Cover

Nächtlicher Besuch

 

 

„Willst du mir nicht sagen, was dir so Angst macht?“ Die freundliche Kinderpsychologin Dr. Karin Schutter sah ihre gerade mal vier Jahre alte Patientin offen an. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Lara. Ich tu dir nichts.“

„Ich... Ich hab keine Angst vor dir.“, sagte Lara leise.

„Aber vor etwas Anderem. Willst du mir nicht davon erzählen?“ Lara schüttelte schnell den Kopf und sah traurig nach unten.

„Laraschatz.“, sagte Laras Mutter in einem bittenden Tonfall. „Sag der lieben Frau Doktor doch, was dich bedrückt.“ Doch Lara tat nichts dergleichen.

„Vielleicht haben wir es falsch angefangen.“, meinte die Psychologin mit den fast schulterlangen blonden glatten Haaren. „Also nochmal von vorn. Hallo Lara. Ich bin Karin.“

„Hallo.“

„Deine Mutter hat mir gesagt, du hättest Albträume. Stimmt das?“ Lara schüttelte den Kopf. „Nicht? Aber du hast vor etwas Angst.“ Lara sagte nichts. „Und dieses etwas kommt in der Nacht zu dir...“ Lara nickte kurz und schnell zweimal. Karin sah Tränen in ihren Augen glitzern. „Und du willst mir nicht sagen, was es ist?“ Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. „Deine Mutter hat mir gesagt, du malst gerne. Stimmt das?“ Sie nickte begeistert. „Sie hat mir ein paar Bilder von dir gezeigt.“ Karin legte ein buntes Bild auf den Tisch, das verschiedene Menschen darstellte. „Wer sind diese Leute?“

„Das ist Mama und das ist Papa und das da bin ich.“, erklärte sie aufgeregt.

„Ihr seht alle sehr glücklich aus auf dem Bild. Bist du glücklich?“

„Ja, ich hab sie alle lieb.“

„Und wer ist das da?“ Sie wies auf ein braunes Wesen, welches in einer Wolke zu schweben schien.

„Das ist Flori.“

„Wer ist Flori?“

„Der Hund, den wir früher hatten.“, erklärte Laras Mutter. „Er wurde vor einem halben Jahr von einem Lastwagen überfahren.“

„Du vermisst Flori wohl sehr?“ Das Mädchen nickte. „So und hier mal ein anderes Bild. Wer sind diese Leute, die alle so schön lachen?“

„Das sind die Kinder aus dem Kindergarten.“

„Aha. Und wo bist du?“

„Da.“ Sie wies mit dem Finger drauf. Karin zeigte das nächste Bild, doch dieses Mal war es kein fröhliches Bild. Es war sehr finster. Laras Fröhlichkeit verschwand plötzlich, als sie das Bild erblickte. Man konnte ein Bett und ein Kind im Bett sehen. Der Hintergrund war schwarz und eine riesige finstere Gestalt stand vor dem Bett und streckte seine Klauen nach dem Kind aus.

„Wer ist das da?“ Karin zeigte auf die Person im Bett.

„Das bin ich.“

„Und wer ist das da?“ Sie wies auf die finstere riesige Gestalt. Das Mädchen sagte nichts. „Wer ist er denn?“, fragte sie noch einmal.

„Darf ich nicht sagen.“

„Wieso darfst du das nicht sagen?“

„Sonst bringt er mich um.“ Die Mutter erschrak bei diesen Worten.

„Er wird dir nichts tun, das verspreche ich dir.“, entgegnete Karin ruhig.

„Wirklich?“

„Wirklich!“

„Er ist... der schwarze Mann.“

„Ich hab ja gesagt, sie schaut zu viel fern.“, mischte sich die Mutter ein.

„Wie kommt er in dein Zimmer?“

„Weiß nicht. Er ist einfach da.“

„Und wie verschwindet er wieder?“

„Er geht in die Dunkelheit.“

„Und was macht er? Tut er dir etwas?“

„Er tut mir weh.“, sagte das Mädchen unter Tränen. „Er hält mich ganz fest und drückt mich und dann... Dann tut er mir ganz schlimm weh.“

„Rufst du nicht nach Hilfe?“

„Doch. Ganz laut! Aber keiner kommt. Keiner hilft mir.“

„Da haben wir es.“, sagte die Mutter. „Das kommt alles von dem Fernsehen. Ab morgen gibt es nichts mehr. Wenn du schreien würdest, würden ich und dein Vater es doch hören!“

„Warum helft ihr mir dann nicht?“

„Jetzt hör schon auf! Das sind doch alles nur dumme Märchen. Vom Fernsehen!“

„Frau Kammer.“, sprach die Psychologin die Mutter an. „Ich würde gerne mal eine Nacht in ihrem Haus verbringen. Bei ihrer Tochter. Ich will sie mir genauer ansehen, wenn sie diese Albträume hat.“

„Ich weiß nicht, ob das meinem Mann so recht wäre. Wissen sie, er hält nicht viel von Psychologen und er war streng dagegen, das ich hier hin gehe. Er weiß ehrlich gesagt gar nicht, dass ich hier bin.“

„Sprechen sie mit ihm, es ist wichtig für die Heilung ihrer Tochter.“

„Ich werde mal mit ihm reden.“

 

„Nein, Bärbel!“, fuhr der Mann auf. „Diese Psychotussy kommt mir nicht ins Haus! Wie konntest du nur hingehen, obwohl ich es dir verboten habe?“

„Hermann, es ist für unsere Tochter! Wie soll sie denn wieder gesund werden, wenn ihr niemand hilft?“

„Sie kommt nicht hierher. Nein.“

„Doch, sie wird kommen.“

 

„Guten Tag. Ich bin Hermann Kammer.“ Er gab einen festen Händedruck.

„Ich bin Karin Schutter. Ich würde gerne ihre Tochter während der Nacht beobachten.“

„Ich weiß.“, grummelte Hermann. „Es dauert noch ein paar Stunden, bis wir ins Bett gehen.“

„Gut. Ich werde die Zeit nutzen, um mit Lara zu reden.“

Als das kleine Mädchen die freundliche Frau sah, lief sie ihr freudestrahlend entgegen. „Karin!“

„Ich werde heute Nacht bei dir bleiben und aufpassen, dass dir keiner weh tut.“

Sie redete und spielte noch einige Zeit mit dem Mädchen, dann aßen sie gemeinsam zu Abend und bereiteten sich für das Bett vor. „Hier, wollen sie auch etwas Fruchtsaft?“, fragte Bärbel Karin. „Ich weiß, man soll so spät abends nichts mehr essen oder trinken, doch ich kann einfach besser schlafen, wenn ich den Saft getrunken hab.“

„Ich bin nicht gekommen, um zu schlafen.“

„Ja klar. So, ich bring dann mal die Kleine ins Bett.“

Kurz nachdem alle im Bett waren, war Lara auch schon eingeschlafen. Nur Karin war noch wach. Das kleine Mädchen schien ganz normal zu schlafen. Nach zwei ereignislosen Stunden musste Karin auf die Toilette. Das würde ja nicht so lange dauern. Sie würde sich beeilen. Leise, damit Lara nicht aufwachte, schlich sie aus dem Zimmer. Dann ging sie auf die Toilette und setzte sich hin. Mitten im Urinieren hörte sie ein Geräusch, das sie erschrecken ließ. Ein Schlüssel, der sich im Schloss drehte! Schnell, zog sie ihre Hose hoch und drückte die Klinke nach unten. Nutzlos! Sie war eingeschlossen! Sie versuchte die Tür aufzudrücken, doch mit ihrer schmächtigen Figur war dies aussichtslos. Sie musste schnellstens zu Lara! Sie hörte das Weinen eines kleinen Kindes. Dann entsetzte Schreie. Wie konnten die Eltern das nicht hören? Immer wieder schrie sie abwechselnd Mama und Papa. Und Karin! Karin weinte. Sie konnte diesem kleinen Mädchen nicht helfen. Sie war hier eingesperrt, während irgendetwas diesem kleinen Mädchen etwas antat! Karin hämmerte gegen die Klotür und schrie so laut sie konnte um Hilfe. Nach einigen Minuten hörte das Schreien des Mädchens auf, es war nun nur noch ein wimmerndes Weinen. Kurz darauf hörte sie, wie aufgeschlossen wurde. In der Tür stand Hermann.

„Was machen sie denn hier für einen Krach? Ich glaube, sie benötigen selbst einen Psychologen. Und wieso haben sie überhaupt abgeschlossen?“

„Ich habe nicht abgeschlossen! Jemand hat mich hier eingesperrt. Ihre Tochter! Was ist mit Lara?“

„Was soll schon mit ihr sein? Sie wird wohl schlafen.“

„Sehen sie nach ihr!“

Hermann öffnete die Tür zu dem Schlafzimmer seiner Tochter. Weinend stürmte das kleine Mädchen auf ihn zu und warf sich ihm um den Hals.“

„Papa. Es war so schrecklich...“

„Ist doch gut, meine Kleine. Es war nur ein Albtraum.“, beruhigte er sie.

„Wo ist eigentlich ihre Frau?“, fragte Karin.

„Sie schläft. Wieso?“

„Ich muss unbedingt noch eine weitere Nacht hier bleiben.“

„Noch eine Nacht? Langsam werden sie unverschämt.“

„Ich will doch nicht, dass Lara etwas geschieht.“

„Lügnerin!“, rief Lara wütend. „Du hast gesagt, du beschützt mich. Du hast gesagt, er wird mir nichts mehr tun!“

„Ach Lara...“ Karin wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann wandte sie sich wieder dem Vater zu. „Ich bitte sie. Nur noch eine Nacht.“

„Von mir aus. Wenn sie dann endlich Ruhe geben.“

Karin sah das kleine Mädchen wieder an. Sie durfte sie nicht allein lassen. Es waren keine Einbildungen. Da war etwas. Einbildungen schlossen niemanden ein und Einbildungen hinterließen auch keine blauen Flecken auf den Armen und Beinen eines kleinen Mädchens...

 

Diesmal war Karin besser gerüstet, als beim ersten Mal. Sie ging zu Bärbel.

„Darf ich mir eine Flasche von dem Saft mitnehmen? Falls ich in der Nacht einmal Durst bekomme?“

„Natürlich.“

Als es schließlich soweit war, dass jeder im Bett lag, packte Karin vorsichtig ihre mitgebrachten Utensilien aus und versteckte sie unter ihrem Kopfkissen, das sie mitgebracht hatte. Sie schüttete sich ein Glas Saft ein und schüttete das Glas, sowie einen Teil der Flasche, schließlich in die Blumen. Dann legte sie sich hin, als ob sie schlafen würde. Die Flasche und das Glas hatte sie gut sichtbar vor sich platziert. Sie tat so, als ob sie leise schnarchen würde. Langsam öffnete sich die Tür. Die Person schien nach ihr zu sehen. Schließlich bewegte sie sich in Richtung von Laras Bett. Karin öffnete die Augen. Sie sah eine dunkle finstere Gestalt. Sie beugte sich über Lara und das Mädchen erwachte. Es fing an zu weinen. Eine Hand griff nach ihr. Sie hielt Lara an den Armen fest und das Mädchen versuchte verzweifelt sich zu wehren. Eine dunkle Hand zog ihr die Pyjamahose herunter. Karin hatte inzwischen eine Taschenlampe und noch etwas unter ihrem Kissen hervorgeholt. Sie zielte mit der Lampe auf das Gesicht des schwarzen Mannes. Sie schaltete sie ein und der Lichtstrahl erhellte das Gesicht von Laras Vater. Dieser war zuerst erschrocken. Doch dann stürzte er in Karins Richtung.

„Du Miststück!“, rief er zornig, bevor Karin ihm mit Pfefferspray in die Augen sprühte. Er schrie wütend auf. Karin zog schnell einen Baseballschläger unter dem Kissen hervor und zog ihn ihm mit aller Kraft über. Mit einer Platzwunde am Kopf lag er auf dem Boden. Schnell rief sie mit dem Handy die Polizei an und nahm die weinende Lara in den Arm.

„Du brauchst nun keine Angst mehr zu haben, es ist vorbei.“

 

„Ja, so war es, Herr Inspektor. Der Vater schlich sich jede Nacht in das Zimmer der Tochter und missbrauchte sie sexuell. Damit die Mutter nichts davon mitbekam, tat er ihr ein extrem starkes Schlafmittel in den Saft. Denn er wusste, dass sie immer abends Saft trank. Überprüfen sie die restlichen Flaschen im Keller. Ich bin sicher, dort ist es auch drin. Das Mädchen war zu klein, um alles zu realisieren. In ihrer Fantasie waren ihr Vater und der Mann, der sie nachts missbrauchte, zwei verschiedene Personen. Solche Fälle kennt man auch woanders her. Ich weiß zum Beispiel, dass eine Kindergärtnerin sich vor den Kindern im Kindergarten als Weihnachtsmann verkleidete, doch als sie das Kostüm fertig anhatte, dachten die Kinder wirklich, es sei der Weihnachtsmann. Wenn sie erst einmal die Wahrheit realisieren wird, wird Lara eine lange Zeit brauchen, um alles zu verarbeiten. Dabei werde ich versuchen, ihr zu helfen.“

Die Polizei führte den pädophilen Mann ab.

Lara lag weinend in den Armen der geschockten Mutter. „Wo geht Papa hin? Wann kommt er wieder.“

„Ach, Laraschätzchen. Er wird nie mehr wiederkommen, aber dafür wird dir auch nie mehr der schwarze Mann wehtun können.“

Impressum

Texte: Johannes Quinten
Bildmaterialien: Johannes Quinten
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /