Karen McSlaughter saß gerade am Frühstückstisch bei einem typischen englischen Frühstück bestehend aus Toast, Butter, Orangenmarmelade, Cornflakes und Honig, trank genüsslich eine Tasse schwarzen Tees mit Milch (wobei sie den Tee zuerst eingeschüttet hatte, und anschließend die Milch hinzugab, was schon zu einigen liebevollen Krabbeleien mit ihrem Mann Mitch führte, welcher ein Anhänger der sogenannten MIF (Milk-In-First)- Philosophie war, während sie zur TIF (Tea-In-First)-Fraktion zählte) und war in die neuste Ausgabe des The London Daily versunken, als das Telefon klingelte. Genervt verdrehte sie die großen dunkelbraunen Augen, legte die Zeitung zur Seite und wollte gerade aufstehen, als ihr Mann ins Zimmer kam und sagte: "Bleib nur sitzen, ich geh schon dran."
"Danke Schatz.", säuselte die dreißigjährige Frau und nahm die Lektüre des politischen Teils in Angriff. Wenigstens am Sonntag wollte sie ihre Ruhe haben und ein wenig entspannen, und das konnte sie am Besten, indem sie sich mit dem aktuellen Weltgeschehen versorgte und die neuesten politischen Entwicklungen verfolgte.
Ihr fünf Jahre älterer Ehemann grinste lausbübisch, zwinkerte ihr zu und nahm schließlich den Hörer ab. Er sprach mehrere Minuten mit der Person am anderen Ende der Leitung, schließlich legte er auf. Fast im gleichen Augenblick begann das Faxgerät zu brummen und eine große Anzahl von bedruckten Papieren auszuspucken.
Mit einem Blick, der zu sagen schien, das kann doch jetzt nicht wahr sein!, legte Karen ihr informatives Blättchen zur Seite und rührte energisch in ihrem schwarzen Tee. "Ist es das, was ich denke?"
Der muskulöse, gutaussehende Mann fuhr sich erst über die Stoppeln seines Drei-Tage-Bartes, dann durch sein dunkelbraunes kurzes Haar und runzelte hilflos die Stirn. "Ja, es ist wieder ein neuer Auftrag."
"Das kann doch nicht deren Ernst sein! Wir haben Urlaub, verdammt nochmal! Und den haben wir uns auch redlich verdient, nachdem wir diesen Terroranschlag auf die Westminster Abbey erfolgreich verhindert haben, ohne dass auch nur jemand etwas davon geahnt hätte, was so leicht hätte passieren können. Wieso ausgerechnet wir?"
"Naja, es herrscht Fachkräfte-Mangel. Die meisten anderen Mitglieder des MI5 sind voll und ganz mit der Bekämpfung eines Waffenhändlerringes beschäftigt, die es sich in den Kopf gesetzt haben, ihre importierten Waffen ausgerechnet an einige extreme IRA-Anhänger zu verkaufen."
Karen seufzte und fuhr sich durch die langen hellbraunen Haare. "Ich wusste es. Es wäre auch zu schön, wenn man uns extra aus dem Urlaub reißen würde, weil wir die Besten sind. Aber wir sind scheinbar nur der Ersatztrupp. Mit uns kann mans ja machen!"
"Bereust du es, dem Security Service beigetreten zu sein?", wollte Mitch von seiner Frau wissen.
"Nein... Und wenn auch nur, weil ich dich sonst niemals kennen gelernt hätte, mein süßer Knuddelbär."
"Ich bin kein Knuddelbär...", schmollte Mitch. Er grinste. "Ich bin ein gefährliches Raubtier!" Er stürzte sich auf sie und gab ihr einen leidenschaftlichen Zungenkuss und biss sie darufhin neckisch in den Hals.
"Nicht schon wieder am Tisch, Schatz, das gibt nur wieder Flecken, wenn der Tee umfällt..."
"Na gut.", gab Mitch sich zufrieden.
"Und was ist das jetzt für ein Auftrag, den wir da übernehmen sollen? Muss ja wahnsinnig wichtig sein..."
"So genau hab ich es auch nicht verstanden.", gab der großgewachsene Mann unumwunden zu. "Soviel ich dem Gelaber von Mister Turkildson entnehmen konnte, geht es irgendwie um irgendwelche Gerüchte über irgendsoein komisches Kaff irgendwo in der Pampa von unserem guten alten England."
"Klingt ja toll...", entgegnete Karen sarkastisch. "Und wo genau müssen wir hin? Muss ich meine Gummistiefel einpacken? Hoffentlich nicht, oh Gott, ich hasse diese Dinger,"
Mitch nahm den Papierwulst, den das Faxgerät rausgewürgt hatte, und kämpfte sich gemeinsam mit seiner Frau durch die mehr oder weniger wichtigen Rahmeninformationen. Gedankenverloren knetete er seine Unterlippe, dann sagte er plötzlich: "Berkgold's Town heißt das Kaff also."
"Habe ich noch nie etwas davon gehört. Wo liegt das denn?"
"Hm, hier steht etwas. Es liegt in den West Midlands, und zwar im County Shropshire."
"Shropshire... Das ist alles mal wieder ganz herrlich..." Karen verdrehte zum x-ten Male die Augen.
"Also anscheinend ist dieses Berkgold's Town ein ziemlich seltsamer Ort. Die leben irgendwie ziemlich abgeschottet und niemand von den umliegenden Ortschaften hat Kontakt zu Leuten aus diesem Ort."
"Wie geht das denn? Und das im 21. Jahrhundert? Naja... Gutes altes Großbritannien..."
"Naja, Ärger haben sie der Regierung auf jeden Fall noch keinen gemacht. Sie bezahlen alle schön brav ihre Steuern und leben ansonsten halt ein wenig hinter dem Mond wie es scheint. Fast alles Bauern. Erinnert mich an diese Amish People in Amerika."
"Solange wir die nicht auch noch untersuchen müssen..."
"Glaube ich nicht. Aber dieser Ort scheint etwas mysteriös zu sein. Also abgesehen davon, dass die Leute an sich ja schon ziemlich merkwürdig sind, gibt es Aussagen von den Bewohnern der umliegenden Dörfern, dass alle paar Monate seltsame Gestalten zum Dorf kommen und zwar mitten in der Nacht und dann wieder verschwinden."
"Was für Gestalten denn?"
"Keine Einheimischen auf jeden Fall.", erklärte Mitch mithilfe der Papiere. "Naja, vermutlich ist für die Leute da jeder Fremde eine potenzielle Gefahr, kann ich mir gut vorstellen... Aber das ist nur der Anfang: Es werden hin und wieder unheimliche Schreie gehört. Menschliche Schreie."
"Klingt ja unheimlich. Ist der Yeti auch schon gesehen worden?"
"Der nicht, aber einige Leute, die behaupten, sie hätten eine Art sechsten Sinn, aber auch einige, die es nicht von sich behaupten, haben unerklärliche Dinge erlebt, wenn sie in die Nähe des Dorfes kamen. Plötzliche Kälte, Angstzustände... Einige sind in Panik geflüchtet, obwohl es keinen Grund gab und sie auch keinen plausiblen nennen konnten."
"Ist das ein Geisterdorf, oder was?"
"Höchstens für die Öffentlichkeit. Es wird nie etwas über diesen Ort berichtet. Und schau mal hier: Wenn ich den Namen im Internet eingebe, findet man irgendwie auch nichts."
"Hast du gehofft auf 'ne Homepage zu stoßen?", fragte die hübsche Frau ironisch.
"Es ist, als ob der Ort nicht existiert, aber er existiert definitiv und es leben Menschen dort. Warum schotten die sich so ab? Was haben die zu verbergen?"
"Vielleicht haben sie Stinkefüße...", kicherte Karen, doch das Lachen blieb ihr im Halse stecken, als ihr Blick auf einen bestimmten Namen fiel. "Nein, das wollen die doch nicht wirklich..."
"Was ist denn los, Schatz?"
"Weißt du, mit wem wir zusammen an diesem Auftrag arbeiten sollen? Mit Maggie O'Brain. Dieser Verrückten!"
"Sie ist ein Medium, nicht wahr?", überlegte Mitch laut. "Offiziell ist sie als Intelligence Analyst eingestellt. Sie soll schon einige Fälle für den Security Service gelöst haben, oder zumindest zur Lösung beigetragen haben. Auch für den Secret Service und für Europol soll sie mal gearbeitet haben."
"Gerüchte, die sie vielleicht selbst in die Welt gesetzt hat, um sich ins Gespräch zu bringen..."
"Glaube ich nicht. Vielleicht hat sie ja wirklich etwas drauf."
"Glaubst du etwa an so etwas?" Karen schaute ihn sehr skeptisch an.
"Schon... In gewisser Weise. Ich halte es für sehr gut möglich. Ich glaube zum Beispiel auch, dass es Schicksal war, dir zu begegnen, der Liebe meines Lebens." Mitch grinste.
"Das war jetzt süß.", entgegnete Karen geschmeichelt. "Aber so übernatürlicher Kram...? Ich steck 'ne Nadel in 'ne Puppe, dir tut was weh, ich verbrenne ein paar Kräuter, schon gehts dir wieder besser und so?"
"Naja, obs ganz so einfach ist, ist fraglich, doch durch die Quantenphysik und der Entdeckung des morphogenetischen Netzes, was alles mit allem verbindet, klingen viele von diesen Dingen schon sehr viel plausibler und auch wahrscheinlicher..."
"Ich verstehe davon nicht so viel, ich mag lieber handfeste weltliche Dinge, die man sehen und anfassen kann."
"Ist ja auch egal. Was ich damit sagen will, ist, dass wir ihr lediglich eine Chance geben sollten. Wenn wir nicht gut zusammenarbeiten ist die Mission in Gefahr."
Karen seufzte. "Tolle Mission. Aber in Ordnung, heute nachmittag sollen wir uns mit ihr und unserem Chef Mister Torkildson treffen und alles bereden. Das heißt, ich hab jetzt noch genug Zeit, in aller Ruhe meinen Toast mit Orangenmarmelade zu essen. Und während dem Frühstück möchte ich nichts mehr von irgendwelchen Schreien oder Netzen oder was auch immer wissen."
Sie nahm die Ausgabe von The Daily London wieder in die Hand und begann zu lesen.
"Einverstanden, aber unter einer Bedingung.", verlangte ihr Ehemann ernst.
"Und die wäre?"
"Reichst du mir mal bitte den Teil mit den Sonntagscomics?"
"Hey, freut mich voll euch kennenzulernen! Wird bestimmt 'ne super Zusammenarbeit."
Maggie streckte mit einem Grinsen wie ein Honigkuchenpferd auf dem Gesicht Karen die Hand zur Begrüßung hin.
"Ja, uns auch...", antwortete diese noch etwas distanziert und schüttelte Maggies Hand.
"Auf eine gute Zusammenarbeit!", sprach Mitch sie an und streckte seinerseits seine Hand hin.
"Auf Gute Zusammenarbeit!", bestätigte die junge Frau und ergriff Mitchs Hand.
Karen hatte nicht erwartet, dass Maggie noch so jung war. Wie sie erfuhr war diese hübsche schlanke, ja fast zierliche, Frau aus Schottland mit langen blonden Haaren und hellgrünen Augen gerade mal 22 Jahre alt. Naja, vermutlich hatte man mediale Begabung oder man hatte sie nicht. Zu ihrer eigenen Schande musste Karen sich eingestehen, dass sie sich Maggie die ganze Zeit als irgendeine Art Wahrsagerin vom Jahrmarkt vorgestellt hatte, wie man sie aus dem Fernsehen kennt (in der Realität hatte sie noch auf keinem Jahrmarkt der Welt so eine Person getroffen). Maggie jedoch sah aus wie viele junge Frauen heutzutage, sie hatte sogar einen sehr guten frischen modischen Geschmack in Kleidungswahl und Style. Und außerdem... Irgendwie mochte sie Maggie jetzt schon mit ihrer knuffigen Art, doch ob sie die richtige war, um eine Mission zu erfüllen, die eventuell sehr gefährlich werden könnte...? Wir sollten ihr eine Chance geben, hörte sie Mitchs Worte in ihrer Erinnerung. In Ordnung, sie würde es tun.
Der Ort der Zusammenkunft war das Hauptquartier des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 (Military Intelligence, Section Five), oder wie die offizielle Bezeichnung war, Security Service. Das Hauptquartier war ein riesiges vielstöckiges längliches Gebäude im klassizistischen Stil, wurde das Thames House genannt und befand sich am Ufer der Themse in der britischen Hauptstadt London.
Mister Turkildson war auch anwesend. Er war der direkte Vorgesetzte von Karen und Mitch McSlaughter, etwa 50 Jahre alt, grauhaarig mit tiefen Geheimratsecken und leichtem Bauchansatz. Er trug stets einen dunkelblauen Blazer um so würdevoller zu erscheinen, als er es tatsächlich war.
Die Berufsbezeichnung von Karen und Mitch war Mobile Surveillance Officer, doch sie taten mehr, als die Bevölkerung in Erfahrung bringen könnte. Mister Turkildson ist für sie seitdem zuständig, seit sie von der Universität gekommen waren und beim MI5 angefangen haben zu arbeiten. Jetzt sah er beide mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck an, der wohl soviel bedeuten soll, dass das, was er nun zu sagen habe, von so elementarer Bedeutung sei, dass es unverantwortlich sei, auch nur ein Wort zu verpassen.
" Mobile Surveillance Officers McSlaughter und Intelligence Analyst O'Brain, ich werde euch nun eure Vorgehensweise erläutern. Ihr werdet euch als Touristen auf Abenteuerurlaub ausgeben, die sich ein wenig verlaufen haben und eine Übernachtungsmöglichkeit suchen, doch euch wird es in Berkgold's Town so gut gefallen, dass ihr noch ein paar Tage länger bleiben wollt. Ich erwarte einen täglichen Bericht, den ihr verschlüsselt über eure Satellitentelefone versenden werdet. Ihr habt natürlich neue Identitäten, hier sind eure neuen Papiere." Mister Turkildson übergab jedem der drei Mitarbeiter einen gefälschten Ausweis. "Karen, sie sind Amanda Curtis, Mitch, sie sind Jonathan Curtis, ihr seid ein Ehepaar, wie auch in echt, das dürfte es für euch einfacher machen. Miss O'Brain, sie sind die kleine Schwester von Amanda, Lauren Curtis."
"Ich seh ihr doch gar nicht ähnlich...", warf Maggie zweifelnd ein.
"Das ist mir bewusst. Sie wurden adoptiert."
"Super..."
"Haben sie etwas gegen meinen Vorschlag einzuwenden?", fragte Mister Turkildson mit finsterem Blick.
"Nein, nein, alles okay.", antwortete die junge Schottin etwas zu schnell.
"Gut. Außerdem wird ihnen ein Wagen einer Mietfirma zur Verfügung stehen. Mit dem werden sie von Birmingham, wo sie von hier aus mit dem Zug hinfahren, losfahren."
"Okay.", meinte Karen wenig begeistert. "Dann lass uns schonmal die Sachen packen. Wann solls losgehen?"
"Morgen.", entgenete Mister Torkildson trocken.
"Warum nur war mir das klar?"
Als Karen, Mitch und Maggie am nächsten Tag mit dem Zug nach Birmingham gefahren waren, stand am Parkplatz des Birminghamer Hauptbahnhofes Birmingham New Street schon ein kleiner 2-Türer der Marke Chevy Matiz 2dr als Mietwagen bereit. Dieses Fahrzeug des Typus Mini-Klasse sah zwar sehr schick aus, es war wohl noch ziemlich neu und in einem modischen goldgelb gehalten, doch als sie einsteigen wollten gab es schon erste Schwierigkeiten. Es war ein Auto, welches für zwei Personen gedacht war.
"Tja, einer von uns muss sich wohl irgendwie auf die Rückbank quetschen...", meinte Karen resignierend.
"Und das wäre dann wohl Maggie, denn sie ist in der Rolle der kleinen Schwester und die kleinen müssen nach hinten.", grinste Mitch schelmisch.
"Hey!", protestierte Maggie. "Immer auf die Kleinen..."
Aber da Maggie auch tatsächlich die körperlich Kleinste war, traf es wirklich sie, die nach hinten ins Auto musste. Karen saß auf der Beifahrerseite mit einer Straßenkarte in der Hand, Mitch saß am Steuer. Mitch startete das Auto und fuhr los.
"Ich hasse Karten.", grummelte Karen in sich hinein, während sie versuchte, der Straßenkarte Herr zu werden. "Warum haben wir bloß kein Navi bekommen?"
"Berkgold's Town ist im Navi leider nicht zu finden. Wir wissen nur die ungefähre Lage und müssen uns an der Lage von Nachbarorten orientieren. Auf der Karte ist der Ort ja leider auch nicht verzeichnet."
"Das ist der schlimmste Auftrag, den wir jemals hatten!", moserte Karen schlecht gelaunt.
"Und was war, als dieser eine Terrorist seinen Bombenzünder in einem großen Misthaufen versteckt hatte und wir uns durch die Jauche wühlen mussten?"
"Na, gut, dann eben zweitschlimmster Auftrag. Diesen anderen hatte ich schon verdrängt."
"Äh, Entschuldigung?", wandte sich Maggie an Karen McSlaughter. "Kannst du noch ein bisschen vorrutschen, ich bin hier hinten echt eingequetscht."
"Ich sitze schon ganz vorne. Tut mir Leid."
"Oh, na gut."
"Ich bin sicher, das war kein Versehen, das hat Mister Turkildson mit Absicht gemacht. Manchmal kann der echt fies sein."
"Denk mal nicht so schlecht über unseren Vorgesetzten.", grinste Mitch.
"Dich kann wohl nicht aus der Ruhe bringen...", fragte die brünette Frau leicht angespannt.
"Fast nichts, Schatz.", antwortete ihr Ehemann mit einem Augenzwinkern.
"Schau lieber auf die Straße, Schatz.", entgegnete Karen kühl.
Nach einer Fahrt, die Karen wie eine Ewigkeit vorgekommen war, schienen sie ganz in der Nähe des Zieles zu sein. Doch weit und breit war kein Hinweis auf einen Ort namens Berkgold's Town zu entdecken. Die Landschaft schien sich seit geraumer Zeit zu wiederholen. Wiesen, Teiche, diverse Bäume, einzelne Käffer, weite Täler, einige Erhebungen, enge Straßen, Burgen, mittelalterliche Dörfer und natürlich jede Menge der berühmten Shropshire-Schafe (mittelgroße Fleischschafe mit einem langen, tiefen Rumpf, breitem Rücken, tiefbrauner Haut und reinweißer dichter Crossbred-Wolle). Eigentlich eine wunderschöne Gegend, die einen einlädt, innezuhalten, durchzuatmen, die Natur und die altertümliche Architektur zu genießen. Ein Ort, an dem Karen auch gerne Urlaub gemacht hätte, doch leider war dies kein Urlaub, und so wurde sie immer ungeduldiger, als sie schon zum bestimmt fünften Mal zwischen den Orten Newcastle, Clun, Obley, Clunbury, Cheney Longville, Lydbury North und Bishop's Castle im Kreis fuhren.
"Das kann doch nicht sein! Nirgendwo steht irgendein gottverdammtes Hinweisschild!"
"Vielleicht sollten wir einfach mal diesen Weg da in den Wald hineinfahren, Karen.", meinte Mitch und deutete auf einen ziemlich schmalen Trampelpfad, der in einen dichten Wald hineinführte. "Der Beschreibung der Bewohner der umliegenden Orte nach, könnte sich dieser Ort sehr wahrscheinlich dort befinden."
"Warum fragen wir denn nicht unser Medium?", entgegnete Karen schnippisch. "Sie müsste es doch wissen, worüber wir fahren sollen. Also, allerliebste Maggie, wie ist der Weg?"
"Ich denke auch, dass wir dort rüber sollten, so wie es Mitch vorgeschlagen hat. Irgendetwas sagt mir, dass dies der richtige Weg ist.", antwortete Maggie ernst.
"Dann wäre das also geklärt.", meinte Mitch und bog in den Waldweg ein.
Nach etwa einem halben Kilometer wurde der Weg schließlich so schmal, dass sie nicht mehr weiterfahren konnten.
"Und jetzt?", wollte Karen wissen.
"Jetzt... steigen wir aus und gehen zu Fuß weiter.
"Ach, tut das gut!", rief Maggie fröhlich, als sie alle aus dem Chevy ausgestiegen waren und reckte sich erst einmal ausgiebig. "Ja, jetzt bin ich mir hundertprozentig sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind, ich bekomme gerade eine Art Bestätigung."
Karen schaute nur, als sähe sie gerade eine Geisteskranke vor sich, sagte aber nichts weiter.
Mitch schnallte sich einen Rucksack über, in dem er Proviant und eine Decke hatte. "Dann lass uns losgehen, ich glaube, es wird bald dunkel werden. Und hier in diesem Wald mit den hohen Bäumen und ihrer Blätterdichte sieht man eh schon weniger."
Der dunkelhaarige Brite sollte Recht behalten, und zwar schneller, als er selber damit gerechnet hatte. Die Dunkelheit brach herein und der letzte Lichtschein wurde immer schwächer und schwächer.
"Ich glaube, wir müssen hier draußen übernachten.", meinte er langsam.
"Es ist kalt...", sagte Karen leise und sah sich im Wald um, wie ein verängstigtes Reh, als sie in der Ferne etwas Unidentifizierbares Knacken hörte. Weitere seltsame Geräusche kamen hinzu.
"Du brauchst keine Angst zu haben...", sprach Mitch, wurde jedoch von seiner Ehefrau unterbrochen.
"Ich habe keine Angst."
"... ich werde dich beschützen. Und mach dir keine Sorgen wegen der Kälte, ich habe Decken dabei und außerdem werde ich dich mit meinem Körper wärmen."
Er schloss Karen von hinten in seine starken Arme. Sie genoss es, wie sein Körper den ihren wärmte und sie wurde ganz erregt von der warmen Luft, die sie nun in ihrem Nacken spürte.
"Hey, da hinten sind Lichter!", rief Maggie aufgeregt. "Ich glaube, wir haben das Dorf gefunden! Cool, ich wusste doch, ich kann mich auf meine Fähigkeiten verlassen!"
Mitch trennte sich wieder von Karen, der es daraufhin sofort kälter als zuvor war. "Ich glaube, du hast Recht. Ich sehe sie jetzt auch. Lasst uns dorthin laufen."
Und so machten sie sich schließlich wieder auf den Weg.
Nach etwa einer Viertelstunde kamen sie in einem Dorf mit etwa einhundert Häusern an. Die Häuser waren alt, einige sogar sehr alt. Mitch schätzte, dass die ältesten Häuser um die 400 Jahre alt sein konnten, die neuesten mindestens ein halbes Jahrhundert, doch diese waren die Ausnahme. Der Baustil war größtenteils Fachwerk. Obwohl die Häuser alt waren, waren sie nicht in einem schlechten Zustand. Es gab nur eine Handvoll Geländefahrzeuge aus den 70ern oder 80ern des zwanzigsten Jahrhunderts, eines war allerdings neueren Datums, vielleicht sogar schon aus dem neuen Jahrtausend. Es standen gepflegte Laubbäume in dem Dorf. Auch Vorgärten und Blumenbeete, die gut in Schuss gehalten waren, verstärkten den Eindruck eines süßen Ferienörtchens. Die Gemeinde selbst befand sich auf einer großen Lichtung, sodass sie, außer am Ortsrand, genügend Sonne am Tag bekommen musste. Hinter dem Dorf waren jede Menge Felder zu sehen. Außerdem gab es auch Pferde- und Kuhställe, die auch genutzt wurden, was das Wiehern und Muhen im Hintergrund bewies. Alles in allem ein ziemlich stranger Gesamteindruck, unter Berücksichtigung der äußeren Umstände, fand Karen. Es war zwar nirgends ein Ortsschild zu sehen, doch ein größeres Wirtshaus trug den Namen The Olde Berkgold's, was darauf schließen ließ, dass dieser Ort tatsächlich Berkgold's Town sein musste.
Maggie atmete laut, ja sie keuchte regelrecht. Langsam ging sie gekrümmt in die Knie und presste ihre Hände auf ihren Bauch. "Oh mein Gott... Was ist das nur, was ist das nur?"
"Maggie!", rief Karen erschrocken und lief zu Maggie hin. Beruhigend legte sie der Schottin einen Arm auf die Schulter. "Was hast du Maggie? Was ist los mit dir? Bitte mach jetzt keinen Blödsinn."
Maggie wurde etwas ruhiger. "Ich weiß es nicht. Dieser Ort hat so eine schreckliche Aura. Diese Atmosphäre, ich halte sie kaum aus. Irgendetwas Schreckliches geschieht hier." Tränen liefen ihr aus den Augen und sie konnte es nicht kontrollieren. "Ich habe so entsetzliche Angst, das hatte ich so noch nie... Was ist das nur? Oh, Karen, dieser Ort ist böse, die Menschen, die hier leben, sind böse. Ich fühle es so stark, ich habe solche Schmerzen. Oh mein Gott!"
Mitch und Karen standen nun beide um Maggie herum. "Beruhige dich, Maggie", sagte Karen langsam. "Es ist alles in Ordnung, hier ist nichts."
"Nichts ist in Ordnung!", stieß Maggie schwer atmend hervor. "Wie kannst du so etwas sagen, wo du doch nicht fühlst, was ich gerade fühle. Wir hätten niemals hierherkommen sollen, nein, falsch, wir mussten hierherkommen, wir müssen dem ein Ende machen."
"Aber was denn? Was müssen wir beenden?"
"Ich weiß es doch auch nicht.", schluchzte Maggie. "Ich weiß nur, es muss aufhören, sonst wird es auch mich zerstören. Oh Gott, bitte..." Sie krümmte sich wieder mehr zusammen.
"Maggie.." Karen versuchte ruhig zu bleiben, so gut es ging. Sie wollte Maggie helfen, das konnte sie aber nicht, wenn sie sich von ihrer Aufregung anstecken ließ. Auch Karens Herz schlug nun vor Aufregung wie die Drumsticks bei einem schnellen Black-Metal-Konzert.
Maggie wusste, nur sie selbst konnte sich nun aus dieser Situation befreien. Sie konzentrierte sich auf das, was sie von ihrer Großmutter gelernt hatte. Sie visualisierte so stark sie es nur konnte einen strahlend weißen Lichtschleier um sich herum, durch den nichts durchdringen konnte. Mit jedem bewusst kontrolliertem Atemzug, in dem sie weißes Licht einatmete, wurde sie ruhiger und ruhiger.
"Jetzt geht es langsam wieder.", meinte die junge Schottin langsam und wühlte in ihrer Handtasche. Sie zog ein Kreuz aus schwarzem Turmalin hervor, hängte es sich um den Hals und verbarg ihn unter ihrer Bluse. "So, lasst mich noch einen kurzen Augenblick verschnaufen, dann können wir weitergehen."
"Bist du dir sicher?", fragte Karen besorgt.
"Ja. Es geht mir wieder besser." Maggie atmete tief durch.
Sie warteten einige Minuten, dann gingen sie langsam in den Ort hinein. Inzwischen hatte die Abenddämmerung den Himmel rot gefärbt. Es sah aus, als stünde der Himmel in Flammen. "Meine Oma hat mir früher, als ich ein kleines Mädchen war, immer gesagt, dass die Engelchen im Himmel jetzt Plätzchen backen.", erzählte Maggie.
"Schöne Erklärung.", meinte Karen aufrichtig und lächelte. "Das muss ich mir merken."
"Auf Plätzchen hätte ich jetzt auch Lust.", meinte Mitch.
Die drei Agenten gingen auf die Gaststätte zu. Sie war auch eines der größten Gebäude im gesamten Ort, soweit sie das überblicken konnten. Sie stiegen die drei großen knarzenden Holzstufen hoch und öffneten die große Tür mit Holzmaserung. Auch sie knarrte. Als sie schließlich eingetreten waren, fanden sie sich in einem großen schwach erleuchteten Raum wieder, in dem sich ein halbes Dutzend Tische mit Stühlen befanden. Links war eine große Theke und im Hintergrund war eine Treppe zu sehen, die nach oben führte. Es war alles sehr rustikal eingerichtet, angefangen von der massiv-hölzernen Möblierung über die gehäkelten Tischdecken bis hin zu Gemälden an der Wand, welche Bauern bei ihrer täglichen Arbeit zeigten (schätzungsweise im 18. Jahrhundert). Die Zeit schien stehen geblieben zu sein in diesem Ort.
Der dicke Gastwirt hinter der Theke und die paar Gäste, welche alle an einem einzigen Tisch saßen (wohl der Stammtisch), schauten, als ob sie noch nie Menschen gesehen hätten. Schließlich fand der Wirt als Erster seine Sprache wieder und begrüßte die drei mit: "Wer seid ihr denn? Und... Was wollt ihr?"
Na, so macht er sich keine neue Kundschaft, dachte Mitch und sagte: "Guten Abend. Entschuldigt unser spätes Erscheinen. Wir sind lediglich Touristen und haben uns irgendwie verlaufen. Und jetzt sind wir hungrig und müde."
"Die Küche hat schon geschlossen.", brummte der adipöse Mann.
"Nun sei doch mal nicht so unfreundlich zu unseren Gästen, Nathan.", mischte sich einer der Männer ein, die am Stammtisch saßen. "Mach ihnen schnell ein Abendbrot, das ist doch schnell gemacht." Er wandte sich den drei Agenten zu. "Es gibt hier in diesem Gasthaus auch zwei Fremdenzimmer, falls ihr eine Übernachtungsmöglichkeit sucht. Die müssen nur schnell hergerichtet werden, wir waren nicht auf Besuch eingestellt. Aber das macht Nathan auch noch. Wir freuen uns schließlich immer über lieben Besuch."
Den Eindruck hatte Mitch jedoch ganz und gar nicht. "Vielen Dank, das freut uns sehr. Schönes Örtchen ist das hier."
"Ja, hier hat man seine Ruhe.", entgegnete der schätzungsweise fünfzigjährige Mann. "Und wie seid ihr jetzt hierher gekommen? Wo wolltet ihr hin?"
"Wir waren in Clun und haben uns die Clun Bridge aus dem 15. Jahrhundert und natürlich Clun Castle angeschaut. Wirklich eine wundervolle Burgruine. Und nun wollten wir beim Wandern eine Abkürzung nach Bishop's Castle nehmen." Zum Glück hatte Mitch sich zuvor noch etwas über die Gegend informiert und ein paar Sachen gemerkt.
"Ja, gibt schon einige schöne Sachen hier in der Gegend zu bestaunen. Ich bin übrigens der Bürgermeister dieses Ortes. Mein Name ist Norman Myers. Nathan, der Besitzer des The Olde Berkgold's ist mein Bruder. Das hier...", er zeigte auf einen muskulösen großgewachsenen Mann mit kurzen Haaren, "... ist mein Neffe Ivan und das andere sind Freunde von mir."
"Ich bin Jonathan Curtis, das ist meine Frau Amanda und das dort ist ihre Schwester Lauren."
"Sie sehen gar nicht aus wie Schwestern."
"Lauren wurde von Amandas Familie aufgenommen, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen."
"Verdammt gefährlich, diese Maschinen, da muss man höllisch aufpassen.", bemerkte Norman. "Setzt euch doch zu uns, Nathan benötigt sowieso noch etwas Zeit um die Zimmer fertig zu machen."
"Gerne.", lächelte Mitch.
Nach einem bäuerlichen Abendessen und etwas harmloser Konversation, der sie nichts Auffälliges entnehmen konnten, gingen die drei MI5-Agenten auf ihre Zimmer. Alle drei waren in einem einzigen Zimmer untergebracht. Es war etwas eng, aber noch annehmbar. Besonders zu dem günstigen Preis, den sie angeboten bekamen.
Karen lies sich auf ihr Bett fallen. "Was für ein Tag.", seufzte sie. "Da kurven wir durch halb Großbritannien
und landen in irgendsonem Kuhkaff."
"Wir hättens schlimmer treffen können.", entgegnete Mitch, zog seine Schuhe aus und stellte sie ordentlich neben das Bett.
"Stimmt auch wieder." Karen schaute zu Maggie herüber. Zu dumm, dass sie alle drei in diesem Zimmer waren, sonst hätte Karen sich eine schöne Nacht mit ihrem Mann machen können. Sie hatte irgendwie gerade sehr viel Lust darauf. Langsam ging sie zum Fenster. Draußen war alles dunkel, und zwar richtig dunkel. Es gab keine Straßenbeleuchtung, nur das Licht der Sterne erhellte die Nacht. Und der Vollmond, der in seiner ganzen Pracht zu sehen war. Im Zimmer stank es seltsam. Der Geruch von alten Dingen. Die junge Frau versuchte das Fenster zu kippen, doch es klemmte. "Verdammt nochmal, klappt denn hier gar nichts?"
Mitch trat zu ihr. "Lass das mal einen Mann machen.", zwinkerte er ihr spitzbübisch zu. "Dann mal Hau Ruck!" Er zog mit voller Kraft, es knarzte und krachte.
"Jetzt hast du es kaputtgemacht, Schatz.", bemerkte seine Ehefrau leicht schadenfroh.
"Naja, wenigstens ist es auf. Es... geht nur nicht wieder zu. Was solls? Vielleicht merkts ja keiner." Er grübelte kurz nach. "Eigentlich sollten wir den Schaden melden... Naja, machen wir es, wenn die Mission fertig ist, nicht dass wir Ärger deswegen kriegen und so Schwierigkeiten haben."
"Sei einfach ruhig und leg dich zu mir Schatz.", meinte Karen und gähnte. "Ich bin müde. Lass uns schlafen, ich hab genug für heute."
"Alles klar, Süße.", grinste Mitch und legte sich neben seine Frau. Zärtlich schlang er einen Arm um ihre Hüfte und streichelte sanft darüber. Dann setzte er sich nochmal aufrecht hin. "Jetzt hätte ich beinahe vergessen, dass wir ja noch 'nen Bericht an unseren Boss schicken müssen. Was soll ich denn schreiben? Wir haben es gefunden, wir sind noch alle heil, aber keine Spur von irgendwas?"
"Mach einfach, wie du denkst. Und dann komm wieder zu mir ins Bett."
"Na, ein bischen muss es sich ja auch nach etwas anhören. Aber gut, ich schreibe mal einfach."
Karen blickte auf. "Maggie, du bist so leise, wieso sagst du denn nichts?" Dann hörte sie ein leises Wimmern. Schnell sprang die dreißigjährige Agentin auf und lief zu Maggies Bett. Diese zitterte. Das Wimmern kam von ihr. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Karen ergriff Maggies Hand und hielt sie sanft fest. "Was hast du?"
"Ich... Ich weiß es nicht. Ich spüre gerade ganz intensiv diese Angst und diesen Schmerz. Was ist das nur, was hier geschieht?" Langsam beruhigte sich ihr Körper, doch ihre Stimme zitterte noch immer beim Sprechen. "Ich habe schon mitgeholfen, Vergewaltiger, Mörder und Terroristen zu fangen und stand schon einigen gegenüber und auch deren Opfern, doch das hier ist noch intensiver." Sie versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren und atmete bewusst. Dann visualisierte sie wieder das weiße Licht, es fiel ihr jedoch schwer. "Es ist schon gut, ich komme schon klar, diese Gefühle überwältigen mich bloß ein wenig, besonders, weil ich sie nicht so richtig zuordnen kann. Es ist sehr viel Schmerz dabei, körperlich und seelisch, doch der seelische überwiegt bei Weitem. Wisst ihr, ich spüre Schwingungen und Energien. Wenn ich Gegenstände berühre, ohne mich vorher bewusst abzuschirmen, kann es sein, dass ich von Erinnerungen überwältigt werde. Deshalb wurde ich auch Vegetarierin. Wenn ich Fleisch oder Fisch berührt hab, hab ich jedesmal das Leid am eigenen Körper gespürt, das diese Tiere vor und während ihrem Tod durchgemacht haben, das waren die schlimmsten Erfahrungen, die ich gespürt habe in meinem gesamten Leben. Doch das heute ist vergleichbar damit, das macht mir Angst."
"Vielleicht ist es, weil die hier auch schlachten. Wir haben ja Kühe und Pferde gesehen..."
"Nein, das ist es nicht. Das spüre ich auch, jedoch nur leicht. Es ist noch etwas Anderes, was ich bisher noch nie irgendwo wahrgenommen habe."
"Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte Karen ehrlich besorgt.
"Danke, das hast du schon. Ehrlich. Leg dich wieder schlafen, ich komm schon klar."
"In Ordnung." Karen begab sich wieder in ihr Doppelbett zu Mitch. "Schlaf gut, Maggie."
"Gute Nacht, ihr Beiden."
Dann löschte Mitch das Licht. "Gute Nacht." Nur der Mond schien nun noch in den Raum und ließ graue Silhouetten erkennen.
Erschöpft fiel Karen in einen tiefen Schlaf, doch mitten in der Nacht erwachte sie plötzlich. Sie dachte, sie würde noch träumen, doch sie träumte nicht mehr. Sie hörte genau hin. Es war real, da waren Schreie. Sie waren weit weg, sodass man sie nur vernahm, wenn man ganz genau hinhörte. Bei geschlossenem Fenster hätte sie wohl nichts vernommen. Die junge Frau rüttelte an ihrem Mann. "Hey, Mitch! Wach auf!"
Mit einem unwilligen Stöhnen drehte sich der durchtrainierte Mann zu ihr um. "Was ist denn?"
"Sei mal leise und hör mal."
Plötzlich war Mitch hellwach. Auch er hörte die Schreie. "Das sind Frauenschreie! Wo kommen die her? Wer ist das?"
"Die Schreie hören sich an, als ob jemand ganz schlimme Schmerzen hat oder so etwas."
Die Schreie wurden schriller und etwas lauter, dann brachen sie plötzlich ab. "Jetzt ist es wieder ruhig."
"Sollen wir nachschauen gehen, was das war?", fragte Karen beunruhigt.
"Nein, wir wissen nicht, was uns erwartet. Wir schauen uns morgen mal im Hellen ganz genau um, dann finden wir eher etwas heraus. Jetzt im Dunkeln finden wir eh nichts. Wir wissen ja auch nicht genau, wo das jetzt herkam."
"Hm... Vielleicht hast du Recht. Sollen wir Maggie wachmachen und davon erzählen?"
"Ich bin schon längst wach.", ließ sich eine Stimme aus dem Dunkeln vernehmen. "Ich habe es auch gehört. Und es lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Doch nun sollten wir versuchen, wieder zu schlafen. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen, habe ich das Gefühl."
"Gut, bis morgen dann.", meinte Karen. Sie schloss die Augen, doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie wieder eingeschlafen war. Diese markerschütternden Schreie gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf und sie hörte sie immer wieder.
Der nächste Tag begann ganz gemütlich. Die drei Agenten des MI5 erwachten am späteren Vormittag, als die Sonne schon hell ins Zimmer schien. Nachdem sie aufgestanden waren, nahmen sie ein Frühstück im Gasthaus unter ihnen ein, welches aus Brot, Käse, frischer Milch und Marmelade bestand. Anschließend gingen sie hinaus in den Ort, um sich umzusehen. Jetzt, im hellen Sonnenschein, sah es gar nicht mehr so bedrohlich aus, wie es im Dunkeln und vor allem in der Nacht durch die unheimlichen Geräusche gewirkt hatte. Theoretisch hätte es irgendein x-beliebiger Ferienort sein können, der irgendwo abgeschieden in der Pampa lag und so Ruhe und Erholung bot. Das einzige, was nicht dazu passte, waren die sehr argwöhnischen Blicke der Einwohner, die sie überall und ständig beobachteten. Waren die Bewohner von Berkgold's Town einfach nur misstrauisch Fremden gegenüber, die sie ja wohl wirklich nicht oft sahen, oder hatten sie etwas zu verbergen?
Ivan, der großgewachsene muskelbepackte Neffe des Bürgermeisters mit kurzen schwarzen Haaren und starker Armbehaarung, trat auf sie zu. "Ich soll euch von meinem Onkel fragen, wie lange ihr noch bleiben wollt?"
"Ach, uns gefällt es hier sehr gut, es ist ruhig, hübsch und entspannend.", antwortete Mitch betont freundlich und ungezwungen. "Ich denke, wir bleiben hier noch ein paar Tage und lassen einfach mal die Seele baumeln."
"Hm, in Ordnung.", meinte Ivan und man sah ihm an, dass es ihm nicht recht war. "Wenn dem so ist, seid ihr von meinem Onkel herzlich eingeladen heute abend bei ihm in seinem Hause zu speisen. Wir haben eine kleine Feier, an der ihr gerne teilnehmen könnt."
"Oh, vielen Dank, das freut uns. Was ist denn das für eine Feier?"
"Nur so eine kleine Dorffeier, die wir öfters machen. Kein bestimmter Anlass."
"Okay, in Ordnung. Und wo müssen wir dann hin? Wo befindet sich das Haus deines Onkels?"
"Das ist da hinten dieses Haus." Ivan wies auf ein größeres altes Bauernhaus, welches, wie so viele der Häuser dieses Ortes, im Fachwerkstil gebaut wurde.
"Alles klar.", antwortete Mitch McSlaughter lächelnd. "Wann sollen wir ungefähr da sein?"
"Halb sieben wäre schon recht. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss an meine Arbeit. Das Vieh will auf die Weide getrieben werden und wartet darauf, dass ihm jemand den Stall ausmistet. Drecksviecher, machen nichts als Arbeit..." Grummelnd verließ er sie.
"Ich hasse es, wenn jemand so abwertend über Tiere spricht.", meinte Maggie zu den Anderen. "Mir ist dieser Ivan total unsymphatisch. Nicht, dass mir die anderen Gestalten symphatisch wären, die hier so rumlaufen..."
"Ich weiß, was du meinst.", bestätigte Karen. Dann wandte sie sich zu ihrem Mann. "Meinst du, hinter dieser Einladung steckt irgendetwas bestimmtes? Die wollen uns doch nicht vergiften, oder so?"
"Unwahrscheinlich, aber möglich wäre es schon.", meinte Mitch ernst. "Wir sollten die Einladung auf keinen Fall ablehnen, das würde sie nur misstrauisch machen."
"Einverstanden, Schatz.", sagte Karen ernst. Lass uns noch weiter den Ort erkunden. Bis jetzt hab ich noch nichts wirklich Auffälliges entdecken können.
Nur wenige Minuten später fiel jedoch Karen schon etwas Ungewöhnliches auf. Sie hatten sich zum äußeren Rand des Dorfes begeben. Da sagte Karen plötzlich: "Da, schau mal! Die Erde!"
"Ja, sie sieht wie frisch umgegraben aus.", meinte Mitch. "Da hat wohl jemand etwas verbuddelt?"
"Meinst du, dass es eine Leiche ist? So wie in so 'nem alten Horrorfilm?"
"Ausschließen würde ich es nicht, doch wäre das nicht etwas zu offensichtlich?"
"Warum denn? Normalerweise ist hier sonst niemand Fremdes und der Ort ist eingeschworen, die wissen alle, was abgeht. Die stecken alle unter einer Decke."
"Möglich, wir sollten das näher untersuchen. Was meinst du dazu, Maggie?"
Die rothaarige Schottin trat etwas näher an den Bereich heran, wo man sehen konnte, dass dort vor Kurzem die Erde umgegraben worden war. "Ich habe hier ein komisches Gefühl. Ich spüre eine Energie, die von diesem Ort ausgeht. Ich kann es nicht genau definieren, weil ich mich die ganze Zeit abschirme, sonst würde ich wieder unter dieser ganzen Energie zusammenbrechen, die dieses Dorf umgibt. Es könnte tatsächlich so sein, wie du sagtest, Karen. Und es wäre nicht das Einzige. Dieses ganze Gebiet..."
"Bist du dir sicher?", fragte die junge Frau aufgeregt.
"Nicht hundertprozentig, aber dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, das steht für mich fest." Sie zitterte. "Habt ihr auch so kalt wie ich?"
"Eigentlich nicht..."
"Das ist kein gutes Zeichen. Was sollen wir jetzt tun?"
"Es ist hellichter Tag.", sprach Mitch zu den beiden Frauen und sah dabei sehr ernst aus. "Und wir werden beobachtet. Wir schauen heute Nacht, wenn es dunkel ist, nach, was hier begraben liegt."
Als ob nichts gewesen wäre, schlenderten die drei Briten weiter durch den Ort.
Schließlich war es Zeit für das Abendessen, zu dem sie eingeladen worden waren. Als die drei Agenten des Security Service das Haus betraten (die Haustür stand offen) gingen sie erstmal den Geräuschen nach und gelangten schließlich in einen sehr großen Raum. In diesem Zimmer standen parallel zwei sehr lange Tische, etwa vier Meter lang, und der Raum war fast vollständig mit Gästen gefüllt. Alles Bewohner des Ortes. Dieser Raum war wohl so etwas wie der Gemeindeversammlungsraum, vermutete Mitch.
"Ach, da sind ja auch unsere Gäste.", begrüßte Norman Myers sie grinsend. "Bitte, nehmt doch dort Platz, da sind noch Stühle frei."
Maggie bekam eine Gänsehaut, was für sie ein sicheres Anzeichen war, dass dieser Mann es nicht ehrlich meinte. Diese oberflächliche Freundlichkeit war nur eine billige Maske, die auch ihre Kollegen durchschaut hatten. Zur Ausbildung als Mobile Surveillance Officer gehörte natürlich auch eine gewisse Portion Psychologie, Kenntnis der Körpersprache und wie man erkennt, ob jemand lügt und Ähnliches. Dies war in diesem Beruf, wo man nie wissen konnte, wem man trauen konnte, und wem nicht, von großer Wichtigkeit.
Nach etwa einer halben Stunde, in der sie belanglose Gespräche mit den nahe sitzenden Dorfbewohnern führten, saßen sie schließlich an ihren Plätzen und der Bürgermeister begann eine Ansprache. Mitch hatte genauso wie die anderen nicht damit gerechnet, dass es ein so großes Fest werden würde. Aber das war nicht extra für sie veranstaltet worden, es war wohl so etwas wie ein immer wiederkehrendes Dorffest oder so.
Zuerst gab es etwas belegtes Brot und Wein und Bier, doch auch Tee wurde ausgeschenkt (der Tee zuerst, dann die Milch, was Karen zu einem Grinsen in Mitchs Richtung veranlasste). Später gab es dann Gemüse und Fleisch. Eines der Töpfe mit Fleisch wurde anschließend hereingetragen. Es war nicht viel drin. Norman sagte zu Maggie: "Probiert mal von diesem Fleisch dort, es ist eine Spezialität unseres Dorfes, so etwas Feines habt ihr noch nie woanders gegessen, das wette ich."
"Nein, danke, ich bin Vegetarierin."
"Vege... Naja, selbst Schuld. Und ihr anderen beiden?"
"Ja, gerne.", antwortete Karen vorsichtig.
Norman brachte die Schüssel zu ihnen und machte Karen und Mitch je zwei kleine Stückchen auf den Teller, dann reichte sie die Schüssel herum und jeder nahm sich ein klein wenig. Mitch schaute sich ganz genau um. Er befürchete, dass es tatsächlich vergiftet sein könnte. Doch als alle anderen, inklusive des Bürgermeisters aßen, aß er auch und war angenehm überrascht.
"Das ist richtig zart, sehr lecker.", meinte Karen zu ihrem Mann. "Was meinst du, was das ist? Hühnchen?"
"Ja, oder Wachteln oder so etwas. Es ist ja sehr wenig. Irgendein kleiner Vogel oder so."
"Ich glaube, ich wills gar nicht wissen, sonst tun mir die Vöglein so leid.", lächelte Karen und nahm den nächsten Bissen.
Mitch jedoch war neugierig und fragte Norman Myers: "Was ist denn das für ein Fleisch?"
"Das... Ist ein Geheimnis. Und das soll auch so bleiben.", grinste er auf eine, wie Maggie fand, merkwürdige Weise.
"Schade.", sprach Mitch und aß weiter. "Aber sehr lecker."
"Das freut mich, dass euch unsere kulinarischen Spezialitäten munden."
"Was ist das hier eigentlich für ein Fest? Was wird gefeiert?"
"Das ist unser traditionelles Dorffest. Es findet ein bis zweimal im Monat statt, in unregelmäßigen Abständen. Und unser spezielles Essen gibt es nur zu diesem Feste. Wir feiern sehr gerne."
"Darf ich mal eine spezielle Frage stellen?", fragte Karen mit forschem Blick. Ihr Herz schlug schnell und hart.
"Nur zu, Miss Curtis."
"Warum lebt ihr hier so abgeschieden von dem Rest der Welt?"
"Nun ja...", begann der ältere Mann. "Wir sind hier eben alle etwas eigen. Wir sind froh, wenn wir unsere Ruhe haben. Wir mögen für den Rest der Welt vielleicht etwas rückständig und eingeschränkt leben, aber wir können uns nichts anderes vorstellen. Wir können so hier mehr oder weniger tun, was wir wollen, ohne uns nach irgendwem richten zu müssen. Das hat auch seine Vorteile."
"Ich verstehe."
Der Rest des Abends plätscherte mit belangloser Unterhaltung dahin. Kurz nach dem Ende des Festes begaben sich die drei Agenten auf ihr Zimmer.
Es war kurz nach Mitternacht. Draußen war alles still, es war kein Geräusch zu hören, selbst die Kühe, Pferde und Schweine schliefen nun. Der Mond schien nicht ganz so hell wie am Tag zuvor, da einige Wolken ihn hin und wieder teilweise verdeckten. Karen, Mitch und Maggie waren jedoch hellwach. Sie warteten schon seit den letzten Stunden, bis endgültig Ruhe eingekehrt war. Nun war es soweit.
"Lasst uns gehen, wir haben lange genug gewartet.", sagte Mitch leise. "Aber passt auf, dass ihr so wenig Geräusche wie möglich macht."
"Das ist klar.", meinte Karen zu ihrem Mann. "Wir wollen schließlich nicht entdeckt werden."
Vorsichtig öffneten sie die Tür ihres Zimmers, traten hindurch und schlossen sie geräuschlos. Die alte Holztreppe knarrte bei mehreren Stufen und Karen zog jedes Mal dabei lautlos die Luft zwischen ihren Zähnen ein und verfluchte die alte Treppe innerlich. Doch sie gingen recht zügig hinunter, durchquerten den leeren Speiseraum des Wirts- und Gasthauses und traten durch die zum Glück nicht versperrte Außentür. Sie hatten gehofft, dass die Tür offen wäre, denn aus welchem Grund sollten in diesem abgeschiedenen Dorf Türen abgeschlossen werden? Darüberhinaus haben sie als Gäste keinen Schlüssel bekommen.
Der erste Weg führte sie nicht direkt zu der aufgewühlten Erde sondern zu einem kleinen Geräteschuppen, den sie tagsüber entdeckt hatten und der, wie gehofft und vermutet, ebenfalls unverschlossen war. Mitch McSlaughter öffnete die Tür und tastete im Dunkeln nach einem Spaten, welche er beim vierten Versuch griff (weil es dunkel war und er kein Licht machen wollte hatte er zuerst zwei Besen und dann eine Mistgabel gegriffen).
Nach zwei Minuten befanden sich schließlich die drei Agenten des Security Service an der Stelle, zu der sie wollten. Alle waren sehr aufgeregt, was sie nun entdecken würden und ihnen schlug auch allen das Herz sprichwörtlich bis zum Hals, trotz ihrer Erfahrung mit dem Abschaum der Gessellschaft, Mördern, Terroristen, Psychopathen, Vergewaltigern. Doch es war auch wichtig, dass es nicht zur Routine wurde, denn der Adrenalinschub konnte im Kampf sehr wichtig werden.
Mitch, der als Mann die meiste Kraft von den Dreien besaß, fiel die Aufgabe des Grabens zu. Gerade als er den ersten Spatenstich setzte, hörte er eine unfreundlich klingende Männerstimme: "Das würde ich lieber sein lassen. Ich wusste es doch, dass man euch nicht trauen kann. Von wegen Touristen."
Mitch und die beiden Frauen drehten sich erschrocken um. Dann erkannten sie Ivan McMyers, den Neffen des Bürgermeisters. Er hatte nur ein schmutziges Unterhemd an und so konnte man seine zum Zerreißen gespannten Muskeln sehen. Er knackte mit seinen Fingern und grinste auf eine beunruhigende Weise.
"Wieso ist es so schlimm, dass wir hier graben wollen? Was würden wir denn entdecken?", fragte Karen herausfordernd. "Eurer dreckiges kleines Dorfgeheimnis?"
"An deiner Stelle würde ich das Maul nicht so weit aufreißen, du dummes Weib.", blaffte er nur.
"Also...", Karen suchte nach Worten. "Ach, fick dich, Wichser!"
"Wie bitte? Du kleines Miststück, dann mach ich dich zuerst fertig!"
"Stop.", sprach Mitch bestimmend. "Hast du Angst, gegen einen echten Mann zu kämpfen, oder warum willst du eine Frau schlagen? Lass uns lieber kämpfen, Mann gegen Mann." Mitch wusste, dass auch Karen durch die Kampfausbildung locker mit ihm fertig geworden wäre, doch Mitchs Testosteron brachte ihn dazu, dass er es sich selbst beweisen musste, mit diesem Großmaul fertig zu werden und seine Frau zu beschützen, auch wenn sie diesen Schutz nicht wirklich nötig hatte.
"Einverstanden, dann bist du eben der erste. Aber wenn es wirklich ein fairer Kampf sein soll, dann leg den Spaten weg, ich bin schließlich auch unbewaffnet."
"Einverstanden." Mitch ließ den Spaten einfach zu Boden fallen. Er wusste, dass er keine Hilfsmittel brauchen würde. Dieser Kraftprotz war vielleicht sehr sehr stark, doch ob er vom Kämpfen an sich Ahnung hatte, bezweifelte er doch stark. Er sah eher nach einem Anhänger der Hau-drauf-Methode aus. Und der erfahrene Agent schien recht zu behalten. Ivan lief los und schlug zu, doch Mitch wich ohne große Anstrengung aus. Auch die nächsten Schläge des Kampfkollosses wurden mühelos abgewehrt. Daraufhin wurden Ivans Angriffe immer ungezielter, grobschlächtiger, denn seine Wut ließ ihn die Kontrolle verlieren. Dann zog er blitzschnell ein Klappmesser aus der Hose, ließ es aufschnappen und stach in Richtung Mitchs Brustkorb. Dieser wandte instinktiv einen Kampfgriff an, den er während seiner Ausbildung erlernt hatte. Dadurch verdrehte er quasi das Handgelenk seines Angreifers etwas und lenkte seine Energie um auf ihn selbst, sodass Ivan sich das Messer selbst in die Luftröhre rammte. Mit letzter Kraft zog er das Messer wieder heraus. Doch es war zu spät. Er aspierierte Blut, als dieses in die Trachea gelang. Ivan fiel um und erstickte qualvoll unter röchelnden Geräuschen.
Maggie atmete einmal tief durch. "Jetzt wissen wir wenigstens, dass wir auf der richtigen Spur sind. Was ist nur so wichtig, dass sie uns dafür sogar töten würden?"
"Dass die hier nicht ganz richtig sind, wusste ich auch so.", entgegnete Karen kühl.
"Stimmt.", bestätigte Mitch McSlaughter. "Mir war auch schon gleich klar, dass mit denen hier im Dorf etwas nicht stimmt, als ich sah, dass sie zuerst den Tee und dann die Milch einschütteten."
"Unsinn.", widersprach seine Frau vehement. "Das war das einzig Sympathische an denen."
"Also, ich finde für Witze ist hier im Moment wenig Zeit.", wandte Maggie ein, musste aber doch lächeln.
"Wieso Witze?", fragten Karen und Mitch gleichzeitig.
Maggie ging zu Ivan. Er hatte aufgehört zu zucken. Er war tot. "Ich schaue mal nach, ob er noch irgendwelche Waffen bei sich trägt." Als sie das Klappmesser anfasste, konnte sie sich nicht gegen die Flut von Bildern und Emotionen wehren, doch es waren so viele, dass sie nicht klar differenzieren konnte. "Er hat getötet, und das nicht nur einmal. Das war ein richtiger Serien- oder Massenmörder."
"Bist du sicher?", fragte Karen und starrte sie an.
"Ja.", sagte sie ernst. "Das Blut, das an den Händen dieses Mannes klebt, lässt sich nicht erfassen."
"Dann wird hier wohl tatsächlich eine Leiche liegen.", meinte Mitch und schaute auf die umgegrabene Erde. Anschließend nahm er den Spaten wieder in die Hand und begann zu graben.
In der Zwischenzeit durchsuchte Maggie Ivans toten Körper und versuchte sich gegen die Gefühle und Bilder abzuschirmen, die weiterhin auf sie einprasselten. Schließlich wurde ihre Suche belohnt. "Schaut mal, was ich gefunden habe.", sagte sie zu ihren Kollegen und zeigte ihnen einen Schlüsselbund mit zwei alten Schlüsseln daran.
"Komisch, hier wird doch nie etwas abgeschlossen...", überlegte Karen laut. "Gut, dass du ihn gefunden hast, vielleicht wird er uns noch nützlich sein."
Mitch grub unterdessen immer weiter und seine Befürchtungen sollten sich bestätigen. Er legte eine Hand und einen Arm frei und schließlich den gesamten Körper. Entsetzt starrten Maggie und Karen auf die Leiche. Es war eine junge Frau, welche ihrer dunklen Hautfarbe nach zu urteilen, aus Afrika stammen musste. Sie war nur mit einem dünnen Hemdchen bekleidet, ansonsten war sie nackt. Der Intimbereich lag unverdeckt da. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte pures Entsetzen wider. Auch sonst war ihr Gesicht durch viel Leid gekennzeichnet. Ihre Handgelenke waren wund. Sie zeigten offene Stellen.
Karen trat näher an sie heran und hielt sich vor Schreck die Hand vor Mund und Nase. "Da, schaut euch das nur an! Ihre Innenschenkel sind total mit Blut verschmiert. Und da ihr Bauch ist noch gewölbt... Diese Frau war schwanger gewesen! Sie hat erst vor Kurzem ein Kind auf die Welt gebracht!"
"Oh mein Gott.", entfuhr es nun auch Mitch. "Aber wo ist das Baby?"
Plötzlich sprach eine vertraute Stimme aus dem Hintergrund: "Was glaubt ihr denn, was ihr gestern Abend so Feines gegessen habt?"
Karen und Maggie drehten sich nach der Stimme um und starrten Norman Myers entsetzt an, der dort mit einem süffisanten Lächeln stand. Dann schrie Karen: "Nein!!!! Das ist nicht wahr! Nein!" Sie fühlte Tränen des Ekels und der Abscheu in sich aufsteigen und ihr wurde plötzlich so schlecht, wie noch nie in ihrem ganzen Leben. Sie begann zu würgen, sank auf die Knie und übergab sich. Sie starrte auf die dunkelbraunen Überreste ihrer Mahlzeit, die nun auf dem Boden lag und fragte sich, ob sich dort immer noch Teile der Mahlzeit befanden, oder ob diese schon verdaut war. Und sie übergab sich erneut, bis nur noch gelbe gallenartige Flüssigkeit herauskam und ihre Speiseröhre von der Magensäure brannte.
"Jetzt keine so großspurigen Töne mehr, meine Dame?", fragte der Bürgermeister grinsend.
"Halt dein verdammtes Drecksmaul, du gottverdammter Wichser!", würgte sie hervor.
"Nanana... Solche Wörter aus dem Mund einer Dame?"
Auch Maggie flossen die Tränen. Sie konnte sie nicht aufhalten. "Wie kann man nur so etwas Schreckliches tun? Ich verstehe das einfach nicht."
"Ach, es ist ganz einfach. Ist das Balg erstmal draußen, wird die Nabelschnur durchgeschnitten und dann wird es zum Schlachter gebracht, in unserem Fall zu Nathan, meinem Bruder. Und dann wird es zerlegt, wie man auch ein Kaninchen zerlegt. Das ist alles Übungssache."
"Aber es sind Menschen! Es sind Kinder!"
"Nein, das sind keine Menschen, schließlich werden sie dafür ja gezüchtet."
"Gezüchtet?!? Oh mein Gott!" Maggie wich alle Farbe aus dem Gesicht. Sie versuchte gegen die Gefühle anzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Sie konnte das Grauen, das hier geschah, nicht begreifen. Weder rational noch emotional war es ihr möglich, es zu verarbeiten. "Es sind doch Menschen..."
"Nein, es sind nur irgendwelche Nigger und die Fleischproduzenten produzieren, bis sie kaputt sind, und dann entsorgen wir sie. So ein Abfallprodukt habt ihr gerade entdeckt. Jetzt muss die Sauerei wieder verscharrt werden."
Auch in Mitch wuchsen Wut, Entsetzen, Abscheu und Hass immer mehr, je mehr er erfuhr. Diese lebensverachtende Einstellung, diese Kaltblütigkeit... Wie konnte nur ein Mensch, wie konnte ein ganzes Dorf so sein? Neugeborene als Delikatesse in Massenfabrikation? Das war das Grauenvollste, was er jemals gehört hatte. "Ihr tötet sie und lasst sie leiden, nur zu eurem Vergnügen? Nur damit ihr einen Leckerbissen habt? Das kann doch einfach nicht sein!"
"Warum denn? Mit den anderen Tieren wird es auf der gesamten Welt genauso gemacht. Spielt jetzt mal nicht den Moralapostel. Nur weil ihr denkt, Nigger wären Menschen, sonst wäre es euch doch auch egal. Ferkel, Lämmer, Kälber... Ihr esst doch genauso Tierkinder, wie wir. Haltet euch bloß nicht für etwas Besseres."
Karen wusste, dass man das eine mit dem anderen nicht vergleichen konnte, doch sie konnte auch gewisse Parallelen nicht verleugnen. Waren diese Leute so abgestumpft, weil sie es schon so lange machten, dass es für sie normal war? Hätte es die Entwicklung der Menschenrechte nicht gegeben, würde sie dann auch so kaltherzig und gefühllos in so einer Situation sein?
"Jetzt ist auf jeden Fall Schluss mit euren Machenschaften.", versuchte Mitch sich wieder unter Kontrolle zu bringen. "Dieser schreckliche Kindermord wird nun ein Ende haben."
"Ach, du bist nicht der erste und der letzte der uns aufhalten will. Doch wir praktizieren dies schon mehrere Jahrhunderte. Da werdet ihr unsere Tradition nicht beenden."
"Jahrhunderte? Wie ist das möglich?" Das Entsetzen in Mitch wollte gar nicht mehr aufhören zu wachsen. Ständig kamen neue Grausamkeiten ans Licht.
"Ach, du glaubst ja gar nicht, wie gerne Menschen wegschauen. Besonders, wenn sie einen finanziellen Vorteil davon haben. Aber jetzt genug geredet, ich habe schon viel zu viel verraten." Norman grinste, als Nathan und ungefähr zwei Dutzend weiterer muskelbepackter Männer hinzukamen. "Wir haben euch die gesamte Zeit im Auge gehabt. Wir wussten, dass wir euch nicht trauen konnten, dass ihr herumschnüffeln würdet. Und jetzt werden wir euch ausschalten und zu dem nutzlosgewordenen Müll werfen."
In diesem Moment zogen Karen und Mitch, wieder professionell agierend, ihre Revolver der Marke Freedom Arms. Schnell gaben sie mehrere Schüsse des Kalibers .454 Casull ab, die durch den 10“-langen Lauf nur so hinausschossen. Mit einer Kraft von 3212 Joule trafen sie ihre Ziele und töteten mehrere der Männer, bevor diese auch nur ihre eigenen Waffen ziehen konnten.
"Verdammte Scheiße!", ließ sich nun der Bürgermeister zum ersten Mal zu einer Gefühlsregung bringen. "Wer seid ihr, verdammt nochmal?"
"Wir sind vom Security Service, oder auch MI5, wenn euch das mehr sagt. Eure Zeit ist abgelaufen. Wenn wir uns nicht regelmäßig melden, schickt das Hauptquartier jede Menge Leute hierhin. Und wir haben uns heute noch nicht gemeldet. Wenn wir es nicht bis... in ungefähr zwanzig Minuten, getan haben, schicken sie ihre Leute los. Und ich habe nicht vor, mich zu melden." Mitch McSlaughter zitterte vor Wut und es brachte ihm Genugtuung, dass er nun zu gewinnen schien.
Inzwischen hatten die Männer des Dorfes ihre Waffen gezogen und erwiderten das Feuer. Mitch und Karen hatten Mühe, den Kugeln auszuweichen. "Knallt sie ab, verdammt nochmal!", schrie der Bürgermeister nun mit schweißbenetzter Stirn.
Maggie unterdessen hatte sich vom Kampfschauplatz abgewendet. Sie hatte zwar auch diverse Kampfsportarten erlernt, doch sie war nicht sicher, dass es genügen würde, sich gegen diese Leute durchzusetzen. Sie folgte ihrem Gefühl, das sie in eine ganz bestimmte Richtung zog. Sie wusste, sie musste dorthin, es sollte so sein. Als sie auf das Gebäude zuging, zu dem sie ihr Gefühl zog, hörte sie Stimmen. Frauenstimmen, die wehklagten. Sie ging in das Haus, dessen Tür nicht abgesperrt war und stand schließlich vor einer eisernen Tür, die wohl in den Keller führen musste. Die Stimmen kamen von hinter dieser Tür. Sie benutzte den Schlüsselbund, den sie bei Ivan gefunden hatte. Der erste Schlüssel passte nicht, doch der zweite war der Richtige. Sie öffnete die laut knarzende Tür und ein Gestank stieg ihr entgegen, der ihr Übelkeit bereitete. Unter den Gefühlen, die nun so stark wie nie zuvor auf sie einprasselten, sank sie zusammen. Doch sie wusste, dass sie weitergehen musste. Sie atmete tief durch und widerstand den Gefühlen. Langsam ging sie die steile Steintreppe hinunter. Ihre Hand fand einen Lichtschalter. Nachdem sie ihn betätigt hatte, leuchtete eine alte Funzel sehr schwach und tauchte das unterirdische Verließ in ein seltsames Zwielicht. Doch nun konnte sie sie sehen. Mehr als zwei Dutzend afrikanische Frauen waren mit Eisenketten an die Wand gekettet. Viele von ihnen waren schwanger, wenn nicht sogar alle, man sah es nur nicht bei allen. Und einige waren hochschwanger. Sie redeten, schrien und klagten alle durcheinander, doch auch wenn nur eine einzige geredet hätte, hätte Maggie nichts verstanden, da sie die Sprache nicht kannte, die sie benutzten. Sie schaute in die großen dunkeln Augen, die sie verzweifelt und hilfesuchend anschauten. Dann sah sie, dass eine der Frauen, die sich links von ihr befanden, auf dem Boden hockte, soweit dies die Fesseln zuließen, und sich eine große Blutlache unter ihr gebildet hatte. Und in dieser Blutlache lag ein Baby, noch ganz mit Käseschmiere und Blut beschmiert. Sie hatte es gerade erst geboren.
Maggie eilte so schnell sie konnte, zu ihr und stellte erleichtert fest, dass das Kind noch lebte. Es schrie aus Leibeskräften. Vorsichtig nahm sie den Säugling in die Arme und achtete dabei darauf, dass sie den kleinen Kopf stützte, da die Muskulatur des Halses noch nicht stark genug war, dass sie ihn tragen konnte. Die Mutter des Kindes starrte sie an und begann zu weinen. Maggie versuchte sie zu trösten, doch sie ließ sich nicht beruhigen. Was sollte sie nur tun? Die Nabelschnur war auch noch dran. Sie nahm das Messer von Ivan und sah, dass es Unruhe bei den Frauen auslöste. "Alles in Ordnung, ich helfe euch.", sprach sie beruhigend. Die Frauen konnten zwar die Sprache nicht verstehen, doch die Sprachmelodie und beruhigten sich etwas. Die junge Schottin nahm das Messer, durchtrennte die Nabelschnur nah am Kind, klappte das Messer wieder zusammen und steckte es ein. Danach versuchte sie einen Knoten in die Nabelschnur beim Baby zu machen, was gar nicht so einfach war, doch es gelang nach einiger Anstrengung. Anschließend nahm sie den Schlüssel, der nicht zur Tür gepasst hatte, und öffnete die Fesseln der Mutter. Sie legte ihr den Säugling auf die Brust, sodass es den Herzschlag der Mutter hören konnte und sich schnell beruhigte. Es war ein Mädchen.
Sie wusste, dass sie nicht viel Zeit verlieren durfte, denn schließlich konnte jeden Moment jemand hereinkommen. Sie beeilte sich, nun auch die anderen Frauen von ihren Fesseln zu erlösen. Fast alle weinten vor Freude über die endlich erlangte Freiheit. Wie viele von ihnen schon die Hoffnung auf ein Ende ihrer Qual aufgegeben hatten? Als sie schließlich die letzte Afrikanerin befreit hatte, bemerkte sie, dass die Frauen sich aufgebracht unterhielten. Bis auf die, die hochschwanger waren, begannen sie, die Treppe heraufzusteigen. Die Mutter des Neugeborenen war zu Maggie gewankt und drückte der völlig perplexen Schottin ihr Baby in die Hände. Dann lief sie den anderen Frauen hinterher. Dabei lief ihr das Blut die Beine herunter und sie zog eine blutige Spur hinter sich her.
"Nein, bleib hier!", rief Maggie ihr hinterher, doch sie wusste dass es aussichtslos war. "Es ist doch viel zu riskant..."
Welche übermenschliche Kraft diese Mutter jetzt entwickelt hatte... Nach einer Geburt, die sie allein hatte überstehen müssen, nach Monaten Gefangenschaft ohne Hoffnung und vielleicht auch mehreren ermordeten Kindern hat sie die unglaubliche Kraft, aufzustehen und loszugehen. Unglaublich, zu was Menschen in der Lage waren. Maggie folgte der Blutspur und stockte einmal, als die Nachgeburt auf dem Boden erblickte. Der blutige Klumpen Plazenta war fast so groß wie das eigentliche Kind. Sie machte einen Bogen um den Mutterkuchen und verfolgte weiter die Spur. Schließlich kam sie gerade rechtzeitig an, um zu sehen, wie Mitch und Karen sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen die Übermacht der Dorfbewohner zu erwehren versuchten. Durch den entstandenen Tumult waren die übrigen Dorfbewohner angelockt worden und mischten nun kräftig mit. Weder die beiden Agenten, noch die Dorfbewohner konnten ihre Schusswaffen benutzen, denn die Munition war ausgegangen, sie hatten alles verschossen. Karen hatte einen Streifschss an der Wade und eine Unmenge Kratzer an Armen und im Gesicht. Mitch sah nicht viel besser aus, eher schlimmer: Ein Schuss hatte ihn in die linke Schulter getroffen, die nun stark blutete.
Doch was nun geschah, damit hatte wohl keiner der Kämpfenden gerechnet. Wie Furien stürzten sich die Frauen auf die Männer und Frauen (es waren inzwischen auch einige Frauen des Ortes dazugekommen) des Dorfes und bissen, kratzten, schlugen, traten so stark sie nur konnten. Zwei Frauen, die am Anfang ihrer Schwangerschaft standen, stürzten sich auf Nathan Myers und rissen ihn zu Boden. Sie bissen in seine Arme und er schrie vor Schmerz auf. Eine dritte Frau hob einen großen Stein auf und ließ ihn herniedersaußen, und nochmal und nochmal, bis der Schädel ihres Peinigers zertrümmert war und Blut, Gehirnmasse und Liquor aus dem Kopf liefen. Die Demütigung, Erniedrigung, Folter, das Leid und die Schmerzen, sowohl körperlicher als auch seelischer Art, die sie erleiden mussten, entluden sich in einem Orkan der Zerstörungswut und Mordlust. Die Frauen ließen ihrem Zorn, ihrer Wut und ihrem Hass freien Lauf.
Nun erspähte Maggie auch die Mutter des Kindes. Diese stürzte sich auf Norman Myers, den Bürgermeister. Ihre Fingernägel, die, da sie nicht geschnitten worden waren, zu Krallen geworden waren, stachen in Normans Augen, sodass er laut aufschrie. Dann biss die Afrikanerin so fest sie nur konnte in seinen Hals, bis Blut hervorquoll. Norman riss ein Messer hoch und stach es der Frau in die Flanke. Doch diese biss nur umso fester zu, bis sie ein großes Stück Fleisch herausgerissen hatte. Als sie sah, dass Norman das nicht überleben würde, fiel sie kraftlos zur Seite und starb mit einem erschöpften Lächeln auf den Lippen.
Maggie weinte und drückte die Waise fest an ihren Körper. Nun hatte sie die Mutter verloren, die vermutlich einzige Verwandte.
Karen trat zu ihr. "Oh, was für ein süßes Baby. Wem gehört es?"
"Seine Mutter ist gerade gestorben.", sagte Maggie traurig.
"Oh nein..." Karen schaute den Säugling an. Er war so wunderschön, ein wahres Wunder. Die kleinen Hände, der kleine Kopf. Ein kleiner Mensch. Wie konnte man so einem wundervollen Wesen nur etwas antun? "Kann ich sie mal halten?"
"Klar." Maggie reichte der jungen Frau das Mädchen.
"Keine Angst, meine Kleine.", sprach sie liebevoll mit ihr, als sie anfing zu weinen. "Du brauchst nun keine Angst mehr zu haben, wir werden sehr gut auf dich aufpassen."
Die Afrikanerinnen waren, als sie mit den Angreifern fertig waren, weitergezogen. Sie durchstreiften das gesamte Dorf auf der Suche nach Rache. Niemand konnte das Leid wieder gut machen, das sie erfahren haben, doch sie wollten wenigstens, dass ihre Peiniger zumindest ein bisschen so leiden würden, wie sie selbst. Sie wollten sie tot sehen. Und keiner der drei Agenten machte auch nur einen Versuch, sie aufzuhalten. Sie hätten es zwar sowieso nicht gekonnt, doch auch wenn sie es gekonnt hätten, hätten sie es nicht getan. Es war nun nicht mehr ihre Schlacht, sondern die die dieser Frauen.
Als zwei Stunden später eine große Spezialeinheit des Security Service in Berkgold's Town ankam, fanden sie ein Massaker vor, dass man sonst nur aus Kriegen kannte. Die Frauen hatten jeden einzelnen Bewohner des Dorfes umgebracht. Einzig die kleineren Kinder, von denen es nur eine handvoll gab, wurden verschont. Während der Kämpfe waren sieben weitere Afrikanerinnen ums Leben gekommen.
Der Security Service und Interpol durchsuchten in den nächsten Tagen das gesamte Dorf und fanden so das gesamte Ausmaß des geheimen Grauens heraus, dass sich in diesem kleinen Örtchen zugetragen hatte. Die Frauen waren aus einem der ärmsten Länder der Welt gekommen, aus Tansania. Der im 18.Jahrhundert durch Karawanenhandel begünstigte Sklavenhandel wurde von den Vorfahren der jetzigen Einwohner des Dorfes ausgenutzt. Sie kauften sich Männer und Frauen aus Tansania wie Vieh und kamen schließlich auf die Idee, auszuprobieren, wie diese Menschen, die für sie Tiere waren, schmecken würden. Schließlich wurden die Tansanier wie in einem Zuchtbetrieb gehalten, dieses Geheimnis durfte nur niemand wissen. So wurde die Gemeinschaft der Dörfler immer verschworener und sie mussten sich noch mehr nach außen abschirmen. Um Futterkosten zu sparen, wurden, seit es diese Möglichkeit gab, die Frauen künstlich befruchtet. So benötigte man keine tansanischen Männer mehr. Die Arbeit der Sklavenhändler ging weiter wie bisher, nur man agierte mehr im Untergrund. Eine Schleuserbande, die den Frauen ein Leben im reichen Europa versprach, sorgte für genügend Nachschub. Aufgrund der gefundenen Informationen gelang es schließlich dem Security Service innerhalb der darauffolgenden Wochen, die Schleuserbande dingfest zu machen. In einem späteren Prozess sollten sie vor dem internationalen Gerichtshof wegen Menschenhandels angeklagt und verurteilt werden. Das schreckliche Geheimnis von Berkgold's Town wurde jedoch vor der Öffentlichkeit verschwiegen.
Die Kinder des Dorfes wurden in Wohngruppen untergebracht und erhielten massive psychologische und therapeuthische Behandlungen. Man sah bei den tansanischen Frauen in Anbetracht der Umstände von einer Anklage wegen Mordes ab. Sie bekamen alle eine medizinische Versorgung und kamen in einem Frauenhaus unter. Die ersten Wochen stand eine Abschiebung im Raum, doch schließlich entschied man sich dafür, sie in einem Asylantenheim unterzubringen. Mehrere Sozialarbeiter kümmerten sich von nun an um sie.
Das Waisenmädchen wurde vom Jugendamt in Schutz genommen. Nach einer Zeit auf einer Säuglingsstation im Krankenhaus kam es in ein Waisenhaus.
Mitch, Karen und Maggie bekamen alle drei kostenlose therapeuthische Unterstützung. Darüberhinaus hat sie dieser Fall enger zusammengeschweißt und es entstand eine tiefe Freundschaft zwischen dem Medium und dem Agentenpaar. Mitch und Karen haben das kleine Waisenmädchen sehr in ihr Herz geschlossen und sie bemühten sich sehr um eine Adoption, doch eine Antwort des Jugendamtes stand noch aus, bis zu einem Tag, knapp sieben Wochen nach den Ereignissen...
Karen kochte gerade einen vegetarischen Gemüseauflauf. Seit dem Erlebnis in jenem Dorf konnte sie kein Fleisch mehr anrühren und war schließlich Vegetarierin geworden. Ihr Mann liebte sie und unterstützte diese Entscheidung, indem er auch darauf verzichtete, totes Tier zu essen, zumal ihm der Appetit im Übrigen auch vergangen war. Im Zuge dessen, was sie nun kochen konnten, beschäftigten sie sich stark mit vegetarischer Ernährung und jenem Lebensstil. Durch die Informationen, die sie so bekamen, wurden sie in ihrer Entscheidung bestärkt, unabhängig davon, was sie erlebt haben. Bei Maggie konnten sie sich gute Ratschläge und Tipps holen, sodass auch dies ihre Freundschaft vertiefte. Dann klingelte es an der Haustür.
Mitch öffnete. Es war der Postbote mit einem Einschreiben. Als Mitch unterschrieben hatte, ging er mit dem Brief zu seiner Frau.
"Was ist das?", wollte Karen wissen.
"Hm, das ist vom Jugendamt.", antwortete ihr Mann und öffnete hastig den Brief. Er las sich alles ganz genau Zeile für Zeile durch, dann reichte er den Brief Karen.
"Was schreiben sie?", wollte sie wissen und las selbst.
Dann liefen ihr Tränen aus den Augen. Vor Freude. "Sie stimmen zu, wir bekommen Sikudhani!"
Karen und Mitch hatten beschlossen, falls sie das Mädchen bekämen, würde es Sikudhani heißen. Dies war ein tansanischer Name. Er war auf Suaheli und bedeutete ein unerwartetes Geschenk.
Karen fiel Mitch um den Hals, sie küssten sich und lagen sich so lange in den Armen, bis sie bemerkten, dass der Auflauf angebrannt war. Aber das war ihnen egal. Sie hatten nun eine kleine Tochter und sie würden alles tun, dass diese die Liebe erfahren würde, die ihr zustand.
Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
(1. Korinther 13)
Texte: Johannes Quinten
Bildmaterialien: Johannes Quinten
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2015
Alle Rechte vorbehalten