Vergleich zu dem Vermögen, was ihm der Organhandel eingebracht hatte. Die ganze Planung, das ganze Risiko, das würde sich alles nun bezahlt machen. Das Einzige, was ihm noch zu tun blieb, wenn er im neuen Land leben würde, wäre der Verkauf seiner Autos und seines riesigen Hauses über einen Strohmann. Auch dies dürfte kein Problem darstellen.

Er schaute sich noch einmal die Akte seiner neuesten Patientin an.

Oh, Jennifer Smith, sie werden sich noch wünschen, sie wären das Risiko einer sexuell übertragbaren Krankheit eingegangen. Denn das, was sie erwarten wird, dürfte für sie um Einiges schlimmer sein. Der Gynäkologe grinste und schloss die Patientenakte wieder.

 

Der Plan schien aufzugehen. Zwei Tage später wurde Karen McSlaughter persönlich ins Büro von Dr. Charles Hines berufen.

Langsam und absichtlich etwas schüchtern gespielt nahm die Brünette auf dem Sessel vor dem Schreibstuhl des Arztes Platz, als dieser sie dazu ermutigte.

"Miss Smith.", begrüßte der ältere Gynälologe seine vermeintliche Patientin. "Schön, sie wieder zu sehen. Wie fühlen Sie sich?"

"Eigentlich ganz gut.", antwortete Karen langsam. "Wieso fragen Sie? Stimmt etwas mit meinen Ergebnissen nicht? Bin ich etwa krank? Um Himmels Willen, so sagen Sie doch endlich etwas... Ich flehe Sie an!" Karen machte die Rolle der unsicheren, leicht hysterischen Hure immer mehr Spaß, besonders wenn dieser Gynäkologe darauf hinein fiel. Er war eben doch nur ein Mann, der Frauen unterschätzte und keinen Verdacht schöpfte, wenn sie sich bereitwillig in die sogenannte Opferrolle einfügten.

"Nun mal ganz langsam, Miss Smith..."

"Sie haben gut reden...", murmelte Sie, gerade noch so laut, dass der Arzt es hören musste.

"Miss Smith..." Dr. Hines musste wider Willen grinsen. Was für ein dummes Ding diese Frau doch war... Ein allzu leichtes Opfer... "Sie sind kerngesund. Alle Ergebnisse sind einwandfrei und zu meiner vollsten Zufriedenheit. Ich wollte ihnen die freudige Nachricht nur persönlich mitteilen."

"Ehrlich?" Karen zwang sich zu einem dümmlich erleichterten Lächeln und kam sich dabei schon reichlich minder bemittelt vor. "Oh, haben Sie tausend Dank, Herr Doktor. Das ist sehr nett von Ihnen. Jetzt bin ich beruhigt."

"Ich habe Sie ehrlich gesagt noch wegen etwas Anderem zu mir gebeten... Es ist mir ein wenig peinlich, aber sie sind nun einmal eine attraktive Frau, und ich wollte Sie fragen... Ob ich vielleicht ihre Dienste in Anspruch nehmen dürfte. Ich bezahle auch sehr gut."

"Oh.", spielte Karen die Überraschte. "Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet..."

"Ich weiß, ich bin ihr Arzt, aber ich kann Berufliches und Privates sehr gut trennen."

"Hm, in Ordnung. Wann passt es Ihnen denn am Besten?"

"Wie wäre es direkt mit jetzt? Ich kann Feierabend machen, wenn ich möchte. Ist schließlich meine eigene Praxis. Ich kann sie an einen sehr schönen ruhigen Ort mitnehmen, wo wir ungestört sind. Na, was sagen Sie dazu?"

"Ich hätte tatsächlich Zeit und noch nichts vor, wenn ich so überlege, Dr. Hines. Ja. Ja, ich denke, ich komme mit Ihnen mit. Ich habe jetzt nur keine... Wie soll ich sagen... Keine Kondome dabei...."

"Das ist kein Problem, Miss Smith. Ich habe alles was wir brauchen an dem Ort, zu dem wir gleich fahren werden. Warten Sie nur noch kurz, ich muss gerade noch ein wichtiges Telefonat führen, dann bin ich ganz für Sie da und stehe zu ihrer Verfügung. Und Sie hoffentlich auch zu meiner..."

"Selbstverständlich, Dr. Hines."

"Nennen Sie mich bitte Charles.", grinste der Gynäkologe und schaute Karen dabei in die Augen. "Schließlich sind wir nun privat und unter uns."

 

Etwa eine Stunde später war es Karen doch etwas mulmig zu Mute, als sie mit dem Arzt in ein ihr unbekanntes Haus eintrat und sie eine dunkle alte Treppe nach oben stiegen. Sie betraten gemeinsam ein kleines düsteres Zimmer. Dr. Hines schloss die Tür hinter sich.

"So, da wären wir.", sprach der Arzt feierlich. "Dies wird unsere kleines Liebesnest sein."

"Äähm... Ja, schön."

"Wissen, Sie, Miss Smith, ich erwarte schon Einiges für mein Geld. Und ich habe da ein paar gewisse Vorlieben... Wie sieht es denn bei Ihnen mit Fesseln aus?"

"Ja, also ich kann Sie gerne fesseln, wenn Sie das möchten."

"Das haben Sie wohl missverstanden.", entgegnete Dr. Hines mit eiskalter Stimme. "Ich möchte, dass Sie gefesselt werden."

"Ich weiß nicht so Recht..."

"Aber ich weiß es dafür umso sicherer." Dr. Hines nahm Karen unsanft am Handgelenk und zog sie weiter in den Raum hinein. "Sie werden sich nun ausziehen, dann legen Sie sich auf das Bett und ich werde ihre Hände und Füße an das Bettgestell fesseln."

Karen sah den Arzt missmutig an. Das ging nicht. Wenn sie sich fesseln lassen würde, dann könnte sie sich nicht wehren und sie wäre ihm schutzlos ausgeliefert. Mit einem entschiedenen Ruck befreite die Britin ihr Handgelenk aus den Fängen des Arztes. "Nein, das werde ich nicht tun."

Einen kurzen Moment schaute Dr. Hines sie wegen ihres überraschenden Widerstandes verblüfft an. Es war bislang ja wohl auch zu glatt gelaufen. Aber das würde nun auch keinen Unterschied mehr machen. "Es ist nicht so, als ob Sie in der augenblicklichen Situation noch die Wahl hätten. Sie werden tun, was ich von Ihnen möchte, ganz egal, was."

"Sie können mich nicht zwingen!", schrie Karen so laut sie konnte.

"Und ob ich das kann.", stelle der Gynäkologe sachlich fest.

In diesem Augenblick nahm Karen aus dem Augenwinkel etwas wahr. Ein Geräusch und ein Schatten. Etwas kam langsam auf sie zu. Starke Arme umfingen die Agentin. Blitzschnell begannen die jahrelang antrainierten Refelexe ihre Handlungen zu übernehmen. Mit einer schnellen Drehung und Beugung befreite sie sich aus dem drohenden Griff, wirbelte herum, schubste den Mann gegen die Wand und mit einer weiteren instinktiven Bewegung, in die sie ihr ganzes Gewicht legte, rammte sie ihm den Ellbogen gegen den Hals. Die Spitze drückte den Kehlkopf ein, was ein unschönes Knacken ergab und daraufhin folgte ein ersticktes Röcheln.

Noch in der gleichen Sekunde spürte sie etwas Weiches auf ihrem Mund und ihrer Nase. Jemand – Dr. Charles Hines – drückte ihr ein Tuch ins Gesicht. Sie wollte sich wehren und schlug kraftlos nach dem Angreifer, doch sie war zu schwach und verlor das Bewusstsein. Das Letzte was sie sah, war ein panischer Ausdruck auf dem Gesicht eines gut aussehenden Mannes, der in etwa in Mitchs Alter sein musste. Dessen normalerweise attraktive braune Augen waren nun mit feinen roten Blutäderchen durchzogen.

Dr. Charles Hines nahm die Hand von Karens Gesicht und ließ den Körper einfach zu Boden gleiten. "Du verdammtes Miststück." Er schüttelte ungläubig den Kopf. "Wer bist du nur? Mich so hinters Licht zu führen, ist noch wenigen gelungen. Ich werde dir schon gebührend zu danken wissen. Und im Grunde hast du mir ja doch schon einen guten Dienst erwiesen. Mein Mitwisser ist nun weg vom Fenster. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, ob und wie ich ihn auf die Schnelle vor meiner Abreise erledigen könnte, aber nun ist auch dieses Problem gelöst."

Ein allerletzter erstickter Laut, ein letztes Aufbäumen der starken Brust unter dem Hemd, dann war des Schlitzers Komplize für immer verstummt.

 

"Verdammt!" Mitch warf ein kleines elektronisches Gerät wütend auf den Boden des Autos, auf dessen Rücksitz er und Maggie saßen. Jack Sanders saß am Steuer des unauffälligen schwarzen Fords. "Das kann doch echt nicht wahr sein! Wir haben sie verloren. Wir haben den Kontakt zu meiner Frau verloren!"

Jack schaute über den Rückspiegel in das wütende Gesicht des Agenten. "Beruhigen sie sich. Das kann ja nicht sein, dass der Peilsender ausgefallen ist. Das Ding wurde kurz vor dem Einsatz noch überprüft."

"Und trotzdem ist es so. Ich bin doch nicht bescheuert!" Mitch schaute wütend aus dem Fenster und sah die Oxforder Innenstadt an sich vorbei ziehen. "Wir haben keinen blassen Schimmer, wohin dieser geisteskranke und skrupellose Killer meine Frau hin schleppt."

"Das ist so nicht ganz richtig.", warf Jack ein. "Wir haben, bevor wir den Kontakt verloren, den Cherwell überquert. Das heißt, so ungefähr können wir schon das Stadtgebiet eingrenzen."

"Ungefähr bringt uns aber nichts. Wenn wir doch wenigstens den Wagen nicht auch aus den Augen verloren hätten."

"Eben. Die sind in eine der kleinen Nebenstraßen abgebogen, sonst hätten wir sie nicht so schnell verloren. Und eine dieser Straßen wird demzufolge auch das Ziel sein."

"Also müssen wir jetzt wie ein Haufen Idioten im Stadtteil rumfahren, durch alle Nebenstraßen durch, und hoffen, dass wir irgendwo das Auto von Dr. Hines vor einem der Häuser entdecken?"

Jack nickte. "So sieht es leider aus."

"Das klappt ja mal wieder hervorragend.", sagte Mitch augenrollend im sarkastischsten Ton, zu dem er im Stande war. Dann schaute er zu Maggie herüber. "Kannst du irgend etwas spüren?"

Maggie nickte leicht. "Ja, ich habe eine ungefähre Ahnung. Ein zerbrechliche Signatur ihrer Energie. Ich kann sie wahrnehmen, aber nicht so klar und deutlich, wie ich es gerne hätte."

"In Ordnung. Dann müssen wir Beides kombinieren. Die leisen Vorahnungen und das planlose Herumfahren. Ich hoffe nur, dass das ausreicht und wir sie finden, bevor es zu spät ist."

 

Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Dann langsam ein diffuses Licht. Sie versuchte die Augen zu öffnen, den kurzen Spalt, welchen die Lider nach einiger Zeit frei gaben, offen zu halten. Doch es war so anstrengend, ihre Lieder waren so schwer und sie selbst fühlte sich so schwach. Die Müdigkeit verschwand nur langsam aus ihrem Bewusstsein. Immer noch war sie zu Boden gepresst durch eine scheinbar unendlich schwere Last. Endlich, nach einer gefühlten Unendlichkeit von schmerzhaften Herzschlägen, die in ihrem Schädel dröhnend widerhallten, als hätte sie mehrere Abende hintereinander zu tief ins Glas geschaut, war es ihr möglich, die Augen geöffnet zu halten. Das erste, was sie sah, offenbarte ihr die Erkenntnis, dass sie aus einem traumlosen Schlaf erwacht war, nur um sich in einem weitaus grauenvolleren Albtraum wieder zu finden. Nein, etwas Schlimmeres als ein Albtraum, denn es war die Realität. Das Erste was sie sah waren die kalten und berechnenden Augen des Dr. Charles Hines.

Zuerst wurde Karens Fluchtinstinkt aktiviert. Plötzlich mobilisierte sie alle Kräfte, welche sie trotz ihres sedierten Zustandes besaß und katapultierte sich nach oben, beziehungsweise versuchte sie es. Ein letztes Aufbäumen, bevor sie erkannte, dass sie vollkomen hilflos und dem mitleidslosen Mörder ausgeliefert war. Keine zehn Zentimeter konnte sie sich bewegen, denn sie war ans Bett gefesselt. Beide Handgelenke und beide Fußgelenke waren mit ledernen Schnallen über feste Bänder an den Bettpfosten fixiert. Panik stieg in ihr auf, doch sie versuchte diese zu unterdrücken, so gut sie konnte. Während ihrer Ausbildung als Agentin des MI5 hatte sie einige wirkungsvolle Techniken erlernt. Mit diesen sollten im Idealfall schlimmste Folter ertragen werden können. Doch die Realität sieht immer anders aus, als die graue Theorie, wenn man ihr erst einmal ins Auge blicken muss.

Und nun erkannte Karen auch endlich, dass sie nackt war. Sie konnte nichts verbergen, es war ihr jeglicher Schutz genommen worden. In Gedanken sagte sie sich, dass dies im Augenblick ihr kleinstes Problem war. Sie hatte auch nur einen Körper, wie tausend Andere auf dem Planeten und es spielte in keinster Weise eine Rolle, ob dieser Psychopath wusste, wie ihr nackter Körper aussah, oder nicht.

"Na, ist die dumme Nutte endlich aufgewacht?", fragte Dr. Hines höhnisch.

"Du Arschloch, halts Maul!", schrie Karen so gut sie noch konnte.

"Pass bloß auf, was du sagst, Miststück."

"Wieso? Sie töten mich so oder so auf eine bestialische und grausame Art und Weise. Daran ändert mein Verhalten Ihnen gegenüber doch überhaupt nichts mehr, Fotze.", versuchte Karen ihre Angst mit Sarkasmus und Frechheit zu überspielen. Zum Teil funktionierte es.

"Jetzt pass mal auf, Fräulein....", fuhr Dr. Hines kurz hoch, bevor er seine Emotionen wieder unter Kontrolle hatte. "Ich möchte wissen, wer du bist. Du bist keine Hure, zumindest keine, die dies als Beruf ausübt. Du arbeitest für Jemanden, da bin ich mir sicher. Ich habe Verkabelungen und anderen elektronischen Schnickschnack an deinem Körper gefunden, als ich ihn auszog. Er schien nicht mehr so gut zu funktionieren, denn er sah irgendwie kaputt aus. Zur Sicherheit habe ich alles entsorgt, es existiert nun nicht mehr. Du brauchst also gar nicht auf Verstärkung zu hoffen. In dieser Straße findet uns keiner. Und das Auto habe ich vorsichtshalber in der Garage geparkt, dass man es von außen nicht sehen kann, falls jemand dieses Auto suchen sollte. Also, für wen arbeitest du? Eine Reporterin oder Journalistin scheinst du nicht zu sein, sonst hättest du ihn hier ...", er zeigte auf eine männliche Leiche am Boden, zumindest erahnte Karen das, denn sie konnte es aus ihrer Position nicht eindeutig erkennen. "... nicht ausschalten können. Also wäre Polizei möglich, die haben sowieso im Hospital herumgeschnüffelt. Dachten wohl, das fällt mir nicht auf."

"Kannst ja raten...", erwiderte Karen lakonisch.

"Das ist mir zu blöd. Egal, für wen du arbeitest. Das spielt bald keine Rolle mehr."

"Und sie arbeiten mit der Organmafia zusammen. Sie bringen unschuldige Menschen, meistens Frauen um, sobald sie deren gesundheitlichen Background gecheckt haben, weiden sie aus, wie ein geisteskranker Schlachter, und mischen dann großspurig im internationalen Organhandel mit. Das ist sowas von krank."

Dr. Hines stockte kurz. Dann entgegnete er, als würde ihn das alles nicht sonderlich überraschen: "Oh, da hat jemand seine Hausaufgaben aber gründlich gemacht. Wird dir und den Leuten, für die du arbeitest, aber nicht mehr viel nützen, wenn ich weg bin. Und krank ... Nein, ich glaube nicht, dass ich krank bin. Ich sehe die Dinge einfach nur etwas pragmatischer. Es ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das sind die Spielregeln, wie unsere Welt im Großen und Kleinen funktioniert. Jemand benötigt Organe, ich liefere sie. Und Organe sind knapp, eine Rarität, denn man bekommt sie nicht beim Supermarkt um die Ecke. Wenn du wüsstest, wieviel eine Millionär oder Milliardär für eine neue Lunge ausgibt, weil er bei der Spenderliste ganz am Ende steht, weil er das Kettenrauchen nicht sein lassen will. Oder eine neue Leber oder eine Niere für einen stinkreichen Alkoholiker. Es heißt immer, man kann sich mit Geld nicht alles kaufen. Liebe und Gesundheit und so weiter. Bei Liebe mag das stimmen, doch da kann man sich wenigstens die Illusion davon leisten. Doch Gesundheit ist schon lange etwas, was man käuflich erwerben kann. Es kommt immer nur darauf an, wie viel Geld jemand hat. Da geht es nicht um ein paar Tausender, das geht es um viel mehr. Geld, Macht und Einfluss. Und Macht und Einfluss kommen durch Geld. Fast nichts ist mehr unmöglich, und sobald man ein Gehirn transplantieren kann, wird man sich auch die ewige Jugend erkaufen können, doch das ist jetzt ein anderes Thema. Was ich eigentlich hier ausführen wollte, war die Tatsache, dass nicht ich krank bin, sondern wenn überhaupot jemand krank ist, dann die ganze Welt, die dieses System erschaffen hat, dessen ich mich lediglich bediene, dessen Regeln ich bis in letzter Konsequenz folge und dessen innigste Bedürfnisse ich befriedige."

Karen hatte eigentlich nur Zeit schinden wollen, da sie immer noch die verzweifelte Hoffnung besaß, dass jemand sie rechtzeitig finden und retten würde, doch die Ausführungen von Dr. Charles Hines, so verdreht und krank sie auch waren, so logisch und wahr waren sie doch in gewisser Weise. "Dr. Hines, es ist jedoch ihre Entscheidung, ob sie bei diesem kranken System mitmachen wollen, oder ob sie sich dem entziehen."

Der ältere Arzt zuckte desinteressiert die Achseln und öffnete einen Koffer, der neben dem Bett stand. "Genug geschwafelt. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Ich habe noch so Einiges vor, und du verschwendest hier nur meine Zeit mit deinem pseudomoralischen Gutmenschentum, Fräulein." Langsam und präzise zog er eine Flüssigkeit durch eine große Kanüle in eine durchsichtige Spritze. "Und jetzt gibt es erst einmal etwas zur Beruhigung."

Der Arzt setzte die Spritze in die linke Ellenbeuge Karens an. "Wackel mal nicht so.", gab er zu Befehl und fixierte den Unterarm zusätzlich mit einem Knie. Dann stach er die Kanüle in die Vene und spritzte die Flüssigkeit ganz langsam hinein.

Langsam wurde Karens Körper wieder schwer. Es fiel ihr schwer zu sprechen, schwer zu denken. Den Rest des Körper konnte sie gar nicht mehr bewegen. Ein Kribbeln breitete sich aus, als ob ihr Körper eingeschlafen sei. Der kalte Schweiß brach in ihrem Nacken aus, als sie sah, welche Gerätschaften der Arzt aus seinem Koffer herausholte. Nachdem sich dieser sterile Handschuhe übergezogen hatte, nahm er ein Skalpell und setzte es langsam auf die Haut der Frau auf. Ein langer scharfer Schnitt, jedoch nur oberflächlich. Es war gerade mal die oberste Hautschicht aufgeritzt, doch ein intensiv roter Blutfaden bildete sich und kleine Bahnen dieser Flüssigkeit flossen am gewolbten Unterleib wie Bäche von einem Hügel ins Tal. Die Rinnsale füllte den Bauchnabel langsam, bis ein minimalistischer See entstand. Karen atmete aus und wieder ein, der Bauch hob sich, das Blut floss den Intimbereich hinab färbte die äußeren Schamlippen karmesinrot.

"Na, wie fühlt sich das an?", grinste Dr. Hines höhnisch.

"Hören Sie damit bitte auf...", wimmerte Karen nur noch kraftlos.

Der Arzt sah sie kurz an, lächelte kalt und legte das Skalpell zur Seite. Anschließend zog er die Handschuhe wieder aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. "Sie haben Recht. Ich höre damit auf. Ich verschwende nämlich nur meine wertvolle Zeit mit Ihnen. Ich habe mehr als genug Geld, ich brauche nicht ein unnötiges Risiko einzugehen, indem ich meine Zeit mit Ihnen verschwende und auf den letzten Drücker versuche, neue Organe an den Mann zu bringen. Ich habe etwas viel Besseres für Sie dabei."

Karen starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, dann entspannte sie sich etwas. Alles war besser, als bei lebendigem Leibe ausgeweidet zu werden. Zumindest hoffte sie das. Sollte es jetzt wirklich soweit sein? Würde sie nun schon bald selbst erfahren, wie es auf der anderen Seite aussah? Wenigstens würde sie dann ihre Oma wieder sehen. Wenn alles auch nur ansatzweise so war, wie sie sich das immer vorgestellt hatte. Aber Moment, was dachte sie denn da? Noch war sie am Leben, und das wollte sie auch bleiben. Dann sah sie die große Spritze. Sie wusste sofort, dass dies nicht nur eine weitere Sedierung sein würde, sondern etwas viel Grausameres.

Ohne Hast trat Dr. Charles Hines zu ihr hin und suchte nach einer geigneten Injektionsstelle. "Sie haben sehr gute Venen. Es dürfte keine Probleme geben. Das wird ein Kinderspiel werden." Der Arzt sprach dies nicht drohend aus, sondern als sachliche Feststellung. "Ah, da haben wir ja schon die perfekte Vene." Er stach die Kanüle langsam hinein.

Dann ein Knall. Die Tür flog auf. Jack Sanders und Mitch McSlaughter stürmten ins Zimmer. Dicht gefolgt von Maggie O'Brain. Jack schoss mit seiner Revolver und noch in der gleichen Sekunde zersplitterte der Glaskolben, welcher die Injektionsflüssigkeit enthielt in einem Scherbenregen.

"Verflucht!" Der Arzt fuhr herum. Er sah die Angreifer. Er überflog und analysierte die Situation in Sekundenschnelle. Seine Pistole befand sich im doppelten Boden seines Koffers. Die würde ihm nichts nützen. Das am Nächsten liegende Objekt, welches als Waffe zu nutzen war, war das blutige Skalpell, welches in Reichweite zwischen Karens Beinen auf dem Bett lag. Er griff schnell danach. Gegen zwei offenbar gut ausgebildete Schützen mit Revolvern würde er so nichts ausrichten können. Auch die Frau auf dem Bett als Geisel zu nehmen, hätte wenig Aussicht auf Erfolg. Er wollte nicht ins Gefängnis. In einer Kurzschlussreaktion rammte er sich das Skalpell seitlich in den Hals. Noch bevor er es hinüber ziehen konnte, um sich die Kehle aufzuschlitzen und somit schnell aus dem Leben zu scheiden, erfüllte der Lärm von zwei nahezu gleichzeitig abgefeuerten Waffen das Zimmer, danach zwei weitere. Sowohl die Kugeln aus Jacks Revolver als auch die aus Mitchs Revolver trafen innerhalb eines Augenblicks zuerst die Hand des Arztes, welches das Skalpell hielt, danach die Schulter, sodass der Killer zurück geschleudert wurde, vom Bett fiel und mit dem Kopf hart an der Wand anstieß. Das Skalpell war aus seinem Hals gefallen. Sowohl die Wunde am Hals, als auch die Wunden an Hand und Schulter bluteten stark, jedoch nicht übermäßig massiv.

Jack rannte auf den Arzt zu, stieß ihn komplett zu Boden, sodass er auf dem Bauch lag, und riss die beiden Hände nach hinten. Der muskulöse Mann nahm die Handschellen hervor und ließ sie, unbeeindruckt der schmerzvollen Schreie seines Gegners, einrasten. "Sie sind verhaftet!", schrie er ihm dabei ins Ohr.

Maggie und Mitch liefen schnell zu Karen ans Bett. "Karen, bist du verletzt?", rief Maggie panisch, als sie das Blut auf Karens Bauch sah.

Mitch nahm die Hand seiner Ehefrau und hielt sie fest. "Was hat dieser Bastard dir nur angetan?"

"Mitch...", murmelte Karen lächelnd. War das ein Traum? War sie bereits tot? Oder war sie tatsächlich gerettet? "Mitch... Das... Das hat aber echt lange gedauert...."

Erschöpft fiel Karen in einen erholsamen Schlaf.

 

Einen Tag später im Krankenhaus konnte sich die Agentin bereits angeregt mit ihren Freunden unterhalten.

"Ach, dann hab ich meine Rettung zu großen Teilen, dir zu verdanken, Maggie?"

Maggie lächelte. "Ach, ohne die Anderen..."

"Unsinn!", fiel ihr Mitch aufgeregt ins Wort. "Das war dein Verdienst Maggie! Karen, du hättest die mal hören sollen! Plötzlich mit einer solchen Präsenz und in einem Befehlston, den man ihr nie zugetraut hätte: Halt! Ich spüre es ganz deutlich! Wir müssen da rein! Ganz genau da! Nein, halt, ich sagte in diese Straße! Schnell, das dritte Haus. Nun gib schon Gas! Sofort anhalten! Und jetzt raus! Zieht schon eure Waffen! Schneller jetzt, oh mein Gott, beeilt euch doch! Mann, wir hatten alle eine Gänsehaut."

"Ja, irgendwie wusste ich selbst nicht, was da los war. So stark spüre ich selten etwas, aber es war noch etwas Anderes. Als ob mich jemand geführt hätte. Als ob eine andere Wesenheit Kontrolle über mich erhalten hätte. Aber trotzdem war ich immer noch ich. Ich wusste nur ganz genau, wo wir hin mussten und was zu tun war. Und trotzdem fühlte ich mich ganz anders. Ich glaube, jemand da oben braucht dich noch, Karen, und deshalb durfte dir nichts geschehen."

"Wir hier unten brauchen sie auch noch.", grinste Mitch und küsste Karen kurz auf den Mund. "Und nicht nur ich, sondern auch unsere Tochter Sikhudani braucht dich, Karen."

"Ganz egal, was letztendlich zu meiner Rettung beigetragen hat, ich bin einfach froh, alles relativ unbeschadet überstanden zu haben." Karen ergirff Mitchs und Maggies Hände und drückte beide zärtlich. "Auch wenn ich vermutlich um ein paar Stündchen bei unserem Betriebspsychologen nicht herum kommen werde. Naja, macht nichts, reden tue ich sowieso gern und der hält wenigstens die Klappe wenn ich was sage. Und am Allerwichtigsten ist, dieser irre Killer – Arzt ist aus dem Verkehr gezogen und ich hoffe, er kriegt so eine fette Strafe, dass er nie mehr aus dem Gefängnis herauskommt!"

 

Einige Tage später, als Karen aus dem Krankenhaus entlassen worden war, trafen sie, Mitch, Maggie, Jack, Adrian und Mister Turkildson sich mit Kyle Gordon im Thames House zu einer Nachbesprechung des Einsatzes.

"Die Ergebnisse aus dem Labor sind nun vollständig ausgewertet.", sprach Forensiker Kyle Gordon. "Die Spritze, welche Dr. Hines ihnen schon angesetzt hatte, und welche gerade noch verhindert werden konnte, dass sie injiziert wurde, enthielt laut dem Laborbericht eine Mischung aus Pancuroniumbromid, Suxamethoniumchlorid, Tubocuraninchlorid und Kaliumchlorid."

"Diese Mixtur sagt mir nichts.", meinte Karen nachdenklich. "Ist das etwas Besonderes?"

"Ja. Diese Mischung ist fast die identische Mischung, welche in Amerika eingesetzt wird, wenn ein Mensch die Todesspritze erhalten soll. Allerdings fehlt in diesem Falle das Barbiturat Thiopental, welches zuerst eine Bewusstlosigkeit auslösen soll. Dr. Hines wollte also vermutlich erreichen, dass sie während des Sterbevorgangs bei Bewusstsein sind, zumindest einigermaßen. Die anderen Stoffe wirken erst als Muskelrelaxans und schließlich tritt eine herzlähmende Wirkung ein. Der Tod tritt im Normalfall nach fünf bis fünfzehn Minuten ein. Ohne Thiopental dürfte der Vorgang ein schmerzvolles Ersticken sein"

Karen bekam eine Gänsehaut. "Ich hasse diesen Menschen immer mehr, je mehr ich über ihn erfahre."

Polizeichef Adrian Leppard räusperte sich lautstark, dann ergriff er das Wort: "Der andere Mann, dessen Leiche im Zimmer gefunden wurde, also derjenige, den Sie in Notwehr töteten, Mrs McSlaughter, war James Carmichael. Er wurde in der Vergangeneit mehrmals wegen Totschlags und Vergewaltigung verhaftet, wurde aber immer aufgrund merkwürdiger Umstände freigesprochen. Mal verschwanden Zeugen, mal wurde das Verfahren aus Mangel an Beweisen oder wegen Verfahrensfehlern eingestellt. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie und als vor wenigen Jahren seine Eltern bei einem mysteriösen Yachtunfall ums Leben kamen, erbte er ein kleines Vermögen und konnte tun und lassen, was er wollte. Seine Familie und die Familie von Dr. Hines kannten sich seit vielen Jahren. Vermutlich haben sie sich auf diese Art und Weise kennen gelernt. Wenn man sich seine früheren Taten, Aussagen und Verhaltensweisen ansieht, können wir davon ausgehen, dass bei ihm, im Gegensatz zu Dr. Hines, der Nervenkitzel und Spaß im Vordergrund standen. Der finanzielle Gewinn stand bei ihm an zweiter Stelle. Deshalb arbeiteten diese beiden zusammen."

Jack Sanders nickte. "Also haben wir den Killer gefangen und zwei seiner Komplizen sind tot. Nun gilt es, die Hintermänner und weitere Kontaktpersonen hinter Schloss und Riegel zu bekommen."

Karen trat zu Mitch heran und nahm dessen Hand. Dann sagte sie mit fester Stimme: "Hauptsache, Dr. Hines bekommt das, was er verdient und diese Mordserie hat damit ein für alle mal ein Ende."

 

"Das darf doch wohl nicht wahr sein!" Karen schrie so laut in den Hörer, dass Mister Turkildson am anderen Ende der Leitung sein Handy einen Meter von der Ohrmuschel weghalten musste, wenn er keinen dauerhaften Hörschaden erleiden wollte. "Sagen sie das nochmal!"

Nachdem ihr Vorgesetzter Karen alles genau erklärt hatte, steckte diese den Hörer kopfschüttelnd auf die Ladestation. Erst wenige Wochen war es her, dass sie diesem Killer entkommen war, und nun traf sie diese Nachricht wie ein Schlag ins Gesicht. Sie fühlte sich komplett verarscht.

Mitch sah stirnrunzelnd von seiner Zeitung auf. Die ewigen Berichte über die Probleme der EU – Länder langweilten ihn sowieso nur noch. "Was ist denn los mein Schatz? Schlechte Neuigkeiten?"

"Oh ja, das kann man wohl sagen. Und das ist noch die Untertreibung des Jahrtausends."

"Jetzt setz dich erstmal hin, trink deinen Schwarztee zu Ende, und dann erzähl deinem Ehemann alles genau der Reihe nach. Wer war denn überhauot am Telefon?"

Wie betäubt sank Karen kraftlos auf den Stuhl und nahm die heiße Tasse Tee in die Hand. Mit leerem Blick nippte sie kurz daran, bevor sie Mitch ins Bilde setzte: "Das war Mister Turkildson. Die Staatsanwaltschaft hat einen Deal ausgehandelt. Hines kommt frei..."

"Was?!", schrie Mitch auf und knallte die Zeitung so fest auf den Holztisch, dass die Tassen auf den Untersetzern laut klirrten und im Nachbarhaus ein Hund zu kläffen anfing.

"Die Staatsanwaltschaft hat Hines in die Mangel genommen. Sie wollten genau wissen, wer die Käufer waren, wer die Kontaktpersonen waren, wer die Organe transportiert hat, wer die Hintermänner und Drahtzieher sind. Einfach alles. Da die Hausdurchsuchung und die Razzia in seiner Praxis null Ergebnisse geliefert haben, weil er wohl, sobald Adrian Leppard mit den Ermittlungen im Hospital begann, alle Beweise gründlichst beseitigt hat, steht die Staatsanwaltschaft buchstäblich mit vollkommen leeren Händen da. Sie könnten Hines für immer verknacken, aber auch nur ihn. Auch wenn er ein Serienmörder ist, ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein und der Organhandel geht munter weiter. Einer liefert immer, wenn die Kohle stimmt. Und Hines hat zugesagt. Er geht einen Deal mit der Staatsanwaltschaft ein. Er liefert ihnen alles. Namen, Daten, Adressen, Beweise, seine persönlichen vereidigten Aussagen. Im Gegenzug wird Hines, sobald er alles geliefert hat und seine Aussagen aufgenommen und vereidigt worden sind, innerhalb von wenigen Wochen auf freien Fuß gesetzt. Mitch, sie können die gesamte Organmafia, mit der Hines zusammen gearbeitet hat, inklusive der Käufer, fest nehmen. Ich verstehe das. Ich verstehe das; dass das wichtiger ist. Aber, was er mir beinahe angetan hätte, was er den ganzen Frauen angetan hat. Ich kann das einfach nicht vergessen."

Mitch nickte bestätigend. "Wenn er tatsächlich freigelassen wird, wird er das Land verlassen so schnell er kann. Für uns wird er keine Gefahr mehr darstellen, es sei denn, er engagiert aus dem Ausland einen Auftrags - Killer oder so etwas. Aber die Sache ist die, dass zwar sehr viel von Hines' Vermögen und sein gesamter Besitz, zumindest der auf britischem Boden, beschlagnahmt wurde, aber die Summen waren bei Weitem nicht so hoch wie erwartet. Es ist ziemlich sicher, dass er im Ausland Konten hat, und dann wird er irgendwo als sehr reicher Mann einen wunderschön entspannten Lebensabend haben. Und das ist einfach nicht gerecht. Ganz davon abgesehen, dass er dort, je nachdem, wo er leben wird, weiter morden kann, wenn er will. Das ist den britischen Behörden wohl egal. Hauptsache nicht in Großbritannien, beziehungsweise Hauptsache nicht in der EU."

Lagsam stand Karen wieder auf und ging ins Wohnzimmer. "Was sollen wir nur machen? Wir können einfach nichts machen, das ist ja das Gemeine.", sprach sie resigniert, während sie sich auf das Sofa legte. "Ach, das ist doch echt alles scheiße... Hines kommt davon und so viele Eltern haben ihre Töchter verloren und zwei kleine Kinder ihre Mutter. Das ist einfach nicht fair. Gute Nacht, Welt." Karen zog sich die Kopfhörer ihres MP3 – Players über die Ohren und wählte den Titel People = Shit der Band Slipknot aus. Das war jetzt genau das Richtige. Sie schloss die Augen und ließ den aggressiven Gesang auf sich einwirken. Der Klassiker entfaltete weiterhin seine Wirkung.

Mitch sah bedrückt ins Wohnzimmer, dann drehte er sich entschlossen um. Doch, es gab etwas, was er tun konnte, doch dies durfte niemand mitbekommen. Langsam ging er in sein sogenanntes Arbeitszimmer, verschloss leise die Tür hinter sich, suchte in einem Telefonbuch eine bestimmte Nummer, nahm das mobile Festnetztelefon aus der Ladestation, begann zu wählen und wartete geduldig, bis das bekannte Tuten durch eine Männerstimme ersetzt wurde.

 

Einige Monate später im HM Prison Woodhill in Milton Keynes, England, einem Hochsicherheitsgefängnis für männliche Straftäter der Kategorie A ...

Dr. Charles Hines saß bewegunslos in seiner Zelle auf der einfachen Pritsche und starrte auf die immer gleich aussehende graue Zellentür. Monatelang die gleiche Tür, keine Abwechslung, immer das Gleiche tagein und tagaus. Der Kontakt mit anderen Gefangenen wurde ihm untersagt. Monatelang die pure Langeweile. Aber das würde nun bald vorbei sein. Es hatte sich alles gelohnt. Er hatte alle Aussagen gegen die Mitglieder der internationalen Organmafia und gegen die Endkunden schriftlich und mit eidesstattlicher Versicherung unterschrieben. So weit er wusste, war momentan eine der großangelegtesten Razzien in der britischen Geschichte im Gange. Viele müssten schon verhaftet sein. Und es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sein Deal Früchte tragen würde und er in die Freiheit entlassen werden würde. Das Erste, was er machen würde, war die Buchung eines Fluges, und dann würde er Großbritannien, ja das gesamte Europa für immer verlassen. Er konnte es kaum erwarten, mit dem Geld seiner geheimen Konten seinen Lebensabend zu genießen. Und diese Vorfreude hielt ihn aufrecht. Die Tage und Wochen krochen zwar nur im Schneckentempo dahin, aber das würde nun bald ein Ende haben.

Das Geräusch des Schlüssels, welche seine Zellentür aufschloss, riss ihn aus seinen Gedanken. Knarzend ging sie auf und zwei Gefängniswärter kamen herein.

"Hines, mitkommen.", war die unfreundliche Aufforderung des ersten Gefängnisangestellten.

"Was gibt es denn?"

"Sie kommen in eine neue Zelle. Los jetzt, aufstehen und mitkommen."

Dr. Hines gehorchte verwundert. Sie gingen durch ein paar lange Gänge in ein anderes Stockwerk, bis sie schließlich vor einer weiteren Zellentür anhielten und diese aufschlossen.

"Rein da.", befahl der Wärter und schubste ihn grob durch die Tür. "Freuen sie sich, ihre Sicherheitsbestimmungen wurden geändert. Sie haben nun einen Zellengenossen, mit dem sie sich anfreunden können." Der Wärter grinste.

Der Arzt sah sich in der Zelle mit diffusem Licht um. Auf eine der beiden Pritschen am anderen Ende der kleinen Zelle saß ganz still ein muskulöser Mann mit regungslosem Gesicht. Er hatte einen kurzen schwarzen Bart, sehr kurze schwarze Haare und war schätzungsweise Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Seine Finger waren wartend ineinander verschränkt und knackten unerfreulich.

"Äähm, vielen Dank, aber ich bevorzuge lieber weiterhin eine Einzellzelle. Ich habe mich mit dieser Situation sehr gut arrangiert und benötige keine Gesellschaft." Besonders nicht von solchen Gestalten, dachte der Gynäkologe bei sich.

"Hines, Schnauze.", war die unhöflische Antwort des ersten Wärters. "Wir sind hier nicht bei "Wünsch dir was" sondern bei "So is' es". So, ich und mein Kollege müssen nun mal für einige Zeit in den Technikraum verschwinden. Komisch. Irgendetwas stimmt mit den Überwachungskameras nicht. Sie zeichnen irgendwie nichts mehr auf. Ich denke nicht, dass wir dieses Problem vor Ablauf von zwei Stunden lösen können."

Wortlos wurde die Tür geschlossen und abgesperrt. Dr. Hines schlug aus Leibeskräften gegen die metallene Zellentür und schrie: "Verdammt, was soll das? Wieso sagen sie solche seltsamen Dinge? Was wird hier gespielt? Lassen sie mich sofort wieder raus, ich will in meine alte Zelle zurück!"

"Dr. Charles Hines, nehme ich an?", ließ sich die Stimme des Zellengenossen vernehmen. "Darf ich mich vorstellen? Meine Name ist Peter. Peter Cahill."

Der ältere Arzt drehte sich mit plötzlich schnell klopfendem Herzen um. "Das sagt mir nichts. Was wollen sie denn von mir?"

Grummelnd erhob sich der massive Mann. "Das sagt Ihnen nichts? Soso. Dann sagt ihnen vielleicht der Name Nancy Cahill etwas?"

"Nancy Cahill?" Der Arzt musste überlegen. "Nancy Cahill, Nancy Cahill... Das sagt mir irgendetwas, aber ich kann mich nicht wirklich erinnern. Wer soll das sein?"

"Sie verdammtes Arschloch!", fuhr Peter auf, rannte auf ihn zu und schlug mit der rechten Hand so fest gegen die Zellentür direkt neben Hines' Kopf, dass der metallische Klang schmerzhaft in dessen Kopf widerhallte. "Nancy Cahill war meine Schwester! Meine süße kleine unschuldige Schwester, die Sie umgebracht haben! Die sie brutal ermordet und ausgeweidet haben, Sie krankes Schwein!"

Dem Arzt brach der kalte Schweiß aus. Er wurde gegen die Zellentür gepresst und roch den scharfen Atem, der aus Peters Mund gestoßen wurde. "Mister Cahill, das tut mir Leid, bitte tun Sie jetzt keine unüberlegten Dinge. Ich weiß, manchmal ist man wütend und dann tut man Dinge, die man später bereut. Ich bin ziemlich sicher, sie wollen doch auch bald hier raus. Und ich habe Geld, ich kann ihnen anbieten..."

Ein grober Schlag ins Gesicht brachte ihn zum Schweigen. "Halt einfach dein Maul! Ich werde dafür sorgen, dass du den Namen Nancy Cahill nie wieder vergessen wirst. So wie ich die Dinge sehe, haben wir nun mehr als genügend Zeit, um uns ausführlich zu unterhalten und uns kennen zu lernen."

"Bitte nicht." Es war ein lächerlich wirkendes schrilles Wimmern, was aus dem Munde des einst so hoch angesehenen Arztes drang.

Die nächsten beiden Stunden wurden die schlimmsten Stunden im Leben des Dr. Charles Hines.

Gleichzeitig waren es auch seine Letzten ...

 

 

 

"Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. (...)

Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß,

Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule. "

 

(2. Mose 21.12 und 21.24 - 25)

Impressum

Texte: Johannes Quinten
Bildmaterialien: Johannes Quinten
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2015

Alle Rechte vorbehalten

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