Man hätte meinen können, es wäre ein Tag wie jeder andere: Der Himmel war bewölkt, es war nicht besonders kühl oder warm, es wehte ein laues Lüftchen. Doch es war kein Tag wie jeder andere, zumindest nicht für Chevos und die Bewohner des Dorfes, dem er angehörte. In der Nacht hatte es ein starkes Erdbeben gegeben und Felsen waren von der Steilwand heruntergestürzt, die sich in der Nähe des Standortes des Dorfes befand. Auch Risse in der Erde hatten sich aufgetan. Das Beben war nur kurz gewesen, doch es hatte eine verheerende Wirkung gehabt. Von den hölzernen Häusern war kein einziges Heil geblieben. Sie waren entweder von herabfallenden Felsen zertrümmert worden oder die Risse im Erdreich hatten sie auseinandergesprengt. Auch das Haus von Chevos, in dem er sein ganzes Leben lang, nämlich achtundzwanzig Jahre, mit seinen Eltern gelebt hatte, war dem Unglück zum Opfer gefallen.
Schlimmer als der materielle Verlust war der Verlust von Menschenleben gewesen. Von den knapp 200 Bewohnern des Dorfes hatten nur 130 überlebt. Unter den Opfern befanden sich auch die Eltern von Chevos. Sie hatten sich zum Zeitpunkt der Naturkatastrophe im Gebäude befunden und geschlafen. Vermutlich waren sie schon tot gewesen, bevor sie merken konnten, was überhaupt geschehen war. Chevos war dankbar dafür, dass sie nicht hatten leiden müssen. Doch dafür litt er umso mehr unter ihrem Verlust. Sie hatten ihm Halt in seinem Leben gegeben, hatten ihm immer die Richtung vorgegeben, und nun war er unsicher, was weiter geschehen sollte. Er selbst war in der Nacht nicht zuhause gewesen, er hatte Tiere gejagt, die nur in der Nacht aktiv waren. Es hätte sollen ein Festschmaus für die nächsten Tage werden, doch es wurde nun ein Leichenschmaus.
Der Dorfälteste Fagor kannte sich mit den Zeichen der Natur aus und hatte die Überlebenden gewarnt: Dieses Beben war nur ein Vorbeben gewesen. Das nächste Beben, welches innerhalb der nächsten Stunden oder Tage beginnen würde, würde weitaus gewaltiger sein und vermutlich auch den Rest der Dorfgemeinschaft hinwegraffen. Nach einer kurzen Beratung mit dem Dorfschulzen und anderen Vertreten des Dorfes wurde beschlossen, den Ort des Schreckens zu verlassen. Die Leichen wurden noch schnell, und wie Chevos fand, etwas würdelos, begraben oder besser gesagt, verscharrt, dann machte man sich auch schon auf den Weg. Die Frage war nur, wohin der Weg führen würde. Karos, der Sohn des Dorfschulzen, machte schließlich den Vorschlag, ins Rafta-Gebiet zu siedeln. Die Rafta war ein großer Fluss, der garantieren würde, dass Ackerbau und Viehzucht gedeihen würden. Der Haken an der Sache war, dass der Weg ins Rafta-Gebiet durch das Drachental führte, weshalb sich viele gegen diesen Vorschlag wehrten. Sie wollten in die entgegengesetzte Richtung ziehen. Dort würden sie in ein anderes fruchtbares Gebiet kommen, das Gebiet des Flusses Nastha. Allerdings war der Weg dorthin viele viele Tagesreisen entfernt, das Rafta-Gebiet war jedoch durch das Drachental innerhalb von maximal drei Tagen zu erreichen.
Warum viele Bewohner des Dorfes nicht das Drachental durchqueren wollten hatte eine ganz einfache Ursache: Wie der Name schon sagte, schien es dort Drachen zu geben. Überlieferte Geschichten berichteten von gefährlichen, blutrünstigen Drachen, gegen die niemand eine Chance hatte, zu bestehen. Karos wandte jedoch alle Einwände ab. Schließlich seien es doch nur alte Geschichten. Er selbst hätte in seinem ganzen Leben noch niemals ein solches Geschöpf erblickt. Und deshalb sei es irrsinnig aufgrund alter Ammenmärchen einen anderen Weg einzuschlagen. Da die meisten Männer derselben Meinung waren, wurde es schließlich beschlossen: Die Reise sollte durch das Drachental gehen und sie würde sofort nach der Bestattung der Toten beginnen.
Das Drachental. Chevos hatte schon immer gewusst, dass er es eines Tages sehen würde. Er hatte es schon immer gewusst, schon seit er zum ersten Mal davon gehört hatte. Vielleicht sogar noch früher. Nur dass es heute und unter diesen Umständen geschehen würde, das hatte er nicht erahnen können. Chevos wusste nicht, was es war, das ihn so anzog, was diese besondere Faszination für ihn auslöste. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn er da wäre, doch er hatte ein inneres Bild vor Augen, das nicht nur aus den Erzählungen seines schon verstorbenen Großvaters stammte. Ob es so sein würde, wie er es dachte, oder gab es dieses Drachental nur in seiner Fantasie und das echte wäre ganz anders?
Tausend Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher. Er fasste mit seiner Hand an seinen Schädel und fuhr sich verzweifelt durch die schulterlangen dunkelbraunen Haare, als ob er so seine wirren Gedanken und Sorgen einfach aus seinem Hirn ausstreichen könnte. Er nahm noch einmal tief Luft, füllte seine Lungenbläschen mit Sauerstoff und stand auf. Die Gruppe ehemaliger Dorfbewohner hatte nur eine kurze Pause gemacht. Der Dorfschulze hatte das Signal zum Aufbruch gegeben und die Reise ging weiter.
Nach einigen Stunden war es schließlich soweit. Sie gelangten an den Rand des Drachentals. Die Gegend bestand nun lediglich nur noch aus grauen Felsen und hellbraunem Gestein. Eine steile Felswand ragte rechts auf, links klaffte ein Abgrund, auf dessen Boden sich ein Tal mit denselben Gesteinsarten befand. Dies alles war das Drachental, ein objektiv betrachtet nicht sehr interessanter Ort, wenn man von der Größe einmal absah. Doch Chevos war fasziniert, mit jedem Schritt mehr, den er dem Gebiet entgegenkam, doch er wusste nicht, wovon. War es einfach nur dieser fremde, exotische Anblick? Wohl kaum, denn er wirkte eher vertraut als fremd.
Nach einigen hundert Metern stoppte die Menschenkarawane plötzlich. Chevos lief nach vorne, um nachzusehen, was geschehen war. Bei den ersten Männern, die vorausgegangen waren, angekommen, sah er den Grund für das plötzliche Anhalten: Ein menschliches Skelett. Es hatte einen stumpfen Helm auf und ein Schwert lag ungenutzt neben ihm. Es war eindeutig ein Krieger, und er lag schon lange da. Als Chevos nach vorne sah, bemerkte er in der Ferne weitere Skelette. Hier waren eindeutig Menschen auf unnatürliche Weise ums Leben gekommen, denn wieso sonst sollten so viele Tote an einem Ort liegen?
“Wir sollten umkehren, dieser Weg führt in den Tod.”, sprach der Dorfschulze Menor mit unheilschwangerer Stimme. “Ich fühle es ganz deutlich. Eine starke Energie herrscht hier, die Menschen nicht positiv gestimmt ist.”
“Aber, Vater!”, rief Karos dazwischen. “Wir sind jetzt schon so weit gekommen, wir müssen nur noch durch dieses Tal, dann sind wir da! Ihr wollt doch jetzt nicht wirklich, dass wir umkehren und den ganzen Weg zurück laufen!”
“Ich möchte einfach nicht, dass meine Leute ins Verderben geschickt werden.”
“Das werden sie nicht.” Karos blickte seinem Vater direkt in die dunklen braunen Augen. “Oder glaubst du etwa diese alten lächerlichen Geschichten von Drachen?”, fügte er spöttisch hinzu. “Wenn es so sein sollte, wirst du vermutlich langsam zu alt, um unsere Gruppe mit klarem Kopf anzuführen.”
Menor blickte traurig seinen Sohn an. Er wusste, dass dieser schon lange darauf wartete, dass er für immer die Augen schloss, damit er der Anführer dieser Leute werden würde.
Da trat Fagor hinzu. “Er hat Recht, Karos. Wenn dein Vater es schon spürt, kannst du dir vermutlich ausmalen, wie stark mein eigenes Gefühl der Beklemmung ist. Lasst uns umkehren!”
“Ach, wer hört schon auf einen alten Kauz?”, entgegnete der muskulöse Mann lapidar. “Wer mit mir furchtlos in die Zukunft gehen möchte, kann sich mir anschließen, die anderen Feiglinge können ja bleiben wo sie sind...”
“Warte!”, sprach Menor bestimmend. “Ich habe einen Vorschlag. Suche dir eine Gruppe von mutigen Männern, die bereit sind, das Risiko auf sich zu nehmen. Gehe mit ihnen meinetwegen ins Drachental, schaue nach, ob es Gefahren dort gibt, und kehre vor Sonnenuntergang zurück. Dann werden wir morgen nach Sonnenaufgang gemeinsam das Tal durchqueren. Wenn ihr jedoch nicht zurückkehrt, werden wir bei Sonnenaufgang umkehren und ins Nashta-Gebiet siedeln.”
Karos überlegt kurz. Bis Sonnenuntergang waren es nur wenige Stunden. Sie würden es vermutlich mit allen Mann sowieso nicht vorher durch das gesamte Tal schaffen, und dort übernachten musste auch nicht sein. “Einverstanden, Vater. Wer hat also den Mut, mit mir zu kommen?”
Innerhalb kurzer Zeit hatten sich um die dreißig Mann gefunden. Auch Chevos meldete sich. Karos schaute ihn überrascht an: “Du willst auch mit? Bist du dir sicher?”
“Klar, bin ich mir sicher.” Chevos konnte Karos nicht ausstehen, und dies beruhte auf Gegenseitigkeit, weshalb sich die Beiden so gut es ging aus dem Weg gingen und ignorierten. Dass sich Chevos nun freiwillig einer Mission anschloss, die von Karos geleitet wurde, war deshalb etwas ungewöhnlich, und dieser Umstand überraschte nicht nur Karos, sondern auch Chevos selbst. Irgendetwas zog ihn so stark an, dass sogar seine Antipathie für diesen Augenblick unwichtig schien.
Also machte sich die Gruppe von knapp dreißig Männern im Alter von fünfzehn bis vierzig Jahren auf den Weg. Ausgerüstet waren sie mit langen hölzernen Speeren, die eine Spitze aus Stein besaßen. Metall war kostbar und das Volk von Chevos besaß kaum welches, sodass es sich nicht lohnte, jemanden in der Schmiedekunst auszubilden, welcher eiserne Waffen, wie Schwerter oder Lanzen mit Metallspitzen, herstellen würde können. Karos jedoch hatte das eiserne Schwert des ersten Skeletts, welches sie entdeckt hatten, an sich genommen. Als Anführer dieser kleinen Gruppe nahm er wie ganz selbstverständlich das Recht für sich in Anspruch, diese kostbare Waffe an sich zu nehmen. Chevos hatte lediglich den Speer, mit dem er auch auf die Jagd ging, um Nahrung für sich und seine Familie zu erbeuten. Unterwegs spitzte er die abgenutzte Steinspitze mit einem härteren Stein wieder nach.
Nach zehn Minuten drehte Chevos sich um. Er konnte sein Volk nicht mehr sehen, sie waren schon zu weit entfernt. Er sah wieder geradeaus. Sein Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung, doch es war merkwürdigerweise keine angstvolle Aufregung. Wenn er seine Aufregung hätte beschreiben müssen, hätte er sie nicht genau definieren können, er wusste, beziehungsweise fühlte, dass ganz bald etwas passieren würde, was auch immer dies nun genau sein würde. Es war nicht mehr weit entfernt. Seine Aufregung fühlte er auch viszeral. Er hatte das Bedürfnis, auszuscheiden.
Als sie eine weitere halbe Stunde gegangen waren, hatte Chevos plötzlich ein sehr merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Landschaft war immer noch die gleiche, gelb-grauer Boden, rechts eine steile Felswand, linker Hand eine tiefe Schlucht auf dessen Boden sich ein Tal befand. Doch der junge Mann konnte ganz eindeutig die Anwesenheit von irgendetwas spüren. Er hatte schon die gesamte Zeit die Präsenz dieses einen Wesens gefühlt, doch nun spürte er sie mit unglaublicher Intensivität. Ein Schatten flog über sie hinweg, gefolgt von einem starken Wind und einem Geräusch, als zerschneide etwas die Luft über ihnen. Dies hatten nun auch die anderen Männer der Gruppe bemerkt und sie schauten erschrocken gen Himmel.
„Was war das denn?“, fragte Lekios, ein muskulöser glatzköpfiger Mann Ende dreißig in die Runde.
„Was soll das schon gewesen sein?“, entgegnete Karos unnötig gereizt. „Irgend so ein Wind, wie er eben öfters in der Nähe von solchen Schluchten vorkommt. Nichts Besonderes.“
Der Schatten kam wieder und verschwand erneut. Er war unglaublich schnell, doch auch sehr groß. Und der Wind war diesmal stärker. Die Kleidung und die Haare der Männer wurden von ihm erfasst.
„Und das jetzt?“, entgegnete Lekios seinem Führer. „Dieser seltsame Schatten, woher kam er, was ist er?“
„'ne Wolke?“, antwortete der muskulöse Anführer schnippisch. „Ach, was weiß ich! Lass uns weiter gehen!“
„Ich weiß wirklich nicht...“ Weiter kam Lekios nicht mehr, denn etwas Großes und Grünes ergriff ihn blitzschnell. Mehrere spitze Dinge stachen in seine Brust und er wurde gegen die Felswand geschleudert. Seine Knochen brachen und der Schädel zerplatzte an dem Gestein wie eine überreife Wassermelone.
Karos starrte mit ungläubig weit aufgerissenen Augen das Wesen an, welches soeben Lekios getötet hatte. Das konnte doch nicht sein! Doch die Realität, welche er nun direkt vor sich sah, sagte ihm etwas anderes. Es war wahr. Er stand ganz leibhaftig einem Drachen gegenüber!
Der Drache war groß. Er war mindestens doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mann. Und er war nicht nur groß, er sah auch sehr, sehr wütend aus. Seine Augen, die so gelb wie Galle waren, erfassten Karos mit einem Blick, der ihm durch Mark und Bein ging. Seine blattgrünen Flügel waren doppelt so groß wie der eigentliche Körper des Geschöpfes und erinnerten stark an überdimensionale Palmwedel, nur dass sie mit dornenartigen Krallen gespickt waren. Auch der übrige Körper hatte dieses pflanzenartige grüne Schimmern. Seine muskulösen Beine waren von tiefdunkelgrünen Adern durchzogen. Im Gegensatz dazu wirkten die verkürzten, mit drei Krallen bewehrten, Arme des Tieres geradezu karikaturisk. Unaufhörlich schwang sein langer dicker mit Stacheln besetzter Schwanz hin und her über den Boden und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. Das langgezogene Maul des Drachens beherbergte eine große Anzahl dünner uns extrem spitzer Zähne sowie eine dünne lange Zunge, die altrosa schimmerte. Die Stacheln, welche auf seinem Schwanz gewachsen waren, zogen sich über den gesamten Rücken und dem gebogenen langen Hals bis hin zum Schädel, aus welchem zwei Hörner wuchsen, welche entfernt an vertrocknete knorrige Äste eines toten Baumes erinnerten.
Der Drache kam näher an Karos heran, Schritt für Schritt. Er hätte ihn genauso, wie er soeben Lekios getötet hatte, von einer auf die andere Sekunde vernichten können, doch scheinbar genoss er es, die Angst und das Grauen zu schüren, welches er in dem jungen Mann auslöste. Karos stand wie paralysiert da, bis der Drache seinen langen Schädel nur etwa einen Meter vom Gesicht des Mannes entfernt hatte. Dann war der Gestank, welcher aus dem Maul der Flugechse zu ihm drang, unerträglich und er übergab sich würgend.
Der Drache schien vorerst das Interesse verloren zu haben und wandte sich um. Dann machte er plötzlich einen Satz in Richtung einer Gruppe von Männern. Drei zerquetschte er unter seinen vierkralligen Füßen mit seinem Gewicht, einen vierten zerriss er mit seinen scharfen todbringenden Zähnen. Schreie des Entsetzens hallten durch das gesamte Tal und rissen Karos nun aus seiner Erstarrung. Wütend schrie er Befehle an seine Leute: „Los jetzt! Greift das Mistvieh an! Macht es fertig!“
Ein paar Speere flogen auf den Drachen zu, doch sie verursachten nur leichte Kratzer in seiner geschuppten Haut. Mit einem Schlag seines Schwanzes traf er einen sehr jungen Krieger, brach ihm die Rippen und schleuderte ihn den Abgrund hinunter. Ein zufriedener Siegesschrei gellte schrill aus der Kehle der Echse.
Chevos betrachtete diese Kampfszenen relativ ausdruckslos. Doch es war nicht so, dass er wie unter einem Schock stand und paralysiert war, sondern dass es irgendwie gar keine Wirkung auf ihn hatte. Allerdings interessierte ihn der Drache sehr. Er beobachtete ihn genauestens und plötzlich drehte die Echse seinen langen Hals und schaute mit seinen gallig gelben Augen direkt in die hellbraunen Augen von Chevos. Dann schien der Drache das Interesse verloren zu haben, denn er drehte den Kopf wieder den anderen Menschen zu. Dies könnte allerdings auch daran liegen, dass nun fünf Lanzen über seiner Schulter im Fleisch steckten.
Der Drache störte sich an diesen Verletzungen nicht, sondern schlug mit seinen riesigen Flügeln, erhob sich in die Lüfte, kreiste einige Male über seinen Gegnern und stieß dann blitzschnell herunter, um gleich drei von ihnen mit Krallen und Zähnen zu zerfetzen. Körperflüssigkeiten wie Blut, Gehirnmasse, Magensaft, Galle und Urin spritzten in einem Umkreis von zwei bis drei Metern über den steinernen Untergrund. Ein unangenehmer Geruch verbreitete sich.
„Du verdammtes Mistvieh!“, schrie Karos mit zornigem Blick. „Du hast meine Männer getötet! Dafür wirst du bezahlen!“ Zitternd, zu gleichen Teilen vor Angst und Wut, zog der Anführer sein eisernes Schwert. Der Drache drehte sich zu dieser Stimme herum, zerschmetterte dabei noch zwei weitere Leute mit seinem muskulösen dicken Schwanz und ließ ein angriffslustiges Gebrüll ertönen. Er setzte sich schwerfällig in Gang, gewann an Geschwindigkeit, schlug mit seinen Flügeln und erhob sich in die Luft. Er flog ungefähr einen Meter über dem Boden und schwebte im Gleitflug auf seinen Gegner zu. Dieser wartete geduldig auf den richtigen Augenblick. Er warf sich zu Seite, der Drache drehte ab und kam erneut. Wieder wich Karos aus. Als das gewaltige Wesen nun zum dritten Mal ankam, warf sich Karos auf den Boden, rollte sich ab, bis er direkt unter dem Geschöpf war, dann stieß er sein Schwert in die Höhe empor und traf den Drachen an einer seiner verwundbarsten Stellen: Der Unterseite seines Bauches. Das Schwert glitt zu zwei Drittel hinein und das Blut spritzte heraus, sodass Karos wusste, dass er seinem Kontrahenten eine ernstzunehmende Wunde zugefügt hatte. Der Drache schlug auf den Boden auf, mit seinem Schwanz erwischte er dabei Karos und brach ihm einige Rippen. So lagen nun die beiden Gegner schwer keuchend und verwundet keine zwei Meter voneinander entfernt und konnten sich nur schwer bewegen. Das Schwert steckte noch im Körper des grüngeschuppten Wesens und hatte sich nun durch das Gewicht des Drachens tiefer hinein gebohrt. Nur der Schaft lugte noch heraus.
Karos schaut sich um. Jemand musste dem Drachen endgültig den Gar aus machen, bevor er sich erholen konnte. Doch seine Leute standen in größerem Sicherheitsabstand zu ihm. Sie hatten Angst, das Grauen war ihnen für alle Zeiten ins Gesicht geschrieben. Dann erspähte Karos Chevos. Dieser stand nur wenige Meter entfernt und schien wohl unter Schock zu stehen. Zumindest interpretierte Karos so den ausdruckslosen Blick von Chevos.
„Hey, Chevos, komm!“, rief der verletzte Anführer so laut er noch konnte. „Komm näher!“
Chevos trat näher heran. Nun stand er zwischen dem Drachen und Chevos. Er schaute den Drachen an. Er schnaufte sehr stark. Es schien zu Ende zu gehen mit ihm. Irgendwie tat er ihm unendlich Leid.
„Hey, Chevos! Nicht träumen! Schnell, töte ihn!“, befahl Karos ihm. „Jetzt ist die Gelegenheit. Tu es!“
Chevos umklammerte seinen Speer fester. Er spannte seinen Arm an, dann drehte er sich um und ließ seinen Speer durch die Luft schnellen. Die steinerne Spitze traf direkt in den Brustkorb von Karos. Ein ungläubiger und entsetzter Gesichtsausdruck wurde sichtbar. Blut troff aus seinem Mund, dann fiel er zur Seite und starb.
Chevos war selbst überrascht. Ohne zu zögern hatte er einen Mann seines Volkes getötet, anstatt das Wesen, das eigentlich sein Feind sein sollte. Aber er konnte es einfach nicht. Langsam schritt er auf das Ungeheuer zu. Chevos spürte, dass es mit dem Drachen zu Ende ging. Das Schwert musste lebenswichtige Organe erwischt haben. Er fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen und Tränen flossen seine Wangen hinab, die er erst bemerkte, als seine Zunge den salzigen Geschmack erkannte. Er trat zu dem Drachen heran und umarmte ihn, ohne darauf zu achten, dass seine Stacheln seine Arme zerkratzten. Dann schloss der Drache seine Augen und machte seinen letzten Atemzug. Ein Schluchzen wurde laut und Chevos erkannte, dass es sein eigenes war.
Die Männer des Volkes kamen, als sie bemerkten, dass der Drache tot war, näher heran. Sie sahen sehr wütend aus, und das waren sie auch. Sie wollten Rache an Chevos nehmen, der sie auf so schändliche Weise verraten hatte.
Chevos drehte sich zu ihnen herum. Plötzlich wurde sein Körper geschüttelt. Er sank auf die Knie und stützte sich mit seinen Händen ab. Ein schrecklicher Schmerz, so stark, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte, durchfuhr ihn und ließ seinen Körper ekstatisch zucken. Aus seinen Schulterblättern wuchs verknöchertes Gewebe, was sich zu Flügeln formte. Sein Schädel zog sich in die Länge, seine Zähne wurden spitzer und länger und es wuchsen neue in seinem nun sehr länglichen Kiefer. Zeige-, Mittel- und Ringfinger wurden zu einer einzigen dicken Kralle, auch Daumen und kleiner Finger wurden zu jeweils einer Kralle, sodass er nun drei an der Hand besaß. Aber auch sein gesamte Körper wurde größer und größer, sodass seine Kleider zerrissen. Und nach ungefähr einer Minute war Chevos kein Mensch mehr, er war ein Drache.
Doch noch nie in seinem Leben hatte Chevos sich so wie er selbst gefühlt, wie in diesem Augenblick. Er schlug mit seinen neuen Flügeln, und erhob sich zum ersten Mal in seinem Leben in die Lüfte. Ein unglaubliches Gefühl, doch es schien so vertraut. Im Sturzflug sank er auf die Männer seines ehemaligen Volkes herab und riss eine tiefe Schneise in die Reihen seiner neuen Feinde. Fünf Stück von ihnen hatte er auf einmal durch sein Gewicht die Knochen zertrümmert und Knochensplitter in ihre Lungen gebohrt, sodass sie in kürzester Zeit erstickten. Unter Schreien des Entsetzens flüchteten die restlichen Männer so schnell sie nur konnten.
Chevos war zufrieden. Sein Platz war hier, deshalb hatte ihn dieser Ort immer schon so angezogen. Es war seine Bestimmung gewesen, der Wächter dieses Ortes zu werden. Der alte Wächter war schon sehr alt gewesen, er wusste, dass es mit ihm zu Ende gehen würde, also hatte er seinen Seelenbruder gerufen, ihn, Chevos. Doch es gab immer nur einen einzigen Wächter, der das Drachental bewachen musste. Er war der einzige seiner Art. Er verspürte Trauer, doch er fühlte sich nicht einsam, als er durch seine Heimat flog. Einige Vögel flogen plötzlich an seiner Seite. Dann nahm er weitere Wesen wahr, die er zuvor als Mensch nicht wahrgenommen hatte: Geister der Lüfte, Feen, Dschinns und andere Wesen. Sie waren seine Freunde, er fühlte eine tiefe Verbundenheit, ohne dass er auch nur ein Wort sagen musste. Er war nun zu Hause, und er war nicht allein an diesem wunderbaren Ort. Er würde nun nie mehr allein sein.
Texte: Johannes Quinten
Bildmaterialien: Johannes Quinten
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2015
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