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Vorwort

Vorwort

 

 

Habt ihr auch schon einmal darüber nachgedacht, dass Geschichte immer Vergangenheit ist? Habt ihr euch im Unterricht gefragt, warum so viel passierte und jetzt alles so normal und so langweilig ist, warum alte Menschen immer Spannendes aus ihrem Leben erzählen können und man selbst einfach nur jeden Tag das Gleiche tut? 

Klar, es passieren noch immer genug Dinge auf der Welt, die in den Geschichtsbüchern Platz finden werden, in so vielen Ländern herrscht Krieg und Diktatur, Revolution und Freiheitskämpfe, aber, ohne ignorant klingen zu wollen, das war doch immer alles so weit weg, dass man sich beinah schuldig fühlte, dass es einem kaum nah ging. Aber mal ganz ehrlich, soll ich mich mit all dem Elend beschäftigen, wenn es mir gut geht, nur damit es mir ein bisschen schlechter geht, aus Solidarität zu denen, den es wirklich nicht gut geht? Ich finde, man sollte viel eher, all das zu schätzen wissen, an dem es uns nicht fehlt. Aber wer tut das schon? Und ist es nicht irgendwie unfair, dass es einem nie schlecht gehen darf, nur weil man keinen Krieg vor der Tür hat? Egal, wie man es ausdrückt, es klingt immer bizarr.

Jedenfalls habe ich dieses Jahr das erste Mal bemerkt, dass ich mich sehr wohl in einer Welt befinde, die in ein paar Jahren in den Geschichtsbüchern eine Rolle spielen wird. Ich werde meinen Enkeln nicht nur von Veganen Bioläden, Genderoperationen und dem Berliner Flughafen erzählen, ich kann mit Stolz behaupten, Corona überlebt zu haben. Ob man hier ein Augenzwinkern einfügt oder weglässt, lasse ich ganz bei euch, denn ich begebe mich nicht freiwillig auf dieses dünne Eis. 

Und es ist eine seltsame Zeit. Plötzlich merkt man, dass so viele unheimlich wichtige Termine, einfach genauso gut ausfallen können, dass man von zu Hause aus genauso viele Möglichkeiten hat, wie in jedem Büro, dass die Anschaffung eines Laptops ohne Kamera und Mikro, weil man den Schnickschnack nicht brauchte, doch keine so gute Idee gewesen ist, dass Krankenschwestern und Feuerwehrmänner Helden sind, aber es eigentlich doch schon immer waren, genau wie jeder Andere, der täglich einen Beitrag zu unserer Gesellschaft leistet, dass Schule völlig überbewertet wird, dass Sport auch einfach mal ausfallen kann, dass man zu Hause auch ein Leben hat, oder erst einmal wieder eins finden muss, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. 

"Freiheit ist ein Gut, dass im Gebrauch wächst und im Nichtgebrauch dahinschwindet." Carl Friedrich von Weizäcker.

1. Kapitel

20.06.2020  

 

Mariella

 

Weil wir vor Kurzem festgestellt haben, dass wir in einer doch gar nicht so langweiligen Welt leben, wie wir dachten, haben wir beschlossen, Tagebuch zu führen. Sozusagen als Dokument für die Nachwelt. Ich sehe es schon, im Jahr 2090 sitze ich als runzelige alte Schachtel neben meiner besten Freundin Lilli, noch runzeliger, weil sie neuerdings immer öfter betrunken zur Zigarette greift, als Zeitzeugen einer brandneuen Folge ZDF History. Wir werden es der Nachwelt erzählen, was wir erlebt haben. Wie es war, tagelang in den eigenen 4 Wänden zu sitzen und uns zu fragen, wann wir endlich wieder raus können. Und ich meine, wir waren Anfang 20, wir waren wild, wir waren heiß, wir wollten unser Leben leben.

Warum sie gerade uns fragen würden? Weil wir Erstens noch am Leben waren, weil wir nämlich sehr alt werden, das habe ich so beschlossen und Zweitens, weil man unser Tagebuch gefunden hatte, so wie einst das von Anne Frank. Jetzt, um Gottes Willen, will ich mein Schicksal nicht mit Anne Franks vergleichen, aber ohne ihr Tagebuch wäre ihr Schicksal genauso unbekannt, wie das von Tausenden, denen ähnlich Schreckliches passiert war.

Als sich unser Leben plötzlich grundlegend änderte, und das war witzig, denn wir hätten doch niemals gedacht, dass das wirklich in dieser Welt passieren könnte, war eigentlich noch tiefster Winter. Es war eiskalt und eigentlich war man froh, wenn man eh nicht raus musste. Meine Mutter machte schon seit Wochen Stress. Kind, wasch dir die Hände. Kind, in solchen Zeiten muss man wirklich nicht ständig auf Partys. Kind, öffentliche Verkehrsmittel solltest du jetzt wirklich meiden. Ich meine Hallo? Wie stellte sie sich das vor? Und meinte sie, ich hatte mir davor die Hände nicht gewaschen? Für mich war das alles weit weg, wenn ich überlegte, wie lang meine Bestellung aus China bis hier her brauchte und die wollte ich ja haben, wie schlimm konnte dann ein kleiner Virus sein, den niemand will und doch wohl genügend Forscher, Wissenschaftler, Doktoren, Politiker, eben die, die Ahnung hatten oder so taten, mit allen Mitteln versuchten, die Krankheit aufzuhalten.

Das war nun offensichtlich doch ein bisschen anders gelaufen. Ehrlich gesagt hatte ich noch immer keine besonders große Angst vor dem Virus oder Corona selbst, aber es ging mir ziemlich auf die Nerven, dass ich nun noch mehr Zeit vor dem Bildschirm meines Laptops verbringen musste und zu keiner Party mehr durfte. Von wegen gemeinsam dagegen, ich war alleine und das nun schon seit Wochen. 

Mittlerweile war kein Winter mehr, im Gegenteil. Es war Sommer, nicht so heiß, wie im letzten, aber so schön, wie in jedem Jahr. Ich liebte den Sommer. Irgendwie schien er immer so viel Vorfreude und Hoffnung zu wecken, sodass man beinah enttäuscht war, wenn er ging, ohne wirklich großartig gewesen zu sein. Warum fühlte man sich im Sommer immer, als würde man sich bald verlieben und tat es dann nicht? 

Zum Glück durfte man wieder ab und zu nach draußen. Nur in die Uni durfte ich nicht, was wirklich sehr schade war. Zwinkersmiley. Aber auf der anderen Seite wäre es durchaus einfacher gewesen, sich in die Vorlesung zu setzen, nicht zuzuhören, aber immerhin gutes Gewissen zu haben, weil man ja da war. Jetzt musste man tatsächlich etwas oder eben gar nichts machen, aber das war was, für die ganz harten Kerle. Und wenn man die ganzen Aufgaben aus den Seminaren und Übungen bekam, zu denen man normalerweise einfach nicht ging, bemerkte man erst einmal, wie intensiv man sich doch mit seinem Studium beschäftigen konnte. Das Schlimmste aber, aufgrund der visualisierten Menge der Aufgaben, stieg das schlechte Gewissen beim Nichterledigen noch mehr an und man machte automatisch mehr. Total verrückt und echt stressig. Zudem musste man ständig sein überfülltes Email-Postfach checken und tatsächlich jede Nachricht lesen! Denn sonst verpasste man womöglich Eine von Hundert, in der etwas Wichtiges stand. 

Mein Leben bestand also gerade aus Uni, Zeichnen, Uni, ein paar Telefonate mit Lilli, Uni, Essen, Schlafen, Uni und ein bisschen (wenig) Sport. Ich hatte noch nie so viel für Uni gemacht, wie in diesem Semester und ich war natürlich stolz auf mich. Falsch. Ich war unzufrieden. Einfach nur unzufrieden, weil der Sommer auf mich wartete und ich ihm nur vom Fenster aus zu sah, statt mich in ihn hinein zu stürzen. Alles roch nach Wärme, die süße Sehnsucht nach Freiheit und Leben, aber ich saß vor meinem Laptop und arbeitete an einer Ausarbeitung für die Uni.

 

 

2. Kapitel

20.06.2020

 

Lilli

 

Ich hatte Mariella bereits gesagt, dass es vielleicht seltsam war, gemeinsam ein Tagebuch zu schrieben, immerhin gehörten in diese Seiten doch tiefste Einblicke meiner Seele oder um es konkreter zu definieren, ich konnte hier nicht so frei von der Leber weg ablästern, wie ich es in meinem vorherigen Tagebüchern tat. Ich meine, warum schreibt man denn sowas?

Mariella hatte dann nur gelacht. "Du und lästern, na klar." Dabei war ich gar nicht so lieb und unschuldig, wie sie immer tat. Es gab einige Personen, die ich nicht mochte. Sonja zum Beispiel, aber das war eben so geheim, dass niemand wusste, dass dem so war. Alle dachten ich möge Sonja, auch Sonja dachte das. Aber ich mochte Sonja nicht. Sie war so schrecklich nervig und sie musste sich immer in den Mittelpunkt drängen und sie jammerte immer, sodass sie einem die schönsten Augenblicke verdarb. 

Meine beste Freundin bestand aber nun mal auf dieses Buch. Sie meinte immer, sie mache kein großes Ding, aus der Coronasache, dass es sie gar nicht interessieren würde, dass sie eigentlich gar nichts mehr davon hören wollte, aber doch war sie diejenige, die am meisten davon sprach. Mariella war eh ein bisschen anders, als die meisten. Manchmal war sie wie ein Kerl, nicht weil sie sich so anzog oder so aussah, auch nicht, weil sie sich wie einer benahm, aber sie dachte manchmal wie einer. Sie war so unromantisch, mochte keine Disneyfilme, weinte nicht bei Titanic, fand Zack Efron nicht heiß, träumte nicht von ihrer Hochzeit, trug niemals rosa und trank nie, nie im Leben Prosecco. Und ich wusste nicht genau, ob sie das wirklich alles nicht mochte oder sie sich dagegen wehrte. Warum sollte sie das tun? Ich weiß es nicht, denn ich war nicht so. 

 

In diesem Moment kam mein Freund Simon in mein Zimmer. Er legte seine Hände auf meine Schultern und küsste mich auf die Wange. Was als Begrüßung anfing, entwickelte sich schnell in eine Art Überfall. 

"Simon, ich bin beschäftigt", wimmelte ich ihn ab.

"Ja, mit deinen Plichten als meine Freundin", sagte er schelmig.

"Ha! Meine Pflichten, ich glaube, du hast sie nicht mehr alle." Doch er wusste genau, wie er mich berühren musste, um mich ganz schnell, in seinen Bann zu ziehen. Wir verschwanden in meinem über und über mit Kissen bedecktem Bett.

 

Ich lag auf seiner nackten Brust, auf der noch immer kein Haar wuchs, obwohl er schon 23 Jahre alt war. Ich wusste, dass ihn das störte, aber mir gefiel es gut, denn ich mochte behaarte Männer sowieso nicht. Simon war nicht unbedingt das, was man sich unter dem Bild eines Mannes vorstellte, aber ich wusste auch nicht, warum er das sein sollte. Er war mein bester Freund seit der 6. Klasse, er war auf meiner Augenhöhe, er beschützte mich, so wie er mir auch meinen Freiraum ließ und ich tat es ihm gleich. Ich wollte nichts anderes als ihn, zumindest in romantischer Hinsicht. Dennoch hatte ich oft das Gefühl, dass er versuchte jemand Anderes zu sein, was man am besten bemerkte, wenn wir unter Freunden waren. Mein liebevoller und warmherziger Freund riss bei jeder Gelegenheit seine Klappe auf und es gab kein Wort, dass ihm zu unangebracht, kein Spruch, der zu zotig, keine Beleidigung, die zu verletzend war. Er durfte das, was vielleicht auch an seiner geringen Körpergröße lag. Man nahm ihn nicht ernst und was er immer für seine große Schnauze nutzte, war eigentlich das, was ihn traurig machte. Ich wusste das, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich liebte ihn jedenfalls für das, was er wirklich war und nicht das, was er versuchte zu sein. Simon Heinz war mein Freund, Heinzen, wie seine Freunde ihn nannten, war ein Anderer, das verstand aber nur ich. 

Mein Handy klingelte, es war Mariella. 

"Baby, muss das jetzt sein?", beschwerte sich Simon, doch ich ignorierte ihn, und drückte den grünen Button auf meinem Handy, als ich erschrocken feststellte, dass meine beste Freundin einen Videoanruf gestartet hatte. 

"Leute, ich weiß zwar, dass Videochat und Sexting voll im Trend sind, aber ich will nicht hoffen, dass ihr eins dieser Pärchen seid, das sich nach einer netten Bekanntschaft und vielleicht mehr umschaut", meinte sie lachend und hielt sich den Arm vors Gesicht.

"Du bist zu viel auf Tinder unterwegs", ich lachte. "Tut mir leid, ich komme mit der Technik noch immer nicht ganz klar. Dachte du rufst normal an."

"Komm schon, Mary, so groß ist er nicht, dass du ihn in dem Blickwinkel sehen könntest", scherzte mein Freund.

"Allein das Wissen, dass du nackt bist, während ich mehr oder weniger mit dir telefoniere, ist widerlich, Heinzen." Er lachte nur. 

"Was gibt es denn, Mariella?", fragte ich, während ich versuchte mir unter der Bettdecke ein Oberteil anzuziehen. Ich war froh, dass Simon nicht auf die Idee kam, Unanständigkeiten unter der Bettdecke zu veranstalten, während ich telefonierte. Genau das sah ihm nämlich ähnlich.

Mariella grinste, als sie sah, welche Mühe ich mir gab, mich ungesehen anzuziehen, dabei hatte sie mich schon oft auf Toilette oder im Schwimmbad, sowie bei diversen Übernachtungspartys nackt gesehen, aber im Beisein meines Freundes kam mir das seltsam vor. "Du kannst auch einfach dein Smartphone kurz weglegen und dich anziehen. Der Anruf bricht nicht ab, wenn wir uns nicht mehr sehen." Sehr witzig. "Ich habe eben eine Email bekommen. Das Festival ist abgesagt."

Das war eigentlich keine neue Nachricht. Es gab keine Großveranstaltungen bis zum Ende des Sommers und unser jährlicher Festivalbesuch, den wir wirklich liebten, beinhaltete nun einmal das Zusammenkommen vieler Menschen, war doch nur verständlich, dass sie es absagten. "Hm."

"Hm? Hörst du mir überhaupt zu? Kein Festival dieses Jahr, verdammt! Das können die doch nicht machen."

"Man Mary, das war aber doch klar. Selbst wenn die Veranstalter es wollten, was sie sicher tun, sie dürfen es gar nicht machen." 

"Aber das war doch das Einzige, worauf ich mich gefreut hatte! Das Highlight des Jahres! Scheiße." Mariella liebte Festivals. Wir alle fuhren jedes Jahr gern, es waren immer coole Tage, aber wir konnten alle nicht damit mithalten, wie Mary diese Zeit genoss. Sie freute sich Wochen davor, liebte die Planung, war drei Tage on fire und schwärmte noch Wochen danach. Dass sie enttäuscht sein würde, war wirklich nicht verwunderlich. Noch dazu war Mary eine Künstlerin, sie liebte Kunst, sie liebte Literatur und sie liebte Musik. Harte Musik. Rockmusik. Sie hatte mal erzählt, dass sie nur mit Simons besten Freund im Bett war, weil er ein bisschen wie irgendein Punksänger aussah, sonst aber nicht einmal musikalisch war. Vielleicht ist deshalb nichts aus ihnen geworden.

"So ein beschissenes Scheißjahr!", fluchte sie am Telefon. 

Ich lächelte. Es war immer witzig, wenn sie sich aufregte. "Hey, wir können doch trotzdem was machen, dann Grillen wir eben oder gehen Schwimmen."

"Ich weiß nicht, ob mir ein Grillabend ein bisschen zu krass ist." Sie seufzte. "Schwimmbad?"

"Klar, wir treffen und um 5. Warte, ich bekomme gerade noch einen Anruf." Oh nein, es war Sonja.  Mariella hatte bereits aufgelegt. Ich überlegte, einfach so zu tun, als höre ich mein Handy gar nicht, oder den unerwünschten Gesprächsteilnehmer wegzudrücken, aber das hätte Simon sofort bemerkt. Nicht einmal er wusste, dass ich Sonja nicht mochte. Wie auch, ich nahm sie ja immer in Schutz, wenn er über sie herzog, denn er mochte sie auch nicht. Aber irgendwie fühlte ich mich dazu verpflichtet jemanden zu verteidigen, der sich nicht selbst schützen konnte. Wenn wir etwas mit ihr machten, war das etwas anderes. Da war mein Freund immer dabei, Sonja eins auszuwischen, aber das war dann ihr Bier, wie man so schön sagt.

Ich hob also ab, obwohl ich doch schon genau wusste, warum sie anrief. Ein lautes Schluchzen stach in meinem Ohr, sodass ich mein Smartphone in etwa so weit von meinem Ohr entfernt halten musste, wie sonst, wenn meine Oma anrief. "Er hat einen Status gepooostehehet." Ich verstand nicht ganz, was das Problem war. "Wer hat was?"

"Henry, er hat einen Status (schluchz) gepostet." Auch wenn ich die Anruferin diesmal nicht sehen konnte, hatte ich ein genaues Bild im Kopf, wie Sonjas Mascara Unfall artig in ihrem Gesicht verteilt war und ihre Augen dick und rot vor sich hin schwollen. Henry, ihr Freund, dem sie wochenlang hinterher gelaufen war, bis er ihr endlich eine Chance gab, hatte sie gestern, nach zwei Monaten Beziehung wieder abserviert. Wenn man mich fragt, war das vorhersehbar, denn Henry war ein Arschloch, schon immer und das war mir klar, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Sonja tat mir natürlich leid, vor allem jetzt, aber was konnte ich schon für sie tun?

"Und warum darf er keinen Status posten?" Ich ließ mich lustlos auf die Konversation ein, aber das störte Sonja nicht, sie brauchte einfach jemanden, der ihr zuhörte.

"Er will mich quälen. Er will, dass ich an ihn denken muss." 

"Quatsch, daran hat er sicher nicht gedacht." Mist, das klang, als wäre sie ihm egal, aber eigentlich war es ja auch so, aber das konnte ich ihr schlecht sagen. Sie begann wieder mit schluchzen, ihre Stimme war so hoch, dass ich kein Wort mehr verstand, nach einer Viertelstunde beruhigte sie sich wieder. Simon packte währenddessen seine Schwimmsachen und küsste mich zum Abschied auf die Wange. Eigentlich hatte ich mit ihm zusammen loslaufen wollen, aber das würde wohl nun nichts werden. 

 

 

3. Kapitel

 20.06.2020

 

Heinzen

 

Scheiße. Mein Mundschutz, immer vergas ich dieses blöde Ding. Als ich noch einmal umdrehte, hing Lilli noch immer an ihrem Telefon. Sie war manchmal so süß, statt das Gerät einfach kurz wegzulegen, ihre Sachen zu packen und mitzukommen, was Sonja sowieso nicht gemerkt hätte, schenkte sie ihr all ihre Aufmerksamkeit und dabei wusste ich genau, dass meine Freundin sie eigentlich nicht einmal mochte. Klar beschützte sie sie, wenn ich über sie herzog, aber nur, weil sie so ein liebes Wesen hatte. Lilli war so anders als ich, ich fragte mich immer, wann sie das bemerken würde.

Manchmal hatte ich mich schon gefragt, wie es wäre Single zu sein, immerhin waren wir seit der 8. Klasse zusammen und eigentlich davor auch schon, nur ohne miteinander zu schlafen, weil sie damit ewig warten wollte. Ich liebte Lilli wirklich, aber ich hatte keine Ahnung wie es ist, in anderen Gewässern zu schwimmen, wenn man versteht, was ich meine. Muss ein Typ nicht auch mal seine Freiheit ausgelebt haben, eh er ein Mann für seine Frau sein kann? 

Ich hatte Eck angerufen. "Alter, jetzt komm endlich von deinem Bildschirm weg, hast du mal rausgeschaut? Pornos kannst du dir später anschauen oder wie wäre es mit echten Bikinis?"

"Klingt eigentlich gut, aber ich programmiere hier gerade..."

"Verschone mich mit deinem Nerdzeug, ist mir egal, was du machst, schwing deinen süßen Hintern ins Schwimmbad." Es herrschte kurz Ruhe. "Ich weiß schon, aber Mariella ist nun mal Lillis beste Freundin, die wirst du noch häufiger treffen, Eck."

"Ja aber vielleicht nicht gerade im Bikini mit nassen Haaren, während sie sämtliche Typen anglotzen. Du weißt wie verflucht scharf sie ist." Klar wusste ich das, ich hatte schon zu oft meine Gedanken daran verloren, mit Lilli und Mary... aber mir war klar, dass ich für den Vorschlag lediglich zwei saftige Ohrfeigen erhalten hätte. Mal abgesehen davon, wusste ich, wie sehr mein Bester auf diese Blondine abfuhr. Mariella sah ganz anders aus als Lilli, Lilli war süß, etwas zum liebhaben, Mary war groß, mit langen Beinen und einem schönen Gesicht, sie hätte aus einem Katalog stammen können, war aber dazu noch ein totaler Kumpeltyp. Hört sich an, wie der absolute Traum, oder? Eck sah das genauso, aber scheinbar ziemlich viele Typen nicht, denn Mariella war Dauersingle und ich hatte nicht das Gefühl, dass das freiwillig war, auch wenn sie Eck immer wieder abblitzen ließ. Na ja abgesehen von ihrer kleinen Affäre.

"Auf dem Festival hättest du auch durch gemusst, also komm jetzt endlich, oder ich hol dich persönlich ab."

"Schon gut, ich pack meine Sachen, wir sehen uns da."

Eck war nie besonders schwer zu etwas zu überreden. Er machte am Ende alles mit, selbst wenn er keine Lust darauf hatte, obwohl, ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass Eck überhaupt Lust oder keine Lust auf irgendetwas hatte, Eck war eben einfach immer da und fertig. Wenn er irgendwelche Gefühlsregungen hatte, dann erzählte er mir zwar meist davon, aber er war nie wirklich emotional, ich hatte ihn nur zweimal so gesehen, dass er mir vorkam, wie ein richtiger Mensch, mit Blut und Herz und sowas. Das Erste mal, als er mir von seinem Penner von Vater erzählte, der nie für ihn da war und das zweite Mal, als er mir mit den umständlichsten Worten begreiflich machen wollte, dass er sich in Mariella verliebt hatte und da war seine nächste große Macke. Eck hatte amerikanische Wurzeln und sprach in seiner Freizeit Computersprache, Englisch eben, aber die meiste Zeit sagte er einfach nichts. Nicht, weil er ein schüchterner Typ war, er hielt seine Kommentare nur in wenigen Worten. Jetzt könnte man vermuten, er spreche wenig, weil er den Inhalt kompakt zu verpacken wusste, aber nein, eigentlich verstand man oft nicht, was er sagen wollte, weil er ein heftiges Problem hatte, die richtigen Worte zu finden.

 

Eh ich mich versah, hatten mich meine Füße auch schon entlang des Waldes an das abgelegene Freibad geführt, dass trotz seiner Lage, immer gut besucht war. Wir gingen jeden Sommer oft hierher, weil es einfach ideal war. Für alle zentral, der Eintritt human und der Besitzer ein echt cooler Typ, der Onkel von Eck. Zusammen mit seiner Frau, die etwas verlebt aussehende, blond gefärbte Mutti des Bades, die am Kiosk Pommes verkaufte und am Tag zwei Schachteln Pall Mall wegpaffte, betrieb er das Natur- und Spaßbad der Stadt. 

Doch heute war es auffallend ruhig, als ich unserem Treffpunkt näher kam. Keine schreienden Kinder, kein klatschendes Geräusch, weil jemand ins Wasser sprang, nicht einmal der Geruch von Frittenfett und Chlor stieg mir in die Nase und als ich endlich den Eingang erreichte, lehnte Mariella bereits filmreif an einer Säule. Sie lächelte mich zur Begrüßung zwar an, aber ich bemerkte auch ihre miese Stimmung. 

"Wo ist Lilli?"

"Die kommt nach. Warum bist du nicht drinnen?"

"Lies selbst", wies sie mich an und las es mir dann doch vor, "Wegen Corona geschlossen."

"Warum das? Die Bäder dürfen doch öffnen?" Mariella zuckte nur entmutigt mit den schmalen Schultern. "Mich nervt das langsam richtig."

Ich wollte gerade zu meinem Handy greifen, als Lilli mit Eck schon um die Ecke kam. 

"Hättest ja mal sagen können, dass dein Onkel lieber auf Staatskosten lebt." Eck schaute verwundert drein, was aber auch am Anblick von Mary liegen konnte. Man spürte sowohl die sexuelle Energie, als auch die Peinlichkeit, die von den beiden ausging, als sie sich begrüßten.  

"Das Bad wird doch sowieso von der Stadt betrieben, Onkel Ned kümmert sich nur um alles, habe ich schon oft erzählt, Heinzen." Er zog seine eh viel zu tief sitzenden Augenbrauen nach oben, wenn er das tat, schaute er wie ein Dackel. "Warum überhaupt, ist er nicht da?"

"Doch, wir wollten heute unser Handtuch nur lieber vor dem Bad ausbreiten, ist billiger." 

Lilli schaute mich sofort fragend an, aber Eck ging gar nicht auf meinen Kommentar ein. "Jo, ich ruf ihn mal an und frag nach." 

"Nein, lass das mal", meinte Mary, "wenn wir schon einmal hier sind, können wie ihm doch gleich einen Besuch abstatten." Plötzlich ringte eine nervige Fahrradklingel von der Seite. Es war Sonja und sie sah echt scheiße aus. Ich fand Sonja sowieso nicht besonders hübsch, irgendwie gab sie sich zu viel Mühe, gut auszusehen. Man kaufte ihr ihre Schönheit irgendwie nicht ab. Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich ihr einmal mit einem nassen Tuch über das Gesicht fuhr, hätte ich einen Abdruck ihrer Visage am Tuch und ihr Gesicht sähe dann aus, na ja, wie jetzt gerade. Scheiße eben. 

Lilli flüsterte leise: "Ach ja, Sonja wollte auch vorbei kommen." Ach wirklich? Ich schaute sie an. "Ich hätte sie sonst nie dazu bekommen, aufzulegen." 

"Du weißt aber, dass du auf deinem Handy auch einen roten Hörer hast?" 

Sonja war bereits von ihrem Rad gestiegen und startete einen Versuch zu lächeln und so zu tun, als sei alles gut, dabei wusste jeder bereits, dass sie Liebeskummer hatte. Sie hatte gestern bereits fünf traurige Sprüche über die Liebe und den Schmerz gepostet. Meiner Meinung nach hatte Henry alles richtig gemacht. Henry war eh ein absolut krasser Typ, der konnte sie wirklich alle haben, keine Ahnung wie er das machte.

 

Sonja verlor schon nach fünf Minuten ihre Fassung und schniefte, als wir uns auf den kurzen Weg zu Neds Haus machten. Ecks Onkel stand seelenruhig in seinem Vorgarten und hielt den Gartenschlauch in der Hand. Er grüßte freundlich, aber mir war es gar nicht freundlich zu Mute. Wenn er doch da war und die Bäder öffnen durften, warum hatte er nichts besseres zu tun, als seine beschissenen Blumen zu gießen?

Ausnahmsweise übernahm Eck das Reden. "Hey, warum ist denn das Schwimmbad geschlossen? Es ist doch schönstes Wetter und von Corona sehe ich hier auch weit und breit nichts."

"Jungs", das sagte er immer, egal wie viele Mädchen bei unserer Gruppe dabei waren, "ihr haltet keinen Mindestabstand." War das gerade ein Witz? Ich meine, wer hielt sich denn wirklich daran? Provisorisch gingen wir alle einen kleinen Schritt voneinander weg. "Die Stadt hat beschlossen, das Bad zuzulassen, zu gefährlich." Er musste in ziemlich verwirrte Gesichter geschaut haben. "Guckt doch mal, ein Becken voller Wasser, in dem täglich hundert Menschen baden, das ist für Keime doch ein Paradies." 

"Jo Onkel Ned, das war aber auch vor Corona schon so." 

"Eben, da pissen am Tag Zwanzig Leute ins Becken und jetzt ist das auf einmal ungesund?" 

"Das entscheiden Andere, ich mache jetzt Homeoffice", erklärte der Mann zufrieden lächelnd und schaute wieder dem Wasser dabei zu, wie es auf seinen Rasen tropfte.

"Du schaust dir jetzt Folgen von Baywatch auf dem Computer an oder was macht ein Bademeister im Homeoffice?" Ich fühlte mich immer noch verarscht.

"Ich bin kein Bademeister. Ich muss ein bisschen Papierkram erledigen, das muss ich sonst auch, aber davon seht ihr im Bad sonst natürlich nichts." Wir spürten, dass Onkel Ned nicht länger an einem Gespräch interessiert war, darum gingen wir einfach wieder die Straße vor, auch wenn wir jetzt nicht wussten, wo wir hingehen sollten. "Dem gefällt das richtig, das glaub ich einfach nicht", schimpfte ich.

"Ich hätte das auch nicht von ihm erwartet", meinte Lilli. "Ich dachte immer, Onkel Ned würde nichts lieber tun, als in seinem Schwimmbad zu sitzen und zuzusehen, wie seine Gäste es liebten. Er wirkte immer so ausgelassen." Keiner von uns wollte es nachvollziehen, aber wir konnten es nicht ändern. Da uns keine Idee kam, was wir stattdessen tun könnten, verabschiedeten wir uns und ich freute mich wenigstens darauf, mit Lilli den Abend so zu verbringen, wie wir auch schon den Nachmittag verbracht hatten. 

 

4. Kapitel

 

20.06.2020

 

Mariella

 

Ich habe es einfach satt. Ich war heute richtig froh, als Lilli vorschlug, dass wir alle zusammen ins Schwimmbad gehen. Es hätte mich nicht einmal gestört, dass Sonja mitgekommen wäre, im Gegenteil, sie sah wirklich aus, als bräuchte sie ein bisschen Ablenkung, dabei war ich froh zu hören, dass Henry mit ihr Schluss gemacht hatte. 

Seit der Sache mit mir und Eck war das mit unserer Gruppe auch nicht mehr so einfach gewesen. Ich hatte eigentlich von Anfang an gewusst, dass es keine gute Idee war, aber Eck hatte etwas an sich, dass ich schlecht beschreiben konnte. Er war eigentlich nicht besonders hübsch, nicht zu witzig und auch kein Kerl, der wusste, wie man mit Frauen sprach, aber er war auf seine ganz eigene Art und Weise ein guter Kerl. Außerdem sah er, wenn er seine Augenbrauen nach oben zog, was er ständig tat, so aus, wie Tom Delonge in seine Jugendjahren. Na gut, er sah nicht wirklich so aus, aber er hatte Ähnlichkeit mit ihm. 

Zusätzlich zogen wir uns an wie Magnete. Ich verstand das ja selbst nicht. Ich hatte mir immer wieder fest vorgenommen, nicht mit ihm im Bett zu landen, doch immer, wenn ich ihm dann wieder begegnete, umgab uns ein Kribbeln, das unbeschreiblich und dem absolut nicht zu entkommen war.  Aber es machte nun einmal Probleme und darum sind wir auf Distanz gegangen, aber das bedeutete eben auch, dass ich zu viel Zeit allein verbringen musste und das musste ich aktuell ja sowieso schon. Man konnte ja nirgends hin, außer vielleicht einen Spaziergang im Park zu machen, bei dem man sich bis vor ein paar Monaten noch nicht einmal auf eine Bank setzen durfte. 

Ich hatte mich heute also wirklich auf einen Tag gefreut, der einfach so war, wie letztes Jahr fast noch jeder, wir im Schwimmbad, den Sommer genießend und irgendwie frei. Dass Neds Onkel aber geradezu froh über seinen neuen Urlaub schien, machte mich genauso wütend, wie die Tatsache, dass unsere Pläne den Bach herunter flossen. 

 

Ich checkte am Abend meine privaten Emails durch, weil mich die Langeweile plagte. Ich wollte ja eigentlich noch einmal mit Lilli plaudern, aber ich wollte sie und Heinzen wirklich nicht erneut bei irgendwas stören. Wenn die beiden nicht schon so lange zusammen wären, würde ich mir sicher wünschen, meine beste Freundin wäre auch Single wie ich. Dann hätten wir viel mehr Zeit füreinander und könnten gemeinsam über unserer schrecklichen Dates und nicht nur über meine herziehen, aber schon der Gedanke, Lilli ohne Heinzen, Heinzen ohne Lilli, es wäre furchtbar. 

Ich hatte tatsächlich eine neue Mail, sie war von unserem Urlaubsanbieter. 

Sehr geehrte Frau Friedrich,

es tut mir leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir aufgrund der neuen Coronavorschriften, einige Änderungen in unserem Hotelbetrieb vornehmen mussten. Wir können ihnen nun leider nur ein Zimmer zur Verfügung stellen, was jedoch lediglich von Personen, des gleichen Haushalts bewohnt werden darf. Wir verstehen natürlich, wenn sie dieser Bedingung nicht nachkommen können und haben ihnen anbei einen Antrag auf Rückerstattung der Vorzahlung beigefügt. Wir stornieren ihre Buchung sofort und für Sie ohne Einbußen oder Aufwand und hoffen Sie nächstes Jahr in unserem Hotel begrüßen zu dürfen. 

mit freundlichen Grüßen

Ihr Team von Hotel Group Sunshine

Das durfte doch nicht deren Ernst sein. Von wegen ohne Einbußen, ich büßte damit meinen Sommerurlaub ein? Ich war drauf und dran ihnen ein saftiges Schreiben zurückzuschicken, aber das war natürlich schwachsinnig, sie konnten ja nichts dafür. Im Gegenteil, sie verloren vermutlich nicht nur einiges an Einkommen, sondern auch einige Gäste. Man konnte die Situation eben nicht ändern,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6858-6

Alle Rechte vorbehalten

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