Weil der Sommer uns an unsere Jugend erinnert. Er ist voller lebendigem Glück mit einem Hauch Wehmut.
Ich schreibe diese Zeilen, weil ich eine Geschichte erzählen will. Die Geschichte eines Sommers, den ich niemals vergessen werde. Ich erinnere mich an viele vergangene Sommer, wie ich als Kind im Garten gespielt habe. Soweit ich mich erinnere, waren das lange Zeit die schönsten Erinnerungen, die ich an diese Jahreszeit hatte. Damals habe ich mit Kreide auf dem Betonboden unserer Terrasse alles gemalt, was meine kleinen Spielfiguren mit den überdimensional großen Köpfen gerade brauchten, sei es ein Café mit kleinen Stühlen, ein Haus für jede Figur, eine Welt voller Möglichkeiten.
Irgendwann vergisst man, wie es geht. Wie man Kreide in die Hand nimmt und sich eine Welt malt, die vollkommen ausreicht. Das Leben wird komplizierter, die Fantasie weicht der erwachsenen Realität.
Es war nun mein 19. Sommer, den ich erlebte und noch immer kam mir diese entfernte Erinnerung an frühere bessere Tage in den Sinn. Wie ich meine Knie auf dem harten Boden wund geschürft hatte, ohne auch nur daran zu denken, etwas anderes lieber tun zu wollen.
Es war noch nie ein Winter ins Land gegangen, in dem ich nicht vergessen hatte, wie wunderschön der Sommer war, wie gut er roch, wie schön er klang, wie lieblich er sich anfühlte. Der Sommer machte mich lebensdurstig. Umso mehr störte es mich, dass ich gerade auf der eben genannten Terasse in einem unbequemen Gartenstuhl hockte und vor mich hinträumte, obwohl ich eigentlich noch lernen musste. Deutschprüfung. Dieses Wort hielt mich schon Monate lang abends wach, lag wie ein drohender Schatten über mir und ließ mich schaudern. Ich hätte niemals erwartet, dass ausgerechnet diese Prüfung den meisten Stoff für kreative Albträume liefern würde, doch seit ich Physik und Englisch mit Ach und Krach bestanden hatte, musste mir ausgerechnet meine Muttersprache einen Strich durch die Rechnung machen. Hatte ich die Sache unterschätzt? Vielleicht schon ein bisschen. Ein Fehler, der mir kein zweites Mal passieren würde. Ja, ich war durchgefallen, weil ich kein einziges Buch der Pflichtlektüre gelesen hatte und die Zusammenfassungen mir nicht ausreichend halfen. Und nun quälte ich mich also durch Goethe, Fontane und Dürrenmatt und konnte nicht fassen, wie man einen Sommer so verschenken konnte. Die Leiden des jungen Werther zogen sich derart in die Länge, dass man sie auch als die Leiden der jungen Emily bezeichnen konnte. Wer brachte sich schon wegen Liebeskummer um? Sicher gab es wohl schöneres, als einen vergebenen Schwarm zu haben, aber man konnte sich auch wirklich ein bisschen anstellen.
Mein Smartphone vibrierte und ich freute mich, einem weitaus modernerem Medium meine Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn ich meinem Buch wohl kaum die angebrachte Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Meine Tagträume waren einfach ständig im Weg.
Es war meine Freundin Josy und sie hatte eine extra lange Sprachnachricht aufgenommen. Das beunruhigte mich keineswegs, denn wenn man Josy kannte, wusste man, dass nur kurze Memos besorgniserregend waren. Doch dieses Mal täuschte ich mich. Schon in den ersten Sekunden konnte ich deutlich hören, dass es etwas besonderes zu berichten gab, auch wenn sie auf eine höfliche Nachfrage meines Gemütszustandes nicht verzichtete, dabei wusste ich ganz genau, dass es sie nicht wirklich interessierte, wie es mir ging. Josy und ich führten vermutlich nicht das, was man im klassischen Sinne unter Freundschaft verstand, denn eigentlich basierte unsere Beziehung auf einer starken Zweckmäßigkeit. Wir kannten uns durch den Ballettunterricht vor vielen Jahren, zu dem ich meine Mutter zwang. Selbstverständlich zwang ich meine Mutter nicht, Ballettstunden zu nehmen, sondern meine zu bezahlen. Vergeblich. Leider war ich untalentiert in allem, was mit Tanzen zu tun hatte. Das hätte jeder spätestens dann gemerkt, wenn er das gequälte Gesicht meiner Tanzlehrerin gesehen hätte, die mich dennoch lobte, denn das war ihr gut bezahlter Job. Josy hingegen hatte viel Talent, aber keine Lust und hörte nur wenige Monate später auf als ich. Das Ganze dürfte nun etwa 11 Jahre her sein, aber unsere Freundschaft, wenn man es so nennen kann, hielt an. Wenn man eine Freundschaft also nur an der länge einer Bekanntschaft misst, dann ja, war das zwischen uns richtig eng, zumindest für unser Alter. Trotzdem hatten wir nichts gemeinsam, außer des Gymnasiums auf das wir gingen, nur das Josy ein Jahr älter war und mir somit Unterlagen von sich schickte. Natürlich nicht einfach so, es gehörte sehr viel Überredungskunst und Schmeichelei dazu, bis man sie dazu gebracht hatte. Warum, hatte ich nie verstanden. Was machte ihr es aus, wenn ich eine Arbeit weniger hatte? Zur Zeit hatten wir nicht viel Kontakt, denn seit sie studierte, brauchte ich nichts mehr von ihr und da es scheinbar bei ihr nicht so gut lief, meldete sie sich auch nicht, um mir davon zu berichten.
Zu Josys Nachricht nun also, nachdem der notorische Smalltalk abgehakt war, verfiel sie in einen Ton, bei dem man ganz genau wusste, dass jeden Moment eine Bitte kommen würde, die man nicht erfüllen wollte, aber kaum abweisen konnte. "Ich sag dir, du denkst, dein Abi ist hart, aber fang erstmal an zu studieren und du weißt, was harte Arbeit heißt." Erster Minuspunkt. "Ich lerne unentwegt für sämtliche Prüfungen. Gott sei dank habe ich hier meinen Freund Marc kennengelernt, sonst würde ich es gar nicht schaffen. Er ist super!" Zweiter Minuspunkt. "Jetzt haben sie meine Prüfung verlegt und ich habe einen anderen wichtigen Termin völlig vergessen." Pluspunkt. "Es ist super wichtig und ich weiß, dass du ja mit deinen Prüfungen durch sein müsstest. Ich werde es schon schaffen, es wäre einfacher, wenn ich nicht so hohe Anforderungen hätte." Dritter und vierter Minuspunkt. "Kurz gesagt, ich habe einen Sommerjob gesucht, weil ich doch nie stillsitzen kann." Minuspunkt Nummer fünf. "Und der fällt genau auf meine Prüfungsphase. Ich schaffe es leider nicht und ich muss mich einfach um Ersatz kümmern, weil sie mich brauchen und hatte an dich gedacht." Miiiiiiiinuspunkt. Ich stoppte die Memo. Das kann doch nicht ihr Ernst sein? Wenn ich mit meinen Prüfungen endlich durch bin, mache ich alles, aber ganz sicher nicht noch mehr arbeiten. Ich atmete tief durch und band meine blonden Haare zusammen, die in einem heißen Juni wie diesem einfach offen nicht zu tragen waren. Immer wieder hatte ich die Vorstellung mit Beachwaves durch den Sommer zu laufen und dazu ein weißes kurzes Kleid zu tragen, aber immer wenn es für kurze Kleider warm genug wurde, wurde es für lange offene Haare zu warm.
Ich tippte auf den Button um mir den Rest anzuhören. "Wenn es nur um einen Bürojob ginge oder dergleichen hätte ich einfach abgesagt, aber Emmy, es ist wegen den Kindern." Plötzlich fiel mir wieder ein, dass Josy schon letzten Sommer arbeiten war, weil sie ja nicht still sitzen konnte. Sie fuhr als Betreuerin in ein Ferienlager und kümmerte sich um eine Horde verzogener Kinder. Sie wollte Lehrerin werden, sie konnte sowas ja auch gern tun, aber ich müsste da ganz sicher nicht hin. Ich sah meine Zukunft in einem klimatisierten Büro, mit einem duftendem Kaffee in der Hand und einem heißen Chef, den ich um den Finger wickeln würde, sodass ich gar nicht mehr arbeiten müsste. Selbstverständlich nicht um abhängig zu sein, wenn ich wollte könnte ich ja zurück ins Büro. Irgendwie sowas, aber dafür musste ich erstmal die lästige Schule abschließen. Kinder waren wirklich das letzte auf das ich Lust hatte. Irgendwie musste ich unbedingt aus der Nummer herauskommen.
Eine psychische Störung, die mir verbot, etwas mit Kindern zu machen. Ein schlechtes Führungszeugnis. Eine ansteckende Krankheit? Dafür war es zu früh. Private Probleme. Soweit hergeholt war das nicht. Was könnte mir noch Anlass geben, Josy abzusagen? Keine Lust. Das war wenigstens ehrlich.
Plötzlich knallte die Tür im Erdgeschoss. Ich zog die Netze meines Himmelbetts ein bisschen weiter zu, als würde das irgendetwas nützen. Schon als kleines Mädchen hatte ich mich hier versteckt, wenn ich traurig war oder meine Ruhe haben wollte. In meinem Bett, dass für ein Kind eigentlich viel zu groß war mit den hellblauen Fliegennetzen, die ich zuziehen konnte, war immer alles in Ordnung. Niemals konnte irgendetwas oder irgendwer in diese Welt eintauchen. Darum hatte ich mit keiner meiner Freundinnen je hier drinnen gespielt. Es war allein mein Ort und so war es immer geblieben. Auch wenn sich der Gedanke, mein Bett irgendwann mal zu teilen, langsam immer besser anfühlte. Es kribbelte überall, wenn ich mir Geschichten ausmalte, attraktive Männer zu daten und ihre Hände auf meiner Haut zu spüren. Mehr als schöne Gedanken würden das aber nicht werden, nicht solange alles so bleibt, wie es gerade ist. Wieder knallte etwas im Erdgeschoss. Warum musste man seine Fantasie irgendwann abgeben? Wann war der Tag gekommen, an dem man seine Spielwelten hinter sich zuschloss und nie wieder zurückkehrte. Sie waren ein Land, an dem schöne Erinnerungen hingen, dass man aber nicht mehr besuchen konnte. Dabei würde ich so gern wieder zurück. Damals konnte ich das laute Treiben unter mir völlig abschalten. Und wenn es an einem Tag besonders schlimm war, dann gehörte es zum Spiel, eben ein Gewitter oder ein Monster, vor dem sich meine Kuscheltiere fürchteten. Dann erzählte ich ihnen das, was mein Vater mir früher erzählt hatte. Wie er behutsam auf mich eingeredet hatte, wenn ich nicht schlafen konnte und fühlte mich dabei genauso klug und stark, wie ich ihn immer gehalten hatte. Eine Träne trat in mein Auge bei dieser Erinnerung. Ich blinzelte sie weg. Es gibt Schmerz, den man niemals überwinden kann, egal wie viele Jahre vergehen.
Ich hatte andere Sorgen. Josy. Ferienlager. Arbeit. Ich musste aus der Sache raus kommen. Ich könnte ja Urlaub gebucht haben! Ja das war perfekt! Ich musste es ihr nur noch eben schreiben. Doch als ich ihren Chat öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Wie konnte sie nur? Verdammt.
Sie hatte einen ausgefüllten Antrag geschickt. Unter diesen hatte sie geschrieben "Bist die beste, hab dich eingetragen." Ich hatte doch überhaupt nicht zugesagt? Doch als ich ungläubig nachlas, konnte ich es kaum glauben. "Geht klar" hatte ich geantwortet. Das kann doch unmöglich sein. Es kam mir gespenstig vor, doch dann kam mir ein Gedanke. Das hatte er nicht getan. Nicht schon wieder. Wut stieg in mir auf, dass mein Blut kochte. Ich hasste ihn. Ich habe ihn immer gehasst, aber jetzt hasste ich ihn noch mehr, als ich für möglich hielt. Ich bin 19 Jahre alt! Neunzehn. verdammte. Jahre. Ich bin erwachsen. Er hat kein Recht dazu. Es war typisch von ihm. Er hatte die Chance gesehen, mich schnellstmöglich loszuwerden. Wenn auch nur für eine Weile.
Meine Wut wuchs so stark in mir, dass ich den Mut fand, aus meinem Bett zu kriechen und die Treppen hinunter zu gehen. Ich wusste nicht, wann ich das das letzte Mal getan hatte, wenn die beiden Streit hatten. Ich wusste, wie meine Mutter aussehen würde und ich wusste auch, wie viel Angst ich vor ihm hatte, aber irgendwann waren die Grenzen überschritten.
Ohne nachzudenken, riss ich die Tür auf und hätte es in jedem anderen Moment bereut. Der Anblick war schlimmer als erwartet. Eine Vase lag zerbrochen auf den weißen Fliesen und meine Mutter weinte, während sie erbärmlich über dem Tisch hing. Er schaute aus den großen Fenstern hinaus in den Garten in dem die Abendsonne stand, so als wüsste sie nicht, dass sie völlig unpassend kam. Offensichtlich waren sie gerade dabei, sich in ihre Alltagsmarionetten zu verwandeln. Graue Personen ohne Freude oder Trauer, Puppen, die zur Arbeit gingen und ein normales Leben führten, bis auf ein zwei Mal die Woche. Manchmal war ich fast froh, wenn ich mitbekam, wie sie hier unten wüteten, denn dann wusste ich, dass sie beide noch Menschen waren und sich nicht völlig aufgegeben hatten. Bei ihm hätte ich mir das vielleicht sogar gewünscht, aber nicht bei meiner Mutter. Immer wenn sie morgens lächelte, wenn ich zum Frühstück kam, glaubte ich sie ein bisschen mehr zerbrechen zu sehen, aber wenn sie weinte, war sie noch am Leben, war sie noch stark genug, hatte sie immer noch versucht, sich zu wehren. Als ich einen Schritt auf ihn zumachte, um ihn zur Rede zu stellen, brach es mir fast das Herz. Auf dem Boden lag ein weiterer Gegenstand, der zu Bruch gegangen war. Es war das Foto meines Vaters. Ohne die Möglichkeit zu haben, es zurück zu halten, lief mir eine Träne übers Gesicht. Wie konnten sie nur? Alles hätten sie zerstören können, den Toaster, die hässlichen Gemälde, den Fernseher, von mir aus sogar die Kaffeemaschine, aber das nicht. Ich bin mir sicher, wäre ein Feuer ausgebrochen und hätte das Haus nieder gebrannt, es hätte zu viel Respekt gehabt, dieses Bild zu zerstören. Klar, nur der Rahmen war kaputt, aber es bedeutete so unendlich viel mehr.
"Deine Mutter braucht Ruhe", hörte ich ein bedrohliches Raunen. Es kam von ihm. Als ich vor dem Bild kauerte hatte mich auf einmal mein Mut verlassen. Ich fühlte mich wie ein verschrecktes Reh, das vor den Überresten alles Schönem ihrer Vergangenheit saß. Mein Vater war immer mein großer Beschützer gewesen, warum hatte er mich nur allein gelassen?
Der kräftige Mann mit der Glatze, den ich mich weigerte "Stiefvater" zu nennen, weil alles an ihm dem Wort Vater widersprach, schaute mich an. Das reichte normalerweise, um mich und meine Mutter ruhig zu stellen. Ich wollte anknüpfen, an dem was mich diese Treppe hinuntergehen lassen hat. "Hast du mich wieder abgehört?" Er schaute mich eine Weile an, ohne sein Gesicht auch nur im geringsten zu verändern. "Ich weiß nicht, was du meinst."
"Ich weiß, dass du wieder meine Chats durchgeschaut hast und sogar Josy geantwortet hast..." Er unterbrach mich. "Ich habe besseres zu tun, als diese Kinderkacke. Verzieh dich, deine Mutter und ich können ein bisschen Ruhe gebrauchen", sagte er auf seine beunruhigend ruhige Art mit einem abfälligen Blick auf meine Mum. Ich hasse ihn. Aber ich habe auch Angst. Obwohl er mir nie wirklich etwas getan hat, gibt es keinen Menschen, vor dem ich so viel Angst habe. Ich tat, was er sagte und ging wieder in mein Zimmer. Natürlich würde er es nicht zugeben, aber ich wusste, dass er uns kontrollierte. Es wunderte mich beinah, dass er nun wollte, dass ich über den Sommer weg fuhr, aber auf der anderen Seite, hatte er mich seit er bei uns eingezogen war, als nervigen Ballast angesehen. Man kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ich nicht jede Gelegenheit nutzte, um hier zu verschwinden, aber wir hatten ein großes Haus und einen noch größeren Garten. Es war nicht allzu schwer, ihm aus dem Weg zu gehen, vor allem weil es auch ihm das Liebste war, wenn er mich nicht zu Gesicht bekam. Aber vielleicht hatte es diesmal ja sein Gutes. Vielleicht sollte ich froh sein, hier herauszukommen.
Eine Woche später.
All meinen Überlegungen zum Trotz, noch eine Möglichkeit zu finden, dem Ferienjob zu entkommen, packte ich meine Tasche. Es war zu spät, abzusagen und mein schlechtes Gewissen hätte mich geplagt, wenn ich Josy im Stich ließe, egal wie gern ich sie letztendlich wirklich hatte. Sie hatte mir in den letzten Tagen sämtliche Dokumente zukommen lassen, aber zum Glück bei den wirklich Wichtigen einen Vermerk gemacht. Somit hatte ich die nötigen Unterlagen beisammen und konnte den Rest umgehen. Immerhin hatte ich auch noch genügend andere Lektüre, denn meine Deutschprüfung lag noch immer drohend vor mir. Am Samstag musste ich deshalb einen Tag frei nehmen, was mir unangenehm war, schließlich war das direkt in meiner ersten Arbeitswoche, aber die Frau am Telefon versicherte mir, dass es kein Problem sei. Sie schien generell von sehr freundlicher und offener Natur, was mir ein bisschen Mut schenkte, jetzt die letzten Dinge in meine Tasche zu packen. Eine kleine Flasche Erdbeersekt hatte ihren Platz verdient. Irgendwie würde ich den schon reinschmuggeln und ich denke wirklich, dass ich den abends, nachdem die Kinder endlich schliefen, gebrauchen konnte.
Ich hatte es nicht so mit Kindern. Ich hatte keine Geschwister, abgesehen von der seltsamen Tochter des neuen Mannes meiner Mutter. Sie war aber einige Jahre älter als ich und hatte niemals irgendetwas kindliches in ihrer Erscheinung. Sie besuchte uns zum Glück nur selten.
Ich erinnere mich lediglich an eine Situation vor ein paar Jahren. Meine beste Freundin Marcia und ich wollten unbedingt erwachsen sein und baten ihre Eltern auf Marcias kleinen Bruder aufzupassen. Ich hatte keinerlei Bedenken, denn ich wusste ich wäre die coolste große Schwester, die man sich wünschen kann und Marcia hatte neben ihrem kleinen, drei ältere Brüder, die sich dümmer benahmen, als der kleine Marius. Noch dazu war der Kleine unheimlich süß. Als wir ihre Mutter endlich überredet hatten, kam der Abend der Abende. Marcia und ich fühlten uns wie die coolsten und vielleicht so gesehen lesbischen Eltern des Kleinen. Ich kam zur Tür herein und begrüßte ihn. "Fetti", kam nur zurück. Ich lachte meine peinliche Berührung weg, als Martin, der älteste Bruder mit einem charmanten Lächeln um die Ecke kam. "Das Wort hat er eben erst gelernt." Er nahm ihn auf den Arm und wackelte mit seiner schönen Nase. "Puh und da habt ihr direkt was zu tun." Er gab mir den stinkenden kleinen Wonneproppen, während ich noch wie angewurzelt stand, weil Martin Morgenstern mit mir gesprochen hatte. Der heiße Martin Morgenstern. Der 19-jährige Martin Morgenstern, der mir in allem so überlegen war. Der schon so viel Erfahrungen in allen Lebensbereichen aufwies und den ich schon, seit ich ihn kannte, heimlich anhimmelte. Meistens war er nicht zu Hause, wenn ich Marcia besuchte. Wenn dann traf ich immer nur auf die dümmlichen beiden jüngeren Versionen, die man wirklich in nichts bewundern konnte. Wenn der Erstgeborene so gut gelingt, kann bei den nächsten wohl nicht mehr viel erwartet werden.
"Marci, ist deine Freundin eigentlich immer so abwesend?", fragte er meine beste Freundin und ich erschrak. "Ich, ich bin überhaupt nicht..." Doch ehe ich antworten konnte, schwebte er schon an mir vorbei, sicher um heimlich draußen zu rauchen. Ich hatte ihn schon einmal dabei beobachtet. Ich weiß, das klingt vielleicht, als wäre ich eine Stalkerin, aber er sah so unheimlich gut dabei aus. Marcia schenkte mir einen Blick, der mich fragte: "Was ist los mit dir?" Doch eh ich ihr eine peinliche Erklärung lieferte, hatte sie den Geruch aus Marius' Windel schon vernommen. "Scheiße, du bist ein Schwein."
"Marcia, das würde eine Mutter nie zu ihrem Baby sagen", erklärte ich entsetzt. Ich kannte sie und ich wusste, dass Familie Morgenstern eigentlich fünf Söhne hatte, nur nicht im biologischem Sinne. Sie schaute mich fast erschrocken an und dann wechselten wir klein Marius Windel, ich wusste nicht, dass so kleine Geschöpfe schon so stinken können. "Wie alt ist der Kleine jetzt? 8 Monate?", fragte ich, um ein klassisches Muttergespräch zu beginnen.
"Spinnst du, hast du eine Ahnung, was ein Kind mit 8 Monaten kann? Er ist fast 3 Jahre alt."
Ein bisschen beleidigt von meiner eigenen Unwissenheit über Kinder, schlug ich vor zu Kochen. "Mama hat gesagt, dass Martin kocht, was soviel heißt wie: er schiebt eine Pizza aus dem Karton in den Ofen."
"Martin isst mit uns?"
"Es ist ekelhaft, wie du meinen Bruder anschmachtest, Emmy. Der verzieht sich dann eh, der telefoniert seit Neustem stundenlang mit so einer riesigen Blondine. Die hat vielleicht einen Körper, davon können wir nur träumen."
Damals waren wir vielleicht 14 und beide im weiblichen Kontext nur mäßig ausgestattet, was sich bis heute eigentlich kaum geändert hat, vor allem bei Marcia nicht. Sie war immer noch das schlanke sportliche Mädchen mit der großen Klappe und ich irgendwas in der Mitte von Marcia und Martins erster Freundin, die ihn später betrogen hat, was ihm mit mir nicht passiert wäre. Jedenfalls verlief der Rest des Abends folgendermaßen...
Während Martin irgendwann in die Küche kam und den für mich damals erotischsten Geruch verbreitet hat, den es gab: Qualm, After Shave und einen Hauch Cassis Kaugummi, weil er wohl dachte, er vertusche damit den Rauch. Ihre Eltern waren damals Lehrer an unserer Schule und vermutlich verrückt geworden, wenn eines ihrer Kinder irgendeine Form von Drogen konsumiert hätte, was lustig ist, denn Martin raucht soweit ich weiß mittlerweile mehr als nur gelegentlich, ihr anderer Sohn Max wurde mit Marihuana in der Schule erwischt und Marcia vertrug mehr Alkohol, als irgendein breit gebauter Fußballer auf jeder Party.
Martin schob die Pizza in den Ofen und verschwand für den Rest des Abends. Er hatte mir zweimal das Herz an diesem Tag gebrochen: als er die Treppen hinauf ging und als er lautstark mit Große-Busen-Paula telefonierte, seiner heutigen Exfreundin.
Was Marius anging, er rannte den ganzen Abend durchs Wohnzimmer und ich hasste ihn für den Rest meines Lebens. Ich finde ihn sogar heute als Achtjährigen noch nervig. Er hatte mich noch den ganzen Abend "Fetti" genannt und alle Brüder von Marcia hielten das bei. Ich glaube sogar, dass ihre Eltern mich heimlich hinter meinem Rücken so nannten. Ich war damals tatsächlich etwas kräftiger, was erst nach dem Wachstumsschub mit 16 verschwand. Der Spitzname blieb, aber was konnten mir Kiffer-Max und Nikotin-Martin schon anhaben, mal abgesehen davon, dass Bier-Marcia mich niemals so genannt hätte.
"Ich glaube, Sie sitzen auf meinem Platz", holte mich eine ältere Frau aus meinen Gedanken. Hatte ich geschlafen oder nur in Erinnerungen geschwelgt? Ich weiß es nicht mehr. Verdattert schaute ich auf mein Busticket. Tatsächlich war mein Platz einige Reihen weiter hinten. Ich schlug der Frau vor, sich doch einfach auf den freien Platz zu setzen, aber wie alte Leute nun einmal sind, bestand sie darauf, dass alles seine Ordnung habe. Ich nahm also meine Reisetasche und meine Jacke, quetschte mich an der Omi vorbei und konnte dabei nicht den Körperkontakt mit einigen umliegenden Fahrgästen verhindern. Als ich mich dann durch den viel du engen Durchgang quetschte, glaubte ich meinen Augen kaum. Direkt neben meinem Sitzplatz winkte Marcia mir zu. Als ich endlich hinten angekommen war, konnte ich meiner Verwunderung endlich Ausdruck verleihen. "Was um alle Welt machst du hier? Ich dachte, du verbringst deinen Urlaub mit der ganzen Familie bei deiner Tante."
"Gepriesen sei Gott, nein, du hast mich mit deinem Job auf eine wunderbare Idee gebracht! Ich komme mit dir, hab mich gestern noch angemeldet." Ich konnte mich im ersten Moment gar nicht erinnern, ihr davon erzählt zu haben, aber in letzter Zeit war ich sowieso völlig durch den Wind. "Ich finde es klasse, endlich verbringen wir einen Sommer nur zu zweit und können richtig Spaß haben." Sie hatte recht, nur wir beide und eine Horde Kinder und vermutlich noch 20 weitere Betreuer, so wie man sie sich vorstellte. Alte verkniffene Frauen, die ständig schimpften, wenn die Kinder nicht schlafen wollten oder auf die Idee kamen, ihre Ferien zu genießen.
"Ich habe gar keine Lust, Marci." Ich legte meinen Kopf auf den Sitz vor mir, der just in diesem Moment nach hinten geklappt wurde. "Au." Marcia lachte, wie nur eine beste Freundin einen auslachen durfte, dann wurde sie ernst. "Ich finde es gut, dass du endlich mal von zu Hause rauskommst." Ich wusste, sie meinte es gut, aber immer wenn sie so etwas sagte oder mich zu irgendeiner Party überredete, wollte ich am liebsten wieder in mein Himmelbett und mich vor allem verstecken. Die weite Welt war irgendwie nichts für mich.
"Ohne dem Arschloch, hätte ich den ganzen Sommer zocken können", schimpfte ich. Marcia spielte ein überzogenes Gähnen. "Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er einfach in meinen Nachrichten herumschnüffelt", vervollständigte ich meinen Ärger.
"Seien wir froh, dass du noch keinen Freund hast, dem du Nacktbilder schickst."
"Igitt, Marcia, du bist widerlich!" Einige Leute drehten sich nach uns um. Ich konnte aber nicht anders. Dass mein verhasstes Stiefekel so etwas sehen könnte, drehte mir beinah den Magen um. Doch wie es für Marcia typisch war, schämte sie sich kein bisschen. "Dabei wärst du doch froh, jemandem mal so ein Bild schicken zu können." Sie grinste bösartig und ich lächelte auch ein bisschen verlegen. "Nicht so, wie die Dinge stehen." Daraufhin nickte sie nur verständnisvoll. "Hat deine Mum dich verabschiedet?" Der Gedanke machte mich ein wenig traurig. "Ja, hat sie." Sie war heute sogar gut drauf. Sie hat mir einen mütterlichen Kuss auf die Stirn gegeben und mir mit der liebevollen Sprache, die nur eine Mutter sprechen kann, einen unvergesslichen Sommer gewünscht.
Die Busfahrt hatte eine Weile gedauert und verlief nicht allzu spannend. Marcia schlief nach 10 Minuten ein und ich hörte Musik, was mir bald unmöglich wurde, weil die Kinder hinter mir lautstark in einer Sprache schimpften, die ich nicht kannte. Daraufhin schrie die Mutter der Kinder zurück, dann schrien die Kinder noch lauter. Ich versuchte das Treiben zu ignorieren, bis der Busfahrer eine Durchsage erklingen ließ. Eine sanfte Roboter-Frauenstimme sagte: "Liebe Fahrgäste, bitte bleiben Sie während der Fahrt auf ihren Sitzplätzen. Vielen Dank." Niemand war aufgestanden und der Lärm wurde dadurch auch nicht weniger. Ich blickte wieder zu meiner besten Freundin und wunderte mich, wie man bei dem Krach so seelenruhig schlafen konnte.
Ich konzentrierte mich auf die Umgebung, damit mich der Lärm und die Hektik nicht stressten. Es dauerte eine Weile, aber irgendwann wurden die Kinder ruhiger oder ich bemerkte sie einfach nicht mehr. Unsere idyllische Kleinstadt hatten wir längst hinter uns gelassen und wir fuhren entlang einiger endloser Landstraßen. Mittlerweile verwandelte sich die Gegend aus trockenen Kornfeldern in dichte dunkelgrüne Nadelwälder. Die Sonne schien, wie man es von einem Tag im Juli erwartete. Eine ungewohnte Aufregung machte sich in mir breit, freute ich mich etwa? Viele Gedanken gingen mir während der Fahrt durch den Kopf, doch das schöne am Denken während einer Reise war, dass man die Gedanken auf seinem Weg zurücklassen konnte. Ich fühlte mich ein wenig frei, warum, das weiß ich auch nicht.
Wir hatten es nach fast 3 Stunden geschafft. Marcia, die eigentlich hätte ausgeschlafen sein müssen, schleppte sich verpennt aus dem Bus und ich schlurfte hinterher. Die Fahrt war anstrengend gewesen, dabei war das der Anfang vom Anfang. Es war nicht schwierig zu erkennen, dass wir keineswegs am Feriencamp angekommen waren, denn eigentlich standen wir im idyllischen Tal von Nirgendwo mitten auf einem Feld auf dem die Grillen gerade eine Sonate in G Dur zirpten. "Irgendwie ist das nicht richtig", erkannte Marci mit einem messerscharfen Verstand. Ich ließ mich auf die kleine Bank an der Haltestelle plumpsen und atmete genervt aus. Unsere Handys hatten beide keinen Empfang. "Und was jetzt?"
Marcia schaute ihr Handy an wie ein unbekanntes Flugobjekt. "Wenn man hier vom 5-G-Netz spricht, wird man vermutlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt."
"Dafür müsste dich erstmal jemand hören." Tatsächlich war von menschlichen Einwohnern oder Zivilisation keine Spur zu entdecken, nun ja, bis auf die Bushaltestelle.
"Vermutlich ist im nächsten Tal schon ein kleines Dorf, da können wir ja mal nachfragen", schlug Marcia vor. Tatsächlich keine schlechte Idee, auch wenn diese beinhaltete, dass wir bei 32 °C und voller Sonne wandern gehen mussten. Ziel und Ankunftsort: unbekannt.
Wir gingen einige Meter und schwitzten unter unseren Rucksäcken und dem anderen Gepäck wie man bei einem heißen Sommernachmittag in der Sonne eben schwitzen musste. Keiner von uns redete ein Wort oder machte sich Sorgen wegen der Kinder, des Camps oder was uns sonst noch erwarten würde, all unsere Anstrengung steckte im Schleppen von uns und unserem Hab und Gut. Ich dachte ein eine Folge von Riverdale, als Archie mit Jughead von zu Hause weglief, um Veronicas Vater zu entkommen. Ich versuchte mir vorzustellen, auch wir wären zwei Abenteurer, die von zu Hause weggelaufen waren und versuchten in der Fremde ein neues Leben anzufangen. Das machte die Tortour deutlich erträglicher.
Nachdem wir etwa eine halbe Stunde gelaufen waren, fuhr ein kleines rotes Auto an uns vorbei und kam unter dem Knarren des Trockenen Kies' zum stehen. Zunächst hatte ich kein gutes Gefühl, dass ein Auto neben uns hielt und wer weiß was von uns wollte. Aber tatsächlich schauten uns zwei Jungen und ein Mädchen belustigt an, so als ob sie schon auf uns gewartet haben.
"Haha, na, ihr seid zum ersten Mal hier?", fragte ein gut aussehender braungebrannter Junge, nachdem er die Fensterscheibe runtergekurbelt hatte. Sah man uns das so deutlich an?
"Nein, wir stehen auf Hardcore-Sport", antwortete Marcia genervt und ich war ihr dankbar dafür. Egal in welcher Situation, Marcia war nie so verunsichert, dass sie nichts sagte, ganz im Gegenteil zu mir.
"Haha, Hardcore-Sport, ja?" Der Junge grinste pervers und zündete sich eine Zigarette an. Selbstverständlich versuchte er ganz offensichtlich den coolen Macker zu spielen, aber ich hätte lügen müssen, wenn es auf mich keinen Eindruck gemacht hätte.
"Alter, ich hab gesagt in meinem Auto wird nicht geraucht", sagte der Junge neben ihm und schlug ihm einfach die Kippe aus der Hand. "Hey!", schrien er und das Mädchen auf dem Rücksitz gemeinsam. "Weißt du, wie gefährlich das bei der Trockenheit ist?" Sofort öffnete sie dir Tür und trat unnötig auf die Zigarette ein, die schon lange verglimmt war. Sie trug ein T-shirt mit einer großen Mickey-Mouse und gab und die Hand. "Ich bin Maja und ich gehöre nicht zu diesen Umweltsündern." Sie war sympathisch, trug kurzes braunes Haar und trug riesige Ohrringe. In ihrem Gesicht lag eine natürliche Schönheit, die man erst auf den zweiten Blick erkannte und ihre Hosen schienen drei Nummern zu groß, was dann ein Gürtel aus Stoff wieder ausbügeln musste. Der Junge, der uns zuerst angesprochen hatte, verdrehte die Augen. "Und wieder einmal hat Maja die Welt gerettet, also seid dankbar, Mädels." Er grinste. Irgendwas an ihm kam mir seltsam vor, was aber auch an seinem überzogenen Selbstbewusstsein liegen konnte, das mir wie üblich Angst einjagte. Der Junge am Steuer hingegen stieg auch aus dem uto auf. Er war nicht allzu groß und blond, aber seine schmalen treuen Augen gefielen mir, als er uns kurz ebenfalls begrüßte, schimmerten sie wie ein kleiner See an einem Sommermorgen.
"Ich bin Yannis und das ist Kyle. Ihr seid nicht die ersten, denen das passiert."
"Denen was passiert?", fragte meine beste Freundin.
"Vor genau zwei Jahren waren wir es, die in der glühenden Hitze mit ihrem Gepäck herumirrten, weil dieses verflixt schöne Feriencamp so versteckt ist. Junge, das war heftig!" Maja schmückte ihre Erinnerungen mit ausschweifenden Handgesten.
"Dann seid ihr also auch Campbetreuer?"
"Es kann ja sprechen!", rief Kyle aus, der mittlerweile auch ausgestiegen war und sich, als wäre nichts gewesen, wieder eine Zigarette angezündet hatte. Ich wurde rot.
"Hör nicht auf ihn", beruhigte mich Maja, "Ja sind wir. Ab morgen das dritte Jahr in Folge!" In ihrer Stimme klang Vorfreude, die ich noch nicht nachvollziehen konnte, mich aber beruhigte.
"Es könnte ein wenig eng werden, aber wenn ihr wollt, nehmen wir euch mit."
"Steh auf ein wenig eng", lachte Kyle und sonst niemand.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir wirklich bei euch mitfahren sollten", sagte Marcia mit verächtlichen Blick auf den Scherzkeks. Doch jeder bemerkte, dass es lediglich eine ironische Aussage war. Wir freuten uns, nicht länger herumzuirren und och dazu die ersten Kollegen bereits kennengelernt zu haben.
Die drei halfen uns, unser Gebäck in den Kofferraum zu packen, der bis oben hin voll wurde. "eure Rucksäcke müsst ihr wohl auf euren Schoß nehmen", erklärte der süße Blonde.
Eigentlich soll man bekanntlich nicht bei Fremden mitfahren und das ändert sich auch nicht, wenn man kein Kind mehr ist. Mit Kyle wäre ich freiwillig auch niemals ins Auto gestiegen, auch wenn er wirklich gut aussah, weshalb er sich den Großteil seiner dummen Witze leisten konnte. Yannis konnte ich noch nicht recht einschätzen, machte einen gleichermaßen vertrauenswürdigen wie mysteriösen Eindruck. Maja hingegen hatte ich längst all meine emotionalen Naivitätsschubladen geöffnet, dass sie sich frei bedienen konnte. Ja, irgendwie mochte ich sie total. Wenn Mädchen auf andere Mädchen treffen, dann lächeln sie sich meistens an, aber beide wissen, dass sie einander noch lange nicht akzeptiert haben, es ist ein schlimmerer Kampf als bei einem Wolfsrudel, aber ohne dass irgendwer es mitbekommen würde. Maja strahlte das nicht aus. Ihr Lächeln leuchtete voller Ehrlichkeit und Loyalität. Sie schien eine wahre Weltverbesserin zu sein, die das nicht nur sein wollte, um zu sagen, dass sie das war. Maja ging es um die Welt und nicht um sich. Und ja, mit solchen Menschen konnte man überall hinfahren, zumindest wenn man sie richtig einschätzte.
Die Straßen führten uns von den korngelben Feldern wieder in einen Wald voller Nadelbäume, der keineswegs so trocken aussah, aber voller Sommer steckte. Die Luft roch warm und nach Honig und ein bisschen nach Staub, den Yannis mit seinem roten Fiat aufwirbelte. Maja lehnte sich weit nach vorn, drehte einen alten Rocksong im Radio lauter und sang fröhlich mit, während Kyle nur genervt seinen Kopf gegen das Fester donnerte. Mir gefiel ihre gute Laune und sie hatte eine schöne klare Stimme.
"Unendlich lange 2 Stunden mit diesem Energiebündel sind überstanden, nur noch die letzten Meter", redete er sich scheinbar selbst zu, auch wenn er Maja damit schlichtweg ärgern wollte. Aber er hatte recht, die Fahrt war tatsächlich überstanden, als wir einen Bogen mit der Aufschrift "Camp Odorette" sahen. Sie hatten uns schon einmal nicht entführt, ob das jetzt gut oder schlecht war, würden wir in den nächsten Stunden herausfinden. In meinem Magen rumorte ein ungutes Gefühl von Nervosität. Ich war froh, mit den anderen auszusteigen, denn dadurch fühlte ich mich nicht so fremd und allein.
Nachdem man durch den Bogen gefahren ist, erreichte man einen Waldweg und kam eine große Schlaufe entlang, an der ausnahmsweise mal keine Bäume, dafür einige Holzhütten und ein im Verhältnis dazu größeres Gebäude stand. Vor diesem befand sich genau ein kleiner Baum und eine Bank auf der bereits ein paar Jugendliche warteten.
"Oh shit, die sind ja nicht viel jünger als wir, wie sollen wir denn auf die aufpassen?", fragte ich besorgt. Plötzlich begannen Yannis und Kyle laut zu lachen und sogar Maja grinste ein wenig. "Das sind keine Ferienkinder, das sind die anderen Betreuer."
Erleichterung gepaart mit Scham überkamen mich. Ich hatte mir unter Aufsichtspersonen in solchen Camps etwas ganz anderes vorgestellt, tatsächlich schienen die Warteten aber ebenfalls jung zu sein. Viele Junge Menschen, die zusammenarbeiten und auf Kinder aufpassen, damit die schöne Ferien haben? Das klang eigentlich gar nicht mal übel.
"Endlich, da sind ja meine Heinzelmännchen!", rief eine fröhliche Frau, die gerade aus dem Gebäude herausstürmte. Es war unglaublich, sie klang doch tatsächlich wie... Ich drehte mich um. Das war Lucy. Ach. Du. Scheiße. Als unsere Blicke sich trafen, schien auch sie überrascht, aber sie blieb professionell und vermied beim folgenden Vortrag, noch einmal mein Gesicht zu erblicken. "Ich bin ja so froh, dass ihr es geschafft habt, pünktlich seid und uns dieses Jahr wieder helft. Ich weiß, dass dieser Ferienjob eindeutig mehr Job als Ferien ist und ihr noch dazu eher eine Aufwandsentschädigung als Lohn bekommt, aber wir brauchen euch wirklich! Wir werden noch ein wenig warten, Monty und Bella fehlen noch, dann bekommt ihr alle weiteren Infos. Ein paar neue Gesichter gibt es schließlich auch." Das erste Mal blickte sie kurz zu mir. So neu wohl nicht. Aus irgendeinem Grund zitterte ich ein wenig. Ich wollte hier von zu Hause abschalten, mal alles hinter mir lassen, glauben, dass mein Stiefekel vielleicht doch nicht mein Handy manipuliert hatte, aber das hier, muss doch sein Plan gewesen sein.
"Ich muss kurz", sagte ich nur leise und ging in irgendeine Richtung, Hauptsache erst einmal weg von hier. Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich schaute auf mein Handy und schrieb meiner Mutter. Ich will hier weg, bitte. Was ich mir genau davon erhoffte, wusste ich nicht. Aber wenn mir irgendjemand helfen konnte, dann sie. Ich würde es nicht durchstehen. Es wurde mir zu viel und ich ging tiefer in den Wald, bis ich das Gebäude gerade noch so sehen konnte. Ich wollte mich schließlich nicht wie das typische Stadtkind direkt erst einmal verlaufen.
Wieder blickte ich auf mein Handy. Nichts passierte. Sie antwortete nicht. Meine Mutter würde mich holen, ich wusste es. Eigentlich. Aber wenn es doch der Plan von ihm war, dann wird er es meiner Mutter ausreden. Wenigstens gut zureden könnte sie mir doch. Aber es kam nichts und plötzlich schreckte ich wegen eines Knackens hinter mir hoch. Es waren Kyle und Marcia, die wohl bereits nach mir suchten, dabei war ich höchstens 10 Minuten weg.
"Hier bist du ja, siehst du, sie raucht nicht", erklärte meine beste Freundin, während Kyle nur entschuldigend die Schultern bewegte. "Hey, Waldbrandgefahr und so, am Ende war es auch nicht meine Anweisung."
"Diese Frau Oberwichtig meinte, wir sollen dich suchen. Stadtmenschen würden manchmal hier komische Dinge tun, was eigentlich eher creepy als nachvollziehbar klang."
"Klar ist das creepy, du hast ja keine Ahnung, was die hier mit Mädchen wie euch anstellen", sagte Kyle mit einer schaurigen sowie schmutzigen Grimasse und blickte meiner Freundin in die Augen. Marcia verdrehte nur die Augen und ich lächelte, weil die beiden so hervorragend zusammenpassten. Marcia hatte all ihre Freunde zunächst nicht gemocht, scheinbar zog sie das auf seltsame Weise an. Sie bemerkte meinen Blick und drohte mit ihren Augen, ich solle nicht auf solche Gedanken kommen. Beste Freundinnen verstehen sich eben telepathisch.
"Was wolltest du denn hier?", fragte sie dann, als wir uns langsam auf den Rückweg machten und Kyle einige Meter vor uns lief. Ich blickte besorgt auf den Boden. Meine Füße waren schon jetzt zerkratzt, weil ich nur leichte Sandalen trug. "Es ist Lucy."
"Wer?"
"Lucy, die Tochter von du weißt schon wem, meine Stief-(würg)-Schwester. Du hast sie vorhin als Frau Oberwichtig bezeichnet." Marcia fielen fast die Augen raus. "Das ist ...? Scheiße." Sie hatte es auf den Punkt getroffen. Ich konnte Lucy noch nie leiden, denn alles an ihr, war wie ihr Vater, abstoßend. Gut, sie sah nicht schlecht aus und wenn man sie unabhängig von ihren genetischen Vorfahren kennenlernte, fand man sie vielleicht sogar okay, aber ich fand sie nicht okay. Ganz und gar nicht okay. Das hatte er doch gewusst. Deswegen hatte er mich doch hierher geschickt, damit er seine Ruhe hatte und ich trotzdem unter Kontrolle stand. Noch ein Blick auf mein Handy, immer noch keine Nachricht. Marcia legte ihren Arm um meine Schultern. "Wir schaffen das schon."
Ich kann kaum erklären, was ich in dem Moment empfand, als ich mit den anderen Betreuern in U-Form um meine unbeliebte Stiefschwester saß. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht viel von ihr und wollte an diesem Zustand auch nichts ändern. Sie war eben da und lebte ihr Leben. Niemals wäre ich darauf gekommen, dass ihr Leben in einem Sommercamp für Ferienkinder stattfinden würde, was sie scheinbar auch noch leitete. Ich meine, es ist ein Feriencamp. Sie verdient ihr Geld mit glücklichen Kindern, das passte einfach so gar nicht zu ihr.
Das letzte Mal als ich sie gesehen hatte, war meine Mutter damit beschäftigt, ein Abendessen vorzubereiten, was keinerlei Wünsche offen ließ. Sie stand seit mehreren Stunden in der Küche und es roch so fantastisch, dass ich neidisch wurde, dass sie sich so einen Aufwand für die "Tochter" machte, die weder hier wohnte, noch ihrem Fleisch und Blut entsprungen war. Lucy kam sehr selten hier her und immer wenn sie da war, verspürte ich eine unangenehme Kühle, die von ihr ausging und mich abschreckte. Auch an diesem Tag war es nicht anders. Als sie hereinkam, legte die große schlanke und zugegeben wirklich hübsche Brünette ihren langen Mantel ab und war nur in Pastelltönen gekleidet, das wirkte so edel und modern, dass ich schon nur deshalb eingeschüchtert war. Ich hingegen trug eintönig schwarz und fühlte mich ihr gegenüber wie ein kleines Mädchen. Lucy war höflich zu meiner Mum, aber meiner Meinung nach keinesfalls freundlich genug, wenn man bedachte, wie viel Mühe sie sich gab. Ich spürte, dass sie angespannt war, meine Mutter wollte unbedingt, dass es ein gemütlicher Abend werden würde, ein Familienabend. Normalerweise hätte ich mich sofort ausgeklinkt und wäre gar nicht erschienen, aber ihr zu liebe konnte ich das nicht tun. Dabei ging es eigentlich wieder nur um ihn. Er hatte einen Narren an Lucy gefressen, erzählte immer wieder, wie großartig sie sei, dass sie so erfolgreich studiere, dass sie so schön wäre, dass man sich nie um sie sorgen müsse, weil alles, was sie in die Hand nehme, einfach funktioniere. Mein Stiefvater sprach wirklich nicht oft von Menschen, die er bewunderte und genau darum war es meiner Mutter so wichtig, dass Lucy sie mochte. Einmal im Leben wollte meiner Mutter die Anerkennung die sie verflixt nochmal auch verdiente. Und sie hoffte ein gutes Verhältnis zu Lucy könne das hervorrufen.
Ich weiß nicht ob Lucy wusste, wie wichtig meiner Mutter die Sache war, aber sie verhielt sich schrecklich. Sie erzählte nur von sich und ich bemerkte, dass sie und ihr Vater meine Mutter immer wieder durch kleine Sprüche in die Schranken wiesen. Als sie dann aber sagte, dass der Braten für eine Hausfrau sicher ganz okay sei, ihr aber nicht exotisch genug erschien, platzte mir der Kragen. Ich meine, ich war ein Teenager und ihr Benehmen war unter aller Sau, was hättet ihr gemacht? Als mein Stiefekel auch noch ein bisschen belustigt in die Runde blickte und ihr zustimmte, konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Ich stand auf, sah ihr in die Augen und bezeichnete sie als eine unordentliche, in ihrem Äußeren nachlässige und ungepflegte weibliche Person, zumindest sagt Duden, dass man es auch so umschreiben kann. Meine Mutter war entsetzt und Lucy schrie irgendetwas zurück, während mein Stiefvater so etwas sagte, wie, dass das genau das sei, was er immer meinte und ich eben ein Problemfall sei. Ich bekam Hausarrest und durfte eine Woche nicht mit dem Rest der Familie zu Abend essen, als wenn das eine Bestrafung wäre. Lucy kam jedenfalls kein weiteres Mal zu Besuch und komischerweise hatte auch mein Stiefvater nach einiger Zeit kein Wort mehr über sie verloren. Konnte es sein, dass dieser Job der Grund dafür sein könnte? Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass er nicht begeistert war, dass sie ein Camp für Kinder in einem Wald eröffnet hatte, anstatt ihr Jurastudium weiterhin so erfolgreich zu meistern.
Jetzt, als ich hier saß, erinnerte ich mich an die nette Frau, mit der ich am Telefon gesprochen hatte, das war ganz sicher nicht Lucy gewesen. Warum hatte mich niemand gewarnt, nirgends ihr Name gestanden, kein Schreiben, keine Notiz, nichts. Oder doch? Ich musste wohl zugeben, dass ich nicht wirklich akribisch oder auch nur annähernd gründlich die Unterlagen gecheckt hatte, es war also auch zum Teil meine eigene Schuld. Es gefiel mir dennoch besser, jemand anderem die Schuld dafür zu geben und immerhin, hätte er mein Handy nicht gehackt und manipuliert, wäre ich nicht hier. Es gruselte mich noch immer, dass er Einfluss auf meine Chats hatte, wer weiß, wem er noch alles schreiben würde. Wir leben schließlich nicht mehr Neunzehnhundertirgendwas, wenn man jemandes Handy in die Finger bekam, hatte man seine Seele. Da stand einfach alles drin, tiefe Gedanken und Gefühle, Termine, Musikgeschmack, Rechnungen, Passwörter, Schulzeug, sogar ein Protokoll meiner fucking Periode und er wusste alles. Gänsehaut überkam mich. Konnte das sein? Oder hatte er doch nur Einfluss auf meine Chats? Es war egal, das musste aufhören, wenn ich nur wüsste wie.
Lucy redete mittlerweile schon über eine Stunde von Regeln, Verhaltensweisen, Erster Hilfe und Aufnahmebögen, die wir auszufüllen hatten. Ich konnte kaum zuhören, obwohl ich wusste, dass es vermutlich wichtig war, die Informationen aufzunehmen. Maja schrieb neben mir eifrig alles in ein kleines bemaltes Heftchen, dass schon recht vollgeschrieben aussah.
"Alle diejenigen, die keinen Jugendleiterkurs besucht haben, werden mit Betreuern eingeteilt, die das bereits erledigt haben, sonst gibt es rechtliche Schwierigkeiten. Es ist mir sehr wichtig, dass ihr untereinander harmoniert und euch vor den Kindern immer einig seid. Versteht mich nicht falsch, die Betreuer mit mehr Erfahrung sollten vielleicht schon die Führung übernehmen, wenn ihr aber untereinander Machtkämpfe führt, nehmen euch die Kinder als Vorgesetzte nicht ernst." Das klang verdammt logisch, aber absolut nicht nach der Lucy, die ich kennengelernt hatte.
Plötzlich wurde Lucy von einem heranfahrenden Auto abgelenkt, sie kniff die Augen zusammen, schien es jedoch schnell zu erkennen und lächelte. "Na das wird aber auch Zeit", begrüßte sie die aussteigenden Personen. Es waren ein schlanker älterer Mann, auch wenn es völlig falsch klingt, ihn als "älter" zu bezeichnen, denn er wirkte in seinem Erscheinungsbild eher jugendlich. Er war leger gekleidet, trug etwas längere Haare und wirkte unheimlich gelassen und zufrieden. Außerdem stieg ebenfalls ein Mädchen mit rot-blond gefärbten langen Haaren aus, das wirklich umwerfend schön war und enge kurze Kleidung trug, sodass Kyle neben mir beinah anfing zu sabbern, sowie vermutlich alle anderen Jungs, die ich nicht so auffällig beobachten wollte.
Lucy wendete sich wieder uns zu. "Das sind Monty und Bella. Während sie eine langjährige Betreuerin ist, arbeitet Monty in der Verwaltung und im Programm und wird für euch da sein, wenn es irgendein Problem gibt, beziehungsweise alle größeren Programmpunkte mit euch und den Kindern begleiten. Magst du selbst noch ein paar Worte sagen?"
"Aber natürlich", sagte er und stellte sich neben Lucy, dann lächelte er. "Na ja, eigentlich hast du eben schon alles gesagt." Wir lachten. Monty wirkte auf eine wirklich sympathische Art und Weise verpeilt. Ich kann mir vorstellen, dass die Ferienkinder bisher viel Spaß mit ihm hatten. Lucy lächelte ihn an, forderte aber dennoch mit einem starken Blick, dass er noch etwas sagen sollte, also räusperte Monty sich und versuchte, seine Vorstellung etwas zu präzisieren. "Nun ja, ich bin Monty und arbeite hier." Wieder lachten einige, weil er in seinem Auftreten bereits zeigte, dass er einen recht trockenen Humor vorwies. "Ich hab selbst jahrelang als Betreuer gearbeitet und es so genossen, dass ich damit nicht aufhören wollte. Da man mit über 30 aber von den jungen Leuten nicht mehr richtig ernst genommen wird oder sagen wir, eher zu ernst genommen wird, macht es nicht mehr so viel Spaß, darum habe ich mir hier eine feste Anstellung gesucht. Versteht mich nicht falsch, ihr habt einen Haufen Verantwortung und sollt das Ganze schon ernst nehmen, dennoch wird euch keiner verbieten, Spaß dabei zu haben, darum gehts in den Ferien und mit den Kindern ja schließlich. Wenn es Probleme gibt oder ihr einen Rat braucht, egal in welcher Hinsicht, sind Lucy und ich immer für euch da und nun noch ein ultimativer Tipp, stellt euch mit der Küche gut!" Einige Betreuer lachten wissend, scheinbar die, die nicht das erste Mal hier waren. Ich verstand seinen Joke nicht, schien ein Insider zu sein. "An der Stelle merke ich immer, wer neu in der Runde ist. Nicht, dass man sich nach einiger Zeit hier nicht sowieso kennen würde, aber Kyle, mein Kumpel, warum sollte man sich mit der Küche gut stellen?"
Der gut aussehende Junge neben mir, richtete sich auf. "Na ja, wenn ein Kind Bauchschmerzen hat, braucht ihr Tee, wenn ein Kind einen Insektenstich hat, braucht ihr Eis, wenn ein Kind Sonnenbrand hat, braucht ihr Quark, wenn ein Kind sich beim falschen Essen angestellt hat, braucht ihr Nachsicht und glaubt mir, das kommt alles ständig vor. Grundsätzlich sind die Küchenfrauen ein bisschen launisch, darum seid charmant." Wieder lachten alle ein wenig.
"Besser hätte ich es nicht erklären können", grinste Monty und gab das Wort zurück an Lucy, die eine Liste aus ihrer Handtasche holte, die ein bisschen an Indiana Jones erinnerte. "Wie ihr wisst, starten wir traditionell mit einem Grillabend der Betreuer, wo wir auch verkünden, wie ihr eingeteilt werdet." Sie verwies repräsentativ auf ihre Liste. "Morgen reisen die Kinder an, also seid bitte alle früh um 9 hier. Ansonsten wünsche ich euch eine gute Eingewöhnungszeit und wir sehen uns beim Grillen." Alle klatschten und Lucy verzog sich in ihre Holzhütte, die wohl ihr Quartier darstellte. Monty hingegen blieb bei uns und führte uns durch das Gelände.
Es war gar nicht so einfach, sich hier zurechtzufinden, denn überall wucherte der Wald in das Camp hinein und es war weitflächig angelegt. Zunächst gingen wir, zumindest glaube ich das, eine Runde und kamen zu mehreren kleinen Abschnitten, die jeweils eine Art Wappen trugen. Scheinbar eine Unterteilung der einzelnen Camps. Dazu gehörte jeweils eine etwas größere Hütte, in der wir Betreuer schliefen und kleinere Hütten, die mit Doppelstockbetten, einem Tisch und einem Stuhl und einem großen Schrank versehen waren. Zudem gab es einen Container, in dem sich die Sanitäranlagen befanden, die zu meiner Erleichterung sehr zivilisiert und sauber aussahen. In der Mitte jedes Camps gab es eine Feuerstelle. Insgesamt waren es 7 Lager, die sich lediglich durch Standort und Farbe unterschieden. Es gab sie in rot, grün, orange, gelb, dunkelblau, braun und rosa. Was es mit den Wappen auf sich hatte, konnte ich noch nicht erkennen, aber vermutlich würde ich das heute Abend noch herausfinden.
Unser Gepäck durften wir schon mal in den Betreuerhäusern ablegen, damit wir es nicht umher tragen mussten. Nachdem wir auch noch den Sportplatz, den Veranstaltungssaal und die Cafeteria, sowie den See und den künstlich angelegten kleinen Sandstrand gesehen hatten, durften wir uns selbst beschäftigen. Ich ging mit Marcia in das Betreuerhaus des grünen Camps, wo wir unsere Sachen abgelegt hatten und schlief erst einmal ein, als habe ich das wochenlang nicht mehr getan.
Als ich aufwachte, fühlte ich mich, als hätte man mich einmal quer durch die Weltgeschichte getragen? Wo bin ich und welches Jahrtausend haben wir?
Scheinbar hatte ich meine Gedanken laut ausgesprochen, denn Marcia saß vor dem einzigen kleinen Spiegel an der Tür, glättete ihre ohnehin schon glatten Haare und meinte: "Camp Odorette, 2021, nach Emmys Schläfchen des Jahrhunderts. Seit wann schläfst du ohne Vorwarnung einfach ein? Ich habe noch mit dir geredet und dann warst du weg." Sie schenkte mir einen belustigten Blick durch den Spiegel, während sie gekonnt ihr Glätteisen nach unten drehte.
"Locken? Was ist denn da los?" Ich kannte meine Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie sich nur Mühe mit ihren Haaren gab, wenn sie ganz besonders schick sein wollte. Zurecht, denn es stand ihr unheimlich gut. Es gab ihrem schmalen Gesicht einen fraulichen Schwung.
"Die Party? Die Zeremonie heute Abend?" Marcia zwang sich, cool zu bleiben. Marcia war eigentlich nie nervös, sie regte sich vielleicht mal auf, aber das war nie von langer Dauer. Ich fühlte mich bestätigt. "Hat das vielleicht etwas mit dem hübschen Kyle zu tun?", fragte ich und zog eine Augenbraue so hoch ich konnte.
"So ein Unsinn! Der Typ ist doch überhaupt nicht mein Fall", stritt sie ab. Ich behielt meinen Gesichtsausdruck bei. "Du hast mir schlafend besser gefallen!" Als ich einen Blick auf die Uhr warf, verlor auch ich jegliche Coolness. "Scheiße, eine halbe Stunde noch und du hast mich nicht geweckt?"
"Du hast so tief geschlafen und außerdem wusste ich nicht, dass du dich fertig machen willst. Wir grillen ja nur." Ohne ein Wort schaute ich an ihr herunter. "Was denn? Ich hatte das Bedürfnis mich hübsch zu fühlen."
"Und ich habe das Bedürfnis nicht? Ich stinke und muss dringend duschen, Haare machen, etwas anziehen..." Ich bemerkte beim Sprechen, dass ich nur noch mehr Zeit verlor und rannte in Windeseile los in die Sanitäranlagen, um eine Dusche zu nehmen.
Das Wasser brauchte ewig, bis es warm wurde, also beschloss ich nach einigen Minuten einfach kalt zu duschen. Und bei allem, was recht ist, aber wie kann so etwas gesund sein?! Wenigstens hielt ich mich dadurch nicht länger als nötig unter Wasser auf, wusch schnell meine Haare und sprang wieder aus der Kabine. Oh nein. Oh nein nein nein nein. Ich hatte mein Handtuch vergessen. Ich konnte doch nicht nackt zurück! Wenn ich lang genug warte, würde ich von allein trocken werden, aber ich hatte weder Zeit, noch Lust mir währenddessen den Tod zu holen. Es blieb mir nichts anderes übrig und ich zog auf meinen nassen Körper meine alten Klamotten, die sofort durchnässt wurden. Jetzt so schnell es geht zurück in die Betreuerhütte. Ich hätte wissen müssen, dass der Zufall eine Bitch ist. Auf dem weg, der nur wenige Meter zählte, traf ich Kyle, Yannis und Bella, das Mädchen, das mit Monty zu spät gekommen war. Kyle pfeifte. "Wet T-shirt Contest?" Ich hätte ihn erwürgen können. Ich versteckte meinen Körper so gut es ging und lief weiter, doch Bella hielt mich auf. "Geht weiter Jungs", befahl sie und die beiden gehorchten wie zwei Hunde. So kamen sie mir eh vor, wenn sie um Bellas Aufmerksamkeit buhlten. Sie ging auf mich zu und gab mir ihre Jacke. Als ich mich gerade bedanken wollte, meinte sie giftig: "Ziemlich billige Aktion. Man wird sauberer, wenn man ohne Klamotten duscht, Stinki." Das letzte hatte sie laut gesagt. Laut genug, dass die beiden Jungs es noch hörten, dann ging sie ihnen nach. Dieses Miststück. Sie hatte mich bloßgestellt, mehr als ich mich selbst schon. Glaubte sie allen ernstes, ich hätte das freiwillig gemacht?
Voller Wut im Bauch ging ich endlich zurück zu Marcia und berichtete ihr, was geschehen war. "War für eine Schlampe." Ich mochte es eigentlich nicht, wenn Mädchen gegen Mädchen feuerten, denn eigentlich sollten wir zusammen halten, aber Bella hatte es ja nicht anders gewollt. "Was finden die Jungs an ihr?", fragte ich, ohne daran zu denken, dass Marcia es vielleicht besonders stören könnte, dass Kyle dabei war. "Sie ist scharf." Die Antwort reichte. Sie hatte recht. Bella sah unglaublich gut aus und zeigte das mit allen Mitteln. Ihr tiefer Ausschnitt und die Hotpants, das war wirklich billig. Verflixt, das hätte ich ihr vorhin sagen sollen, stattdessen stand ich wie ein Reh vor den Scheinwerfern eines Autos, der Gefahr ins Auge sehend, ohne etwas zu unternehmen.
Ich schaffte es innerhalb einer viertel Stunde mir etwas Schönes anzuziehen, mich, so wie eigentlich immer, wenig zu schminken und meine Haare einigermaßen trocken zu föhnen. Dann gingen Marcia und ich einmal quer durch die Anlage zum roten Camp, wo der Grillabend traditionell stattfand. Als wird dort ankamen, waren wir begeistert. Alles war geschmückt und es sah wortwörtlich fantastisch aus. Das Feuer brannte bereits und drum herum standen Sitzplätze aus Holz und Baumstümpfe, die dicke Buche daneben war geschmückt mit glitzernden Steinen, die an Bändern von den Ästen hingen und kleinen Lampen, die aussahen wie alte Laternen und Lucy und Monty hatten sich in altertümliche Gewänder geworfen. Während sie gerade in uralt aussehende Kelche Punsch füllte, Hatte Monty eine Glaskugel in der Hand und saß geheimnisvoll am Feuer. Neben mir stand plötzlich Maja, die sich auch verkleidet hatte. "Wir wussten nicht, dass es hier so einen Dresscode gibt." Marcia und ich sahen aus, als hätten wir uns auf einer Cosplay-Messe verlaufen. Doch es kamen auch einige andere Betreuer, die normal gekleidet waren, darunter auch Bella, Yannis und Kyle. Bella hatte ihre langen rötlichen Haare geglättet und ein umwerfendes kurzes Kleid an. Wie hatte sie es geschafft, sich in so kurzer Zeit so aufzudonnern? Aber auch Kyle und Yannis sahen gut aus, obwohl sie gar nicht viel verändert hatten. Vielleicht lag das aber auch am Feuer, dass sie so vorteilhaft beleuchtete. "Das müsst ihr auch nicht, aber ich liebe das! Diese Zeremonie hat Monty erfunden, weil er ein riesiger Tollkien Fan ist." Scheinbar schaute ich, als verstünde ich kein Wort. "Herr der Ringe? Der Hobbit?" Sofort fiel mir meine Deutschprüfung wieder ein. Nicht, dass Hobbits und Orks eine Rolle spielen würden, aber mein literarisches Wissen ließ zu wünschen übrig. "Das Fest findet auch immer statt, wenn die Kinder da sind, nur mit Spielen und weniger Verkleidung, weil viele Kinder in den vergangenen Jahren Angst hatten und sich hinterher Eltern beschwert haben. Lucy hatte echt zu rudern, dass das Camp keinen Stress bekommt." Ich versuchte mir Lucy vorzustellen, wie sie aufgebrachte Eltern beruhigte, um ihr Feriencamp zu retten. Irgendwie ergab das einfach kein Bild, das zu ihr passen wollte.
Als jeder ein Glas alkoholfreien Punsch bekommen hatte, setzten wir uns im Kreis um das Feuer und warteten gespannt, was als nächstes passieren würde. Plötzlich sprang Monty auf und wir erschraken, einige lachten gleich danach. "Das macht er jedes mal", flüsterte Maja. Irgendwie war mir der sympathische Mann in diesem Moment wirklich unheimlich, auf der anderen Seite fand ich seine schauspielerischen Fähigkeiten umwerfend. Es war wirklich toll, wie viel Mühe sie sich alle für das Ferienlager gaben.
"Meine Freunde, wir haben uns versammelt, um die Welt, die aus den Fugen geraten ist, wieder in die richtige Ordnung zu bringen. Wir müssen die Zukunft dieser Erde retten, damit wir eine Zukunft behalten. Unsere Zukunft sind die Menschen!" Wieder lachten einige. "Ich weiß, es klingt verrückt! Ich weiß, ihr könnt es nicht glauben, aber bald werden Scharen kleiner Menschenskinder anreisen und ihr als magische Wesen habt die Aufgabe, sie zu bewachen. Es darf ihnen nichts passieren, sonst ist alles in Gefahr, was uns wichtig ist."
Ich schaute in die Runde. Alle saßen gespannt auf ihren Holzstämmen und beobachteten Monty. Mein Blick fiel auf die rothaarige Schönheit, die ihn sofort erwiderte. Etwas Böses lag in ihren Augen. Marcia flüsterte zu mir: "Ich würde ihr nicht trauen, sie frisst bestimmt Menschenskinder." Ich lachte in mich hinein. Mein Blick fiel dann über Kyle zu Yannis, dessen treuer Blick noch immer auf Monty gerichtet war. Er faszinierte mich, obwohl ich nicht wusste, warum. "Siehst du, wie Kyle ständig in die Seite von Bella piekst, um sie zu ärgern? Was für ein Vollidiot", beschwerte sich Marcia abschätzend. "Du bist sowas von verknallt."
"Menschenskinder!", rief Monty so laut, dass alle Gespräche einfroren. Dann lachte er ein wenig. "Ihr werden sie in eure Gemeinschaft aufnehmen, dass keine dunkle Macht sie erkennt. Am Ende der Woche dürfen sie zurückkehren in ihre bekannte Welt und wir haben es geschafft!"
"Werden wir jetzt in so eine Art Fantasy-Camps eingeteilt?", fragte ich Maja ungläubig.
"Ja, voll cool oder?" Ich wusste nicht, ob ich das wirklich cool fand, für den Rest der Woche als Ork herumzulaufen. Plötzlich ergaben aber auch die Wappen einen Sinn für mich. In unserem vorläufig bewohnten grünen Camp hing ein Wappen, das ich nicht deuten konnte. Im Nachhinein hätte es einen kleinen Hobbit darstellen können.
"Möge die Zeremonie beginnen!" rief er laut und setzte sich, während alle anderen jubelten. Mir war nicht wohl, weil ich nicht wusste, was als nächstes passieren würde. Der alkoholfreie Punsch in meinen Händen, half mir auch nicht wirklich weiter. Montys Kapuze rutschte bis weit in die Stirn, sodass seine hellen Augen unheimlich herausglitzerten. Er strich behutsam über seine Kugel und sprach dann leiser als vorher: "Ich sehe, dass erfahrene Krieger unter euch sind, die bereits mit Menschenskindern zu tun hatten, andere hingegen sind unerfahren, aber wie ihr wisst, kommen nur die besten von euch hier her, um die Aufgabe zu erfüllen."
"Voll die Psychotaktik, er schmiert uns Honig ums Maul", flüsterte Marcia.
"Ich sehe das erste Camp ganz deutlich vor mir. Es sind die mächtigen Magier, die Zauberer, die Weisen und die, die noch weise werden wollen." Wieder lachten einige. "Ihr werdet die Kinder zu euch nehmen, sie als Zauberer tarnen und Zaubertränke brauen, Zaubersprüche üben, Zauberdinge tun. Das Camp dunkelblau, das Camp der Zauberer: Lucas, Chui, Lara!"
Ein großer schlanker und ein kleiner dunkelhaariger Junge mit Madelaugen, sowie ein dunkelhaariges Mädchen, dass ihre Zwillingsschwester neben sich sitzen hatte, standen auf und knieten theatralisch vor Monty nieder, der ihnen jeweils ein Namensschild in Form einer Plakette mit dem Wappen der Zauberer übergab, sowie dunkelblaue Westen, die wiederum kein bisschen magisch wirkten.
"Die Zauberer sind immer nur Betreuer, die schon da waren, weil die die jüngsten Kinder ins Camp bekommen. Das ist wie Flöhe hüten. Lucas und Chui werden immer zusammen in ein Camp geordnet, die beiden scheinen beste Freunde zu sein, aber es gibt immer wieder Zungen, die vermuten, dass da mehr ist. Lara und Lina sind die beiden Anhängsel zu Bella, ohne die, sind sie aber ganz okay. Mit Lara kann man sogar ziemlich viel Spaß haben, nur Lina ist ein bisschen schwierig." Ich fand es überaus praktisch, dass Maja mich und Marcia über alle wichtigen Fakten aufklärte. Das machte es uns deutlich leichter, alle direkt einordnen zu können.
Als die drei sich wieder hinsetzten, applaudierten die anderen Betreuer. Alle, die das erste Mal dabei waren, fügten sich dem, was die sprichwörtlichen "alten Hasen" taten.
"Nach den erfahrenen klugen Wesen, erkenne ich besonders feurige starke Wesen, das Camp rot: die Drachen!" Immer wenn er ein Camp aufrief, wurde ich ganz nervös, weil ich fürchtete, ich müsse jeden Moment in die Mitte des Kreises treten und vor unserem Seher niederknien. Zu den Drachen zu gehören, hätte mir jedoch zugesagt. "Kyle, Maja, Bella!" Das war ja klar. Kyle und Bella schienen froh zu sein, im gleichen Camp zu arbeiten. "Ach verdammt, ausgerechnet mit den Turteltauben", sagte Maja entmutigt angesichts ihres Schicksals. Ich glaubte, dass Marcia darüber nicht froh war, sie schaute Bella genauso geringschätzend an wie ich, als sie aufstand, ihre über den Po gerutschte Hotpants notdürftig nach unten zog und dann vor Kyle damit herumwackelte.
Nach dem Camp der Drachen folgten die gelben Nazguls, die orangenen Orks, und die rosa Elben in die nur mir bisher unbekannte Betreuer eingeordnet wurden. Es blieben nur noch zwei Farben und sechs Personen übrig, darunter Yannis, ich und Marcia. Ich hatte bereits daran gedacht, dass mir diese Konstellation zusagen würde, aber wie hoch war die Chance, dass wir zu dritt eingeordnet wurden?
"Das Camp grün, die neugierigen Wesen, die schon bewiesen haben, dass sie fähig sind, eine Welt zu retten. Camp grün, die Hobbits!"
"Mit ein bisschen Glück, müssen wir gar nicht umziehen!", freute sich Marcia neben mir.
"Yannis, Alexandra, Marcia!" Oh nein. Ich nehme alles zurück, wie hoch war die Chance mit niemanden der beiden in ein Camp zu kommen? Mein Bauch schnürte sich wieder zusammen, das passte mir gar nicht.
"Und Schlussendlich die treuen Untertanen, die guten Freunde, die fleißigen Wesen der Unterwelt." Es gefiel mir wirklich ganz und gar nicht. "Camp braun: Die Zwerge!" Ich wollte kein Zwerg sein. "Lina" Bitte, bitte nicht. "Willi" Lass es einen Fehler sein. "Emily"
Ich stand auf, kniete nieder und nahm mir, was mir überreicht wurde. Kurz hatte ich geglaubt, es könne doch alles ganz witzig werden, aber Lina schien offensichtlich komisch und Willi, wie der Oberstreber vom Dienst. Das konnte ja lustig werden.
Als die Zeremonie vorbei war, grillten wir gemeinsam und aßen. Wir setzten uns in die eingeteilten Camps, damit wir uns besser kennen lernen konnten. Dennoch sehnte ich mich nach meiner besten Freundin oder Maja, mit der ich so schnell so gut auskam.
Eigentlich waren Lina und Willi schon in Ordnung. Lina schien recht ruhig und würde sicherlich nicht meine neue beste Freundin werden, denn irgendwie wurden wir nicht warm miteinander, aber wir gaben uns beide Mühe in Angesicht der Situation, gut miteinander klar zu kommen. Willi war ein bisschen viel, so konnte man es ganz gut erklären. Er hatte offensichtlich als auszubildender Erzieher und schon vierjähriger Betreuer viel Erfahrung mit Kindern, aber er ließ das ein bisschen zu deutlich heraushängen, wenn ihr mich fragt. Er redete ohne Punkt und Komma und betonte, dass wir jeder Zeit mit einer Frage zu ihm kommen könnten, so als wäre er unser Vorgesetzter. Das fand ich vor allem für Lina seltsam, denn sie war schließlich auch nicht das erste Mal hier. Jedenfalls wurde recht schnell deutlich, dass Willi das Oberhaupt unseres Camps war, auch wenn wir gar keins benötigt hätten. Ein pickeliger Halbstarker, der alles besser wusste und ein Mädchen bei der ich mich nur auf sprichwörtlichen Eiern bewegen konnte, waren also mein Umgang in der nächsten Woche. Immerhin würden die Konstellationen danach neu gewürfelt werden. Wobei, war gewürfelt das richtige Wort? Es wunderte mich schon, dass Bella ausgerechnet mit Kyle in ein Camp geraten war und scheinbar auch andere gute Freunde gemeinsam eingeteilt wurden und nur ich und Marcia nicht zusammen arbeiten durften. Ob Lucy etwas damit zu tun hatte? Es wäre typisch.
"So Kinder", meldete sie sich just in dem Moment zu Wort. "Ich weiß, ihr wartet schon sehnsüchtig darauf. Ich und Monty werden uns nun zurückziehen." Ich hörte Kyle wieder pfeifen und Lucy lief so rot an, wie ich beim letzten Mal, als er das tat. Monty und Lucy? Nie im Leben. "Um euch ein bisschen allein zu lassen", lächelte sie peinlich berührt.
"Deine Witze werden wohl nie alt?", konterte Monty und übernahm den sprechenden Part. "Ihr wisst, wie das läuft, lasst die Sau raus, lernt euch kennen, habt Spaß, aber nicht zu viel Spaß, morgen seid ihr bitte frisch und munter 9 Uhr am Verwaltungsgebäude, dann kommen die Menschenskinder!" Er lachte und die beiden verabschiedeten sich. Ich war überrascht, dass sie uns einfach alleine feiern ließen. So viel Lockerheit hatte ich weder einem Feriencamp noch den Inhabern zugetraut, aber es war ein gutes Gefühl. Wir hatten die nächsten Tage viel Verantwortung zu tragen, es fühlte sich richtig an, im Vorfeld nicht selbst wie Kinder behandelt zu werden.
Zunächst änderte sich an der Stimmung nicht viel, doch irgendwann verschwanden einige bereits erfahrene Betreuer und es wurde ruhig. Marcia kam zu mir und hatte Alexandra im Schlepptau, die neben Yannis in ihrem Camp war. Sie hatte meinen Platz, kam es mir in den Sinn, aber natürlich konnte sie nichts dafür. Alexandra war sehr klein und beleibt, aber es passte zu ihr. Sie wirkte freundlich und sie hatte fast so beneidenswerte Sommersprossen wie meine beste Freundin, allerdings dazu dunkelbraune Kringellocken. "Na, wie ist es?", fragte Marcia, die sich wohl vorstellen konnte, dass ich von der Einteilung nicht begeistert war. "Nun ja, ich bin Camp kackbraun und ein verflixter Zwerg, außerdem erscheinen mir meine Teamkollegen bisher ein bisschen ... schwierig." Sie nickte verständnisvoll und beinah ein bisschen schuldbewusst. "Ich finde es mega schieße, dass du nicht bei uns bist, nichts gegen dich Alex." Jetzt schaute diese schuldbewusst. "Kann man nicht ändern", meinte ich, "Sind die jetzt eigentlich schon ins Bett? Das war ja eine tolle Party!" Die beiden Mädchen neben mir zuckten nur mit den Schultern. Auch Alexandra schien das erste Mal hier zu sein. "Ich glaube ich finde nicht allein in das neue Camp", befürchtete ich. "Ich glaube ich finde nicht mal in das grüne Camp zurück", lachte Marcia verlegen.
Alex stand auf und war im Stehen kaum größer als eben im sitzen. "Wieso machen wir keinen Nachtspaziergang und prägen uns die Wege ein?" Das klang wirklich nach gar keiner so schlechten Idee.
Also verzogen auch wir uns und gingen entlang der Wege, die jetzt alle unheimlich im Wald versteckt waren und meiner Meinung nach viel zu wenig ausgeleuchtet. "Ist wie in einem Horrorfilm hier." - "Marcia!", schrie ich, weil sie genau wusste, dass ich jede Form von Horror hasste und mir die aktuelle Situation aus diesem Grund auch nicht gefiel.
"Haha hörst du den Waldgeist rufen?" Ich hörte tatsächlich etwas, aber das klang keineswegs nach einem Geist. "Hört ihr den Bass?", fragte ich. Die beiden nickten. Es klang, als gäbe es eine richtige Party ganz in der Nähe. "Ich glaube das kommt vom Ufer", meinte Alex.
Es dauerte wenige Minuten bis wir den richtigen Weg zum Ufer des Sees gefunden hatten. Eigentlich war es hier traumhaft still und roch, wie ein Sommerabend nicht besser riechen konnte. Allerdings war von Natur und abendlicher Ruhe nicht allzu viel übrig, denn eine Horde junger Menschen tanzte um ein Lagerfeuer, trank und hörte laute Musik. "Ist das nicht...?", fragte ich, doch die Frage erübrigende sich. Ich konnte ganz eindeutig Bella erkennen und umso näher wir kamen, auch Kyle, der einen kleinen Tennisball in einem Plastikbecher versenkte und Yannis, der erneut am Feuer saß und sich mit Chui und Lucas unterhielt, während er an seinem Bier nippte. "Warum feiern die hier ohne uns?", fragte Alexandra empört.
"Ich weiß es nicht, aber wenn sie uns dabei haben wöllten, hätten sie uns sicher bescheid gesagt", meinte ich, um damit klar zu machen, dass wir besser wieder gehen sollten.
"Ich fasse es nicht, dahinter steckt doch bestimmt wieder diese Nervensäge Bella. Nichts da, meine liebste Emmy, wir gehen auf jeden Fall dahin!" Ich liebte Marcia für ihr Selbstbewusstsein, aber manchmal brachte sie mich damit in unangenehme Situationen. Wir hatten keine Wahl, denn sie hakte uns beide ein und schliff uns mitten ins Geschehen.
"Wer hat euch denn eingeladen?", fragte Bella als Erste, während die anderen neugierig schauten.
"Ich", sagte Marcia und setzte sich ans Feuer, als wäre es das Normalste der Welt, während ich und Alex nicht wussten, wie wir uns verhalten sollten.
"Pass mal auf, es ist Tradition, dass die Neulinge bei der ersten Party der Saison früh ins Bett gehen, weil die uns nicht selten verpfiffen haben, wenn wir getrunken oder geraucht haben. Also hau wieder ab und nimm Stinki und Fetti gleich mit." Au, das hatte gesessen. Ich glaube bei Alex noch mehr als bei mir.
Ausgerechnet Kyle war es, der uns zur Hilfe eilte. "Ach Zuckerpuppe, jetzt sei mal nicht so zickig." Er umarmte sie kurz von hinten, ließ sie wieder los und schaute ihr mit einem charmanten Grinsen in die Augen. "Wenn die drei uns gefunden haben, können wir sie nicht einfach wieder wegschicken und wir haben genug zu trinken da!" Jetzt lachte er beinah bösartig. Bella sagte nichts und schaute nur, als ob sie verstehen wollte, was er vorhabe. Ich hatte kein gutes Gefühl und suchte den Blick der anderen, die scheinbar ebenfalls mit der Situation überfordert waren. Kyle pflanzte sich neben Marcia und legte seinen trainierten Arm um sie, doch sie schien seine Nähe nicht zu genießen und verkrampfte sich. "Wir machen ein kleines Aufnahmeritual, sozusagen als Ausgleich, dass ihr unsere Tradition verletzt. Wir spielen ein Spiel, wenn eine von euch gewinnt, dürft ihr bleiben." Mein Gefühl wurde immer schlechter, doch ich kannte Marcia viel zu gut. Das einzige, was sie noch weniger tun würde, als eine Herausforderung abzulehnen, war es sich vor versammelter Mannschaft als Feigling hinstellen zu lassen. Vermutlich lernt man das, wenn man mehrere ältere Brüder hat.
"Dann schieß' mal los!", meinte sie, ohne dass wir auch nur eine Möglichkeit hatten, mit zu entscheiden. Maja stand plötzlich auf. "Ich spiele mit ihnen im Team."
Bella verdrehte die Augen. "Was soll die Scheiße, misch dich doch nicht jedesmal ein. Maja, Retterin der Armen und Schwachen, Kyle regelt das schon mit den Neulingen." Die schöne Rothaarige setzte sich neben die uns zu Hilfe eilenden Ritterin und hielt sie zurück. Was immer Kyle auch vorhatte, scheinbar war es auch Maja nicht geheuer.
Die Party ging wieder seinen Gang. Wir hatten uns ein wenig Abseits der Gruppe in den Sand gesetzt, die anderen schauten lediglich immer mal wieder zu uns rüber, vor allem Maja und Bella, aber hin und wieder auch Yannis, der ansonsten noch immer in seinem Gespräch mit den Jungs vertieft war. Kyle stellte einen Becher in unsere Mitte und breitete Skatkarten verdeckt im Kreis um den Becher aus, die er bis eben noch gründlich gemischt hatte. "Warte, soll das Kings Cup werden? Du weißt schon, dass bei dem Spiel keiner gewinnt, sondern nur einer verliert?"
Kyle lächelte schelmig. "Nicht so, wie ich es spiele. Die Regeln sind bekannt?" Er schaute mich und Alexandra an und schien in unseren Gesichtern schnell zu lesen, dass wir keine Ahnung von dem hatten, was er da vorbereitet hatte. "Im Uhrzeigersinn zieht jeder eine Karte, jede Zahl bedeutet eine Aufgabe, die ich euch dann nenne, in den meisten Fällen muss jemand einen Schluck trinken." Er schnipste und von hinten reichte man ihm noch ein paar Becher, eine Flasche Schnaps und eine Flasche Saft. "Zieht einer den König, kippt ihr, soviel ihr wollt, von einem Getränk in den Becher in der Mitte. Derjenige, der den vierten König zieht, trinkt es aus. Wenn ihr nicht mehr könnt, könnt ihr jederzeit aussteigen, aber eine muss es länger aushalten als ich." Er grinste bösartig. Ich wusste, dass wir mit Marcia in Sachen Trinkfestigkeit einen Joker hatten, aber ich dachte nicht daran, zu früh aufzugeben und noch einmal Kyles selbstgefälliges Grinsen zu erblicken.
Die erste Runde begann. Marcia fing an und zog direkt den ersten König. Sie füllte den Becher mit ein paar Schlucken ihres eigenen Getränks. "Nicht so vorsichtig, das macht sonst gar keinen Spaß", meinte der gut aussehende Junge, doch Marcia ignorierte ihn gekonnt. Ich war an der Reihe und zog eine 7, sodass mein linker Nachbar trinken musste. Als Alex ansetzte, verzog sie das Gesicht. "Boar, das ist ja nur Schnaps." Kyle grinste. "Wenn wir das mit Brause spielen, macht das keinen Sinn." Und so ging es weiter, Kyle trank selbst einen Schluck, als er eine 9 zog und Marcia zog einen Buben. "Du küsst einen Jungen deiner Wahl." - "Bist du dumm? So sind die Regeln nicht." - "Ich hab dir gesagt, es sind meine Regeln." Er lachte wieder selbstgefällig, doch dann stand Marcia auf, ging an Kyle vorbei und küsste Yannis, einfach so und auf den Mund, kurz aber dennoch irgendwie intensiv. "Sorry, aber du warst hier die beste Wahl", sagte sie und schaute dabei eindeutig Kyle an und ich glaube, dass es ihn tatsächlich ein wenig störte. Das Seltsamste daran war aber, dass es mich störte. Hatte es ausgerechnet Yannis sein müssen?
Ich war dran und zog eine 9, ich wusste bereits, dass ich selbst trinken musste, doch Kyle eröffnete uns, dass man in der zweiten Runde immer zwei Schlucke trank. Marcia beschwerte sich erneut über die ihr nicht bekannten Spielregeln, aber wir hatten keine Wahl. Ich musste eben zwei Schlucke trinken und dann gleich noch zwei, weil Alex die Karte für den rechten Nachbarn zog. Ich bemerkte den Alkohol bereits, da ich nie viel vertrug. Als Alex nach ein paar Runden erneut zum Glas greifen musste, brach sie ab. Ich bemerkte, dass auch ihr bereits anzumerken war, dass sie zu viel getrunken hatte. Sie machte ein betrübtes Gesicht und setzte sich ein Stück weiter weg. Mittlerweile schienen wir zu einer Attraktion geworden zu sein, denn die Partygesellschaft verlagerte sich immer mehr um uns herum. Ich war wieder an der Reihe, als ich zum ersten Mal eine Dame zog. "Wahrheit oder Pflicht!" Marcia schüttelte nur noch mit dem Kopf, weil ihr Kyles Regeln nicht gefielen. "Wann und wo war dein erstes Mal?"
"Scheiße, das geht dich überhaupt nichts an", verteidigte ich mich ermutigt vom Alkohol und ich sah meiner besten Freundin an, dass sie gerade das gleiche tun wollte.
"Jetzt seid nicht so prüde, das ist ein Trinkspiel. Also?"
"Ich nehme Pflicht!", sagte ich, da mir einfiel, dass ich nach der Option nicht einmal gefragt worden bin.
"Küss mich", sagte Kyle provokant. Ich wusste, dass er das nicht sagte, weil er mich gern küssen wollte, sondern um mich zu testen und vielleicht auch um Marcia eins auszuwischen.
Maja erhob Einspruch, während Bella neben ihr so finster schaute, wie noch nie zuvor. "Das ist sexuelle Nötigung, dafür kann sie dich anzeigen!" - "Ich bitte dich, sie zwingt doch keiner."
Dann meldete sich Yannis zu Wort, das erste Mal während dieser Party, also mal abgesehen von seinem Gespräch mit den beiden Jungs. "Sei kein Arschloch, Kyle, gib ihr eine richtige Aufgabe."
"Dann trinkst du drei Shots." Da ich erneut von einer schrecklichen Aufgabe ausging, sagte ich sofort zu, diesmal half mir auch niemand. Unser Spielmeister füllte einen kleinen Becher mit Tequila. Es war das erste Mal, dass ich Tequila trank und Spoiler-Alarm, auch ganz sicher das letzte Mal. Der erste war so eklig, dass es mir trotz jeder Disziplin und Coolness mein ganzes Gesicht verzog. Doch eh ich mich versah, hatte er meinen Becher wieder gefüllt. Ich atmete tief durch und trank den zweiten. Ich spürte, wie mein ganzer Körper sich dagegen wehrte. Mein Magen grummelte und es ging mir nicht gut. Marcia schaute mich besorgt an, zumindest glaubte ich das, denn ich konnte ihr Gesicht nur noch verschwommen erkennen. Nur noch ein Becher.
Ich hielt ihn zwischen zwei Fingern und kämpfte mit mir, als plötzlich jemand neben mir aufstand. "Das reicht, sie hat genug", hörte ich diesen jemand sagen. Ich spürte wie man mich nach oben zog und wir uns ein Stück vom Geschehen entfernten. "Warte, ich bin noch nicht fertig. Ich will nicht verlieren." Ich sah wie das Licht hinter uns immer kleiner wurde und die Wärme des Lagerfeuers verschwand. Es war kalt und mir war schlecht, außerdem fiel es mir schwer einen Fuß vor den anderen zu setzen. "Warte", sagte ich und die Übelkeit übermannte mich, sodass ich mich an einem Baum festhielt und mich übergeben musste. Ich spürte wie man mir die Haare aus dem Gesicht hielt und langsam eine Hand über meinen Rücken streichelte. Dann nahm ich noch eine weitere Stimme wahr.
"Scheiße, soll ich euch helfen?" - "Nein geh zurück und mach Kyle fertig." Sie lachten, dann verschwand die zweite Stimme. Ich glaube nicht, dass es mir je zuvor so schlecht ging.
Wisst ihr noch, als ich sagte, dass es mir nie zuvor so schlecht ging? Da hatte ich nicht an den nächsten Morgen gedacht. Mein Kopf hämmerte, als spielte jemand auf meinem Gehirn Schlagzeug und mir war so übel, dass ich mich sofort wieder auf der Toilette übergeben musste. Immerhin war ich in meinem Bett aufgewacht, aber sonst war niemand im Zimmer. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich schrecklich aus und was hatte ich da an? Ein langes schwarzes T-Shirt, dass mir viel zu groß war und sonst nur meine Unterwäsche von gestern. Ich erinnerte mich nicht, wie ich ins Bett gekommen war. Da waren Kyle und dieses Spiel und dann der Tequila, schon bei dem Gedanken daran, hätte ich mich wieder übergeben können. Und was war dann passiert? Oh Gott, ich hatte auf jeden Fall gekotzt, aber hoffentlich nicht vor allen? Und wie spät war es? Kurz vor neun, verflixt. Es pochte an meine Tür. Es war Willi.
"Ich weiß ja, dass gewisse Menschen offensichtlich Probleme mit Pünktlichkeit und angemessenem Benehmen haben, aber wenn du nicht gleich kommst, verpassen wir als einziges Camp die Ankunft unserer Kinder, was für die Zwerge überaus untypisch ist. Zwerge sind sehr korrekte Wesen, die hauptsächlich mit arbeiten..." Ich krachte die Tür auf, hatte in der Zwischenzeit meine Haare zu einem Knoten gebunden und mir einen Pulli angezogen, weil ich sowieso fror. "Halt die Klappe und komm endlich", reif ich dem verdutzten Willi zu, "Oder willst du zu spät kommen?"
Auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude erzählte Willi noch einiges über den gestrigen Abend, leider keine Details, die mir in Sachen Erinnerung weiter geholfen hätten. "Du bist einfach hier herein gestürzt, und hast gestunken, das war widerlich. Gott sei Dank waren noch keine Kinder anwesend! Und dann hast du die ganze Nacht Lärm in deinem Zimmer gemacht, ich lag ja, wie es sich gehört, im Bett, aber schlafen konnte ich ganz sicher nicht. Und dann kam auch noch Lina spät in mein Zimmer und meinte, sie könne bei dir nicht schlafen, weil du erbrechen müsstest, dabei hat sie selbst nach Alkohol gestunken!" Ich hatte also Lärm gemacht. Kann ich mir schon vorstellen, immerhin konnte ich kaum geradeaus laufen. Aber wie war ich dann überhaupt zurück ins Camp gekommen und von wem war dieses T-shirt?
Ich schaute auf mein Handy, weil ich auf eine Nachricht von Marcia hoffte. Ich hatte ihr meine Situation geschildert und gehofft, sie könne mir weiter helfen, stattdessen hatte ich eine Nachricht von Maja, wir hatten schon gestern unsere Nummern getauscht. Versuch dich von Lucy fern zu halten. Warum das denn? Aber von mir aus gern, das hatte ich sowieso für die gesamte Zeit in diesem Job vor.
"Und hast du sonst noch jemanden gehört? Marcia oder so?", versuchte ich nun von Willi zu erfahren.
"Es ist Vorschrift, dass man in dem Camp schläft, dem man zugeteilt ist, also hoffe ich nicht für dich, dass noch jemand da war." Ich merkte, dass Willi wirklich niemand war, dem man in solchen Sachen um Hilfe bitten musste. Vielleicht wusste Marcia ja etwas, aber eh ich sie wiedersehen würde, musste ich mich allen anderen stellen, die mich in einem unvorteilhaften Zustand kennengelernt hatten. Warum schrieb sie mir nicht?
Noch vor dem Verwaltungsgebäude stand Lucy mit finsterer Miene und schien auf jemanden zu warten. Na immerhin hatte nicht nur ich heute einen schlechten Tag. Hatte mich Maja wohl deswegen gewarnt? Ich nahm mir vor, schnell an ihr vorbeizuhuschen, doch sie hielt mich auf. "Können wir uns unterhalten?" Oh nein, das klang gar nicht gut. Nein, ich kann mich nicht mit dir unterhalten, weil du meine verhasste Stiefschwester bist, auch wenn wir so tun, als würden wir uns nicht kennen. "Okay."
Wir gingen in das Gebäude. Links in der Eingangshalle in der auch gegessen wurde, saßen schon sämtliche Betreuer und unterhielten sich, es war aber noch relativ still für so viele junge Menschen in einem Raum. Ich war mir sicher, dass ich nicht die einzige mit einem Kater war.
Lucy führte mich in ihr Büro, das weiter hinten im Gebäude lag. Es war hell und ordentlich, dennoch hatte ich kein gutes Gefühl, was nicht nur an meinen gestrigen Eskapaden lag.
"Ich hätte vielleicht schon eher mit dir reden sollen, aber ich hatte gedacht, wir könnten das wie zwei Erwachsene klären." Sie setzte sich auf den Stuhl, ihre Augen waren müde, ihr Gesicht sehr ernst. "Willst du mir erzählen, wie es dazu kam?" Wie bitte? Wollte sie wirklich wissen, wie es dazu kam, dass ich in diesem Camp gelandet war und sie hasse, für alles was sie gemacht und wie sie meine Mutter behandelt hatte?
"Komm schon, wir verschwenden unsere Zeit. War es, weil du mich ärgern wolltest? Mir eins auswischen, wegen ewig lang vergangener Dinge?"
"Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, dass du in diesem Camp bist, sonst wäre ich auf keinen Fall hergekommen."
"Das ist ja charmant. Und wie kam es zu dem Vorfall gestern?" Verflixt, sie wusste also, dass ich getrunken hatte. Vermutlich war es an diesem Punkt das Klügste, es einfach zuzugeben.
"Es tut mir leid, es war ein dummes Trinkspiel und dann habe ich einfach mein Limit überschritten..." Sie unterbrach mich. "Stopp, das will ich alles gar nicht wissen. Wenn ich erfahre, dass ihr im Camp trinkt oder sonstiges muss ich euch rausschmeißen und das will ich nicht, außerdem brauchen wir jeden einzelnen. Du musst niemanden decken, es ist okay, ich habe Kyle auch schon befragt." Kyle?! Wenn es nicht um den Alkohol ging, worum dann?
"Ich, ich weiß es nicht."
Lucy atmete tief aus. "Okay kürzen wir es ab. Was ihr in eurer Freizeit macht, ist eure Sache und ich habe auch wirklich nicht das Bedürfnis mich in das Sexualleben meiner Betreuer einzumischen, aber mir hat ein Vögelchen gezwitschert, dass Kyle in der Nacht aus deinem Zimmer gekommen sei und man deutlich gehört habe, was ihr getrieben habt. Wenn das in der kommenden Woche passieren sollte und Kinder anwesend sind, fliegt ihr hier im hohen Bogen raus und ihr bekommt einen Arsch voll Ärger, ist das klar?" Sexualleben? Kyle?! Das konnte doch unmöglich sein. Wäre Lucy nicht Lucy gewesen, dann hätte ich ihr alles erzählt, dass ich mich nicht erinnerte, dass ich Kyle vor allem seit gestern Abend abstoßend fand, dass das unmöglich sein konnte, aber ihr konnte ich das nicht sagen. Ich nickte nur.
"Okay, also ist das geklärt oder gibt es zwischen uns noch etwas anderes zu besprechen?" Nur über meine Leiche hätte ich über unser Verhältnis sprechen wollen, das über das Camp hinaus ging. Sie war jetzt meine Chefin, mehr würde sie in meinem Leben niemals sein.
Als sie bemerkte, dass ich nichts weiter besprechen wollte, entließ sie mich. Entgeistert ging ich in den Saal, indem all die anderen saßen und schaute dabei niemanden in die Augen. Hatte Kyle mich in mein Zimmer geschafft? Das konnte nicht sein, er hatte mir die ganze Zeit gegenüber gesessen und gewollt, dass genau das passiert, was zwangsweise passieren musste. War er hinterher in mein Zimmer gekommen? Kyle war ein ekelhafter Typ, aber er hätte doch nicht? Immerhin, küssen wollte er mich an diesem Abend auch. Oder hatte ich es, betrunken wie ich war, auch gewollt? Es wurde mir alles zu viel. Als ich mich neben Lina gesetzt hatte, die genauso fertig wirkte wie ich, ging die Besprechung los, doch statt den wichtigen Hinweisen zur Ankunft der Kinder zuzuhören, konnte ich nur an eines denken: Wer hatte mich verraten?
"Es war Willi. Ich bin mir sicher, dass es Willi war", sagte ich nun mehrfach zu Marcia.
"Ach am Ende war es Kyle selbst, um sich wichtig zu machen", sagte sie. "Auf jeden Fall ist nichts an der Sache, Kyle war den ganzen Abend am Feuer und man hat gar nichts aus irgendeiner Hütte gehört. Außerdem würdest du es ja wohl merken, wenn dich gestern Nacht jemand entjungfert hätte. Dass Willi allerdings nicht weiß, wie sich so etwas anhört, kann ich mir vorstellen." Sie lachte. Irgendwie ekelte es mich, nur daran zu denken, dass Willi sich vorgestellt haben könnte, dass ich Sex habe.
"Wie ist das gestern eigentlich noch ausgegangen?", fragte ich, um diesen Gedanken endlich loszuwerden.
"Ich habe natürlich gewonnen und ich glaube Kyle war ziemlich beeindruckt, aber was noch viel besser war, Bella war richtig genervt davon." Ich freute mich, Sieg für unser Team, immerhin etwas. Auch wenn ich mir die Shots dann hätte sparen können. "Wie spät ist es?"
"Wir haben noch eine Stunde, dann kommen die Kinder." Man hatte jedem aus der Gruppe ein Klemmbrett in die Hand gedrückt auf der alle Namen der Kinder standen und Anmerkungen, ob die Eltern eine Fotoerlaubnis, irgendwelche Allergien oder Medikamente angegeben hatten. Wenn irgendwo etwas fehlte, mussten wir uns direkt bei den Eltern, die das Kind vorbei brachten, erkundigen, ansonsten hatten wir nur die Namen abzuhaken und die Kinder in das jeweilige Camp zu schicken, wo die anderen Betreuer der Gruppe bereits warteten und ihnen ihre Hütten und Betten zuwiesen. Ich war froh, dass ich den einfachen Part mit dem Abhaken bekommen hatte, Marcia ebenfalls.
"Und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Yannis so etwas tut", sagte Marcia beiläufig nachdenklich. - "Dass Yannis was tut?" - "Na ja, er hat dich abgehalten den letzten Shot zu trinken und hat sich dann um dich gekümmert. Ich bin hinterher gerannt, aber er meinte, ich solle Kyle fertig machen, was ich getan habe." - "Und warum sagst du mir das erst jetzt?!" Dann hatte mich Yannis also nach Hause gebracht. Der süße Yannis. Irgendwie gefiel mir der Gedanke ja, vor allem, dass er mich vor dem letzten Shot und Kyles masochistischem Spiel gerettet hatte, aber hatte er vielleicht die Situation ausgenutzt? Marcia schien meine Gedanken zu lesen. "Hey, er ist heute morgen in seinem Zimmer gewesen." Das musste nichts heißen. "Vielleicht habt ihr ja ein bisschen rumgemacht, das wäre doch schön. Yannis ist ziemlich süß und er hat sich so um dich gekümmert." Ach, das machte doch alles keinen Sinn, ich musste mit ihm reden. Etwas anderes blieb mir wohl nicht übrig.
Ich erklärte Marcia mein Vorhaben und ging zum grünen Camp, den Weg kannte ich wenigstens noch. Ob er nun süß war oder nicht, er hatte die Situation schamlos ausgenutzt und das war schäbig, darum war ich auch wütend, als ich am grünen Camp ankam. Er und Alex, der es offenbar auch nicht gut ging, saßen auf einer Bank im Schatten und warteten darauf, dass die ersten Kinder eintrudelten. Beide schauten mich überrascht an, als anstelle ich auftauchte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sprach ihn an: "Können wir kurz unter vier Augen reden?" Yannis sah heute morgen wieder ziemlich gut aus, seine Haare waren ein wenig stubbelig und seine treuen grünen Augen strahlten nichts aus, was man nicht gern haben konnte. "Klar", sagte er kurz, schwang sich auf und ging mit mir um das Haus herum.
"Gehts dir besser?", fragte er belustigt, bevor ich zu Wort kommen konnte.
"Ja, nein, pass auf", Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, "Ich erinnere mich nicht mehr an alles von gestern."
"Das würde mich auch wundern."
"Jedenfalls, falls da irgendwas gelaufen ist, tut es mir leid, ich hatte bereits Stress mit Lucy deswegen und ich will auf keinen Fall, dass sich das wiederholt, auch wenn das nicht heißen soll, dass ich dich nicht gut finde. Das soll auch nicht heißen, dass ich dich gut finde, aber..."
"Wow okay, stop it." Er lachte und sah dabei nur noch besser aus, während ich mich fühlte, als sei ich heute Morgen aus irgendeiner Höhle gekrochen. "Da lief nichts, Emily. Gar nichts." Oh, irgendwie war ich fast enttäuscht, aber viel mehr noch peinlich berührt. "Ich weiß nicht, wie Lucy darauf kommt und ich will dich nicht kränken, aber du warst gestern Nacht alles andere als sexy." Au, das hatte weh getan. "Ich meine, du warst voller Kotze", entschuldigte er sich fast.
"Okay, das ist verdammt peinlich, können wir das vielleicht..."
"Vergessen? Sehr gerne, aber mal ehrlich, wie kommt Lucy auf sowas?"
"Irgendjemand hat ihr es erzählt, also eigentlich dass ich und Kyle, aber das kann ja nicht sein und dann dachte ich..."
"Dass ich dich unzurechnungsfähig mal eben flachgelegt habe? Oh mann. Ich habe ja gestern schon gemerkt, dass du ganz schön für Chaos sorgst, aber das übertrifft ja nochmal alles." Er lachte, aber was er sagte, tat mir weh. Ich sorgte überhaupt nicht für Chaos, was konnte ich denn für diese Situation? Ich schaute auf die Uhr. Verflixt! "Scheiße, ich muss los."
"Machs gut, Chaos-Emmy." Und ich weiß nicht warum, aber dass er mich "Emmy" nannte, gefiel mir, das "Chaos" weniger. Hätte ich es doch nur nicht direkt am zweiten Tag mit ihm verdorben.
Wieder auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude lief mir Maja über den Weg, eine der wenigen die bereits frisch und munter wirkte, so wie wir laut Lucy alle heute aussehen sollten. Mein Schädel brummte noch immer bestialisch.
Maja grüßte mich freundlich. "Bin ich vielleicht froh, dass ich die Kinder in Empfang nehmen darf, zwischen unserem Traumpaar gibt es dicke Luft, dass die Milch sauer wird. Ich halte es ja nicht gerade für vorteilhaft, dass sie uns in das Drachencamp gesteckt haben."
"Wieso nicht?"
"Weil die Drachen im Gegensatz zu den Zauberern die ältesten Kinder von 14 bis 16 aufnehmen. Deshalb auch hier nur bereits erfahrene Aufpasser. Ist doch eine super Voraussetzung, wenn die Betreuer bereits vor der Ankunft der Teenies ihre Dramen zum besten geben." Sie lachte, aber ich spürte, dass sie auf ihre Gruppenkonstellation genauso wenig Lust hatte wie ich.
"Vielleicht sollten wir tauschen, Willi geht zu denen und du kommst zu uns?" Maja lachte nur als Antwort. Wir wussten beide, dass Willi nach wenigen Minuten durchgedreht wäre. "Was ist da eigentlich zwischen Bella und Kyle?"
Maja zuckte mit den Schultern und schaute sich um, als könne sie jemand hören. "Schwer zu sagen, ich denke, es ist eine Art Sommeraffäre? Jedes Jahr läuft irgendwie etwas zwischen den beiden, aber nie geht es darüber hinaus. Eigentlich sind sie doch das perfekte High-School-Prom-König-und-Königin-Paar, oder?" Da hatte sie nicht unrecht. Die wunderschöne Zicke und der trainierte Hübschling, aber dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass die beiden zusammen passen könnten. Worüber würden sich eine Bella und ein Kyle unterhalten? Vermutlich kannte ich beide aber auch viel zu wenig, um mir darüber ein Urteil zu erlauben. Ich hätte zu gern noch mehr Tratsch erfahren, aber im Augenwinkel sah ich Marcia auf uns zu kommen und ich wollte ihr Details über ihren heimlichen Schwarm und ihrer neuen Erzfeindin (und irgendwie auch meiner) ersparen. Da fiel mir noch etwas ein: "Danke übrigens für die Nachricht, das war echt cool." Maja machte ein Gesicht, das ich nicht deuten konnte. Doch bevor wir weiter auf das Thema eingingen, legte Marcia freudestrahlend ihren Arm um mich. "Und, was war da zwischen dem süßen Yannis und der noch süßeren Emmy?" Maja machte große Augen.
"Willst du es vielleicht noch mehr herumposaunen? Da war gar nichts. Er hat mich nach Hause gebracht, mehr nicht. Ich habe keine Ahnung, wer solche Gerüchte in die Welt setzt, aber es war verdammt peinlich, mit ihm zu sprechen." Meine beste Freundin verzog ihr Gesicht, als fühle sie Schmerzen, um mir Verständnis entgegenzubringen. "Ich habe da so eine Ahnung, wer so etwas tun könnte."
"Wer?", fragten Maja und ich gleichzeitig.
"Bella."
Fortsetzung folgt...
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2021
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